Lebens- und Kulturraum Lauchetal im Kanton Thurgau

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Heinz Roggenbauch

Lebens- und Kulturraum

Lauchetal



Heinz Roggenbauch

Lebens- und Kulturraum Lauchetal


Impressum Umschlag

Lauchetal im Oktober 2013 Foto: Ueli Mattenberger, VMA Media

Fotografische Impressionen Lauchetal Seiten 4, 8, 83, 107, 176, 179

Ueli Mattenberger, VMA Media

Layout, Satz, Bildbearbeitung

VMA Media AG, Affeltrangen

Lektorat und Korrektorat

Bruno Naumann, Stettfurt

Druck

Niedermann Druck AG, St. Gallen

Bindearbeit

Buchbinderei Burkhardt AG, Mönchaltdorf

Mai 2014 Anhang Am Schluss des Buches befindet sich eine Luftaufnahme des Lauchetals, kreiert von A. Berweger von geotopo, Frauenfeld, reproduziert mit Bewilligung des Amtes für Geoinformation des Kantons Thurgau vom 16.10.2013 Vorbemerkungen zur Schreibweise Wir haben für unbestimmte Personenbezeichnungen wie z.B. Forscherinnen/Forscher oder Bewohnerinnen/Bewohner – so, wie es der Duden nach wie vor als korrekt für beide Geschlechter erachtet – nur die männliche Form gewählt.


Inhaltsverzeichnis

Entstehungsgeschichte des Lauchetals

Leben kommt ins Tal

Herrschafts- und Gerichtssysteme

Das heutige Tal

Besonderheiten aus dem Tal

Die Gemeinden

Die Jugend – unsere Zukunft

Vorwort des Verfassers

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Geleitwort eines gebürtigen Lauchetalers

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Gletscher formten unser Tal

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Archäologische Fundstellen

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Voraussetzungen und Anfänge der Besiedlung

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Unsere Vorfahren – eine geschichtliche Abfolge

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Die Christianisierung

39

Die Besiedlungsstruktur und erste Erwähnungen der Taldörfer

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Regelungen des Zusammenlebens

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Die Toggenburger und die Komturei Tobel

62

Burgen und Schlösser im Tal

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Der Bach, der dem Tal den Namen gab

85

Landwirtschaft

98

Wasserwirtschaft

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Verkehrsanbindung

141

Bedeutende Persönlichkeiten

155

Das Lauchetal als militärstrategische Zone

171

Politische Gliederung, Statistiken, Charakteristika

179

Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten

187

Schul- und Bildungswesen

199

Kultur

202

Gesundheit und Soziales

206

Eine Vision

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Vorwort des Verfassers

Vorwort des Verfassers Unsere «Thurgauer Hymne», dessen Text einst vom jungen Weinfelder Seminaristen namens Johann Ulrich Bornhauser verfasst wurde, drückt in seiner ersten Strophe die Schönheit des Kantons aus. «O Thurgau du Heimat wie bist du so schön, dir schmücket der Sommer die Täler und Höh'n! O Thurgau du Heimat wie bist du so hold, dir tauchet der Sommer die Fluren in Gold.» Auch wenn in der Touristikwerbung von Bund und Kanton das Lauchetal wenig vorkommt, ist es nicht vermessen, schon die erste Strophe unseres Thurgauer Liedes auf unser Tal anzuwenden. Eine Bestätigung dieser Aussage findet der Leser auf einer Wanderung im Sommer vom Schloss Sonnenberg durch den kühlen Wald nach Wetzikon; unterwegs gibt der Wald an mehreren Stellen den Blick frei ins sympathische Lauchetal. Über das Lauchetal schrieben Jakob Fröhlich und Ulrich Graf in ihrer «Geschichte der ehemaligen Baumwollspinnerei Lauchetal» bei Lommis im Jahre 1913: «Wer seine Heimat lieben soll, muss sie genau kennen, und zwar nicht bloss geographisch, sondern auch geschichtlich. Erst dann bekommt eine Gegend Leben und Inhalt, und das Auge bleibt an manchen Dingen haften, an denen es sonst achtlos vorüberginge. Gerade in letzterer Hinsicht ist das Lauchtal sehr interessant.»

Diese Grundgedanken waren und sind Motivation und Leitidee für die Erarbeitung dieses Buches. Oberflächlich betrachtet gibt es hier zwar weder Erscheinungen oder Begebenheiten von aussergewöhnlicher Bedeutung. Auch verläuft keine grosse Verkehrsader – weder Schiene noch Strasse – durch unser Tal. Ob die Radrennfahrer der Tour de Suisse, die im Juni 2011 auch das Lauchetal durchradelten, etwas von der schlichten Schönheit dieser Region mitbekommen haben, darf bezweifelt werden; vielleicht und hoffentlich aber die vielen Zuschauer von nah und fern, die zu diesem Anlass an die Rennstrecke gekommen sind und Sportinteressierte an den Fernsehschirmen. Um die Bedeutung des Lauchetals als Lebens- und Kulturraum erkennen und schätzen zu können, ist es aufschlussreich, zunächst in die Vergangenheit zu blicken. Die geologische Entwicklung in dieser Region ist ebenso faszinierend wie die bisherigen archäologischen Funde sowie die Geschichte der ursprünglichen Besiedlung der Ostschweiz. Genauso ist es wertvoll, das Leben und Wirken der Menschen in den verschiedenen Zeitepochen in den Dörfern dieses Tals aufzuzeigen und die vielen natürlichen Kleinodien dieses Gebietes darzustellen und all dies zu einem Buch zusammenzutragen. Die vielen Schlösser und Burgen, die in unserem Tal existierten und von denen nur noch ein Bauwerk ganzheitlich erhalten blieb, lassen auf vielfältige Herrschafts- oder

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Vorwort des Verfassers

Regierungs-Strukturen schliessen. Als Folge dieser Herrschaftsgebiete (Sonnenberg, Lommis, Tobel), neben Gründen, die aus der Reformationszeit herrühren, entstand eine Art unsichtbare, aber merkbare Grenze bei Lommis zwischen dem oberen und dem unteren Lauchetal. Dieses Buch will denn auch einen Beitrag zur Überwindung der genannten «Trennung» leisten. Seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat eine lokale und regionale Zusammenarbeit in mehreren Lebensbereichen unter den Dörfern eingesetzt. Es ist lohnend, dies darzustellen und wir haben versucht aufzuzeigen, in welchen Gebieten solche Zusammenarbeiten weiter entwickelt und gefördert werden könnten. Die vorliegende Arbeit ist in vielen Teilen eine verdichtete Darstellung von Erkenntnissen aus einschlägigen Fachbüchern sowie vielen Gesprächen mit Fachleuten aus verschiedensten Wissensgebieten. Die verwendete Fachliteratur haben wir, auch zur Vertiefung von entsprechendem Wissen der Leserschaft, am Schluss jedes Kapitels aufgeführt. Auch die Hauptgesprächspartner zu einzelnen Kapiteln sind im Quellennachweis am Ende der einzelnen Kapitel erwähnt. Neben der persönlichen Wissenserweiterung über unser ländlich-sympathisches Lauchetal, war die Begegnung mit den vielen Menschen, die uns bei der Erarbeitung dieses Werkes halfen, eine wohltuende Bereicherung.

Quellennachweis Bornhauser Johann Ulrich Fröhlich Jakob, Graf Ulrich

Es ist uns deshalb ein echtes Bedürfnis, an dieser Stelle allen zu danken, die an der Erarbeitung dieses Buches mitgewirkt haben. Besonders ermutigend für uns war, wie hilfsbereit und hilfreich sämtliche Repräsentanten der kontaktierten Amtsstellen, Amt für Archäologie, Amt für Landwirtschaft, Amt für Umwelt, das Staatsarchiv sowie die Kantonsbibliothek, waren. Das gilt ebenso für alle Gemeindeammänner der Politischen Gemeinden im Lauchetal. Ein besonderer Dank geht an Bruno Naumann, der als Lektor/Korrektor neben der sprachlichen Aufgabe inhaltliche Lücken und Überschneidungen aufzeigte und oft Kritiken und Fragen anbrachte, die zur besseren Verständlichkeit und Übersicht beitrugen, sowie an Ueli Mattenberger, welcher die Buchgestaltung mit Bildbearbeitung hervorragend ausgeführt und den Buchdruck und das Binden koordiniert hat. Auch meiner Frau Elisabeth gebührt Dank; sie hat in verschiedenen Bereichen aktiv mitgeholfen und musste im Übrigen auf viele gemeinsame Unternehmungen verzichten. Zusammen mit diesen Frauen und Männern hoffe ich, Ihnen mit diesem Buch Freude zu bereiten und wissenswerte Kenntnisse über das ländliche Idyll Lauchetal im Thurgau vermitteln zu können. Stettfurt, Frühjahr 2014 Heinz Roggenbauch

Text der Thurgauer Hymne Geschichte der ehemaligen Baumwollspinnerei Lauchetal


Geleitwort eines gebürtigen Lauchetalers

Geleitwort eines gebürtigen Lauchetalers Liebe Leserinnen und Leser Der Verfasser dieses Werkes hat mich für ein Geleitwort angefragt. Diesem Wunsch komme ich deshalb gerne nach, weil ich mich darüber freue, dass sich jemand bemüht, dieses schöne Tal in seiner Vielfalt zu beschreiben und dieses Wissen allen Talbewohnern zu vermitteln. Dieses Buch beinhaltet die Entwicklung dieser Region von dessen geologischer Entstehung bis in die heutige Zeit. Es zeigt die geschichtliche Entwicklung auf, führt durch verschiedene Bereiche des täglichen Lebens zur Wirtschaft mit Arbeitsmöglichkeiten, orientiert über die aussergewöhnlichen Naturschönheiten in dieser Region und informiert schliesslich über die kulturelle Vielfalt. Ich bin auf dem «Greuthof», einem mittelgrossen Landwirtschaftsbetrieb aufgewachsen und habe hier meine Wurzeln. Der Greuthof gehört zur Gemeinde Wängi, darf aber, hydrologisch betrachtet, dem Lauchetal zugerechnet werden. Der Hof liegt südöstlich des Dorfes Stettfurt auf der «Südrampe» des Lauchetals; von meinem Hof aus kann ich täglich einen grossen Teil dieses Tals überblicken. Der Betrieb Greuthof, den ich mit meiner Frau Madeleine in vierter Generation Walter führen darf, ist ein

historisches Objekt. «Der Hof» – so schreibt der Geschichtsforscher Louis Hürlimann in seinem Werk «Der Greuthof» aus dem Jahre 2004 – «sei über 400 Jahre im Besitz der Klöster Tänikon und Fischingen gewesen. 1306» – so Hürlimann weiter – «wurde dieser Hof erstmals urkundlich erwähnt.» Dieser Hof – ursprüngliche Bezeichnung «hof ze dem Gerüte» – war also in einer sehr frühen Entwicklungsphase des Lauchetals entstanden. Neben meiner hauptberuflichen Tätigkeit als Landwirt bin bzw. war ich als Folge meiner Arbeiten im Bundesparlament und als ehemaliger Präsident des Schweizerischen Bauernverbandes öfters abwesend. Nach jeder Abwesenheit komme ich gerne auf meinen Hof und ins Lauchetal zurück; es ist meine Heimat, die ich liebe, wo ich meinen Kopf stets wieder «ausluften» und wo ich neue Kräfte schöpfen kann. Liebe Leserinnen und Leser, ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen dieses informativen Buches über unser Lauchetal. Herzlich Ihr Hansjörg Walter

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Entstehungsgeschichte des Lauchetals

Geologische Abbildung: «Karte AATG, Keller/Krayss, www.archaeologie.tg.ch»



Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Gletscher formten unser Tal

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Gletscher formten unser Tal

Stratigrafische Einheiten

Mio Jahre 0 Quartär

NW

Pliozän o.

Hegau

m. Miozän u.

30

Oligozän

OSM

USM

40 50

Eozän Schichtlücke, d.h. aus dieser Zeit sind bei uns keine Ablagerungen erhalten

Paleozän 70

Die heutige Ostschweiz war damals von einem weitverzweigten Flusssystem durchzogen. Diese Flüsse führten zeitweise grosse Mengen von Schwemmmaterial, bestehend aus verschiedenen Arten von Kies, Sand und Schlamm und lagerten diese in Überschwemmungsgebieten, untiefen Seen und Sümpfen ab. Die «Ebene» lag deshalb in jener Zeit mit mehreren 100 m ü.M. deutlich höher als heute. Bild Nr. 12 soll eine Vorstellung des damaligen Landschaftsbildes vermitteln.

80 100

Ober

Kreide Unter

150

Malm Dogger

200

Unterkreide ?

