
7 minute read
Persönliches Wachstum

Lass dir Flügel wachsen
Ohne Metamorphose erblickt kein «Imago» das Licht der Welt. Was können wir aus dieser Erkenntnis aus dem Reich der Insekten für unser persönliches Wachstum lernen?
Text: Eva Rosenfelder
Das Gefühl täuscht nicht: Die Erde dreht tatsächlich schneller, habe ich neulich gelesen. Das belegen hochpräzise Aufzeichnungen der Erdrotation, die seit rund 70 Jahren erfasst werden. Und die erhöhte Erdrotation führt dazu, dass unsere Tage kürzer werden, die Zeit schneller rennt. Auch wenn es im genannten Zeitraum nur um zwei Millisekunden ging: Für mich ist das eine Bestätigung, dass alles stets mehr zu rasen scheint. Offensichtlich ist das doch nicht nur eine Alterserscheinung. Und so suche ich weiter nach neuen Strategien, weil ich ständig «in letzter Minute» unterwegs bin. Umso beeindruckender sind für mich Lebewesen, die in der Ruhe weilen, was auch immer geschieht. Denn in der Ruhe liegt nicht nur die Kraft, sondern noch vielmehr auch die Möglichkeit zur Wandlung: hin zu dem, was wir uns Imaginieren – und das ist mehr als nur ein Fantasiegespinst.
Imaginieren bedeutet «sich vorstellen, einbilden». Unter «ein-bilden» verstehe ich vielmehr, als das blosse Entwickeln innerer, sinnlicher Bilder, die man geistig schaut. Denn diese Bilder können immense Kraft entwickeln und in die sogenannte Realität hineinwirken – was dann oft als «Magie» bezeichnet wird. Doch was ist denn diese Vermittlerin zwischen Sinnlichkeit und Verstand, wie Kant die Imagination einst beschrieb, anderes als unser «Urfunke»?
Die Kraft der Vorstellung ist von grosser Wichtigkeit. Sie schenkt uns die Freiheit ungeahnter Möglichkeiten und kann ein hilfreicher Kompass sein auf unserem Lebensweg. Ein Weg, den wir in vielen Bereichen unbewusst gehen. Genetische, frühkindliche oder soziale Prägungen, Kultur, Religion, das kollektive Unbewusste, frühere Leben, vielleicht Karma und allerhand weitere Einflüsse sind – ob wir es wollen oder nicht – mit dabei am Steuer.

