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Harninkontinenz
from Natürlich April 2022
by WEBER VERLAG
Harninkontinenz: Was tun, wenn’s tropft?
Harninkontinenz, besser bekannt als Blasenschwäche, bezeichnet den ungewollten Abgang von Urin. Im Laufe des Lebens trifft es rund jede dritte Frau. Und auch Männer sind betroffen. Trotzdem ist das Leid nach wie vor mit Scham behaftet. Wir brechen mit dem Tabu, reden darüber und erfahren: Meist ist eine Heilung oder zumindest deutliche Besserung möglich.
Text: Andreas Krebs
Vielleicht trifft es einem so hart, weil es uns an unsere Vergänglichkeit erinnert. Wenn es unwillkürlich tropft oder wir uns gar wieder einnässen wie ein Baby, dann ist das unangenehm. Aber in der Regel kein Drama. Es gibt Hilfsmittel wie Einlagen; und die Aussicht auf Heilung oder zumindest starke Besserung. Man ist mit dem Problem auch nicht alleine: Schätzungsweise 500 000 Menschen in der Schweiz leiden an einer Form der Harninkontinenz, dem unwillkürlichen Verlust von Urin. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl der Betroffenen; Frauen sind dreimal häufiger betroffen als Männer. Die Hauptursache einer Harninkontinenz bei Männern ist eine operative Entfernung der Prostata (Prostatektomie). Neben Alten leiden Schwangere und Übergewichtige besonders häufig an Harninkontinenz.
«Der unkontrollierte Abgang von Harn muss nichts mit der Blase zu tun haben», erklärt Apotheker Simon Trösch. «Es gibt viele möglichen Ursachen.» Oft liege dem Problem eine schwache Beckenbodenmuskulatur zugrunde. Auch eine Bindegewebeschwäche oder die hormonelle Umstellung in den Wechseljahren – insbesondere ein Mangel an Östrogen – könne zur Harninkontinenz führen respektive diese verschlimmern; ebenso starkes Übergewicht, Nervenstörungen, eine vergrösserte Prostata, eine Blasenentzündung oder eine hyperaktive Blase («Reizblase»). Bei letzterer haben Betroffene ständig das Gefühl, aufs WC zu müssen, obwohl die Blase nicht voll ist. Sehr selten sind Grunderkrankungen wie z. B. Tumore, Multiple Sklerose oder Verletzungen der Rückenmarksnerven verantwortlich für eine Harninkontinenz. «Es ist wichtig, zunächst die Ursache zu ergründen», betont Trösch. Denn je nach Anamnese fällt die Behandlung unterschiedlich aus.
Unterschiedliche Formen der Inkontinenz
Die gute Nachricht: «Eine Harninkontinenz ist in den meisten Fällen heilbar beziehungsweise deutlich verbesserbar», weiss Trösch. «Die Behandlung muss individuell angepasst werden – an die Ursache, die Art und das Ausmass der Beschwerden sowie an die Lebenssituation der
Betroffenen.» Liegt der Inkontinenz zum Beispiel eine Blasenentzündung zugrunde, muss natürlich diese ursächlich behandelt werden.
