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Wie Märchen wirken

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Überlebensmut

Überlebensmut

Mit Märchen fürs Leben gewappnet

Die Hausmärchen der Gebrüder Grimm gehören nach der Bibel zu den am häufigsten übersetzten und publizierten Texten der Welt. Doch was fasziniert die Menschen an diesen 200 Jahre alten Geschichten? Und sind sie überhaupt kindgerecht? Teils brutal und ungerecht werden Märchen kontrovers diskutiert.

Text: Erna Jonsdottir

s war einmal ein junger Mann namens Omar,

Eder in die Schweiz gereist war, um die deutsche Sprache zu erlernen. Vorbildlich erschien er jeden Morgen pünktlich in der Sprachschule, hörte gespannt dem Unterricht zu und machte fleissig mit. Substantive, Adjektive, Verben, Genus oder Casus – nichts schien den bezaubernden Mann aus dem Norden Afrikas aus der Ruhe zu bringen.

Doch als seine Lehrerin eines Tages einen Lückentext zum Märchen-Klassiker «Rotkäppchen» aushändigte, sollte er nicht nur sprachlich herausgefordert werden: Nachdem der böse Wolf die Grossmutter gefressen und danach das arme Rotkäppchen verschlungen hatte, der Jäger dem schlafenden Tier den Bauch aufschlitzte und ihm nach seinem Tod auch noch das Fell abzog, fragte Omar entsetzt: «Erzählt ihr euren Kindern solch’ schrecklichen Geschichten?!» Die Lehrerin hielt inne. «Das tun wir seit Generationen. Diese Geschichten sind literarische Meisterwerke und haben eine erzieherische Funktion», erklärte sie kurz und knapp. «Ich würde meinen Kindern niemals solche grausamen Märchen erzählen», antwortete Omar und seine Mitschüler nickten.

Das Entsetzen ihrer fremdländischen Schüler überraschte die Lehrerin, waren die grimmschen Märchen doch ein fester Bestandteil ihrer Kindheit gewesen. Niemals hatte sie diese als grausam oder schrecklich empfunden. Im Gegenteil: Sie war fasziniert von den alten Geschichten, in denen das Gute meist über das Böse siegte.

Diese Faszination für Märchen erklärt der deutsche Sozialpsychologe Dieter Frey wie folgt: «Pech und Glück, Feigheit und Mut, Gut und Böse – in den Märchen kommen die ganzen menschlichen Komödien und Tragödien des Lebens vor, meist mit glücklichem Ausgang. Die Geschichten sind durch einfache Gegensätze wie Gut und Böse, Arm und Reich, Schön und Hässlich geprägt.» Das sei sowohl für Kinder wie auch für Erwachsene deshalb faszinierend, weil es besonders einfach und somit nachvollziehbar sei. Hinzu komme, dass man im Märchen meist einer gutmütigen und unschuldigen Hauptfigur mit reinem Herzen begegne, die ihren beschwerlichen Weg tapfer und beständig bis zum Ende gehe. «Menschen identifizieren sich gerne mit solchen Helden.»

Märchen sind literarische Meisterwerke und haben eine erzieherische Funktion. »

«Nazi-Märchen» verbannen?

Trotzdem ist Omars Frage berechtigt: Märchen werden schon länger kontrovers diskutiert. Tatsache ist, dass sich hinter vielen Märchen auch Ungerechtigkeit und Gewalt verbergen. In Deutschland waren die grimmschen Märchen nach dem zweiten Weltkrieg umstritten und für eine kurze Zeit sogar verboten. Die Nationalsozialisten hatten den deutschen Märchenschatz für sich beansprucht, weshalb die Alliierten davon ausgegangen waren, dass diese für die Gräueltaten der Nazis mit verantwortlich waren. 30 Jahre später wurden die Märchen mit ihren boshaften Stiefmüttern, kannibalistischen Hexen, abgeschnittenen Fingern und ausgestochenen Augen als Werkzeug schwarzer Pädagogik kritisiert. An den Heidelberger Märchentagen 1972 forderten die Teilnehmenden sogar, die Märchen aus der Kindererziehung zu verbannen.