Ein Traum wird wahr
Umso wichtiger ist es, soweit überhaupt möglich, innere Bilder bewusst zu entwickeln – und zwar solche, die der persönlichen und kollektiven Heilung und Entwicklung dienen. Das machen sich unter anderem Methoden wie autogenes Training, Hypnose, Meditation, luzides Träumen, schamanische Techniken usw. zunutze. Doch wir können auch einfach bei der Natur abschauen, wie das geht. Jedes Projekt, jede Entwicklung, jeder Fortschritt wächst aus einem Impuls oder einer Idee (Larve) heran, muss sich in einer Zeit der Stille verpuppen und wird irgendwann reif, um zu schlüpfen und (als Imago) beflügelt die Welt zu befruchten. »
Jede Entwicklung braucht ihre Zeit. Daran führt kein Weg vorbei. »
Ein Blick in den Mikrokosmos öffnet den Zugang zu Langsamkeit und Geduld; und zum Vertrauen ins zyklische Leben. Haben Sie gewusst, dass viele Wildbienen neun Monate (!) brauchen, um sich von der Larve zur adulten, fliegenden Biene zu entwickeln? Es ist dies der grösste Teil ihres Lebens. Danach lebt sie nur noch für kurze Zeit, von Luft und Liebe, bis zur Eiablage. Dafür sucht sie sich einen passenden Ort, mit genug Nahrung für den Nachwuchs, denn sie wird ihn bald komplett sich selbst überlassen. Während dieser kurzen Zeit, welche die adulte und reife Biene am Licht verbringt, wird das Tierchen «Imago» genannt. Wie treffend! Es ist im wahrsten Sinn zu dem geworden, was es sich im Dunkeln erträumt – oder eben imaginiert – hat: zum beflügelten Wesen inmitten von Licht und Liebe.
Was reifen soll braucht seine Zeit
Der Begriff Imago hat seinen Ursprung – gleich der Imagination – aus dem lateinischen imago, was so viel bedeutet wie Erscheinung oder Bild. Im Deutschen hat Imago laut Duden auch die Bedeutung «im Unterbewusstsein vorhandenes (Ideal)Bild einer anderen Person der sozialen Umwelt». In der Zoologie wird mit Imago das fertig ausgebildete, geschlechtsreife Insekt nach der letzten Häutung benannt. Es ist das letzte Stadium der faszinierenden Metamorphose, so wie man sie bei Wildbienen, Schmetterlingen und vielen anderen Insekten sichtbar miterleben kann. In dieser kleinen Welt ist noch sinnlich nachvollziehbar, was in unserem ganzen Leben geistig immer wieder neu geschehen kann. Oder eher: könnte.
Denn leider bleiben wir Menschen allzu oft im Larven- oder Puppenstadium stecken. Menschlein. Larvengleich. Entweder, weil wir erst gar nicht an unsere eigene mögliche Verwandlung zur Imago glauben, diesem voll entwickelten Wesen mit all seinen Möglichkeiten. Oder weil das Bild, das wir als unsere Imago vor uns sehen, nicht gesellschaftsfähig ist. Oder schlicht, weil uns Zeit, Geduld oder Vertrauen fehlen.
Verwandlungen sind bei uns Menschen oft zart und kaum sichtbar. Dabei verlaufen sie genau gleich wie in der Welt der Insekten: Jedes Projekt, jede Entwicklung, jeder Fortschritt wächst aus einem Impuls oder einer Idee (Larve) heran, muss sich in einer Zeit der Stille verpuppen und wird irgendwann reif, um zu schlüpfen und (als Imago) beflügelt die Welt zu befruchten.
Den verschiedenen Lebensstadien der Insekten, die eine Metamorphose durchleben, sind unterschiedliche Funktionen zugeordnet, die durch Hormone gesteuert werden. Ähnlich ist es beim Menschen: Auch bei uns ändern sich die Hormone mit dem Alter. Und hat nicht jede Lebensphase ihren tiefen Sinn, gerade für die innere Entfaltung?
Kleiner entomologischer Exkurs
Lassen Sie uns die Welt der Insekten noch etwas genauer betrachten. Vielleicht können wir so unsere eigenen Entwicklungsphasen besser verstehen. Die weibliche Imago legt ihre Eier dort ab, wo für die Larven ein gutes Nahrungsangebot besteht. Im Larvenstadium geht es hauptsächlich um Wachstum. Typische Larvenformen sind Raupe (Schmetterling), Engerling (Käfer) oder Made (Fliege). Die fetten Larven verwandeln sich in weitgehend unbewegliche Puppen. Im Kokon respektive in der Puppenhülle aus Chitin geschieht das Wunder der Metamorphose: Während dieses Übergangsstadiums wird der Insektenkörper vollständig umgebaut. Nach der vollständigen Verwandlung schlüpft die Imago als Käfer, Falter, Biene oder Fliege. Die Imagines sind zuständig für Fortpflanzung und Verbreitung der Art – das ist ihre Hauptaufgabe, um nicht zu sagen: die einzige.
Ungefähr 85 Prozent aller Insektenarten vollziehen diese vollständige Verwandlung. Man nennt sie holometabole Insekten. Den grössten Teil ihres Lebens widmen sie der Entwicklung ihres Imagos. Die kurze Zeit als Imago – als vollkommenes Wesen – ist «nur» dazu da, sich dem Leben ganz und gar hinzugeben und zu verschenken. Manche Insekten wie etwa Läuse, Heuschrecken, Wanzen oder Libellen gehen einen etwas anderen Weg. Man nennt sie

