volker frick „Aber dann dachte ich immer ...“ - notizen zum suizid

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Volker Frick notizen zum suizid

„Aber dann dachte ich immer, ich warte mit dem Selbstmord noch bis nach den Wahlen ...“



Titelbild Wassilij Grigorjewitsch Perow. Die Ertrunkene. 1867. Oil on canvas. 68 x 106cm. Tretjakow-Galerie, Moskau Titel Raymond Carver in einem Brief an Gordon Lish ('8.Juli 1980, 8 Uhr morgens'). Raymond Carver (2009), „Hombre, danke für die großartige Hilfe“. Neue Rundschau 120(3): 72-83; hier 75

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volker frick

„Aber dann dachte ich immer, ich warte mit dem Selbstmord noch bis nach den Wahlen ...“

notizen zum suizid


Diese Generation... Sie wird durstig sein nach anderen Tönen und sie wird hören wollen Rufe aus einer anderen Tiefe. Ach, ich spüre es doch: Ihr wird ein neuer ‚Werther’ geschrieben werden.

1

MANN, K., (1935), Notizen in Moskau. Die Sammlung, 2. Reprint. München 19933 . 82 1


u Gemeinsam mit James Joyce und Alfred Döblin gilt Fernando Pessoa als einer der ersten Autoren der literarischen Moderne. In einem Brief an Pessoa vom 31.03.1916 schreibt Mario de SàCarneiro: „Aber wir wollen jetzt nicht noch mehr Literatur machen. Noch mit dieser Post (oder morgen) schicke ich dir mein Gedichtheft per Einschreiben. Du magst es aufbewahren und darüber verfügen, als seist du ich selbst. (…) Leb wohl. Wenn ich morgen nicht genug Strychnin auftreiben kann, werde ich mich vor die U-Bahn werfen … Sei mir nicht böse.“ 2 Am 26.04.1916 ging Sà-Carneiro 25-jährig in den Tod.

VILA-MATAS, E., Frankfurt/M. 1995. 189 2

Vorbildliche

Selbstmorde.


Die Idee vom Tod in der Literatur Fachartikel in Fachzeitschriften … Die Idee vom Tod der Literatur treibt wahrscheinlich mehr Menschen um als die Idee vom Tod in der Literatur. „In Deutschland ist es, als ob es ordentlich darauf angelegt wäre, daß vor Lärm niemand zur Besinnung kommen soll (...).“ So Schopenhauer 3.

3

SCHOPENHAUER, A., Über Lärm und Geräusch. in: Sämtliche Werke. Band V. Hrsg. von W. Freiherr von Löhneysen. Darmstadt 1968. 756


Suizid auf hohem Niveau

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Eine Entgegnung

Dr. phil. Manfred Vasold verweist in Freitod in Deutschland im 20. Jahrhundert [Suicide in 20thcentury Germany] (Kriminalistik, 58.2004, 168-170) darauf, das der Terminus Freitod „eine Prägung des Philosophen Friedrich Nietzsche“ ist. Dies stimmt nun so nicht. Zwar überschrieb Nietzsche die 22. Rede Zarathustras „Vom freien Tod“, den Begriff Freitod aber prägte Fritz Mauthner am 2. September 1906 in seinem Vorwort zu den „Nachgelassenen Schriften“ von Walter Calé, einem Schriftsteller der selbigen gewählt hatte am 3.11.1904, gerade mal 22 Jahre alt. Den Terminus Selbstmord, den Vasold dann ebenso durchgängig neben dem einzig angebrachten des Suizids, benutzt, lässt er qua Zitat von Jean Améry authentifizieren: Selbstmord als „Konzession an die Sprachüblichkeit“.

4

FRICK, V. (2004), Suizid auf hohem Niveau. Eine Entgegnung. Kriminalistik. 58: 604


