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Überlebensmut

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Starke Psyche

Starke Psyche

Dem Schicksal die Stirn bieten

Patrizia Manolio wurde vergewaltigt, erkrankte schwer an Krebs und brauchte eine Nierentransplantation. Wie hat sie die brutalen Schicksalsschläge er- und überlebt? Eine Geschichte von Tiefschlägen und dem Mut, nie aufzugeben.

Text: Blanca Bürgisser

Patrizia Manolio ist eine Kämpferin. Sie hat brutale Schicksalsschläge überlebt: 2004 wurde sie vergewaltigt; 2011 wurde bei ihr Knochenkrebs diagnostiziert, die Ärztinnen und Ärzte gaben ihr nur noch drei Monate zu leben. Nach 13 Chemozyklen hatte sie den Krebs besiegt. Kurz darauf versagten ihre Nieren. Deren wichtige Hauptaufgabe ist die Entgiftung des Körpers. Drei Jahre lang ging Manolio, die damals noch Maurer hiess, in die Bauchfelldialyse und wartete auf eine Nierentransplantation. Die Rettung brachte dann die Nierenspende ihrer Schwester.

Während ihres langen Kampfes hat die heute 38-Jährige nach Geschichten gesucht, die Mut machen. Doch sie wurde nicht fündig – die meisten endeten mit dem Tod. So hat sie sich selbst das Versprechen gegeben, das zu ändern: Sollte sie jemals mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit, dann in Form eines Buches, das Mut macht.

Als es ihr einige Monate nach der Nierentransplantation wieder besser ging, erinnerte sich die junge Frau an ihr Versprechen. Sie dachte daran, wie viele Menschen am Kämpfen sind wie sie und vielleicht genau auf so einen Hoffnungsschimmer warteten. Das gab ihr den Anstoss, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Die Umsetzung ihres Buches «Überleben» sei ihr sehr leicht von der Hand gegangen, erzählt Manolio. «Vielleicht gerade deshalb, weil ich mir schon viele Gedanken über alles gemacht hatte.» All das Erlebte zu Papier zu bringen, habe ihr auch ein Stück weit geholfen, abzuschliessen und die Gedankenkreise im Kopf etwas zu beruhigen: «Mit dem Aufschreiben war es raus, und ich kann es seither ruhen lassen.»

Woher kommt die Kraft?

Wenn man ihre Geschichte hört, fragt man sich, wie Patrizia Manolio die Kraft gefunden hat, weiterzuleben. Darauf antwortet sie: «In erster Linie war es ein Stück weit Trotz und meine Sturköpfigkeit.» Aber auch der Glaube an Gott habe ihr während ihres Kampfes immer wieder Kraft gegeben. «Ich hatte einige Schutzengel hatte auf meinem Weg», erzählt sie, «und sicher eine grosse Portion Glück.» Letzteres betont sie besonders, denn sie möchte auf keinen Fall implementieren, dass Menschen, die den Kampf verloren haben, nicht stark genug waren.

Manolio erzählt im Gespräch auch, wie es ihr gelingt trotz allen Schicksalsschlägen das Positive zu sehen. Für sie sei das auch eine Art Schutz: «Vielleicht liegt es daran, dass ich tief in mir eine Romantikerin bin und an Happy Ends glaube.» Andersherum sei sie überzeugt, dass man Schlechtes anzieht, wenn man nur noch das Schlechte sieht. Trotz dieser Überzeugung: «Oft gelingt es mir erst im Nachhinein, manchen Dingen et- was Positives

abzugewinnen.» Ein extremes Beispiel dafür: Die heftige Gewalteinwirkung in der Nacht der Vergewaltigung hat dazu geführt, dass ihre Schilddrüsen beschädigt wurden. Jahre später sagte ein Arzt, dass der Krebs sich aufgrund ihrer fehlenden Schilddrüse weniger schnell gestreut habe.