Eine Antwort auf diese Forderung gab der mittlerweile verstorbene Kinderpsychologe Bruno Bettelheim 1977 mit seinem Buch «Kinder brauchen Märchen». Als Professor für Psychologie und Psychiatrie sowie als Therapeut von psychisch schwer kranken Kindern stellte er die These auf, dass Märchen dem Kind die Möglichkeit geben, «innere Konflikte, die es in den Phasen seiner seelischen und geistigen Entwicklung erlebt, zu erfassen und in der Fantasie auszuleben und zu lösen». Märchen seien eine wichtige Lebenshilfe, um die chaotischen Spannungen ihres Unterbewussten zu bewältigen. Seit Bettelheims Publikation sind 45 Jahre vergangen. Omars Frage – «kann man Kindern diese Geschichten zumuten?» –, ist allerdings nach wie vor aktuell.

Märchensymbolik versus Gewalt im TV

Für Dieter Frey ist klar: «Ja, man kann.» Einerseits hätten Kinder einen unbewussten Zugang zur Märchensymbolik: «Sie verstehen, dass die Todesbedrohung der Heldin und des Helden zu deren Entwicklungsweg gehört und das Geschehen überhaupt erst recht in Gang bringt», erklärt der Professor für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Anderseits würden Kinder heutzutage in ihrer realen Welt laufend mit Gewalt konfrontiert. Sei es im Fernsehen, im Kino oder in Computerspielen. «Die medialen Gewalt- und Kriegsgeschichten überfordern Kinder», so Frey.

Märchen hingegen erzählten ruhig; die Sprache komme mit wenigen Adjektiven wie etwa arm, reich, alt oder jung aus und beschreibe keine Details. «Schmerz und Leid werden mit klaren Worten dargestellt und nicht ausgeschmückt», erklärt Frey den Unterschied zur Gewalt an TV und Co. Und: «Auf die Gefühle der Beteiligten wird wenig eingegangen. Anstelle dessen werden die Handlungen beschrieben.» So weinen etwa die sieben Zwerge um Schneewittchen und Aschenputtel verrichtet ohne Gram ihre Aufgaben. An «schrecklichen Stellen» eines Märchens sei es wichtig, einen respektvollen Umgang mit dem beim Kind aufkommenden Gefühl zu haben. Die Aussage: «Die Stiefmutter mit dem Apfel ist wirklich ganz schön bedrohlich» sei besser als: «Du brauchst keine Angst zu haben!» Sie zeigte dem Kind, dass seine Empfindungen durchaus angemessen ist.

Die Moral von der Geschichte

Märchen werden laut Frey seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitererzählt, weil in ihnen sehr viel Lebensweisheit steckt und sie Orientierung für das eigene Leben geben. «So helfen die Geschichten zu reflektieren, was gut und was böse oder faires und unfaires Verhalten ist.» Nicht umsonst heisse es meist zum Schluss: «Und die Moral von der Geschichte …». Weiter würden Märchen eine Art Lebenshilfe bieten: «Sie geben Mut und Hoffnung, weil sie immer wieder aufs Neue zeigen, dass Probleme – egal wie ausweglos sie scheinen mögen – lösbar sind.»

Dabei handelt der Held stets werteorientiert und übernimmt somit eine Vorbildfunktion. Der Gegenspieler hingegen fordert den Helden heraus, ihn in seiner positiven Haltung noch besser hervorzuheben. Werte, die vermittelt werden, sind zum Beispiel • dass sich Grossherzigkeit und Gutmütigkeit lohnen, • dass es nicht auf Äusserlichkeiten, sondern auf die inneren Werte ankommt, • dass Neid und Missgunst auf das Äusserste bestraft werden, während sich Bescheidenheit und Mitgefühl auszahlen, • dass Zivilcourage Leben retten kann, • dass Durchsetzungskraft und Selbstvertrauen zum Erfolg führen können und • dass die Liebe so mächtig ist, dass sie sich selbst von den spitzesten Dornen (Rapunzel) nicht aufhalten lässt. Doch weshalb ist die Vermittlung von Werten so wichtig? Erstens: Werte erleichtern unser Zusammenleben und machen es wertvoll. Zweitens: Wir richten unser Verhalten an Werten oder moralischen Prinzipien aus, müssen uns an Werten und Normen orientieren und die Perspektive anderer Menschen mit in unsere Entscheidungen einbeziehen. Dies alles lernen wir im Laufe unseres Lebens.