Also die Zeiten ändern sich, das Fortschreiten der Zivilisation zeitigt zyklisch wiederkehrende ökonomische Depressionen, so steigt dann hie und da die Selbstmordquote (aka Suizidrate), oder auch nicht, „… sieht man ab von den Weltkriegen, in denen sie wieder etwas sank.“ Da bin ich mir nun aber auch nicht so sicher. Vasold stellt fest „seit 1977 hat eine bemerkenswerte Trendumkehr stattgefunden“, womit er auf die Entwicklung der Suizidrate in Deutschland rekurriert. Das ist nicht falsch, auch wenn er auf Zahlen (11 065 Suizide) des Jahres 2000 rekurriert. 2001 suizidierten sich 11 156 Menschen in Deutschland, 2002 waren es 11 163 Menschen. Auf gleich bleibend hohem Niveau bleibt dem Autor für die sinkende Suizidrate neben anderen die Spekulation, „dass die klimatische Veränderung – die Zunahme der Sonnentage und die Erwärmung in unseren Breiten – die Suizidhäufigkeit etwas vermindert hat“. Schon zuvor grenzt Vasold qua „Risikogruppen und – faktoren“ unerbittlich und erschauerlich (und ohne jegliche Referenz) aus, exemplarisch: „es sind mehr areligiöse Menschen, die sich das Leben nehmen.“ „Selbstmordquote sinkt ist hierzulande keine


Meldung wert. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, die Deutschen möchten diese rückläufige Entwicklung des Suizids überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen.“ So endet der Artikel von Vasold. Natürlich macht es keinen Sinn der Zahl der jährlichen Suizide jene der AIDS-, Drogen- und Verkehrstoten in ihrer Gesamtheit gegenüber zu stellen. Um den Rückgang der Verkehrstoten zu erklären, verweist Vasold auf die Gurtpflicht, nicht aber z.B. auf die Einführung des Katalysators, der eine bestimmte Suizidart ausschließt. Hier stellt sich dann aber doch auch die Frage, ob unter den Drogen- AIDS- und Verkehrstoten sich nicht eine erhebliche Anzahl von Suizidanten findet. Eingedenk des Phänomens suicide by cop stellt sich vielleicht auch die Frage, ob während der Weltkriege nicht ebenso eine erhebliche Anzahl von Suiziden zu konstatieren (gewesen) wäre. Da die Literatur die Zahl der Suizidversuche als ein zehnfaches der Anzahl der Suizide benennt (Suizidversuche werden aus datenschutzrechtlichen Gründen in Deutschland nicht mehr erfasst), und als letzte konservative Schätzung für das Jahr 1996 eine Zahl von 110 200 Suizidversuchen genannt wird, angesichts also von weit über


einhunderttausend Suizidversuchen und über elftausend Suiziden im Jahr in Deutschland halte ich es für vermessen, über die mangelnde Wahrnehmung einer rückläufigen Suizidrate zu lamentieren, andererseits für immens wichtig, darauf zu verweisen, das in diesem Land alle 45 Minuten ein Mensch in den Tod geht. 5

5

Es sei erlaubt nachzutragen: Die WHO taktet bereits 2002 den Suizid weltweit auf einen alle 40 Sekunden. [s. HAWTON,

K., VAN HEERINGEN, K. (2009), Suicide. Lancet 373: 137281. hier: 1372.


n

Zwei Gruppensuizide mit insgesamt neun Toten Sieben junge Menschen haben in Japan in einem Auto gemeinsam Suizid begangen. Sie töteten sich nach Polizeiangaben vom Dienstag vermutlich mit Kohlenmonoxid. Das Fahrzeug mit den Leichen der drei jungen Frauen und vier männlichen Jugendlichen wurde in der Nähe der Hauptstadt Tokio gefunden. Zwei weitere tote junge Frauen wurden am Dienstag in einem anderen Auto bei Tokio entdeckt. Nach Angaben der Polizei gab es im vergangenen Jahr in Japan 12 solcher Gruppensuizide mit insgesamt 34 Toten. Viele Taten wurden vorher im Internet geplant. Einige Wissenschaftler sehen die Ursachen für derartige Selbsttötungen in einem mangelnden Realitätssinn: Viele jungen Menschen lebten in einer imaginären Welt und betrachteten das Sterben als ein Spiel. Andere Experten diagnostizieren eine zunehmende Unfähigkeit bei Jugendlichen, Bindungen einzugehen. In Japan existieren unzählige Internetseiten, die sich mit dem Thema Suizid befassen. Die Mehrzahl verherrlicht die Selbsttötung. Überlebende berichteten, sie seien zufällig auf die Seiten gestoßen. (dpa) 12.10.04 n