Patrizia Manolio ist es aber auch wichtig, dass «positiv zu sein» nicht bedeutet, dass man immer alles positiv sieht. Auch mit Ratschlägen, wie «du darfst nur die Hoffnung nicht verlieren», ist sie vorsichtig. «Schliesslich möchten alle, die so einen Schicksalsschlag durchmachen, überleben und wieder nach vorne schauen.» Sie betont, dass es normal ist, dass man manchmal einfach wütend ist oder keine Energie mehr hat. «Wenn man in einer Sackgasse landet und das Gefühl hat, es geht nicht vorwärts, besteht immer noch die Möglichkeit rückwärts oder nach links oder rechts zu gehen.» Manolio ist überzeugt, dass man sich auch Rückschläge erlauben darf, wenn man in eine positive Richtung steuert.

Der lange Weg in die Normalität

Und wie gelang es ihr, die extremen Traumata zu überwinden? Sie selbst sagt, dass zu einem grossen Teil Zeit tatsächlich die Wunden heilt. Gespräche mit Bekannten und Familie hätten ihr dabei sehr geholfen. Und ebenso die Tatsache, endlich wieder in der «Normalität» zu leben.

Den Weg zurück in diese Normalität sei für sie enorm schwierig gewesen. «Denn tief im Innern hat man eine Wehmut an alte Zeiten, und möchte diese möglichst schnell wieder zurückhaben. Doch in der Realität ist das schwierig. Man muss lernen mit den körperlichen und psychischen Veränderungen umzugehen und diese ein Stück weit zu akzeptieren.» Als sie diese neuen Voraussetzungen zu akzeptieren und auf ihnen aufzubauen begann, habe sie ihren Weg gefunden: «Ich musste mir auch sagen, dass zehn Jahre vergangen sind seit dem Schicksalsschlag mit dem Krebs. Selbst ohne diese Erkrankung, wäre jetzt nicht mehr alles so möglich wie damals. Ich glaube, mit diesem Bewusstsein konnte ich mich etwas trösten.» Auch der Fokus auf «normale» oder bescheidene Ziele habe ihr sehr geholfen. Darunter waren beispielsweise die Wünsche, wieder arbeiten zu können oder einen eigenen Haushalt zu führen; wieder Velofahren lernen, war ebenso ein grosser Vorsatz, den sie erreicht hat. Auch Alltagsprobleme wieder zuzulassen sei ein grosser Schritt für sie gewesen: «Als ich mich wieder über Dinge wie Stau aufregen konnte, zeigte mir das, dass ich langsam wieder in der Normalität angekommen bin.»

Vom Wert der «bucket list»

Die schweren Schicksalsschläge haben auch zur Folge, dass Patrizia Manolio heute viel intensiver lebt. «Als ich die Diagnose Knochenkrebs erhielt, wurde mir bewusst, wie viel ich immer machen wollte, es aber auf einen späteren Zeitpunkt verschoben habe.» Im Zuge der Diagnose habe sie sich geschworen, nie mehr in eine Situation zu kommen, wo sie das Gefühl habe, sie hätte nicht das bestmögliche aus ihrem Leben rausgeholt. «Ich will auf Jahre zurückblicken können, von denen ich sagen kann, dass ich wirklich gelebt habe.»

Als sie im Spital den Film «Das Beste kommt zum Schluss» (Original: «The Bucket List») gesehen habe, habe sie realisiert, dass sie auch so eine Liste brauche. Eine bucket list ist im gängigen angelsächsischen Sprachgebrauch eine Liste, auf der man alles aufzählt, was man bis zu seinem Lebensende noch gerne machen möchte. Und Patrizia Manolio wollte noch so vieles erleben! Das begann bei Sachen, die vielen «normal» erscheinen, wie wieder selbständig zu duschen oder die Türe abschliessen zu können, um für sich zu sein. Aber auch Dinge wie einen Cervelat bräteln, an ein Konzert gehen,

Heiraten und vieles mehr schrieb sie auf ihre bucket list. Auch Bungee-Jumping war auf ihrer

Liste. «Das mit dem Bungee-Jumping habe ich auf die Liste gesetzt, weil ich im Spital im Bett oft in Situationen geraten bin, in denen ich mich gefangen gefühlt habe. Und nachts habe ich oft vom freien Fall geträumt», erzählt Manolio. «Ich glaube, meine Psyche hat mir damit zu verstehen gegeben, dass mir die Freiheit fehlt.»