Lernen können wir einerseits von unseren Eltern oder Lehrpersonen. «Moralische Vorbilder können aber auch durch Figuren wie in Bilderbüchern, Geschichten und Märchen symbolisiert werden. Diese erfordern ein Mitdenken, Mitfühlen und Mithandeln», erläutert Frey. «Und weil sich Kinder mit dem Helden identifizieren, können sie auf diese Weise Erfahrungen in einer parallelen Welt sammeln.» Interessant dabei sei, dass die meisten Menschen Ansätze einer gesellschaftlichen Moral zuerst in der Märchenstunde empfangen. Durch die Übertreibung und Personalisierung des Guten und Bösen würden dabei Normen und Werte exemplarisch vorgeführt. ➞

Rotkäppchen psychologisch analysiert

Bleiben wir bei «Rotkäppchen», einem der bekanntesten und meist interpretierten Märchen Europas. Folgende Charaktere dienen als Grundlage der psychologischen Analyse:

• Die Mutter wird lediglich am Anfang der Geschichte erwähnt und nimmt damit eine Nebenrolle ein. Sie schickt ihr Kind zur kranken Grossmutter. In der Ermahnung, nicht vom Weg abzukommen, ist bereits zu erkennen, dass sie sich Sorgen um ihr Kind macht. • Die kranke Grossmutter hat ebenfalls eine Nebenrolle. Sie ist der Auslöser dafür, dass sich das Mädchen auf den Weg in den Wald begibt. • Das Rotkäppchen steht im Zentrum des Märchens.

Klischeehaft und den Stereotypen entsprechend wird es als kleines, süsses und anständiges Mädchen beschrieben. Ihr naives und vertrauensseliges Verhalten bietet Angriffsfläche für das «Böse» und trägt zur

Dramatik des Märchens bei. Rotkäppchen lässt sich vom Weg abbringen, um Blumen für die Grossmutter zu pflücken. Dabei verliert das Mädchen sein Ziel aus den Augen und bricht sein Versprechen gegenüber der

Mutter. • Der Wolf widerspiegelt das Böse. Er wittert bei Rotkäppchen die Chance auf leichte Beute. Während er von Gier getrieben das Kind vom Weg abbringt, schafft er sich Zeit, um zuerst die Grossmutter und dann das

Mädchen zu fressen. Schamlos und gerissen nutzt er dessen Naivität aus und täuscht es durch sein gerissenes Vorgehen. • Der starke Jäger stellt den positiven Gegenpol zum

Wolf dar. Er tritt als Retter und Verteidiger auf. Durch seine Achtsamkeit und hohe Sensitivität bemerkt er das laute Schnarchen der Grossmutter. In der Notsituation handelt er umsichtig und bedacht: Er erschiesst den Wolf nicht sofort, sondern schneidet ihm den

Bauch auf, um Rotkäppchen und die Grossmutter zu retten.

Das Rotkäppchen nimmt aufgrund seiner Hilflosigkeit und ungeschickten Handlungen die Opferrolle ein, während der Wolf den Verfolger, Machthaber und Unterdrücker symbolisiert. In die Rolle des Retters schlüpft der Jäger. Mit seinem Helfersyndrom signalisiert er ein sogenanntes prosoziales Verhalten (freiwillige Handlungen, die darauf abzielen, einem Menschen Gutes zu tun). Die drei Charaktere mit ihren entsprechenden Rollen bilden in der Psychologie das «Dramadreieck»: Das Opfer, der Täter und der Retter – ein Muster, das sich in gewissen Lebenssituationen immer wieder finden lässt.