Sechs Japaner sterben durch kollektive Selbstmorde n

In Japan sind am Sonntag erneut sechs Menschen durch kollektiven Selbstmord gestorben. Zwei Männer und eine Frau im Alter zwischen 20 und 25 Jahren wurden tot in einem Auto im südjapanischen Fukuoka gefunden, wie ein Polizeisprecher am Montag sagte. Nach Überzeugung der Ermittler verabredeten sie sich vermutlich über das Internet zum gemeinsamen Suizid durch Kohlenmonoxid, da sie aus verschiedenen Regionen Japans kamen. Drei weitere Tote wurden in der westjapanischen Stadt Sasayama entdeckt. Sie hatten in ihrem Auto einen Kohleofen brennen lassen und waren an den Rauchgasen gestorben. Japan wurde in den vergangenen Monaten durch eine ganze Reihe von kollektiven Selbstmorden aufgeschreckt. Die Opfer verabredeten sich offenbar jeweils über das Internet zum gemeinsamen Sterben. Allein im Oktober wurden neun Menschen gefunden, die sich gemeinsam in Mietwagen per Kohlenmonoxidvergiftung töteten. Japan hat die höchste Selbstmordrate aller Industrienationen. In dem Land haben sich offiziellen Angaben zufolge im vergangenen Jahr insgesamt 34 junge Menschen gemeinsam umgebracht, nachdem sie auf selbstmordverherrlichenden Internetseiten Kontakt zueinander gefunden hatten. Insgesamt registrierte Japan 2003 mit 34.427 Fällen eine neue Rekordzahl an Suiziden. 22 Prozent der Selbstmörder waren unter 19 Jahre alt. (APA) 22.11.04 n


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no home to go to

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6

NAITO, A. (2007), Internet suicide in Japan: implications for child and adolescent mental health. Clinical child psychology and psychiatry. 12: 583-97. OZAWA-DE SILVA, C. (2008), Too Lonely to Die Alone: Internet Suicide Pacts and Existential Suffering in Japan. Culture, Medicine and Psychiatry. 32: 516-51. RAJAGOPAL, S. (2004), Suicide pacts and the internet. British Medical Journal. 329: 1298-9 SEKO Y. (2008), „Suicide machine“ seekers: transgressing suicidal taboos online. Learning Inquiry. 2: 181199.


„Niemand kann mich ersetzen in meinem Tod.“

7

Was haben der niederländische Maler Vincent van Gogh und der britische Mathematiker und Computerwissenschaftler Alan Turing gemeinsam, was der Nazi-Führer Joseph Goebbels und der russisch-amerikanische Maler Mark Rothko, was der französische Philosoph Gilles Deleuze und die amerikanische Schauspielerin Marilyn Monroe? Eine rhetorische Frage, denn ihnen allen ist allein die Art ihres Todes gemein. Der Suizid ist noch immer ein einzigartiges Thema. Und es war doch wohl Goethe, der in seiner „Dichtung und Wahrheit“ schrieb „Der Selbstmord ist ein Ereignis der menschlichen Natur, welches, mag auch darüber schon so viel gesprochen oder gehandelt sein als da will, doch einen jeden Menschen zur Teilnahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder einmal verhandelt werden muss.“ 8 7

8

LÉVINAS, E., Die Spur des Anderen. Freiburg, München 1982. 192 zit. nach: WEICHBRODT, R., Der Selbstmord. Basel 1937. 69


Nachdem 1774 „Die Leiden des jungen Werthers“ erschienen waren, dies einen Effekt 9 zeitigte, schrieb Goethe „Wer nicht schwimmen kann, der soll nicht ins Wasser gehen“. 10 „[P.S.] Und damit wir einen anderen Ton anschlagen: Ich rate all jenen, die schwimmen können, niemals zu versuchen, sich im Meer das Leben zu nehmen.“ 11 9

10

11

PHILLIPS, D. (1974), The influence of suggestion on suicide: substantive and theoretical implications of the Werther effect. American Sociological Review. 39: 340354; JONAS, K. (1992), Modelling and suicide: A test of the Werther effect. British Journal of Social Psychology. 31: 295-306; SIEBERS, T. (1993), The Werther Effect: The Esthetics of Suicide. Mosaic: A Journal for the Interdisciplinary Study of Literature. 26 (1): 15-34; STEINBERG, H. (1999), Der „Werther-Effekt“. Historischer Ursprung und Hintergrund eines Phänomens. Psychiatrische Praxis. 26: 37-42; ZIEGLER, W. (2002), Der Werther-Effekt. Der Nervenarzt. 73: 41-49; ATKINS, S.P., The Testament of Werther in Poetry and Drama. Cambridge 1949 zit. nach: HADINGER, B., Selbstmord und die Medien. Empirische, historische und therapeutische Aspekte. Tübingen 1994. 7 „Kostas Karyotakis“. Web. 13 Nov. 2009. <http://de.wikipedia.org/wiki/Kostas_Karyotakis>.