Jura

Um die Entstehung des Lauchetals zu erläutern, ist es sinnvoll, die Zeit um rund 15 – 17 Millionen Jahre zurückzudrehen, in die Phase des mittleren Miozän. Nach der Rückbildung des MolasseMeeres – ein Meeresarm erstreckte sich entlang des jungen Alpenkranzes vom Mittelmeer bis nach Niederösterreich und Ungarn – begann die Zeit der Oberen Süsswassermolasse; diese Periode dauerte rund 8 Millionen Jahre. Die Zeitspanne von 15 – 10 Millionen Jahre vor heute beinhaltete die Schlussphase der Alpen-, insbesondere der Voralpenbildung. Damals entstanden u.a. der Alpstein und die Churfirsten. Das Alpenvorland war bis dahin aber grösstenteils flach.

ERDNEUZEIT

20

SE

ERDMITTELALTER

10

Ablagerungen der Nordostschweiz

Lias

Trias 250 300

Perm Karbon Kristallines Grundgebirge

Bild Nr. 11 Geologische Zeitskala

ERDALTERTUM

Bevor wir die Entstehung des Lauchetals erläutern, wollen wir der Übersicht halber, vorab mit der nebenstehenden Tabelle, die letzten rund 400 Millionen Jahre der Erdentwicklung darstellen. Für diese Zeitspanne hat die Wissenschaft bereits recht konkrete Erkenntnisse erarbeitet. Die Geschichte der Erdentwicklung geht aber viel weiter zurück. So schätzt die Wissenschaft, dass der sogenannte Urknall, also die Entstehung von Materie, Raum und Zeit, sich vor rund 13,8 Milliarden Jahre ereignet haben soll. (Diese Angabe stammt vom Theologen und Physiker Georges Lemaître aus dem Jahr 1931.)

Geologische Zeitskala

TER TIÄR

Einleitung Wer das Staunen verlernt hat, dem empfehlen wir, sich mit Geologie – das ist die Lehre vom Bau der Erde und ihrer Entstehungsgeschichte – zu befassen. Dabei muss man in Hunderttausenden oder gar Millionen von Jahren denken.


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Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Gletscher formten unser Tal

wurden durch das so gebildete neue Relief kanalisiert. So entstanden u.a. das Linth – Limmat-, das Töss- sowie das Thursystem. Dabei entstanden die Talanlagen in groben Zügen, so auch jene des Thur-, Murg- und Lauchetals.

Bild Nr. 12 Schwemmebenen mit verzweigten Flussystemen – hier in Neuguinea

Durch das angeschwemmte Material entstand in unserer Gegend ein riesiger fächerartiger Schuttkegel; die Fachwelt nennt ihn den «Hörnli Schuttfächer». Er hat sich aus der Region Gonzen (am Ur-Rhein) bis in die Vulkanregion Hegau (nördlich Schaffhausen), bis an den Bodensee und in die Region Winterthur – Zürich ausgebreitet. Durch die periodischen Regenfälle ergaben sich auch Materialumlagerungen. Über eine längere Zeitdauer wurde dieses Ablagerungsmaterial zu Molasse-Gesteinen verfestigt, wie z.B. Nagelfluh, Sandstein, Mergel, Süsswasserkalk und, untergeordnet, auch Kohleflözchen. Im Zuge der abschliessenden Alpenfaltung und der Platznahme der nördlichen alpinen Schichtmaterial-Decken wurden die inzwischen stark verfestigten Molassegesteine durch Pressung stark beeinflusst. In der Ebene schnitten sich die Flusssysteme in die Landschaft und

Vor rund 5 – 2,5 Millionen Jahren begann sich das Klima abzukühlen; Eiszeiten kündigten sich an. Die Wissenschaft geht von 15 – 20 unterschiedlich stark ausgeprägten Eiszeiten aus, die sich in einem Rhythmus von rund 50 000 – 100 000 Jahren mit Warmzeiten abwechselten. Während der grossen Eiszeiten, welche vor rund 1,5 Millionen Jahren begannen, stiessen die damaligen Rhein-/Thurgletscher aus dem Raum Graubünden – Alpstein – Toggenburg mehrmals bis ins Lauchetal vor. Die letzte Vorlandvergletscherung nahm vor rund 30 000 Jahren ihren Anfang und erreichte die Maximalausdehnung vor rund 24 000 Jahren. Alle Vorlandgletscher haben ihrerseits zur Feingliederung der kleineren Täler – auch des Lauchetals – beigetragen. Sie überdeckten die Täler mit teilweise bis zu 600 m mächtigem Eis. Dabei wurden die vorher bestandenen Geländerippen zu Rundhöckern und Hangrücken abgeflacht. Die Gletscher der Eiszeiten, vornehmlich der letzten Eiszeit, haben uns eine Anzahl Erinnerungsstücke, die sogenannten Findlinge oder erratischen Blöcke hinterlassen. Sie sind meist von den jungen Bergen der Alpen und Voralpen abgebrochen und auf dem Gletschereis transportiert worden. Man findet sie an verschiedenen Orten in der Schweiz, so auch im Thurgau. Die Gesteinsart dieser Erratiker zeigt meist auf, woher sie stammen. Zwei solcher Findlinge liegen auf dem Imenberg ob Stettfurt; es handelt sich dabei um je einen:


Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Gletscher formten unser Tal

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· TÖDIGRANIT (biotitreich und gepresst – zwei Brocken) aus dem Val Russein (Seitental des Vorderrheintals zwischen Disentis und Somvix); dieser befindet sich im Bergholz; Strasse zum Schloss, ab Freudenberg zweites Strässchen nach links. · MUSCHELKALKSANDSTEIN (Seelaffe) vom Rorschacherberg; dieser liegt links an der Strasse zum Schloss Sonnenberg in der letzten Waldparzelle. An mehreren Orten in der Ostschweiz wurden sogenannte Findlingsgärten angelegt, in welchen eine grössere Anzahl von Findlingen liegen, die mit ihrer Gesteinsart und Herkunft beschriftet sind. Aus unserer Region seien zwei solcher Findlingsgärten erwähnt, nämlich: einer westlich des Dorfes Mettlen (Gemeinde Bussnang) am Waldrand des rekultivierten Kiesgrubenareals und einer an der Autobahn N 7 bei Schwaderloh, Gemeinde Kemmental. Der Besuch eines solchen Findlingsgartens ist ein lehrreicher Familienspaziergang. Nach dem Maximalstand des letzteiszeitlichen Gletschers, vor rund 24 000 Jahren, setzte das allgemeine Abtauen der Vorlandgletscher ein. Im Zuge der ausgehenden letzten Eiszeit hinterliess der rückschmelzende Gletscherarm im Lauchetal am Westrand des Dorfes Stettfurt in der Gegend «Sandbühl» auch einen Endmoränenwall. Hinter diesem talabschliessenden Riegel stauten sich Schmelzwässer zu einem See, dem Lauchetalsee auf einer Höhe von rund 465 m ü. M. Dieser See hatte eine Länge von rund 5 km und reichte damit zurück bis kurz vor Zezikon; es war nur ein flaches Gewässer von meist weniger als 10 m Tiefe. Nebst dem Wasser des abschmelzenden Gletschers wurde der See durch die Lauche mit seinen Nebengewässern, dem Hartenauer Bach

sowie dem Kaa Bach, welche auch wiederum Schutt und Geröll mitführten, gespeist. Mit der Zeit hielt der wenig markante, eher schwache Moränenriegel den sich einfressenden Wassermassen nicht mehr stand, weshalb der Lauchetalsee überfloss und der Moränenwall weitgehend eingeebnet wurde. Die Lauche fand damit ihren Lauf Richtung Matzingen, wo sie in die Murg mündet. Vor rund 12 000 Jahren hatten sich die Gletscher bis in die inneren Voralpen auf heutige Ausmasse zurückgezogen, was dem Ende der letzten Eiszeit entspricht. Als Folge davon entstanden Seen, Tümpel und Sümpfe. Im verlandeten Seengebiet entstanden ausgedehnte Torfmoore. Überreste davon gibt es noch heute, nämlich das Märwiler Ried, das Wingerter Ried und das Lommiser Ried (nördlich bzw. südlich des Flugplatzes von Lommis

Bild Nr. 13 Findlingsgarten bei Mettlen


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Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Gletscher formten unser Tal

gelegen). In diesen Sumpfgebieten wurde noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts Torf gestochen. Nicht auf den Lauchetalsee zurückzuführen sind das ehemalige Moor «Schalchmoos»; es lag zwischen Stettfurt und Wängi und wurde im Zuge der Güterzusammenlegungs- und Drainage-Aktivitäten in den 1950er-Jahren entwässert und aufgehoben, sowie das Grütried. Beide Gebiete liegen rund 25 m über dem Talboden, sind also wohl undurchlässige Überreste der dortigen Grundmoränen-Landschaft. Die seit dem Abschmelzen des Eises freigelegten Abhänge am Sonnenberg und Imenberg waren der ausgeprägten Verwitterung ausgesetzt. Einzelne exponierte Hanglagen gerieten in einen labilen Zustand, was zu Geländerutschungen führte. So berichtet Jakob Stutz in seiner Stettfurter Dorfchronik – «sei vor vielen hundert Jahren am Südabhang des Sonnenbergs unterhalb des Schlosses ein Erdrutsch niedergegangen, der ein mehrere Jucharten grosses Gebiet kulturunfähig machte.» Von daher heisst jene Region am Strässlein von Stettfurt nach Kalthäusern «Wüesti». «Die Gesamtheit all der geschilderten erdgeschichtlichen Faktoren in ihrer zeitlichen Abfolge waren es, die uns das heutige Bild der sich im Lauchetal befindenden, so harmonisch anmutenden Oberflächenformen entstehen liessen.» So lautet eine Zusammenfassung des Frauenfelder Geologen Erich R. Müller.

Klima, Vegetation und Tierwelt Die Vegetation widerspiegelt das Klima. Während man für die Vegetation und die Tierwelt anhand von Fossilienfunden in Sedimenten Zeitdatierungen vornehmen kann, ist dies beim Klima nicht so eindeutig möglich. Als behelfsmässiges Mittel zur Zeitdatierung von Klima-Verhältnissen gibt es die sogenannte Pollen-Sequenz-Methode. Aus der wissenschaftlichen Klimaforschung ist heute bekannt, dass in der Zeitspanne von zirka 17 – 5 Millionen Jahre vor heute in unserer Region noch ein nahezu subtropisches Klima mit durchschnittlichen Temperaturen von 15 – 17 ° C herrschte. Danach begann sich das Klima – wie früher erwähnt – zunehmend stark abzukühlen. Im Vergleich zu damals war die durchschnittliche Temperatur in der Schweiz im Jahre 2010 nach Aufzeichnungen von Meteo 8,4 ° C. Nebst dem genannten Temperatur-Niveau soll es in der Region Thurgau jährliche Niederschläge von 130 – 150 cm p.a. gegeben haben. Diese Temperaturen und Niederschläge waren ideale Voraussetzungen für eine üppige Pflanzen- und Tierwelt. Nadelwälder im heutigen Sinne gab es noch nicht. Entlang der Flussläufe wuchsen Palmen, Lorbeer- und andere immergrüne Laubbäume. Im Vergleich zu den damaligen Niederschlagsmengen betrugen diese z.B. in Affeltrangen im Jahre 2010 lediglich 106 cm. Hinsichtlich Tierwelt verweisen wir auf Bild Nr. 14. Die folgende Eiszeit, die sich über Jahrhunderte entwickelte, hatte einschneidende Veränderungen der Vegetation zur Folge. Bäume, Sträucher und weitere Pflanzen


Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Gletscher formten unser Tal

gingen nach und nach ein, entsprechend dem Absinken der Temperaturen. In der Tierwelt überlebten fast ausschliesslich kälteresistente Tierarten wie Mammut, Moschusochsen und ähnliche. Als die Eiszeitgletscher den Thurgau freigaben, herrschten noch einige Jahrtausende lang eiszeitliche Klimaverhältnisse, die nur eine baumlose Tundra zuliessen. Bild Nr. 15 soll veranschaulichen, wie unsere Region damals ausgesehen haben könnte.

so etwas wie grossräumige Wanderungen der Pflanzenwelt ein. Erste Baumarten wie Föhre (Kiefer), Birke und ähnliche konnten Fuss fassen. Später folgte die «Einwanderung» von wärmeliebenden Baumarten wie Eiche, Esche, Ulme und Linde; es bildeten sich zusammenhängende Mischwälder. Deutlich später kamen die aus dem Balkan stammende Fichte (Rottanne) und Buche, sowie die aus dem Süden «zugewanderte» Weisstanne dazu; diese drei Baumarten drängten die grossen Eichenwälder zurück.

Mit der einsetzenden Erwärmung der Erdoberfläche begann sich auch nach und nach wieder eine vielfältige, ja noch vielfältigere Vegetation zu entwickeln. Es setzte

Die Frauenfelder Archäologen schreiben in der Zusammenfassung der geologischen Entwicklung unserer Region Folgendes: «Die geologische Geschichte des

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Bild Nr. 14 Lebewelt zur Zeit der OSM


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Bild Nr. 15 Baumlose Tundra nach Schmelzen der Eiszeitgletscher – hier in Spitzbergen

Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Gletscher formten unser Tal

Thurgaus erweist sich als recht bewegt. Insbesondere die Eiszeiten haben mit ihren gewaltigen Vorlandgletschern die Landschaft nachhaltig «überarbeitet» und umgestaltet. Dies gilt auch für die Entwicklung der Klimaverhältnisse.»