Gemäss der International Continence Society (ICS) unterscheidet man fünf Formen der Harninkontinenz: • Dranginkontinenz: Der Harnverlust tritt durch einen starken, nicht zu unterdrückenden Harndrang auf. Ursachen: Alter, Multiple Sklerose, Parkinson, Alzheimer,
Schlaganfall, Blasensteine und -entzündung, psychosomatische Faktoren. Symptome: plötzlicher, starker
Harndrang; unfreiwillige Blasenentleerung. • Stress- oder Belastungsinkontinenz: Harnverlust bei körperlicher Anstrengung. Ursachen: schwacher Beckenboden; operative Entfernung der Prostata. Symptome: unkontrollierter Harnverlust beim Tragen schwerer Lasten, Treppensteigen sowie beim Husten, Niesen oder Lachen. • Unbewusste Inkontinenz: Harnverlust der nicht wahrgenommen wird und auch nicht mit Harndrang einhergeht. • Post-miktionelles Tröpfeln: Nachtröpfeln von Urin nach der willentlichen Blasenentleerung. • Kontinuierlicher Harnverlust: Ständiger Verlust von
Urin. Weiter gibt es Mischformen. Am häufigsten ist die Belastungsinkontinenz. Ursache ist oft eine ungenügende Funktion des Schliessmuskels der Harnröhre infolge einer Schwächung der
Beckenbodenmuskulatur und/oder eine Schädigung des Bandhalteapparats, der unter anderem für den korrekten Verschluss der Harnröhre zuständig ist. Ausgelöst wird diese Form z. B. durch die starke Dehnung der Beckenbodenmuskulatur bzw. des Bindegewebes während einer Schwangerschaft und Geburt. Bei rund jeder zweiten Frau kann dies zu einer Belastungsinkontinenz führen. In der Regel bessert sich der Zustand nach der Geburt. Rückbildungsgymnastik hilft dabei. «Wir haben fast keine jungen Mütter bei uns in der Beratung», sagt Trösch. Weitere Ursachen für eine Belastungsinkontinenz sind schwere körperliche Arbeit, starkes Übergewicht und chronische Bronchitis bei Raucher*innen.
Prävention und Behandlungsmöglichkeiten
Ein gesunder Lebensstil mit einem gesunden Körpergewicht sowie viel Bewegung, Sport wie Velofahren, Walken oder Schwimmen und Beckenbodentraining sind eine gute Prävention. Beckenbodenübungen kann man ganz leicht in den Alltag integrieren, so Trösch: «Spannen Sie einfach mehrmals am Tag den Muskel an, der Urin zurückhält. Wichtig ist, dass das Beckenbodentraining konsequent und über eine längere Zeit durchgeführt wird, bis sich eine Wirkung zeigt.»
Betroffene sollten Lebensmittel meiden, die die Blase reizen: Alkohol, Koffein und Zitrusfrüchte zum Beispiel. Gegen Abend kann man die Trinkmenge zwar reduzieren; allgemein sei es aber wichtig, über den Tag verteilt genug zu trinken, betont Trösch. «Denn wenn man wenig trinkt, wird der Urin konzentrierter und wirkt aggressiver auf die Blase. Etwa zwei bis maximal drei Liter am Tag sollte man deshalb schon trinken, abhängig natürlich auch von der körperlichen Tätigkeit.» Ideal sind stilles Wasser und harntreibende Tees aus Brennnessel oder Goldrute; letztere hilft, wie Petersilie, bei Blasenentzündung und -schwäche. Zu den wichtigsten
Der Beckenboden
Die etwa zwei bis drei Zentimeter dicke Muskelplatte, die den Bauchraum und die Organe, die sich im Becken befinden (Blase, Gebärmutter und Enddarm), von unten abschliesst, wird als Beckenboden bezeichnet. Er bildet die untere Begrenzung zwischen Schambein, Steissbein und den beiden Sitzbeinhöckern und besteht aus Muskeln, Bindegewebe, Sehnen und Nerven. Die Muskeln und Bänder des Beckenbodens halten die Beckenorgane in Position und stützen den Blasenschliessmuskel. Ein geschwächter Beckenboden fördert die Blasenschwäche.
Werden die Muskeln und das Bindegewebe geschwächt, können sie die inneren Organe nicht mehr an ihrem Platz halten und es kommt zu Senkungszuständen. Es können eine Genitalsenkung oder auch eine Harninkontinenz entstehen.
gefragt:
Simon Trösch

«Einfache Übungen helfen sehr gut»
Herr Trösch, dass ab und zu mal ein paar Tröpfchen daneben gehen, ist noch kein Grund zur Sorge. Wann wird es Zeit für eine Inkontinenzberatung?
Die Harninkontinenz ist immer noch ein grosses Tabuthema. Deshalb gibt es wohl eine hohe Dunkelziffer. Dabei geht es vielen gleich. Man muss sich nicht schämen. Für Betroffene ist das Leid eine grosse Belastung. Deshalb sollten sie das Problem nicht anstehen lassen, sondern frühzeitig Hilfe holen. Je früher desto besser. Mit unserem niederschwelligen Angebot gehen wir auf das Problem ein und zeigen Möglichkeiten auf, die Inkontinenz in den Griff zu bekommen.