Doch anlässlich der zweiten Ausgabe „Werthers“ 1775 auch noch ein Gedicht 12:

des

Zu den Leiden des jungen Werthers Jeder Jüngling sehnt sich, so zu lieben, Jedes Mädchen, so geliebt zu sein; Ach, der heiligste von unsern Trieben, Warum quillt aus ihm die grimme Pein? Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele, Rettest sein Gedächtnis vor der Schmach; Sieh, dir wankt sein Geist aus seiner Höhle: Sei ein Mann, und folge mir nicht nach.

„Es gab eine Werther-Epidemie, ein WertherFieber, eine Werther-Mode, bei der die jungen Herren nach der Schilderung des Buches im blauen 12

zit. nach: WIEGLER, P. (Hg.), Goethes Werke in Auswahl. Band 1. Berlin 1949. 261


Frack und gelber Weste erschienen. Es gab Werther-Selbstmorde, Feiern zu Werthers Gedächtnis am Grabe seines Urbildes, WertherPredigten gegen das Schandwerk, WertherKarikaturen, und das nicht nur für ein Jahr, sondern auf Jahrzehnte hinaus, in Deutschland, in England, Frankreich, Holland, Skandinavien; Goethe vermerkt, daß selbst der Chinese Lotte und Werther auf Porzellan gemalt habe.“ 13 Konträr: „Belege über eine ausgedehntere Suizidepidemie sind nicht bekannt.“ 14, aber Die Leiden des jungen Werthers „did not create a fashion“, viel eher „expressed a climate“ der Zeit in der es erschien. 15 Auch wenn Goethe in Dichtung und Wahrheit festhielt „ …und was hier im Anfang unter wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publikum …“ 16 FRIEDENTHAL, R., Goethe. Sein Leben und seine Zeit. München 1936. 159 14 STEINBERG, H. (1999), Der „Werther-Effekt“. Historischer Ursprung und Hintergrund eines Phänomens. Psychiatrische Praxis. 26: 37 15 MINOIS, G., History of suicide. Voluntary death in Western culture. Baltimore, MD 1999. 267 [dt.: 24] 16 zit. nach: PAULIN, R., Der Fall Wilhelm Jerusalem. Zum Selbstmordproblem zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit. Göttingen 1999. 116 13


Le plus beau présent

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Hat denn nicht schon Seneca alles gesagt. „Törichter Mann, was beklagst du und was fürchtest du? Wohin du auch blickst, ist ein Ende der Leiden. Siehst du den gähnenden Abgrund? Er führt in die Freiheit. Siehst du den Strom, den Fluß, den Brunnen? In ihnen wohnt Freiheit. Siehst du den verkrüppelten, vertrockneten und erbärmlichen Baum? Von jedem Ast hängt die Freiheit. Dein Hals, deine Kehle, dein Herz sind ebenso viele Wege, der Sklaverei zu entfliehen … Fragst du nach der Straße zur Freiheit? In jeder Ader deines Leibes wirst du sie finden.“ 18 17

18

„Le plus beau présent de la vie est la liberté qu’elle vous laisse d’en sortir à votre heure“. André Breton, zit. nach: JOUBERT, A. (2004), La Boîte Noire. Quinzaine Litterature. 870: 30 zit. nach: ALVAREZ, A., Der Grausame Gott: eine Studie über den Selbstmord. Hamburg 1971. 83


1578 schreibt Andreas Celichius „Von diesem betrübten Handel muß ich nu etwas reden: nicht der meinung, als hette ich lust, solchen Wust und Schlam zu rüren: Oder, als wollte ich mich mit anderer Leute unglück kitzeln, und die jenigen, so von wegen eines solchen unfals der iren herzlich leyde tragen, etwa schamrot machen, oder noch höger und weiter (wie ein Schadenfro) krencken und plagen.“ 19 Argumente gegen den Suizid mag es nicht geben, allenfalls könnte benannt werden das Leben, was aber das einzig falsche Argument sein mag, denn hierein ist das Scheitern, diese finale Tat, begründet 20, nicht in der Negation des Willens zu leben. Aber dieses Leben kann nicht gelebt werden, dieses Leben ist unfähig zu leben. Eine größere Negation mag es nicht geben. 19