Einflüsse von Menschen abgespielt haben. Die Menschheitsgeschichte ist noch nicht in allen Details geklärt. Wir halten hier lediglich der Vollständigkeit halber ein paar allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse fest.

Und wo bleibt der Mensch Zunächst ist festzuhalten, dass sich die phänomenalen geologischen und klimatischen Entwicklungsprozesse (fast möchte man sagen: zum Glück) ohne irgendwelche

· Die These von Charles Darwin, dass die Menschheitsgeschichte in Afrika begann, ist heute allgemein anerkannt.


Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Gletscher formten unser Tal

· Ebenso ist wissenschaftlich anerkannt, dass der Mensch eine evolutionäre Weiterentwicklung von gewissen Affenarten, hauptsächlich Schimpansen und Gorillas ist. · Die Einwanderung des modernen Menschen (homo sapiens) fällt in die jüngeren Abschnitte der eurasischen Altsteinzeit; sie fand also rund 40 000 – 10 000 Jahre vor heute am Ende der jüngsten Eiszeit statt. · Neben der ausgestorbenen Gruppe der «Neandertaler» konnte der «moderne Mensch» erstmals 36 000 Jahre vor heute, also innerhalb der letzten

Eiszeit aber vor dessen Maximalausdehnung, in Rumänien durch Fossilfunde belegt werden. · Die starke Ausbreitung der modernen Menschen setzte dann aber erst nach dem Ende der letzten Eiszeit ein, in einem Zeitraum also, wo der Mensch sich aktiv der Gestaltung seiner Umwelt und der Nahrungsmittelerzeugung widmen konnte. Die Besiedlung des Lauchetals wird in einem separaten Kapitel behandelt.

Begriffs-Erläuterungen Miozän Phase der Erdgeschichte – etwa 23 Mio. bis 5,3 Mio. Jahre v.Chr. OSM Obere Süsswassermolasse Molasse Aus den entstehenden Alpen abgetragenes Gesteinsmaterial Sedimente Ablagerungsgesteine Altsteinzeit Zeitraum 2,0 Mio. bis 9 500 Jahre v.Chr. TNG Thurgauische Naturforschende Gesellschaft Quellennachweis Amt für Archäologie Geologischer Atlas der Schweiz Mitteilungen der TNG Müller Erich R. Müller Erich R. Müller Erich R. Stutz Jakob

Archäologie im Thurgau 2010 Blatt 1073 – Wil Band 55 – 1999, Geologie des Kantons Thurgau Zusammenfassende Darstellung der Entstehungsgeschichte von Stettfurt – September 1988 Die Vergletscherung des Kantons Thurgau während der wichtigsten Phasen der letzten Eiszeit – 1979 Mehrere Gespräche mit dem Autor Stettfurter Chronik

Bewilligungsnachweis urheberrechtlich geschützter Bilder Bild Nr. 11 TNG Mitteilung Band 55, Dr. Naef Bild Nr, 12 Amt für Archäologie, O. Keller Bild Nr. 14 TNG Mitteilung Band 55, Dr. Wyss Bild Nr. 15 Amt für Archäologie (AfA)

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Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Archäologische Fundstellen

Archäologische Fundstellen In der Schweiz begann die aktive und gezielte Tätigkeit der archäologischen Forschung mit der Entdeckung der ersten Pfahlbausiedlungen im 19. Jahrhundert; es ist damit eine recht junge wissenschaftlich fundierte Aktivität. Ihre Aufgabe ist die Erforschung der Geschichte von Objekten und Menschen früher und frühester Zeitabschnitte, worüber bisher keine schriftlichen Quellen vorhanden sind. Während über viele Jahrzehnte die Eigentumsregelung für gefundene Objekte und Gegenstände unklar war, wurde mit der Einführung des ZGB (Schweizerisches Zivilgesetzbuch) im Jahre 1912 eine klare Rechtsgrundlage dafür geschaffen. In Art. 724 dieses Gesetzeswerkes ist u.a. festgelegt, dass – «herrenlose Naturkörper oder Altertümer von erheblichem wissenschaftlichem Wert» – Eigentum desjenigen Kantons sind, in welchem sie gefunden wurden. Die archäologische Forschung ist Aufgabe der Kantone. In unserem Kanton forschten zunächst ausserkantonale Stellen, z.B. das Schweiz. Landesmuseum, sowie interessierte Einzelforscher, wie z.B. Pfarrer Sulzberger und Dekan Pupikofer. Professioneller wurde es zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nach dem ersten Weltkrieg, mit Karl Keller-Tarnuzzer. Ursprünglich war er Lehrer mit starkem Interesse für Urgeschichte und Archäologie. Dieser initiative Mann wurde zum kantonalen Konservator ernannt, was de facto dem ersten Kantonsarchäologen gleich kam; daneben amtete er als Schulinspektor. Im Kanton war es vor allem der Historische Verein, welcher sich der archäologischen Forschung annahm.

Am 1. Januar 1984 wurde das Amt für Archäologie geschaffen mit Jost Bürgi als erstem offiziellen Kantonsarchäologen. Dieses Amt untersteht dem Departement für Erziehung und Kultur. Es umfasst ein Team von derzeit (im Jahre 2012) rund 20 Personen; sein Chef, als Nachfolger von Jost Bürgi, ist seit 1. Mai 2008 Dr. Hansjörg Brem. Vor seiner Ernennung zum Amtsleiter arbeitete er 15 Jahre als Adjunkt im Amt für Archäologie unter Jost Bürgi. Das Personal dieses Amtes setzt sich zusammen aus Archäologen, Grabungstechnikern, Restauratoren sowie Zeichnerinnen und Administrativpersonal. Diesem Amt untersteht auch das Museum für Archäologie; es befindet sich an der Freiestrasse 24 (Eingang von der Promenadestrasse her). Die Geschichte der Entwicklung der archäologischen Tätigkeiten, der Beschrieb der Fundstellen sowie der gefundenen Gegenstände in unserem Kanton ist im Buch «Archäologie im Thurgau» aus dem Jahre 2010 hervorragend dargestellt. Diesem Buch entstammen viele Teile dieses Kapitels. Im oben erwähnten Museum finden sich eine grosse Menge von archäologischen Funden; in einer Sonderausstellung können seit dem Jahre 2011 auch Elemente besichtigt werden, die aus Pfahlbausiedlungen im Thurgau stammen, welche als Weltkulturerbe anerkannt wurden. Wie kommen denn die Forscher an solche Fundstellen und Funde heran? Drei Möglichkeiten stehen im Vordergrund:


Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Archäologische Fundstellen

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Archäologische Fundstellen im Lauchetal Das Lauchetal, nicht aber die Hügelzüge die es eingrenzen, war im Nachgang zur letzten Eiszeit während langer Zeit sumpfiges Gelände und damit wenig attraktiv für eine grossflächige Besiedlung. Daher konnten bis heute auch recht wenige Fundstellen im Tal eruiert werden. Die wichtigsten Funde aus Grabungen bis zum Jahre 2007 wollen wir hier kurz beschreiben:

Bild Nr. 21 · Silex-Artefakte Fund Chraienriet südöstlich Kaltenbrunnen

· Zufallsfunde bei Bau- und Erdarbeiten, früher oft bei landwirtschaftlichen Arbeiten · Funde während geplanter Grabungen an bereits bekannten, archäologisch interessanten Orten bzw. bei zum Umbau vorgesehenen Objekten (Gebäuden oder Gebäudekomplexen) · Funde im Rahmen einer gezielten Suche im Gelände, der sogenannten Prospektion, z.B. auf Basis von Baugesuchen aus den Gemeinden. (Neuund Umbauten, Strassenbauprojekte usw.) Zur Altersermittlung von Objekten und/oder Vorgängen bedienen sich die Forscher allgemein anerkannter naturwissenschaftlicher Methoden. Die zwei wichtigsten sind: · Die Dendrochronologie = Analyse von Jahrringen langlebiger Bäume · Die Radiokarbon Analyse = Isotopenzerfall an organischen Materialien

Affeltrangen/Zezikon. In einem ehemaligen Torfmoor an der Westseite des Chraienriets (zwischen Kaltenbrunnen und Schmidshof, nordöstlich von Zezikon gelegen), fand Burkhard Reber 1875 mehrere Gefässfragmente, ein Steinbeil, Holzkohlestücke, Haselnüsse sowie einige Pfähle. Dieser Fund war bis Ende 2007 der älteste im Lauchetal. «Es sei» – so Reber – «auch ein

Bild Nr. 22 · Modell der jungsteinzeitlichen Seeufer-Siedlung Arbon-Bleiche


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Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Archäologische Fundstellen

schöner Dolch gefunden worden, der aber nicht aufbewahrt wurde.» Rebers Vermutung, es könne sich um eine Pfahlbausiedlung gehandelt haben, konnte später von Fachleuten nicht bestätigt werden. Die gefundenen Gegenstände sollen auf eine Zeit von ca. 4 000 Jahre vor heute zurückgehen. Lommis/Weingarten. «Die Wissenschaft nehme an» – so steht es in der Geschichte von Lommis – «dass die Region bereits in der Jungsteinzeit besiedelt war.» Nach einem Bericht von Keller-Tarnuzzer von 1948 – «fand man ein Bronzebeil, dessen genauen Fundort aber niemand mehr kenne.» Sonst entdeckte man in diesen Gemeinden bis heute erst Funde, welche aus der Römerzeit (ca. 15 v.Chr bis ca. 450 n.Chr.) stammen. Beim Bau der Gasleitung Elgg – Bischofszell konnte im Bereich des Lauchetals am Hangfuss des Imenbergs Material gefunden werden, das auf eine römische Villa schliessen lässt. Bild Nr. 23 Boden eines römischen Gefässes mit Stempel «Undere Tobelhof» (nördlich Lommis)

Bild Nr. 24 · Römische Gefässe und Kurzschwert – Fund bei Weingarten

Ebenfalls wurden bei Weingarten – unterer Tobelhof – am Fuss des Imenbergs römische Schichten angeschnitten, die auch Fundmaterial lieferten. 1925 wurden bei Entwässerungsarbeiten Reste einer grösseren Brandbestattung entdeckt. Neben Leichenbrand und Gefässfragmenten kam auch ein römisches Schwert (Gladius) zum Vorschein. Matzingen. Matzingen-Ronnen (südwestlich der Gemeinde Matzingen): Anlässlich der Erstellung der unter Weingarten erwähnten Erdgasleitung wurde 1994 eine Siedlungsschicht aus der Bronzezeit angeschnitten. Der Horizont zeichnete sich deutlich durch mehrere Steine ab; ausserdem waren Gruben und Pfostengruben mit Keilsteinen zu erkennen. Aus der mittleren/späten Bronzezeit wurden ausser Gefässkeramik auch eine Mahlplatte und Hüttenlehmfragmente geborgen. Insgesamt konnte die Schicht in einer leichten Geländesenke über 300 m weit verfolgt werden, so dass von einer grossflächigen Siedlung auszugehen ist.


Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Archäologische Fundstellen

Bild Nr. 25 · Wurfspiess (Ango) aus einem frühmittelalterlichen Grab bei Matzingen

Matzingen-Bahnhof: Gräberfunde im 19. Jahrh. sowie von 1907 und 1952 lassen darauf schliessen, dass sich im Bahnhofsareal ein grösserer Friedhof befunden hatte. Bedauerlicherweise liegen keinerlei Angaben zur Fundsituation vor. Besonders aufschlussreich ist ein Grabinventar, das ins Rosengartenmuseum Konstanz gelangte. Es handelt sich um einen «Ango» (Wurfspiess), zwei «Franzisken» (Wurfäxte), eine Pfeilspitze und eine Waffenausstattung, die typisch für die fränkische Oberschicht ist. Von medizinhistorischer Bedeutung ist ein Bruchband aus Eisen, das sich in der Sammlung des Amtes für Archäologie befindet. Stettfurt/Sonnenberg – die grosse Überraschung Im Jahre 2007 verkaufte das Kloster Einsiedeln das Schloss Sonnenberg nach über 330-jährigem Besitz an den Österreicher Christian Baha. Im Nachgang zum Erwerb dieses Gebäudekomplexes liess der neue Besitzer verlauten, dass er dieses Objekt zu einem seiner Wohnsitze einrichten möchte und daher eine grössere Sanierung plane. Bei statischen Untersuchungen auf der Nord- und Ostseite des Schlosses wurden mächtige holzkohlehaltige Schichten angeschnitten. Prähistorische Keramik kam zum Vorschein. Daraufhin realisierte das Amt für

Archäologie umgehend eine sogenannte ungeplante Notgrabung, zunächst vom 27.5. – 18.12.2009 und vom 20.7. – 4.8.2010. Das Fundmaterial brachte erstaunliche Mengen von Keramik, Knochen, Geweihartefakte, Beilklingen und Silexartefakte (von Menschen bearbeitete Feuersteine, z.B. zu Werkzeugen) an den Tag. Siehe dazu Bild Nr. 32 auf Seite 26. Auf Grund allen Fundmaterials konnten die Fachleute feststellen, dass sie damit die älteste bisher entdeckte Höhensiedlung im Kanton Thurgau fassen konnten. Ebenso wurden hier die ältesten Keramikgegenstände, unter anderem ein gut erhaltener einstichverzierter Kugelbecher gefunden. Die Funde gehen in die Jungsteinzeit zurück. Erste Ansiedlungen können auf ca. 6 300 Jahre vor heute festgelegt werden. Auch hier waren es wahrscheinlich halbnomadisierende Menschen, die jeweils eine bis zwei Generationen ansässig waren, bevor sie weiterzogen. Nachkommende Siedler haben zuerst meist eine Brandrodung durchgeführt und dann neu aufgebaut und angepflanzt. Diese Brandrodungen können bei Ausgrabungen als verkohlte Erdschichten nachgewiesen werden. Die Aufhebung dieser Höhensiedlung (andere Höhensiedlungen sind im Kapitel «Voraussetzungen und Anfänge der regionalen Besiedlung» aufgeführt) wird von den Archäologen auf das Ende der Frühbronzezeit, also auf ca. 4 000 Jahre vor heute datiert. Die Hauptstandorte der Siedlung selbst sind auf dem Plateau und somit hauptsächlich unter dem heutigen Schloss zu suchen. Wer die Menschen waren, die hier gehaust haben, woher sie kamen, welchen Völkerstämmen sie angehörten

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Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Archäologische Fundstellen

und wohin sie nach Aufgabe dieser Höhensiedlung gingen oder was sonst mit ihnen geschah, konnte bis heute nicht ermittelt werden. Das gesamte Fundmaterial vom Sonnenberg harrt (2013) noch der wissenschaftlichen Auswertung im Amt für Archäologie. Besonders bekannte Fundstellen im Thurgau, ausserhalb des Lauchetals Lediglich fünf solcher Fundstellen seien hier stichwortartig aufgeführt: Arbon-Bleiche. Dies ist die bisher grösste Fundstelle im Thurgau. Es konnten 7 Teilgebiete eruiert werden; Grabungen wurden 1885, 1921, 1944/45, 1991, und 1993 – 1995 durchgeführt. Diese ergaben Funde aus der Jungsteinzeit, der Bronzezeit, der Eisenzeit und auch der Römerzeit. Man fand u.a. 1450 Hauspfähle aus Weisstanne, Esche, Pappel und Erle, worauf mindestens vier Häuserzeilen standen. Das älteste Haus stammt nach Berechnung der Archäologen aus der Jungsteinzeit und sei 3 384 v.Chr. gebaut worden; rund 15 Jahre später fiel das ganze Dorf einer Brandkatastrophe zum Opfer. 1944/45 entdeckte Keller-Tarnuzzer eine weitere riesige Ufersiedlung aus der Früh- bis Mittelbronzezeit, also ca. 1 750 Jahre v.Chr.. Er grub auf ca. 2 800 m2 Fläche – «die Siedlung sei aber deutlich grösser gewesen.»

Eschenz-Insel Werd. Dieses Gebiet war schon früh ein beliebter Siedlungsraum. Reichhaltige Funde kamen hier zum Vorschein, so u.a. eine geknickte Rückenspitze (eine Speerspitze aus Feuerstein aus der jüngeren Altsteinzeit), ca. 13 000 Jahre vor heute. Dies gilt als der bisher älteste Fund im Thurgau. Gachnang-Niederwil. Eine Moorsiedlung (Feuchtbodensiedlung) wurde hier bereits 1862 beim Torfabbau entdeckt. Im Sommer 1962 führte ein holländisches Forscherteam im Auftrag des Historischen Museums des Kantons Thurgau vertiefte Untersuchungen durch. Der Fund: Ein ovales Dorfareal von rund 2 000 m2 Fläche, worauf gegen 35 Hütten lokalisiert werden konnten. Das Dorf stammt aus der Jungsteinzeit, also auch von ca. 5 300 Jahren vor heute. Hüttwilen-Nussbaumersee. Bei Ürschhausen-Horn im Nussbaumersee wurde bei Grabungen in den Jahren 1970 und 1985 – 1990 eine spätbronzezeitliche (ca. 3 350 Jahre vor heute) Feuchtbodensiedlung entdeckt. Auf einer Fläche von rund 10 000 m2 wurden insgesamt 45 Grundrisse von Häusern resp. Hütten gefasst. Entsprechend dem Baugrund waren diese Gebäude unterschiedlich konstruiert; auf festem Grund «Schwellbauten», auf feuchtem Grund stabile Holzunterzüge. Die Wände waren bereits in Blockbauweise erstellt.


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Pfyn. Hier fanden die Forscher eine Pfahlbausiedlung aus der Zeit von ca. 5 700 Jahren vor heute. Auf Basis von Ausgrabungen und Funden berichtete darüber eine 2006 gedrehte und 2007 ausgestrahlte Fernsehsendung «Pfahlbauer von Pfyn».

Epoche

Beginn ca.

Frühe Jungsteinzeit

5500 v.Chr.

Mittlere Jungsteinzeit

4500 v.Chr.

Jüngere Jungsteinzeit

3900 v.Chr.

UNESCO WELTKULTURERBE – eine verdiente Ehrung Am 27. Juni 2011 hat die zuständige Kommission der Unesco in Paris entschieden, 111 Pfahlbaufundstellen (Feuchtbodensiedlungen) aus sechs Ländern Europas (Schweiz, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und Slowenien) in die Liste des Weltkulturerbes aufzunehmen. Aus der Schweiz stammen insgesamt 56 Fundstellen. Davon sind vier aus dem Kanton Thurgau und zwar sind es die Fundstellen Arbon-Bleiche, Eschenz-Insel Werd, Gachnang-Niederwil und Hüttwilen-Nussbaumersee. Diese Aufnahme ins Unesco Weltkulturerbe ist ein grossartiger Erfolg des gesamten Teams vom Amt für Archäologie Thurgau. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in diesem Amt arbeiten zumeist im Stillen; nun aber dürfen sie sich einer ausserordentlichen internationalen Aufmerksamkeit erfreuen – eine sehr verdiente Ehrung.

Späte Jungsteinzeit

3500 v.Chr.

Frühbronzezeit

2200 v.Chr.

Mittelbronzezeit

1550 v.Chr.

Spätbronzezeit

1350 v.Chr.

Ältere Eisenzeit

800 v.Chr.

Jüngere Eisenzeit

450 v.Chr.

Römerzeit

15 v.Chr.

Frühmittelalter

400 n.Chr.

Hochmittelalter

800 n.Chr.

Spätmittelalter

1250 n.Chr.

Neuzeit

1500 n.Chr.

Neueste Zeit

1800 n.Chr.

Quellennachweis Amt für Archäologie Benguerel Simone, Archäologin Keller-Tarnutzer Karl/Reinerth Hans

Archäologie im Thurgau Gespräche/Unterstützung Urgeschichte des Kantons Thurgau

Bewilligungsnachweis urheberrechtlich geschützter Bilder Bild 21 bis Bild 25 stammen vom Amt für Archäologie und wurden uns zur Publikation bewilligt.

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Epochen der Menschheitsgeschichte


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Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Voraussetzungen und Anfänge der Besiedlung

Voraussetzungen und Anfänge der Besiedlung

Bild Nr. 31 Das Märwiler Ried

Damit Menschen existieren können, sind ein verträgliches Klima, geeignete Siedlungsplätze, das Vorhandensein von Nahrung (Pflanzen und Tiere) sowie Wasser notwendige Voraussetzungen. Von dieser Umschreibung abgeleitet kann man feststellen, dass das Lauchetal, unter Beachtung seiner geologischen Entstehung (dazu verweisen wir auf das Kapitel «Gletscher formten unser Tal»), für eine sehr frühe Besiedlung ungeeignet war. Der Lauchetalsee, welcher nach der letzten Eiszeit entstand,

hinterliess nach seiner Verlandung bis in die Bronzezeit (2 200 – 800 Jahre v.Chr.) ein sehr sumpfiges Gebiet. Es entstanden grosse Torfmoore, die bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestochen wurden. Noch heute existieren Überbleibsel dieser Zeit in Form vieler Feuchtgebiete. Überdies erinnern noch Flurnamen wie z.B. «Rietwies», «Wattwies» und «Furtwies» in der Gegend des Laucheübergangs bei Lommis an die Sumpfzeiten. Seit dem Ende der letzten Eiszeit, also ab ca. 12 000 Jahren vor heute, hat sich das Klima für menschliches Leben kontinuierlich verbessert. Zwar gibt es aus früheren Zeiten keinerlei Aufzeichnungen über die Klimaverhältnisse. Man fand aber pflanzliche Fossilien und konnte deren Arten bestimmen. Fachleute sind in der Lage, für diese Pflanzenarten die Bedingungen zu ermitteln, unter welchen sie existieren konnten. Daraus lassen sich Schlüsse über Klimaentwicklungen ableiten. Auf die Tundra (siehe Bild Nr. 15 im Kapitel, «Gletscher formten unser Tal») folgten zunächst lichte Föhrenund Birkenwälder; nach und nach entstanden Laub- und Nadelwälder. Auch die Tierwelt veränderte sich stark; die eiszeitlichen Mammuts, Moschusochsen, Rentiere, Wildpferde, Schneehühner und Schneehasen starben aus oder zogen sich in kühlere Gegenden wie Nordeuropa bzw. in den alpinen Raum zurück und machten hier den Hirschen, Rehen und Wildschweinen Platz. Damit mussten die damaligen Menschen eine neue Jagdstrategie entwickeln; Pfeil und Bogen ersetzten Wurflanzen und Speerschleudern.


Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Voraussetzungen und Anfänge der Besiedlung

Die Vegetation in weiten Teilen Europas wie auch in unserer Region war bis in die Jungsteinzeit hinein, also bis ca. 6 000 Jahre vor heute, stark von Urwald geprägt. Im Thurgau war der Urwald im Südthurgau besonders dicht, im Thurtal gelichteter und an den Gestaden des Bodensees war es teilweise gar baumfrei. Folglich war das Klima im Südthurgau eher rau, im Mittelthurgau und am Bodensee deutlich milder. Deshalb eignete sich der Bodenseeraum am ehesten für eine frühe Besiedlung. Mit zunehmenden Waldrodungen und Erwärmung des Klimas schrumpften die Waldflächen, womit neue Siedlungsplätze entstanden. Vorkommen von Urmenschen in der Ostschweiz ausserhalb des Thurgaus «Vom Urmenschen fehlt im Thurgau jede Spur» – schreibt Ernst Herdi in seinem Buch «Geschichte des Thurgaus». Ausserhalb des Thurgaus dagegen, so kann man bei Herdi und in mehreren andern Quellen nachlesen, konnte man auf Grund von Funden – in der Wildkirchlihöhle (unterhalb der Ebenalp, Kanton AI), – die Existenz von Neandertalern *) rund 35 000 Jahre vor heute nachweisen. *) Neandertaler. Das Neandertal liegt in der Nähe von Düsseldorf. Bei Steinbrucharbeiten in diesem Tal Mitte des 19. Jahrhunderts stiessen Arbeiter auf Knochenfragmente. Forscher fanden heraus, dass es sich dabei um eine vorzeitliche Menschengattung handelt; einen verwandten Vorfahren des modernen Menschen.

Zu dieser Zeit war der Lauchetalgletscher während einer Warmphase der Würmeiszeit *) gerade abgeschmolzen; die genannten Menschen hausten beim Wildkirchli noch oberhalb des dortigen Gletschers. Es waren Menschen,

die viele ihrer Tätigkeiten mit Werkzeugen aus Stein ausführten. Auch im «Kesslerloch» (bei Thayngen, Kanton SH), fand man Hinweise auf die Benutzung dieser Höhle durch Rentierjäger, ca. 16 000 Jahre vor heute. *) Würmeiszeit. Darunter versteht man die jüngste grossräumige Vergletscherung im Alpenraum. Die Wissenschaft ordnet diese Zeitepoche in die Periode 115 000–10 000 Jahre vor heute ein. Ein Überbleibsel aus dieser Zeit ist der Rhonegletscher im Kanton Wallis.

Hinweise gaben auch ehemalige Feuerstellen in Höhlen. Feuer entfachen konnten bereits die Steinzeitmenschen (seit weit über 100 000 Jahren vor heute). Dazu gab es zwei Methoden: Das Feuerbohren (wird noch heute von einzelnen abgelegen lebenden australischen Ureinwohnerstämmen praktiziert) und das Feuerreiben mittels Feuerstein und Pyrit-Steinen (im Volksmund auch bekannt als Katzengold). In unserer Gegend ist nur letztere Methode nachgewiesen. Ursprünge der Besiedlung im Thurgau und im Lauchetal Die Fachwelt ist der Meinung, dass die ersten Menschen im Thurgau vorwiegend entlang des Untersees, des Bodensees, sowie an Torfmooren und auf Höhenlagen siedelten. Konkrete Nachweise solcher Siedlungen gibt es in der Region Diessenhofen, auf der Insel Werd bei Eschenz, in Steckborn, in Arbon-Bleiche, in Hüttwilen am Nussbaumersee, in Niederwil bei Gachnang und in Pfyn. Auch Höhensiedlungen am Thurberg ob Weinfelden, Bernrain-Schlossbühl ob Kreuzlingen und ToosWäldi bei Schönholzerswilen wurden entdeckt.