hemimetabole Insekten. Ihre Larven ähneln bereits dem ausgewachsenen Insekt, wenn sie aus ihren Eiern schlüpfen; doch fehlen diesen «Nymphen» meist Geschlechtsorgane und Flügel. Auch sie müssen sich noch entwickeln, und zwar indem sie sich häuten; zum Teil bis zu zehnmal. Erst dann sind sie flug- und fortpflanzungsfähige Imagines.
Einzig die einfacher gebauten Ur-Insekten, wie etwa Silberfischchen oder Springschwänze, durchlaufen keine Metamorphose, sondern eine direkte Entwicklung. Hier gleichen die frisch aus den Eiern geschlüpften Tierchen fast vollständig der Imago. Doch selbst sie müssen sich mehrfach häuten, bis sie das Erwachsenenstadium erreicht haben.
Und nun rein ins Gespinst!

Daran führt offenbar kein Weg vorbei: Jede Entwicklung braucht ihre Zeit. Doch das haben wir scheinbar vergessen. In unserer optimierten Welt gilt es stetig, zu funktionieren; nichts von Verpuppen, Ruhen oder Häuten. Diese Zeit der Verinnerlichung, die das Wachstum überhaupt erst ermöglicht, empfinden wir als lästigen Bremsklotz. Warum nicht schneller, wenn es doch schneller geht? Wozu Stille und Dunkelheit, wenn sich doch die Nacht so leicht zum Tag machen lässt? Wozu den Wandel des Lebens zulassen, wo wir doch Hormone, Botox, Gentechnik haben? Wozu alt werden?! Lieber bleiben wir als Gesellschaft im Larvenstadium: fette, infantile, räuberische Larven, die den Planeten kahlfressen. Hauptsache für uns ist genug da.
Sichtbar wird diese Haltung auch im Kleinen. Etwa in unseren Gärten: im Herbst wird alles geputzt, geschnitten und weggeräumt. Mit solch linearem Ordnungssinn herrscht zwar «Sauberkeit», doch die heranwachsenden Larven werden samt dem Schnittgut entsorgt, leben sie doch in Stängeln und Totholz. Manche Stängelnister sind darauf angewiesen, dass zum Beispiel Königskerzen und Karden über mehrere Jahre erhalten bleiben! Im ersten Jahr blüht die Pflanze und verdorrt im Herbst. Die oft ortstreuen Wildbienen nisten erst im zweiten Jahr darin; und schlüpfen im dritten. Wievielmal jäten und räumen wir in dieser Zeit unseren Garten? Wie den Wildbienen geht es auch unserem «geistigen»
Imago; man könnte auch sagen unserer Seele oder im übertragenen Sinne: unserer Lebensvision. Was wir uns einst vorgestellt und «ein-gebildet» haben, als wir den Weg in diese Inkarnation antraten – dieses Imago bleibt auf der Strecke, gleich der Larve, die in der Grünabfuhr landet. Doch ohne die Larvenzeit gut durchstanden zu haben, wird nichts mit dem Frei-Flug. Ohne diese Zeit der Verinnerlichung wachsen uns keine Flügel.
Alles Hirngespinste? Ja, genau: darum geht es! Ich suche mir jetzt eine ruhige Nische, um die Zeit anzuhalten und mich tüchtig zu nähren. Um in mich zu lauschen. Der Winter ist eine ideale Zeit dazu: Um sich in Demut und Dankbarkeit zu üben und immer weniger im Verstand, als vielmehr aus dem Herzen zu leben. •

Brut-Anleitung für Flug-Künstler:innen
Larvenzeit
•Nimm dir Leer-Zeit.
•Brainstorming: Was sind deine Hirngespinste?
Welche Projekte wolltest du immer verwirklichen?
Welche Lebensträume wurden dir ausgeredet?
Puppenzeit
•Behalte deine Hirngespinste für dich; hüte sie, und lass sie sich in aller Stille verpuppen.
•Das Schwierigste ist jetzt: Geduld, Geduld, Geduld!
•Und: Vertrauen, Vertrauen, Vertrauen!
•Erinnere dich daran: Alles entfaltet sich zu seiner Zeit.
Flugzeit (Imago)
•Wenn du fliegst: Verschenke dich bedingungslos!