20

CELICHIUS, A., Nützlicher und Nothwendiger Bericht/ Von denen Leuten/ so sich selbst auß Angßverzweyfflung/ oder andern Vrsachen entleyben oder verseuffen vnd hinrichten. Magdeburg 1578; zit. nach: BAUMANN, K., Selbstmord und Freitod in sprachlicher und geistesgeschichtlicher Beleuchtung. Gießen 1934. 5 s.: MARTELAERE, P. de (1997), Der Lebenskünstler. Über eine Ästhetik des Selbstmords. Neue Rundschau. 108: 117-131


Es bleibt ein Gleichnis. „Ein Mann hat sich entschlossen, an das andere Ende der Stadt zu fahren, um sich dort vor den Zug zu werfen. Er setzt sich in sein Auto und fährt los. Er kennt die Strecke ganz genau, zu oft ist er sie schon gefahren. Jeder von uns, der regelmäßig die selbe Route mit dem Auto fährt, erlebt bisweilen, daß er plötzlich am Ziel angelangt ist, ohne den Weg bewußt zurückgelegt zu haben. So auch der suizidale Mann unseres Gleichnisses. Er denkt nur daran, rechtzeitig die Bahnlinie zu erreichen, um sich vor den herannahenden Eilzug zu werfen. Präzise fährt er in der Autokolonne, hält bei Rot an den Kreuzungen an, fährt bei Grün weiter, nimmt aber nichts mehr von seiner Umgebung wahr. Winkt ein Freund vom Straßenrand, hupt ein entgegenkommender Bekannter, der Suizidale lächelt und winkt sogar, doch alles ist nur Schein, die Mitmenschen spielen keine Rolle mehr. Ganz anders erleben Freunde oder Bekannte die Situation. Für sie fährt dieser Mann in unauffälliger Weise – vielleicht sogar besonders guter Dinge – durch die Stadt.“ 21 21

MITTERAUER, B. (1986), Das Abwendungsverhalten. Eine Analyse der Kommunikationspathologie des Selbstmörders. Suizidprophylaxe. 13: 100-112


Schopenhauer hatte auch keine Antwort: „Auch die Gründe gegen den Selbstmord, welche Kant (...) anzuführen nicht verschmäht, kann ich gewissenhafterweise nicht anders betiteln als Armseligkeiten, die nicht einmal eine Antwort verdienen (...).“ 22 1643 ist dann erstmalig dieses Wort - ein Kompositum, wie alle folgenden – gedruckt zu lesen: „Noch abschewlicher ist der Selbstmord.“ 23 und so bleibt festzuhalten „Wir müssen Selbstmord für einen von einem Theologen geprägten Ausdruck halten.“ 24 22

23

24

zit. nach: WEICHBRODT, R., Der Selbstmord. Basel 1937. 249 DANNHAWER, J.C., Catechismus-Milch oder die Erklärung deß Christlichen Catechismi, Ander Theil. Straßburg 1643. 128 BAUMANN, K., Selbstmord und Freitod in sprachlicher und geistesgeschichtlicher Beleuchtung. Gießen 1934. 7


SUICIDE / SUIZID / SUICIDIO „Das Auftauchen dieses Neologismus verrät den Willen, diese Tat vom Mord an einem anderen zu unterscheiden, und er erscheint zum erstenmal in seiner lateinischen Form in einem um 1636 geschriebenen und 1642 veröffentlichten Werk des Engländers Sir Thomas Browne, Religio medici. Der Autor wollte damit das christliche und absolut verdammenswerte self-killing vom heidnischen suicidium Catos unterscheiden. Letzterer Terminus, vom Lateinischen sui (selbst) caedes (Mord), taucht auch, unabhängig davon, bei den Kasuisten auf: 1652 trägt ein Abschnitt der Theologia moralis fundamentalis von Caramuel den Titel De suicidio. (...) Der Terminus taucht 1743 in der französischen Sprache auf, unter der Feder des Abbé Prévost, der sich damals in England aufhält und in seiner Zeitschrift Le Pour et le Contre schreibt. (...) Der Terminus ‚suicide’ setzt sich in Frankreich jedoch erst Mitte des 18. Jahrhunderts durch, und das Verbum wird stets in Form eines Pleonasmus oder einer Redundanz verwendet: ‚se suicider’, was sehr