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Bild Nr. 32 · Eine Sammlung von Artefakten aus Ausgrabungen des AfA Thurgau auf dem Sonnenberg

Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Voraussetzungen und Anfänge der Besiedlung

Wann die ersten Menschen das Lauchetal durchstreiften, konnte bis heute nicht eindeutig festgestellt werden. Konkrete Hinweise geben immerhin die bisherigen archäologischen Funde; ein Beweis mehr, welch grosse Bedeutung der archäologischen Forschung zukommt.

keltische Bevölkerung annehmen. Bei Funden, die auf die Römerzeit – Lommis und Weingarten – zurückgehen, darf angenommen werden, dass jene Menschen entweder Helvetier oder eben Römer waren – siehe nächstes Kapitel.

Auf Grund von Ausgrabungen beim Schloss Sonnenberg – oberhalb von Stettfurt – im Jahre 2009 erbrachten die archäologischen Forscher den Nachweis, dass auch im Lauchetal bereits 4 300 Jahre v.Chr. Menschen hausten. Nach derzeitigem Wissensstand ist dies die älteste Höhensiedlung im Kanton Thurgau. Sie liegt in unserem Tal, an seiner Nordwestflanke auf dem heutigen Gemeindegebiet von Stettfurt. Weitere Zeichen menschlicher Existenz im Lauchetal ergeben sich aus den archäologischen Funden; dazu verweisen wir auf das vorangehende Kapitel.

Tätigkeiten der Urmenschen und der ersten Siedler Die Tätigkeitsbereiche der Urmenschen und ersten Siedler männlichen Geschlechts waren hauptsächlich auf die Nahrungsmittelbeschaffung, die Herstellung von Jagdgeräten sowie den Bau und den Unterhalt von Hütten ausgerichtet; entsprechend waren sie Jäger, Fischer, und Hüttenbauer. Die Frauen kümmerten sich um die Kinder, bereiteten Essen vor und fertigten einfachste Bekleidung, zunächst aus Fellen von Tieren, später aus Lein. Zudem sammelten diese Menschen allerlei Pflanzen, um sie für Esszwecke oder zur Heilung von Krankheiten zu verwenden. Bis in die Mittelsteinzeit (also bis ca. 6 500 Jahre vor heute) waren die Menschen üblicherweise umherziehende Wildbeuter; erst nach und nach, insbesondere durch das Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht im Laufe der Jungsteinzeit, wurden sie sesshaft.

In allen genannten Fällen ist nicht bekannt, woher jene Menschen stammten, bzw. welchen Völkerstämmen sie angehört hatten. Erst ab der Eisenzeit kann man eine

Otto Feger schreibt dazu in seiner «Geschichte des Bodenseeraumes»: «Wir wissen heute recht viel über Lebensweise, Nahrung und Arbeitsgeräte der Urmenschen, aber fast nichts über ihr geistiges, politisches und soziales Leben.» Herkunft der ersten Menschen Menschen kamen hauptsächlich aus zwei Richtungen in die Schweiz. Die einen kamen aus Südwesten, wahrscheinlich entlang der Rhone an den Genfersee und


Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Voraussetzungen und Anfänge der Besiedlung

von dort entlang des Neuenburger- und Bielersees sowie entlang der Aare nach Nordosten. Die anderen kamen aus Nordosten und Norden via Donautal und Süddeutschland in unsere Gegend. Die einwandernden Menschen kamen nicht als Individuen, sondern zumeist in Gruppen. Sie waren auf der Suche nach einem leichteren Leben und reichhaltigeren Böden.

Nach Ernst Herdi – «birgt der Boden von Kreuzlingen mit Bestimmtheit die ältesten durch Menschenhand hergestellten Steinwerkzeuge im Thurgau.» (Zu seiner Zeit waren die Funde auf dem Sonnenberg noch nicht bekannt.) Weitere sehr frühe Funde stammen aus dem Seebachtal. Auf Grund gefundener Gefässe konnte festgestellt werden, dass Menschen sehr früh des Töpferhandwerks

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Bild Nr. 33 Jagd mit Speerschleudern


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Entstehungsgeschichte des Lauchetals · Voraussetzungen und Anfänge der Besiedlung

mächtig waren; die Töpfe wurden im Feuer gebrannt. Solche Gefässe wurden zur Zubereitung von Mahlzeiten und als Essgeschirr gebraucht. Hauptbestandteil der Nahrung war Getreide, aber auch Wildgemüse wurde angebaut. Mittels Reibmühlen wurde Korn gemahlen, um Fladenbrot zu backen. Daneben sammelte man weiterhin Wildäpfel, Beeren und Nüsse. Auch an den Werkgeräten zeigt sich eine kontinuierliche Entwicklung. Es begann mit einfachen Werkzeugen aus Stein, Holz und tierischem Material (Geweih, Knochen, Sehnen) und verbesserte sich hin zu Speerspitzen, Äxten und Beilen aus Metall. Jagdgeräte waren zunächst Speere, sodann Pfeil und Bogen sowie die Streitaxt.

Die Zeit um 2 200 v.Chr. brachte zwei umwälzende Entwicklungen. Als erstes wurde die Bronze – eine Legierung aus Kupfer und Zinn – in unserer Gegend eingeführt. Dieser Werkstoff brachte riesige Fortschritte in den Bereichen Arbeitsgeräte und Waffen (Schwert), wurde aber auch zur Herstellung von Schmuck (Armund Halsringe sowie Haarnadeln) verwendet. Um jene Zeit konnte auch das Pferd soweit gezähmt werden, dass es als Reit- und Arbeitstier eingesetzt werden konnte. All diese Entwicklungen deuten auf eine hohe Anpassungsfähigkeit und Intelligenz der damaligen Menschen hin. Für die spätere Zeit der Besiedlung verweisen wir auf die nachfolgende Kapitelgruppe.

Quellennachweis Amt für Archäologie Feger Otto Herdi Ernst Leuzinger Urs, Archäologe

Archäologie im Thurgau Geschichte des Bodenseeraumes Geschichte des Thurgaus fachliche Unterstützung

Bewilligungsnachweis urheberrechtlich geschützter Bilder Bild Nr. 31 Gemeinde Affeltrangen Bild Nr. 32 Amt für Archäologie Bild Nr. 33 Amt für Archäologie sowie Herr Bisig


Leben kommt ins Tal

Wezzinchova Zezinchova Fridoltoshova Imminperc Stetivurt Marinwilare ReinparcMittalono Mazcingas Loupmeissa Rammisperarga Wengiu Tegarascha

Ausschnitt aus einer Darstellung im Buch von Ernst Herdi «Geschichte des Thurgaus», in dem alle Ortschaften aufgeführt sind, die schon vor dem Jahre 1000 urkundlich erwähnt sind. Weshalb in der zitierten Darstellung Affeltrangen (Affultarwanga), das im gleichen Jahr wie Lommis (Loupmeissa) erstmals urkundlich erwähnt ist, nicht vermerkt ist, entzieht sich unserer Kenntnis.



Leben kommt ins Tal · Unsere Vorfahren – eine geschichtliche Abfolge

Unsere Vorfahren – eine geschichtliche Abfolge Einleitung Urs Leuzinger schreibt im Buch «Archäologie im Thurgau»: «Die Geschichte der Schweiz begann nicht mit Rom oder Athen, sondern mit den Pfahlbauten von Mammern, Steckborn und Ermatingen.» Aus der Anfangszeit der Besiedlung unserer Region gibt es keine Aufzeichnungen darüber, woher die Menschen stammten, die hier lebten. Es waren bis in die Bronzezeit halbnomadisch lebende Menschen – sie lebten zumeist eine bis drei Generationen am gleichen Ort, um dann weiterzuziehen. Erst als die Menschen begannen, Getreidebau und Viehzucht zu betreiben, wurden sie dauernd sesshaft. Verschiedene Quellen deuten darauf hin, dass die ersten Menschen in unserer Region Kelten waren. Wir wollen zunächst der Übersicht halber die Völker skizzieren, die in der Frühgeschichte unseres Kantons hier lebten. Kelten, Helvetier, Römer Die Kelten. Sie waren nie eine eigene geschlossene Ethnie, sondern gehörten zur riesigen indoeuropäischen Sprach- und Völkerfamilie, wozu auch die Germanen, die Römer und Griechen zählten. Andere Quellen bezeichnen die Kelten als Völkergruppe der Eisenzeit in Europa (800 – 50 v.Chr.). Sie züchteten schon früh Pferde und pflegten die Viehwirtschaft sowie den Ackerbau. Griechischen und römischen Quellen entnehmen wir, dass sie «häufig grossgewachsen, hellhäutig und blond» waren. Zudem waren sie oft «kriegerisch» eingestellt. Demgegenüber darf positiv erwähnt werden, dass die Frauen bei den Kelten deutlich mehr Rechte besassen als z.B.

bei den Germanen und den Römern. So hatten sie ein Mitspracherecht bei der Lösung von Zwistigkeiten, beim Entscheid über Krieg und Frieden und sie konnten sich ihren Gatten frei wählen. Die verschiedenen keltischen Völkerstämme hatten eigene Sprachen. Von der urkeltischen Sprache sind nur vereinzelt Schriftfragmente auf Tafeln und Münzen erhalten geblieben. Die Helvetier. Sie waren ein keltischer Volksstamm, der in den letzten 250 Jahren v.Chr. aus Norden und Nordwesten in das Gebiet der Schweiz, auch der Ostschweiz, einwanderte. Entsprechend besassen sie auch viele der eben erwähnten Eigenschaften der Kelten und bedienten sich der keltischen Sprache. Sie führten diverse Kriege gegen die aus dem Süden vorstossenden Römer. Auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen marschierte ein Teil der in unserer Region ansässig gewesenen Helvetier nach Westen, wo es im Jahre 58 v.Chr. bei Bibracte (der Ort liegt in Frankreich im Dépt. Sâone-et-Loire) zu einer grossen Schlacht gegen die Truppen der Römer unter Gaius Julius Cäsar kam. In diesem Kampf erlitten die Helvetier eine herbe Niederlage; die Überlebenden traten deshalb gedemütigt den Rückmarsch in ihre angestammten Siedlungsgebiete an. Hier lebten sie weiter. Dank den Fortschritten der Archäologie konnte mittels Ausgrabungen einiges, was aus der damaligen – sehr spärlichen – Geschichtsschreibung bekannt war, oder durch unseriöse Aussagen von Leuten um Cäsar verbreitet wurde, als richtig oder falsch eingestuft werden.

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Leben kommt ins Tal · Unsere Vorfahren – eine geschichtliche Abfolge

Ausdehnung. Es umfasste damals das heutige Spanien, Portugal, Frankreich, die Schweiz, Süddeutschland, die Balkanstaaten, die Türkei mit Armenien und Mesopotamien, das ehemalige Palästina, Ägypten und die Küste Nordafrikas bis nach Marokko. (Der Thurgau gehörte zu jener Zeit zur Provinz Raetien.)

Bild Nr. 41 · Helvetia auf dem Bundeshaus in Bern

Die Römer hatten neben einem ausgeprägten Sinn für politische Strukturen ein vorbildliches Rechtssystem, das in Grundzügen in den Rechtssystemen einiger europäischer Staaten (z.B. der Bundesrepublik Deutschland) noch heute enthalten ist. Ihr Staatsverständnis basierte u.a. auf einem teilweisen Gebietsföderalismus, was sich auch darin ausdrückte, dass die halbautonomen Gebiete befugt bzw. verpflichtet waren, Steuern einzutreiben. Daneben trieben und förderten sie den internationalen Handel. Mit ihrer Stammesbezeichnung sind die Helvetier noch heute «präsent». Seit Errichtung der ersten Schweizerischen Bundesverfassung im Jahre 1848 lautet die lateinische Bezeichnung der Schweiz «Confoederatio Helvetica» und die «Landesmutter» ist noch immer die «Helvetia»; sie prangt auf mehreren unserer Münzen. Die Römer. Das römische Reich (Imperium Romanum) dauerte vom 8. Jahrhundert vor bis ca. zum 5. Jahrhundert nach Christus. Im 3. Jahrhundert v.Chr. begannen die Römer, sich über Italien hinaus auszubreiten. Der oben erwähnte Sieg der Römer über die Helvetier bei Bibracte hatte eine rund 500 Jahre dauernde Epoche der Römerherrschaft über grosse Teile der Schweiz und damit auch unserer Region zur Folge. Das römische Reich erzielte unter Kaiser Trajan im Jahre 117 n.Chr. seine grösste

Für Truppenverschiebungen und die Überwachung ihres Reiches bauten sie ein zweckdienliches Strassennetz, das im Bereich der Schweiz in Teilen noch heute erkennbar ist. Durch die Nord- und Ostschweiz führte die bekannte Römerstrasse von Gallien herkommend nach Augusta Raurica (Augst) und via Vindonissa (Windisch), Vitudurum (Oberwinterthur) nach Arbor Felix (Arbon) und weiter nach Brigantium (Bregenz). Von hier aus führte ein Zweig weiter Richtung Norden und einer Richtung Süden. Beim «Ganggelisteg» (zwischen Weinfelden und Bussnang) bauten die Römer eine Holzbrücke über die Thur; 1979 spülte der Fluss Reste jener Brücke frei. Jost Bürgi (erster Chef des Amtes für Archäologie im Thurgau) vermutet, dass diese Brücke Teil der eben erwähnten Römerstrasse durch den Thurgau war.