Macao Turm | Die höchste Bungee-Anlage der Welt – sie befindet sich 233 Meter über dem Grund.

Als sie in der chinesischen Sonderverwaltungszone Macao die Chance hatte, von der welthöchsten kommerziellen Bungee-Station (Absprunghöhe: 233 Meter) zu springen, ergriff sie die Gelegenheit ohne zu zögern. «Als ich oben gestanden bin, war mir schon etwas mulmig zumute», räumt sie ein. Doch sie hat sich daran erinnert, wie sehr sie es sich damals im Spital gewünscht hat und habe sich gesagt: «Wenn ich das jetzt nicht mache, werde ich es irgendwann bereuen.» Das Gefühl vom freien Fall sei unbeschreiblich gewesen: «Es war für mich wie ein Befreiungsschlag. Es war ein Gefühl von jetzt ist auf einmal alles weg. Das war einfach unglaublich schön. Danach war ich noch drei Tage lang wie auf Adrenalin.»

Das Leben als Hürdenlauf

Seit der Erscheinung ihres Buches im Jahr 2020 hat sich für Patrizia Manolio einiges verändert. Trotz den äusseren Einschränkungen durch die Coronapandemie hat sie den Fokus auf etwas Schönes gelegt: auf ihre Hochzeit. Diese musste zwar um ein Jahr verschoben werden; «umso schöner war dafür das Fest in der Toskana letzten Sommer». Auch in der Arbeitswelt hat für Manolio ein neues Kapitel begonnen: seit einem Jahr arbeitet sie bei der Stiftung Swisstransplant. Wenn sie davon erzählt, wird ihre enorme Begeisterung spürbar: «Es ist interessant, das Ganze von der anderen Seite zu sehen. Gleichzeitig habe ich sehr viele spannende Austausche mit Menschen, die ähnliche Schicksalsschläge erlebt haben wie ich.»

Auch in Zukunft möchte Patrizia Manolio für andere Menschen, die schwere Schicksalsschläge durchlitten haben, da sein. Sie plant nächsten Januar eine Weiterbildung Richtung Coaching. Sie möchte eine Plattform aufbauen für andere «Kämpferinnen und Kämpfer», eine Plattform wo man sich austauschen und vernetzen kann. Und sie möchte Menschen begleiten, die ähnliche Schicksalsschläge erlitten haben wie sie; möchte ihnen zuhören, als jemand, der aufgrund der Eigenerfahrung Verständnis hat für die Situation und dadurch wertvolle Ratschläge geben kann: «Mich mehr und mehr in diese Menschen hineinzuversetzen und ihnen zu helfen, das ist mein aufrichtiger Wunsch», sagt sie. «Menschen, die wie ich nicht den langweiligen einfachen Weg gewählt haben, sondern den schwierigen Hürdenlauf.» •

Buchangebot

Mehr über Patrizia Manolios Geschichte erfahren Sie in ihrem Buch «Überleben». Leser:innendes «natürlich» können es mit dem Gutscheincode «natürlich» für Fr. 29.– statt 39.– bestellen (inklusive Versand). weberverlag.ch Hochzeit | Patrizia Manolio (geborene Maurer) und ihr Mann Nici haben 2021 in der Toskana geheiratet.

Bungee-Jumping | In Macao hat Patrizia Manolio den freien Fall gewagt – und damit einen weiteren Punkt auf ihrer bucket list abgehakt.

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