deutlich zeigt, daß es nicht gelingt, sich von der Vorstellung eines an sich selbst begangenen Verbrechens zu lösen: die korrekte Form ‚je suicide’ ist nie gebraucht worden. In England existiert die Verbform nicht: ‚suicide’ ist ein Substantiv, das mit einem Tätigkeitsverb einhergehen muß: to commit suicide. Auch in allen anderen Sprachen ist die doppelte Form oder die Umschreibung geboten, wie im Deutschen ‚sich den Tod geben’ oder ‚sich umbringen’. Im 18. Jahrhundert geht der englische Terminus auch ins Spanische, Italienische und Portugiesische ein.“ 25

Gustav Landauer hat 1893 in seinem einzigen Roman geschrieben „Der Selbsttod (denn das Wort würde längst vergessen worden sein), der freie Tod, der ist eigentlich, was uns wesentlich trennt, von allen anderen Tieren.“ 26

25

26

MINOIS, G., Geschichte des Selbstmords. Düsseldorf, Zürich 1996. 266ff LANDAUER, G., Der Todesprediger. Dresden 1893. 135 [meine Hervorhebung]


1911 notierte Fritz Mauthner in seinem Wörterbuch der Philosophie: „Und weil der sogenannte Selbstmord doch auch kein unnatürlicher Tod ist, weil es immer natürlich zugeht – dieweil der Mensch eben im Leben wie im Sterben immer mit zu der Natur gehört – darum bin ich geneigt, den neuen, nicht ganz einwandfrei gebildeten Ausdruck Freitod – im DWb. noch nicht gebucht – dem ältern und an die Sprache des Strafrechts erinnernden Worte Selbstmord vorzuziehen.“ 27

27

MAUTHNER, F., Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. II. München 1911. 411


Er wird an David Hume gedacht haben: „Es ist gottlos, sagt der moderne europäische Aberglaube, dem eigenen Leben eine Grenze zu setzen und dadurch gegen den Schöpfer sich aufzulehnen. Und warum, frage ich, ist es nicht gottlos, ein Haus zu bauen, das Feld zu bestellen, den Ozean zu befahren? In allen diesen Handlungen wenden wir unsere geistigen und körperlichen Kräfte an, um in dem Lauf der Natur eine Veränderung hervorzubringen; und etwas anderes tun wir auch dort nicht. Sie sind deshalb alle gleich unschuldig oder gleich verbrecherisch.“ 28

28

HUME, D., Dialoge über natürliche Religion. Leipzig 1905. 151 (Zusammen mit einem anderen Werk 1770 in Frankreich und 1777 in England ohne Nennung des Autors unter dem Titel Essays on Suicide and the Immortality of the Soul veröffentlicht – Hume starb 1776)


Vielleicht auch an Montesquieu: „Wir begreifen unsere Winzigkeit nicht, und trotzdem wollen wir in dem All mitzählen, eine Rolle spielen und wichtig sein. Wir bilden uns ein, daß die Vernichtung eines Wesens von unserer Vollkommenheit die ganze Natur erniedrigen werde, fassen nicht, daß ein Mensch mehr oder weniger – (was sage ich) – daß alle Menschen zusammen hundert Millionen Köpfe wie wir, nichts mehr sind als ein ganz winziges Atom, das Gott nur bemerkt, weil sein Wissen allumfassend, unermeßlich ist.“ 29

29

zit. nach: WEICHBRODT, R., Der Selbstmord. Basel 1937. 228


Märtyrer Satans

„Nachdem man geleugnet hat, daß das Leben ein Uebel sei, um uns das Recht zu nehmen, uns seiner zu entledigen, sagte man wieder, es sei ein Uebel, um uns vorzuwerfen, daß wir es nicht aushalten können.“ 30, so Rousseau, der 1770 Thomas Chatterton, den Ernst Penzoldt einen „poetischen Falschmünzer“ nannte, suizidierte sich in jenem Jahr - dann äussert „Würde man mir hienieden die Wahl lassen, was ich sein möchte, so würde ich antworten: tot.“ 31