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Was wir daraus lernen können

Kinder und Erwachsene können aus dem prosozialen Verhalten der Akteure vieles lernen. Unsere Gesellschaft ist von einem demografischen Wandel gekennzeichnet, weshalb es immer wichtiger ist, Verantwortung für die ältere Generation zu übernehmen. Bei allem Leid und aller Ungerechtigkeit auf dieser Welt, sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, benachteiligten Menschen Unterstützung zu bieten.

Ein weiteres Märchen-Phänomen ist das Versprechen: «Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen» – diesen Spruch kennen schon Kinder. Das Dilemma: Mit einem Versprechen werden Erwartungen geweckt. Und: Wer sein Versprechen bricht, wird mit Vertrauensverlust und Distanzierung rechnen müssen.

Zusammengefasst illustrieren die «Rotkäppchen»Charaktere und deren Handlungen die wichtige Bedeutung von Versprechen, Vertrauen und prosozialem Verhalten. (siehe Seite 22) Darauf bauen nicht nur unsere persönlichen Beziehungen, sie begründen ebenso die gesamte Gesellschaft.

Und die Moral der Geschichte? Kinder, insbesondere attraktive, wohlerzogene Mädchen, sollten niemals mit Fremden reden, da sie in diesem Fall sehr wohl das Opfer eines für einen Wolf (in Menschengestalt) abgeben könnten. Diese Moral gilt noch heute! •

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Rezepte des Monats

Jetzt den Gaumen feiern lassen

Seinen Senf dazugeben mit auserlesenen Zutaten hiesiger Felder? Unbedingt und bitte ganz ungeniert! In diesem einfachen Gericht spielt Schweizer Birnensenf mit Birnel die grosse Geige. Seine ebenso rassige wie süsse Musik wirkt erheiternd auf unsere Geschmackspapillen. Ein Fest vom ersten bis zum letzten Löffel.

Zubereitung 1. Grobfasrige Teile des Lauchs entfernen und die Stange in sehr feine Ringe schneiden. 2. Butter bei schwacher Hitze in einer Pfanne erwärmen, den Lauch darin andünsten, mit Mehl bestäuben und mit Gemüsebouillon ablöschen. 3. Suppe unter Rühren aufkochen und anschliessend bei schwacher

Hitze 10 Minuten köcheln lassen. 4. Crème fraîche und Birnensenf unterrühren. 5. Mit Salz und Pfeffer abschmecken.

BIRNENSENFSUPPE

Für 4 Personen

1 Lauch

50 g Butter 40 g Biofarm Dinkelweissmehl 1 l Gemüsebouillon 250 g Crème fraîche 100 g Biofarm Birnensenf Salz und Pfeffer

Offeriert von biofarm.ch

Härdöpfelgratin mit Bire

Zubereitung 1. Milch und Rahm zum Kochen bringen und bei kleiner bis mittlerer Hitze ein wenig einkochen lassen. Mit

Salz, Pfeffer und Muskatnuss abschmecken. 2. Kartoffeln und Birnen schälen und die Birnen entkernen.

Hobeln oder sehr dünn schneiden und mit dem

Guss vermischen. 3. Die Auflaufform mit Knoblauch ausreiben und mit geschmolzener Butter bestreichen. Die Kartoffel-

Birnen-Mischung in die Form füllen und bei 200 Grad ca. 35 bis 40 Minuten backen. 4. Käse reiben und auf die Kartoffeln verteilen, bei der gleichen Ofentemperatur weitere 15 bis 20 Minuten backen.

ALPE-CHUCHI BERNER OBERLAND

ISBN 978-3-03818-148-4

KARTOFFELGRATIN MIT BIRNEN

Für 4 Personen

750 g Kartoffeln 350 g Birnen 200 ml Milch 200 ml Vollrahm 5 bis 6 Knoblauchzehen 125 g Käse Butter, geschmolzen Muskatnuss, gerieben Salz, Pfeffer

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