Leben kommt ins Tal · Unsere Vorfahren – eine geschichtliche Abfolge

Zudem waren die Römer hervorragend in der Planung und im Bau von Städten und Gebäuden; Zeugen sind z.B. die Ruine «Burg», Stein am Rhein, der Wachtturm bei Schlatt-Schaarenwies (westlich Diessenhofen) und die Landwirtschaftssiedlung «Villa Stutheien» (zwischen Hüttwilen und Nussbaumen). Dieser Gutshof ist der besterforschte landwirtschaftliche Grossbetrieb aus der Römerzeit im Thurgau. Hier wurde – wie die Thurgauer Zeitung in ihrer Ausgabe vom 16.7.2013 nach Angaben von Simone Benguerel vom Amt für Archäologie berichtet – «schon vor rund 1 800 Jahren Getreide, Fleisch und Obst produziert.» Man darf in der Tat staunen über die diesbezüglichen Fähigkeiten der damals Verantwortlichen. Neben der genannten Vermittlung tief- und hochbautechnischen Wissens haben die Römer ihren Nachfahren weiteres wichtiges Kulturgut hinterlassen. So führten sie neue Nutzpflanzen wie Koriander, Fenchel, Roggen, Weizen und Weintrauben ein. Auch Haustiere wie Esel, Maultier, Katzen und Tauben gehen auf sie zurück. Durch neue Techniken und Gerätschaften sowie Düngung mit Mist konnten deutliche Ertragssteigerungen in der landwirtschaftlichen Produktion erzielt werden. Die Amtssprache der Römer war Latein; eine Sprache, die lange in gebildeten Kreisen mehrerer Länder Europas weiter gepflegt wurde. In der kath. Kirche ist Latein noch heute Amtssprache und in der Medizin, der Jurisprudenz und der Biologie wird sie noch heute in Fachausdrücken verwendet. Daneben wurden lokale Sprachen weiter gesprochen. Kunst und Kultur erlebten in der Römerzeit eine bis dahin nie erreichte Hochblüte.

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Bild Nr. 42 Kopfbild eines berühmten Römers

Das römische Reich endete im Westen 476 n.Chr. mit der Absetzung des letzten Kaisers Romulus Augustus. Mit dem Niedergang des römischen Reiches begann von Westen her der Aufbau des Reiches der Franken. In der gleichen Zeitspanne begannen die Alamannen, westund südwärts vorzustossen. Innergermanische Kämpfe zwischen Franken und Alamannen waren eine Folge, aber ohne dass es zur Ausrottung Letzterer gekommen wäre; sie verloren lediglich einige Gebiete. Die Alamannen – unsere eigentlichen Vorfahren? Obwohl sie schon früher verschiedentlich in Ostschweizer Gebiete eingedrungen waren, begann ab ca. 500 n.Chr. die breit angelegte Landnahme der Alamannen von Norden her in grossen Teilen der Schweiz, so auch in der Ostschweiz und im Lauchetal. «Diese Alamannen» – so Ernst Herdi – «waren ein unerhört draufgängerischer und spannkräftiger (indoeuropäischer) Germanenstamm mit leichter keltischer Blutbeimischung.» Herdi


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Leben kommt ins Tal · Unsere Vorfahren – eine geschichtliche Abfolge

fährt weiter: «Bei der Besetzung des Thurgaus verrichteten die Ankömmlinge aus dem Norden ganze Arbeit. Dies zeigt sich u.a. darin, dass sozusagen sämtliche Ortschaften (meist Neugründungen) alamannisch benannt wurden und neben Flussnamen wie Thur (Wildwasser), Murg (Grenzflüsschen) und Lauche (Weissbach) fast nur Arbor Felix (Arbon), Tasgetium (Eschenz) und Ad Fines (Pfyn) an die vorgängig ansässigen Römer erinnerten.» Seit den Alamannen ist der Gebrauch der deutschen Sprache nachgewiesen. Schon den Helvetiern, den Römern und nun besonders auch den Alamannen war die Landwirtschaft sehr wichtig, was ganz besonders für den Thurgau und das Lauchetal von grosser Bedeutung ist. Sie führten im Hochmittelalter die sogenannte, streng gehandhabte, Dreifelderwirtschaft (oder auch Dreizelgenwirtschaft) ein, wonach jeder Hofstattbesitzer (Bauer) verpflichtet war, seine Äcker in drei Zelgen (Teile) aufzuteilen: eine Winterzelge, eine Sommerzelge und eine Brachzelge; letztere blieb jeweils für ein Jahr unbepflanzt (brach). Unter Beachtung all dieser Feststellungen dürfen die Alamannen tatsächlich als unsere Vorfahren bezeichnet werden. Bei den Alamannen gab es eine scharfe Trennung zwischen Hörigen (Leibeigenen) und Freien; nur Letztere durften eine eigene Hofstatt erwerben und führen. Die Hörigen waren Teil einer Hofstatt und wurden bei einem Besitzerwechsel übernommen. Eine Hofstatt von durchschnittlich 12 Hektaren heisst «Hube»; bei Zerlegung in kleinere Einheiten nannte man diese «Schuppis». Über den Freien stand die herrschende Klasse, vornehmlich Adlige.

Es kam zum Nebeneinander zwischen den noch ansässigen Helvetiern sowie römischen Veteranen mit den zugewanderten Alamannen; das Zusammenleben gestaltete sich, dank ihrer ursprünglichen Zugehörigkeit zum gleichen Stammesverband, relativ problemlos. Allerdings gingen viele Elemente der römischen Hochkultur und das bereits unter den Römern eingeführte Christentum teilweise verloren oder wurden abgeschafft. Den Alamannen sagte das Christentum nicht zu; sie hatten ihre eigenen Götter, so z.B. den Göttervater «Wodan», den Donnergott «Donar» oder die Göttin des Herdfeuers und des Hausfriedens «Freia». Im Gegensatz zu den Römern war für die Alamannen typisch, dass sie sich in Dörfern und Siedlungen über das Land verteilten. Das zeigt sich noch heute deutlich im Lauchetal; zudem ist dies auch ein Indiz für ein recht friedvolles Volk. Neben ihrer eher rauen Art als gute Landwirte, hatten sie aber eine aussergewöhnliche Zuneigung zu ihren Toten. Wie Ausgrabungen aufzeigten, legten sie die Männer meist in ihren Uniformen mit verschiedenen Waffen in die Gräber; die Frauen wurden häufig in Festtagskleidern und mit allerlei Schmuck begraben. In dieser Hinsicht waren die Alamannen ein gesittetes Volk mit feinfühliger Grabkultur. Im Zuge der Vergrösserung der Gemeinden wurden Waldrodungen vorgenommen. In den Dörfern begann ein reges handwerkliches und auch künstlerisches Leben. Mittelpunkt war ihnen Heim und Familie. Sie bauten und wohnten in hochgiebligen Riegelhäusern (Fachwerkhäuser). Sobald grössere Bevölkerungsgruppen ein günstiges Gelände beschlagnahmten, entstanden sogenannte Markgenossenschaften*). So entstand u.a.


Leben kommt ins Tal · Unsere Vorfahren – eine geschichtliche Abfolge

«Loupmeissamarka» (Lommiser Mark). Diese landwirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung sollte, auch unter den nachfolgenden Franken, bis zur französischen Revolution von 1798 Bestand haben. *) Markgenossenschaften. Darunter versteht man einen oft mehrere Dörfer oder Einzelhöfe umfassenden historischen Siedlungsverband mit einer gemeinsamen Wirtschafts- und Gerichtsordnung (niedrige Gerichtsbarkeit). Landwirtschaftliche Nutzflächen wie Wald, Bäche, Flüsse usw. (also die Mark) bleiben im gemeinsamen Besitz aller Mitglieder. Genossen waren ursprünglich die an der Besiedlung der Feldmark beteiligten freien Leute (Hofstattbesitzer) und danach ihre Erben.

Von den Franken bis zur Eroberung des Thurgaus durch die Eidgenossen Durch Frankenkönig Chlodwig I. (466 – 511) aus dem Geschlecht der Merowinger wurde das Frankenreich zu einer Grossmacht. Sein Herrschaftsgebiet umfasste ums Jahr 500 n.Chr. grosse Teile des heutigen Europa mit Ausnahme von Spanien, Portugal, Grossbritannien und dem südlichen Teil Italiens. Chlodwig I. und weitere Teile seines Volkes nahmen bald den katholischen Glauben an, womit dem Christentum erneut grosse Bedeutung beigemessen wurde. Nach dem Sieg der Franken über die Alamannenherzöge Gottfrid und Lantfrid (die entscheidenden Schlachten und daran beteiligten Herzöge sind nicht eindeutig klar) wurde «Allamannien» endgültig fränkisch und verlor damit die politische Souveränität. Mitte des 8. Jahrhunderts ging die Krone der Franken auf die Dynastie der Karolinger über. Ums Jahr 800 n.Chr.

fasste Karl der Grosse*) alle Germanenstämme zu einem neuen Grossreich zusammen. Unter seinen Nachkommen wurde die Deutschschweiz dem Ostfränkischen Königreich zugeteilt. Daraus ging das Deutsche Königreich (Heiliges Römisches Reich deutscher Nation) hervor, in welchem der Thurgau und damit auch das Lauchetal Bestandteil des riesigen Herzogtums Schwaben wurde.

*) Karl der Grosse (747 – 814) Er stammte aus dem Geschlecht der Karolinger und wurde im Jahr 768 König der Franken. Nach einer eher mysteriösen Vorgeschichte wurde er am Weihnachtstag des Jahres 800 von Papst Leo III. zum römischen Kaiser gekrönt. Er gilt seit dem Mittelalter als einer der bedeutendsten Herrscher des Abendlandes. Obwohl überzeugter Christ, führte er viele brutale Kriege zwecks Ausbreitung und Festigung des Reiches der Franken. Seine besonderen Führungseigenschaften zeigten sich u.a. darin, dass er es verstand, die klügsten und besten Köpfe um sich zu scharen. Zudem machte er sich die Kirche zu Nutze, indem er weltliche und kirchliche Macht verband. Die Klöster (er gründete u.a. das Kloster St. Johann in Müstair) drängte er, Bildungsstätten zu werden, welche gleichzeitig auch seine Weisungen und Anordnungen im ganzen Herrschaftsgebiet bekannt zu machen hatten. Überdies behielt er sich das Recht vor, Bischöfe selbst zu ernennen. Er führte eine Verwaltungspraxis auf schriftlicher Basis ein und gab Auftrag für eine Bildungsreform für den Klerus. Er schaffte eine Grafschaftsverfassung zur Wahrung der Einheit des Reiches, reformierte das Rechts- und Gerichtswesen und führte ein einheitliches Geldwesen ein. Zuvor war meist Tauschhandel üblich, zum Teil verwendete man im Fernhandel Goldmünzen. Zusammenfassend darf man festhalten, dass der erste Kaiser des Mittelalters die Grundlagen des heutigen Europa geschaffen hat.