30 31

ibd. 233 zit. nach: MINOIS, G., Geschichte des Selbstmords. Düsseldorf, Zürich 1996. 328


Friedrich Schlegel schreibt im Februar 1792 „Warum soll ich leben? – Du kannst mir das nicht beantworten, und kannst mir nicht aus Gründen rathen zu leben, wenn nämlich nach anderen Gründen als nach der Neigung entschieden werden soll. (…) Seit drei Jahren denke ich täglich an Selbstmord.“ 32 Ähnlich krisenhaft Tolstoij: „Ich wußte selbst nicht, was ich wollte; ich fürchtete das Leben, ich wollte dasselbe loswerden, und dennoch erhoffte ich noch etwas von ihm.“ 33 Madame de Staël schreibt 1813 mit Réflexions sur le suicide 34einen Essay. 1796, in De l’influence des passions sur le bonheur des individus et des nations unterscheidet sie drei Arten des Freitods. „In der Selbsttötung liegt etwas Empfindsames oder Philosophisches, das dem verderbten Menschen völlig fremd ist.“ 35 BRUNSCHWIG, H., Gesellschaft und Romantik in Preussen im 18. Jahrhundert. Frankfurt, Berlin, Wien 1976; zit. nach: MINOIS, G., Geschichte des Selbstmords. Düsseldorf, Zürich 1996. 396 33 TOLSTOIJ, L., Meine Beichte. Berlin 1891. 23 34 dt.: Betrachtungen über den Selbstmord. Stralsund 1813 35 zit. nach: MINOIS, G., Geschichte des Selbstmords. Düsseldorf, Zürich 1996. 400 32


In der 7. Auflage von Meyers Lexikon aus dem Jahre 1926 lesen wir in Band 4, Spalte 1150 erstmalig: „Freitod, beschönigend für Selbstmord, seit etwa 1915 üblich.“ Seit etwa 1915 üblich ... Schopenhauer again: „Das Leiden naht sich und eröffnet als solches die Möglichkeit zur Verneinung des Willens, aber er weist es von sich, indem er die Erscheinung des Willens, den Leib zerstört, damit der Wille ungebrochen bleibe.“ 36 Otto Weininger, bekannt durch sein Buch „Geschlecht und Charakter“, tritt am Tage seiner Promotion vom Judentum zum Protestantismus über. Später mietet er ein Zimmer im Sterbehaus Ludwig van Beethovens, wo er sich am 4. Oktober 1903 23-jährig erschiesst.: „Ich morde mich selbst, um nicht einen andern zu morden.“ 37

36

37

zit. nach: WEICHBRODT, R., Der Selbstmord. Basel 1937. 249 ibd. 132


Winnicott: „Das falsche Selbst hat ein Hauptanliegen: die Suche nach Bedingungen, die es dem wahren Selbst ermöglichen, zu seinem Recht zu kommen. Wenn solche Bedingungen nicht zu finden sind, dann muß eine neue Abwehr gegen die Ausbeutung des wahren Selbst errichtet werden, und wenn das zweifelhaft erscheint, ist die klinische Folge Selbstmord. Selbstmord in diesem Zusammenhang ist die Zerstörung des totalen Selbst, um die Vernichtung des wahren Selbst zu vermeiden.“ 38 Cesare Pavese notiert am 17. August 1950, zehn Tage vor seinem Suizid, in sein Tagebuch: „Selbstmörder sind furchtsame Mörder. Masochismus statt Sadismus.“ 39

38

39

WINNICOTT, D.W., Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. München 1974. 186 PAVESE, C., Das Handwerk des Lebens. Frankfurt/M. 1987. 386


I’m leavin’ today „Nur eine Kleinigkeit ist zu bedenken: Es gibt den Freitod.“ 40 Ein Tabu kennzeichnet sich zu allererst dadurch aus, das es nicht zur Sprache kommt. Es zur Sprache bringen ist dann nicht vielmehr als ein Tabubruch. In Zeiten des institutionalisierten Tabubruchs erfüllt dieser letztlich die gleiche Funktion wie das Tabu. Die Literatur zum Thema Suizid ist erschöpfend, oder auch nicht, denn auf die Frage, warum ein Mensch sich suizidiert, könnte nur er selbst antworten. Es gibt wissenschaftliche Forschungsarbeiten und literarische Anthologien. Und die Liste von Schriftstellern, die sich suizidierten ist lang. Einer, Henry de Montherlant: „Wenn ich höre, wie man die Gründe für diesen oder jenen Selbstmord erklärt, habe ich immer den Eindruck eines Sakrilegs. Denn nur der Selbstmörder hat sie gekannt, und nur er war in der Lage, sie zu verstehen.“ 41 40