Welche Möglichkeiten gibt es?
Wir empfehlen Einlagen und geben Muster mit. Sie lindern zwar nicht die Symptome, können Betroffenen aber helfen, Lebensqualität zurückzugewinnen. Weiter muss abgeklärt werden, um was für eine Form von Inkontinenz es sich handelt. Je nach Ursache gibt es dann verschiedene Behandlungsmöglichkeiten. Bei der häufigsten Form, der Stress- oder Belastungsinkontinenz, ist z.B. Beckenbodentraining sehr effizient. Es gibt einfache, sehr wirkungsvolle Übungen, die man zuhause machen kann, um die Beckenbodenmuskulatur zu stärken. Viele kennen solche Übungen vom Yoga, Pilates oder von der Physiotherapie, etwa Übungen, um die Hüften zu stärken. Auch eine Art Liebeskugeln sind eine Möglichkeit, den Beckenboden zu aktivieren. Dabei muss man nicht einmal aktiv etwas dafür tun. Beckenbodentraining lässt sich also quasi nebenbei erledigen.
Braucht es eine professionelle Anleitung für das Beckenbodentraining?
Nicht unbedingt; man muss aber schon eine Ahnung haben. Es gibt gute Websites oder auch YouTube-Videos. Wer unsicher ist, sollte sich aber professionell beraten lassen. Das kann auch im Rahmen der Physio sein, die man sowieso schon macht. Wichtig dabei ist vor allem die Regelmässigkeit. Optimal wäre dreimal pro Woche 30 Minuten Training mit Übungen zur Stärkung des Rumpfs, der Hüfte, der Oberschenkelmuskulatur und eben auch des Beckenbodens. Ihn kann man sehr effizient trainieren.
Und wann sollte man einen Arzt aufsuchen?
Wenn auf einmal grössere Mengen Urin abrupt abgehen. Denn dann kann eine physische Schädigung vorliegen, die man operativ behandeln muss.
Zur Person
Simon Trösch ist eidg. dipl. Apotheker ETH und Geschäftsführer der Waldegg Rotpunkt Apotheke in Uitikon Waldegg (ZH). Bei der diskreten Inkontinenzberatung informiert er Betroffene über das Problem und erläutert Behandlungsmöglichkeiten und Hilfsmittel.
Heilpflanzen bei Harnwegsinfekten gehören Bärentraubenlätter. Die Kieselsäure aus dem Schachtelhalm wiederum stärkt das Bindegewebe und schützt ebenfalls vor Infektionen der Harnwege. Hopfen wirkt antibakteriell und beruhigt die Reizblase. Auch Löwenzahn kann bei Reizblase helfen, ebenso bei einer Blasenentzündung. Ein bekanntes Hausmittel bei Reizblase, Prostatabeschwerden und Blasenschwäche sind Kürbiskerne. Besonders Männer sollten regelmässig welche knabbern.
Eine weitere Möglichkeit, einer Harninkontinenz entgegen zu wirken ist das Blasen- oder Toilettentraining. Dabei werden bestimmte Trinkmengen und feste Toilettenzeiten festgelegt, über die die Betroffenen Buch führen. Sie versuchen, dem ersten Harndrang nicht nachzugeben und damit die Dauer bis zum Wasserlassen immer weiter hinauszuzögern.
Mit diesen Hilfsmitteln verschwinden die Beschwerden nach einer gewissen Zeit. Und wenn nicht? Dann können Medikamente oder eine Operation helfen. Bei einer mässigen Inkontinenz wird dabei die Harnröhre mit einem Kunststoffband angehoben. Bei einer starken Inkontinenz legt der Chirurg einen künstlichen Schliessmuskel um die Harnröhre. Über einen Knopf im Hodensack (Skrotum) kann der Mann die Manschette steuern und so den Urin abfliessen lassen. Bei Frauen werden operativ meist die anatomischen Verhältnisse korrigiert. Das geschieht meist durch Raffung, Anhebung und Stabilisation der bindegewebigen Haltestrukturen. Eine Operation sollte aber erst in Erwägung gezogen werden, wenn alle anderen Therapiemöglichkeiten keinen Erfolg gebracht haben. •