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Bild Nr. 43 Schloss Frauenfeld

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Eine eher unruhige Zeit von nahezu 500 Jahren brach im 10. Jahrhundert an. Aus dem Herzogtum Schwaben entstand das Herzogtum der Zähringer; innerhalb des Herzogtums Schwaben erreichten die Herzöge von Zähringen eine bedeutende Stellung im 11. Jahrhundert. Die Schwester des letzten Zähringers – Anna von Zähringen – ehelichte Ulrich III. von Kyburg, worauf die Grafen von Kyburg die Herrschaft über die Nord- und Ostschweiz übernahmen und festigten. Die Kyburger waren Verbündete der Herzöge von Schwaben aus dem Geschlecht der Staufer. Die einzige Kyburger Erbtochter – Anna von Kyburg – war minderjährig, als Rudolf I. von Habsburg ihre Vormundschaft übernahm. Damit begann die Herrschaft der Habsburger, welche bis 1460 dauern sollte. Mehrere Kriege zwischen den Eidgenossen und den Habsburgern wurden geführt; das begann mit der Schlacht am Morgarten 1315 und endete mit der Schlacht bei Ragaz 1446. Schliesslich eroberten die

Eidgenossen – ohne die Berner – den Thurgau im Jahre 1460. Der Thurgau wurde daraufhin Untertanengebiet der alten Eidgenossenschaft. Vom Untertanenland bis zum selbständigen Kanton In der Zeitspanne von 1460 – 1803 erlebten der Thurgau und das Lauchetal eine besonders wechselvolle und für die damaligen Bewohner nicht immer transparente Geschichte. Nach seiner Eroberung durch sieben der acht alten Orte (Kantone) der Eidgenossenschaft, wurde der Thurgau als Gemeine Herrschaft durch Vögte aus den alten Orten in einer bestimmten Reihenfolge in zweijährigem Rhythmus regiert. Die in den Thurgau delegierten eidgenössischen Vögte residierten ab 1536 im Schloss Frauenfeld*). *) Schloss Frauenfeld. Es wurde im 13. Jahrhundert errichtet und im 14. Jahrhundert erweitert. Auf Antrag der Thurgauischen Hypothekenbank sollte das Gebäude 1867 abgerissen werden und an seiner Stelle ein Bankgebäude gebaut werden. Es gab starken Widerstand – «es graue einem vor einem Bankgebäude im gewöhnlichen «Eisenbahnhofstil».» Retter in der Not war der Stettfurter Oberrichter Johann Jakob Bachmann. Er kaufte dieses Schloss und übertrug es später seinen Nachkommen. Die letzte Nachfahrin dieser Familie, Marie Elise Bachmann, schenkte dieses Schloss dem Staate Thurgau zusammen mit einer Barsumme von 50 000 Franken mit den Auflagen, dass dieses Schloss unterhalten werde und keine Neubauten und industrielle Einwirkungen den Anblick des Schlosses stören dürften. Dieser Text stützt sich in Teilen auf die Schrift von Ueli Gubler, Stettfurt «Staatsstreiche, Hungersnot und Freiheitsbäume, 2003». Eine weitere Auflage war auch die Einrichtung eines Museums.


Leben kommt ins Tal · Unsere Vorfahren – eine geschichtliche Abfolge

In diese turbulente Zeit fielen viele religiöse Auseinandersetzungen. Die Reformation – also die Abspaltung der evangelischen von den katholischen Christen – ereignete sich in den Jahren 1519 bis 1531; dazu verweisen wir auf das Kapitel «Christianisierung». Im oberen Lauchetal regierte von 1228 – 1809 der Johanniterorden in der Komturei Tobel; hierzu verweisen wir auf das Kapitel «Die Toggenburger und die Komturei Tobel». «In der Zeit um 1460» – so schreibt Ernst Herdi – «war der Thurgau noch keine Einheit, sondern ein Sammelsurium von «Zweigherrschaften».» – so unterstand das Lauchetal den Herrschaften «Tobel», «Sonnenberg», und «Lommis»; hierzu verweisen wir auf Kapitel «Regelungen des Zusammenlebens». Als Folge der Übernahme des Thurgaus durch die Eidgenossen hatten die einzelnen Gemeinden zwei Herren zu dienen, nämlich einerseits den lokalen Herrschaften und anderseits dem Landvogt als dem jeweiligen Vertreter der Eidgenossenschaft. Dabei gab es fast zwingend Abgrenzungsschwierigkeiten, insbesondere in Bezug auf die Zuständigkeit in Rechtsfragen; zudem machten bei religiösen Themen auch noch die kirchlichen Obrigkeiten ihre Ansprüche geltend. Es liegt in der Natur der Sache, dass in dieser Zeit jede Herrschaft bestrebt war, ihre Ansprüche durchzusetzen und dazu alle Möglichkeiten ausschöpfte. Während westlich, südlich und östlich der Schweiz noch kriegerische Auseinandersetzungen im Gange waren, genoss das Lauchetal gegen Ende der «Fremdherrschaftszeit» noch relative Ruhe. Das mag damit zusammenhängen, dass einerseits die lokalen Herrschaften ihre Gebiete recht gut unter Kontrolle hatten, aber

anderseits die Aussenpolitik und die Verteidigung Angelegenheiten der Eidgenossenschaft waren, wozu aber die Thurgauer fallweise Mannschaften zur Verfügung stellen mussten. Unruhe im Lauchetal gab es allerdings auch; einmal, als die Oesterreicher im Jahre 1799 Graubünden überrannten und bis ins Thurtal vorstiessen, ein anderes Mal im gleichen Jahr in der Schlacht von Frauenfeld, wo die Franzosen die Österreicher zurückdrängten. Eine knifflige Situation auch für den Stand Thurgau. Das 18. Jahrhundert schliesslich darf als die Zeit der Aufklärung bezeichnet werden. Wir zitieren aus Ueli Gublers bereits erwähntem Werk: «Die gegen tausend Jahre alten Herrschaftsrechte (z.B. Leibeigenschaft) wurden je länger je weniger akzeptiert. Als Erste nahmen die Franzosen ihr Schicksal in die Hand. Die Revolution von 1789 war eine radikale und blutige Wende hin zur Demokratie. Die Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verbreitete sich rasch über die Grenzen Frankreichs hinaus. Manches Herrscherhaus erkannte darin eine drohende Gefahr, die mit Militärbündnissen abgewendet werden sollte.» Weitsichtige Thurgauer erkannten das Bedürfnis der Bevölkerung nach Freiheit und Gleichheit und in diesem Sinne richteten sie eine Bittschrift an die Eidgenossen, worin sie um die Aufnahme als vollwertiges Mitglied ersuchten. Angesichts des Anrückens der Franzosen von Westen her Richtung Schweiz erkannte die Eidgenossenschaft, dass es wohl besser wäre, die Thurgauer als Verbündete an ihrer Seite zu haben. So entliess man sie aus dem Untertanenstatus in die Freiheit, jedoch mit der Auflage, sofort ein militärisches Detachement

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Leben kommt ins Tal · Unsere Vorfahren – eine geschichtliche Abfolge

aufzubieten und nach Bern zu beordern. Aber noch bevor die Thurgauer in Bern eintrafen, hatte die Eidgenossenschaft bereits kapituliert. Frankreich unter dem Korsen Napoleon zwang der Eidgenossenschaft eine sehr zentralistische Einheitsverfassung auf, bekannt unter dem Namen «Verfassung der Helvetischen Republik». Diese hob zwar alle Untertanengebiete auf und schaffte die Leibeigenschaft ab, war aber dennoch nicht nach dem Geschmack vieler Eidgenossen. Widerstand regte sich an mehreren Orten und es kam gar zu kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb der Eidgenossenschaft. Den Thurgauern ging es unter anderem darum, ihre gewonnene Freiheit zu sichern.

1801 musste der Thurgau nochmals einen Rückschlag hinnehmen, weil mittlerweile Napoleon den Thurgau zu Schaffhausen schlagen wollte. Die Ereignisse hierzulande begannen sich zu überschlagen. In dieser Situation liess Napoleon Truppen in die Schweiz einmarschieren. Im Februar 1803 verfügte Napoleon eigenmächtig die sogenannte Mediationsverfassung. Darin wurde der Thurgau als eigenständiger Kanton gegründet – Napoleon sei Dank. Die neue Verfassung hielt aber nur bis 1815, dem politischen Ende seines Schöpfers. Sie wurde in jenem Jahr durch eine neue Verfassung ersetzt. Diese sollte bis zur Ausrufung der ersten eidgenössischen Bundesverfassung von 1848 Bestand haben.

Quellennachweis Dürrenmatt Peter Schweizer Geschichte Giger Peter, lic. phil. I; Hauptlehrer KS Frauenfeld Diverse Korrekturen Gubler Ueli Staatsstreiche, Hungersnot und Freiheitsbäume, 2003 Herdi Ernst Geschichte des Thurgaus Leuzinger Urs Archäologie im Thurgau Aus dem Internet und Dorfbroschüren Diverse Beiträge Bewilligungsnachweis urheberrechtlich geschützter Bilder Bild Nr. 41 Bundeskanzlei Bern Bild Nr. 42 aus Google Bild Nr. 43 Historisches Museum TG – A. Leumann


Leben kommt ins Tal · Die Christianisierung

Die Christianisierung Einleitung Aus der Wirkungszeit von Jesus von Nazareth existiert nichts Schriftliches; die Evangelien, welche jenes Wirken beschreiben, wurden zwischen 70 und 90 Jahren nach Christi Geburt – also 40 – 60 Jahre nach seinem Tod – geschrieben. Sie waren ursprünglich teils in hebräischer, altgriechischer und lateinischer Sprache abgefasst. Heute existiert eine vielfältige Literatur über jene Zeit. Im Rahmen dieses Buches wollen wir uns auf einige bedeutende Entwicklungen und Ereignisse der Christianisierung im Bereich der Ostschweiz inkl. Kon­ stanz konzentrieren.

Christentum Das Christentum ist eine abrahamitische und damit monotheistische (nur ein Gott) Religion auf Basis der Lehren von Jesus von Nazareth. Unter Christenheit wird die Gesamtheit der Anhänger dieser Religion zusammengefasst. Die drei Hauptströmungen des Christentums sind die römischkatholische Kirche, die orthodoxen Kirchen und die evangelisch-reformierten Kirchen. Organisatorisch gliederte und gliedert sich das Christentum in Diözesen oder Bistümer; das sind geographisch definierte kirchliche Verwaltungsbezirke. Das erste Bistum in der Schweiz – noch zur Römerzeit – entstand in der Gegend um Augusta Raurica (Augst, BL). Der Bischof von Rom – als Nachfolger des Apostels Petrus – trägt seit dem 4. Jahrhundert die Bezeichnung Papst; er ist oberster Hirte der Christen, heute der romorientierten Katholiken.

Die Kunde über die Begebenheiten in Palästina um die Zeitenwende verbreitete sich weitgehend durch mündliche Überlieferung. «Angesichts der ausserordentlich geringen Mobilität der Menschen jener Zeit ist es umso erstaunlicher,» – wie Ernst Herdi in seinem Buch «Geschichte des Thurgaus» schreibt – «dass das Christentum schon wenige Jahrzehnte nach dem Tode seines Stifters in Vorderasien und in Rom Wurzeln geschlagen hatte.» Beginn in der Schweiz Mit der Ausdehnung des römischen Reiches nach Norden breitete sich das Christentum im Gebiet der Schweiz aus. Erste Gotteshäuser in unserer Region entstanden denn auch im Innern der römischen Garnisonen, so z.B. in Arbon, Eschenz und Pfyn. In der Westschweiz fiel die neue Lehre auf recht fruchtbaren Boden; dafür gibt es einige Zeugnisse. Ein in Avenches gefundener Glasbecher mit christlichen Inschriften wird ins 4. Jahrhundert datiert. Zudem sind in Genf und Martigny sakrale Bauten aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts bezeugt. Die Ostschweizer und insbesondere die Thurgauer standen dagegen der Sache noch recht skeptisch gegenüber. «Selbst als der Glaubensbote Gallus um das Jahr 630 starb,» – schreibt Herdi – «waren die Thurgauer noch keine Christen.» Bis ins Jahr 312 wurde diese neue Lehre in Rom bekämpft und viele ihrer Anhänger verfolgt und brutal umgebracht. Bekannt sind die Schauprozesse unter dem

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Bild Nr. 51 Gallus bei der Mühleggschlucht, St. Gallen

Leben kommt ins Tal · Die Christianisierung

jungen Kaiser Nero in Rom (37 – 68). Unter Konstantin dem Grossen – römischer Kaiser von 306 bis 337 – wurde im Jahre 313 die Religionsfreiheit (Mailänder Vereinbarung) verordnet. Das bedeutete auch, dass das Christentum als Religion staatlich anerkannt wurde und es konnten sich im ganzen Reich christliche Gemeinden bilden. Unter Beachtung der erwähnten Vereinbarung über die Religionsfreiheit begünstigte Konstantin diese Religion gar und berief im Jahre 325 das erste Konzil ein, um innerchristliche Streitigkeiten – die gab es schon damals – beizulegen. Columban, Gallus und Otmar Für die Christianisierung im Grossraum Ostschweiz hatte der Ende des 6. Jahrhunderts aus Irland via Frankreich eingereiste Glaubensbote Columban mit elf Gefährten, denen sich Gallus*) als Zwölfter anschloss, einen massgebenden Einfluss. Zunächst wirkten sie in Bregenz. Columban reiste nach zwei Jahren weiter nach Oberitalien, während Gallus sich nach hartem inneren Kampf von Columban trennte und im Steinachtal (damals noch Urwald), in der Gegend der Mühleggschlucht (heute in der Stadt St. Gallen gelegen) eine bescheidene Klause baute und seine christliche Tätigkeit aufnahm. Er war überzeugter Christ und Gelehrter und in geringem Masse Missionar. Er arbeitete und lebte rund 30 Jahre im Steinachtal, zumeist in

Gemeinschaft mit Anhängern dieser neuen Lehre, war also nicht ausschliesslich Einsiedler. «Wichtiger als die Herkunftsfrage sei» – so schreibt Max Schär – «Gallus'  starke Vernetzung mit Machtträgern und Kirchenmännern gewesen.» Entscheidend für die Weiterentwicklung des Christentums waren sodann die Tatsachen, dass sich der im letzten Kapitel erwähnte einflussreiche Frankenkönig Chlodwig (aus der Dynastie der Merowinger) ums Jahr 500 taufen liess und dass auch die Alamannen nach und nach das Christentum annahmen. *) Gallus. Kelte, geboren um 550 und gestorben um 630. Entgegen bisheriger Erkenntnisse weist der Historiker und evang. Theologe Max Schär in seinem im Oktober 2011 herausgekommenen Buch «Gallus. Der Heilige seiner Zeit» nach, dass Gallus nicht Ire, sondern höchstwahrscheinlich Elsässer aus den Vogesen war. «Möglicherweise» – räumt Schär ein – «ist ein Teil seiner Eltern irischer Abstammung.» Gallus gilt als Begründer der Stadt St. Gallen und zusammen mit Otmar als Schutzpatron der Stadt und des Bistums St. Gallen.