41

AMÉRY, J., Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Stuttgart 1976. 49 In Le Treizième César, zit. nach: MINOIS, G., Geschichte des Selbstmords. Düsseldorf, Zürich 1996. 465


„Existiert nicht lange schon ein Forschungszweig, der sich Suizidologie nennt und dem bedeutende wissenschaftliche Arbeiten zu verdanken sind? Natürlich. Sie sind mir nicht unbekannt; manche von ihnen habe ich durchgeackert. Ich habe das und jenes aus solchen fleißigen Zusammenstellungen gelernt: Wie, wo, warum Menschen sich zurücknehmen, welche Altersklassen die gefährdetsten sind, in welchen Ländern mehr und welchen anderen weniger Freitode man verzeichnet. Übrigens widersprechen die Statistiken einander oft, das gibt den Suizidologen Gelegenheit zu gelehrtem Zank. Was ich noch erfuhr: Begriffe. Kurzschluß-Selbstmord. Gut getroffen. Oder: Narzisstische Krise. Auch nicht schlecht. (…) Wie einfach das doch alles ist, man braucht nur aufmerksam der Fachliteratur zu folgen und weiß dann – was? Nichts.“ 42 Améry zitiert auch Wittgenstein, zitiert ihn mit den Worten „Zu einer Antwort, die es nicht gibt, kann man auch die Frage nicht aussprechen.“ 43 42

43

AMÉRY, J., Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Stuttgart 1976. 12 ibd. 110


Wittgenstein himself: „Wenn der Selbstmord erlaubt ist, dann ist alles erlaubt. Wenn etwas nicht erlaubt ist, dann ist der Selbstmord nicht erlaubt. Dies wirft ein Licht auf das Wesen der Ethik. Denn der Selbstmord ist sozusagen die elementare Sünde. Und wenn man ihn untersucht, so ist es, wie wenn man den Quecksilberdampf untersucht, um das Wesen der Dämpfe zu erfassen.“ 44 „For Wittgenstein, suicide was not only a subject for philosophical reflections, but also an intensely personal matter. (Three of Wittgenstein’s brothers commited suicide, and he contemplated killing himself at several points throughout his life.)“. 45 „Endlich ein Rat für die Herrn Pessimisten und andre décadents. Wir haben es nicht in der Hand zu verhindern, geboren zu werden: aber wir können diesen Fehler – denn bisweilen ist es ein Fehler – wieder gutmachen. Wenn man sich abschafft, tut man die achtungswürdigste Sache, die es gibt: man 44

45

WITTGENSTEIN, L., Schriften. Band 1. Frankfurt/M. 1960. 185 [Tagebucheintrag vom 10.01.1917] PAPERNO, I., Suicide as a Cultural Institution in Dostoevsky’s Russia. Ithaca, London 1997. 160


verdient beinahe, damit zu leben ...“ 46 „I can never drive my car over a bridge without thinking of suicide [. . .] I mean, I won't linger on it at all. But it will flash on me: SUICIDE. Like a light going on. In the darkness. That there is an out helps you stay in. Get it?“ 47

FIN „Zwischen zwei Eckbällen hatte man hinter meinem Rücken dreitausend Menschen vergast.“ 48

46

47

48

NIETZSCHE, F., Streifzüge eines Unzeitgemässen. Götzen-Dämmerung. Werke in zwei Bänden. München, Wien 1967. Band 2, 379 BUKOWSKI, C., The Captain Is Out To Lunch. Santa Rosa 1998. 18 BOROWSKI, T., Und sie gingen ... in: Die steinerne Welt. München 1970. 143



Supplement

Future Directions in Dreams of Suicide


Jack London hat sich nicht suizidiert !


AUS/SCHNITT

AUF

SCHNITT


Abb. 6 Handlungsvollzug: „Ich bin gerade dabei, mich von einer unerträglichen Welt zu befreien.“

„finale Scheinkommunikation“

Schlußfolgerungen (PREVIOUS RESEARCH SUGGESTS)


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