Die Mehrheit der Menschen in jener Zeit in unserer Region waren Alamannen. Diesbezüglich ist hier ganz besonders der Alamanne Otmar (Othmar), der bereits als Kind nach Chur kam und dort später zum Priester ausgebildet wurde, zu erwähnen. Entstehung der Klöster Otmar gründete mit Gleichgesinnten im Jahr 720 die Fürst­abtei (Kloster) St. Gallen und war dessen erster Abt (Klostervorsteher). Er widmete sich im Innern dem gläubigen Leben der Mönche, während er sich nach aussen der Krankenpflege und dem Armenwesen annahm, also


Leben kommt ins Tal · Die Christianisierung

praktisches Christentum vorlebte und ausübte. Dazu organisierte er fallweise die nötige Infrastruktur; so liess er eine Armenherberge und ein Siechenhaus für unheilbar Kranke und Aussätzige errichten. Auch weil er ursprünglich Alamanne war und, wie erwähnt, das praktische Christentum lebte, gewann er mehr und mehr an Ansehen und Einfluss. Das überzeugte viele Ostschweizer, sich taufen zu lassen. Durch Pippin (714 – 768 fränkischer Hausmeier aus dem Geschlecht der Karolinger) wurde Otmar verpflichtet, die Ordensregel der Benediktiner einzuführen und zu praktizieren. Mit zwei fränkischen Grafen und Bischof Sidonius von Konstanz gab es erhebliche Zwistigkeiten, denen Otmar nicht gewachsen war. Die genannten Würdenträger wollten das Kloster St. Gallen des grossen Besitzes wegen demjenigen von Konstanz unterstellen. Otmar versuchte dies zu verhindern und wurde deshalb zunächst zum Tode verurteilt. Später wurde dieses Urteil in lebenslängliche Haft umgewandelt und er wurde im Jahre 759 auf die Insel Werd Klöster. Sie sind eine Lebensform von Männern oder Frauen, die in Abgeschiedenheit den christlichen Glauben leben wollen. Es gibt verschiedene Ordensgemeinschaften mit eigenen Regeln, so z.B. die Benediktiner, die Franziskaner, die Zisterzienser, die Trappisten, die Augustiner, die Johanniter usw. Die meisten bekennen sich zur Grundregel: «Bete und arbeite!» Das erste Kloster in der Schweiz entstand im 5. Jahrhundert; es war dasjenige von Romainmôtier (VD). Die Grosszahl von Klostergründungen, auch in der Ostschweiz, fand in der Zeitspanne vom 7. bis zum 12. Jahrhundert statt. Der Johanniterorden spielte im Lauchetal eine bedeutende Rolle; dieser erfährt im Kapitel «Die Toggenburger und die Komturei Tobel» eine eingehende Würdigung.

bei Eschenz überführt, wo er im November jenes Jahres verstarb. «Sein» St. Galler Kloster wurde fortan als Benediktinerabtei weitergeführt. Fast gleichzeitig mit St. Gallen entstand auf der Insel Reichenau ein Kloster. Diese Insel gehörte zu jener Zeit zum Einflussbereich des alamannischen Adligen Sintlas. Dieser bat im Jahre 724 den benediktinischen Missionar Pirmin, auf der damals völlig überwachsenen Insel ein Kloster zu bauen. Es sollte später zu einem der wichtigen kulturellen und wissenschaftlichen Zentren der Karolinger und Ottonen*) im Frühmittelalter werden. Sintlas selbst residierte zu jener Zeit auf der Burg Sandeck, Gemeinde Salenstein (die Ruine besteht noch), also auf der Schweizer Seite des Bodensees, von wo aus er die Insel sehr gut überblicken konnte. *) Karolinger und Ottonen. Die Karolinger waren ein Herrschergeschlecht der westgermanischen Franken; ihr berühmtester Vertreter war Karl der Grosse. Die Ottonen waren ein sächsisches Adelsgeschlecht, deren Vertreter im ostfränkischen Reich regierten.

In dieser Zeitspanne geschah es auch, dass zahlreiche Thurgauer «Freie» ihr Gut als Lehen an ein Kloster übertrugen. Dies taten sie nicht, weil sie besonders fromm waren, sondern weil sie sich dadurch von der militärischen Dienstpflicht als Freie loskaufen konnten. Sie konnten als Lehensbauern ihre Güter weiter bewirtschaften. Viele der Mönche waren der Schreibkunst mächtig und die entsprechenden Daten von solchen Lehensverträgen waren denn oft auch erste geschichtliche Nennungen von Ortschaften, wo eben ein solches Lehensgut lag; dies, obwohl Menschen meist schon viel früher in solchen Gegenden gelebt hatten. Zur Überwachung ihrer

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Lehen hinsichtlich Abgabe bestimmter Produkte und Einzug von Zinszahlungen setzten die Klöster Vögte ein. Die Klöster – Orte der Bildung Die Klöster in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens waren nicht nur Orte geistlichen Lebens, sondern auch bedeutende Bildungsstätten. Sie waren Zentren handwerklicher und landwirtschaftlicher Kunst, sowie aktiv in der Erforschung und Sammlung von Wissen in vielen Sparten. Zudem unterhielten sie Schulen, wo unter anderem Lesen und Schreiben vermittelt wurde; sie waren eigentliche Zentren der Kultur. Ernst Herdi schreibt dazu: «Ihr Einfluss auf Sitte und Bildung kann gar nicht überschätzt werden. Die Bemühungen Karls des Grossen zeitigten bei ihnen namentlich einen starken Wettstreit in Künsten und Wissenschaften.» Mönche waren aber nicht nur Förderer des geistigen Lebens, sondern pflegten auch gewisse weltliche Genüsse, so z.B. den durch die Römer mitgebrachten Rebbau. Mit dem Saft

Die bekanntesten Klöster im Thurgau Bischofszell 850 – 1848 Kreuzlingen 968 – 1848 Münsterlingen 1100 – 1848 Fischingen 1135 – 1848 Ittingen 1150 – 1848 Paradies 1242 – 1836 St. Katharinental 1242 – 1869 Tänikon 1249 – 1848 Tobel 1250 – 1807 Kalchrain 1330 – 1848 Klingenzell 1336 – 1803 Frauenfeld 1595 – 1848

Chorherrenstift St. Pelagius Augustiner Augustinerinnen/Benediktinerinnen Benediktiner Kartäuser Klarissinnen Augustinerinnen/Dominikanerinnen Zisterzienserinnen Johanniter Zisterzienserinnen Probstei Kapuziner

der Reben wurde denn auch das ehemalige Alamannenbier in die Gesindestuben verdrängt. Daneben aber führten sie Regeln ein wie das Verbot der Sonntagsarbeit oder das Verbot der Ehe unter Blutsverwandten. Noch strenger wurden die Sitten mit der Einführung der Regeln des Benedikt in bestimmten Klöstern. Mit Beschluss des Grossen Rates des Kantons Thurgau vom 27. Juni 1848 wurde die Aufhebung sämtlicher Klöster im Kanton verfügt. Das Kloster Fischingen wurde, nach Aufhebung des sogenannten Ausnahmeartikels in der Bundesverfassung von 1973, im Jahre 1977 wieder errichtet; es ist das einzige aktive Kloster im Kanton. Das Konzil zu Konstanz in den Jahren 1414 – 1418 Vorgeschichte Die in vielen Fällen enge Verbindung von geistlicher und weltlicher Macht hat viele Entwicklungen gebracht, die keinesfalls im Sinne des Gründers der christlichen Lehre sein konnten. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass viele religiöse Würdenträger aus Fürsten- und Königshäusern stammten, welche vorab darauf aus waren, Familieninteressen zu schützen, ihren Reichtum zu mehren und darob gerne mal die geistlichen Aufgaben vernachlässigten. Ebenso sei hier an die unrühmlichen Kreuzzüge erinnert, in welchen machtpolitische und religiöse Ziele mit kriegerischen Mitteln und päpstlicher Unterstützung verfolgt wurden. Es ging dabei primär um die Zurückdrängung des Islam, welcher sich seit dem 7. Jahrhundert stark ausgebreitet hatte. Zentraler Punkt dabei war die Befreiung Jerusalems und des heiligen Landes.


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Weiter kann die Inquisition genannt werden; hier handelt es sich um Gerichtsverfahren gegen Kritiker (oder Ketzer, wie man diese in der Inquisition nannte), welche Dogmen oder Praktiken der Kirche in Frage stellten. Diese Ketzer wurden in der Folge oft bei lebendigem Leibe verbrannt. Genau diesen qualvollen Tod erlitten während des Konzils von Konstanz zwei bedeutende Kritiker von Fehlentwicklungen der katholischen Kirche, nämlich die überzeugten Christen Jan Hus und Hieronymus von Prag. Eine weitere ungeheuerliche Fehlentwicklung war der Verkauf von Ablassbriefen. Mit diesen «Dokumenten» wurde den Gläubigen vorgegaukelt, dass man sich gegen Entgelt von Sünden freikaufen könne. Einberufung und Ziele des Konzils Ein weltlicher Würdenträger, der deutsche König (ab 1419 römisch-deutscher Kaiser) Sigismund (1368 – 1437), selbst Christ, hatte Kenntnis von den erwähnten Fehlentwicklungen in der Kirche und wollte deren Spaltung (abendländisches Schisma) verhindern. Es gab zu jener Zeit nicht nur einen, sondern drei Päpste, Konstanz 1388 baute die Stadt Konstanz am Hafen ein Kaufhaus als Lagerhaus. Im Obergeschoss dieses heute immer noch bestehenden Gebäudes fand 1417 die Papstwahl statt. Heute ist dieses Gebäude weit über die Grenzen von Konstanz hinaus ein bekanntes Kongress- und Gastronomie-Zentrum. Zur Zeit des Konzils lebten in der Stadt rund 6 000 Menschen; die gesamte «Konzilsgemeinde» mit Gästen betrug aber 72 000 Menschen. Es mussten Herbergen in der weiten Umgebung der Stadt gefunden werden. Konstanz wurde gewählt, weil es Bischofssitz war und es angesichts der vielen Herbergen kostengünstig schien.

Johannes XXIII., Gregor XII. und Benedikt XIII. Sigismund forderte von einem der Papstanwärter, Johannes XXIII., unbedingt ein Konzil einberufen zu lassen, durch welches folgende Ziele erreicht werden sollten: · Die Wiederherstellung der Einheit (also nur ein Papst) · Einleitung notwendiger innerkirchlicher Reformen · Klärung von Fragen der kirchlichen Verkündigung König Sigismund gelang es im Rahmen des Konzils, die genannten drei Päpste zum Rücktritt zu zwingen. Neu gewählt wurde Kardinal Otto von Colonna als Martin V. – die einzige Papstwahl auf deutschem Boden. Leider wurden aber die übrigen beiden Ziele, insbesondere die seit Jahrhunderten dringend notwendige Einleitung von innerkirchlichen Reformen, nicht erreicht. Das sollte sich rund hundert Jahre später rächen.

Bild Nr. 52 Derzeitiges Konzilsgebäude in Konstanz


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Reformation – Glaubensspaltung «Das Zeitalter der Glaubensspaltung» – so schreibt Peter Dürrenmatt in seiner Schweizergeschichte – «gehört zu den grossen und schicksalhaften Epochen der Geschichte der Menschen. Es war eine Zeit, in der sich im Denken und Fühlen der Menschen, in der Kunst und in den wirtschaftlichen und sozialen Auffassungen ein grundlegender Wandel vollzog. Es kommt darin zum Ausdruck, dass die gewaltigen, aus elementaren religiösen Kräften strömende Bewegung des Zeitalters ihre stärkste, alle andern Gebiete beeinflussende Kraft gewesen ist.» Wie früher erwähnt, wurde es auf dem Konzil zu Konstanz versäumt, das Problem der schon damals bekannten schwerwiegenden Missstände in der Kirche zu lösen. Inzwischen hatten sich die Probleme verschärft, so dass mehrere hochgebildete Christen sich anschickten, diese Fehlentwicklungen im Christentum offen anzusprechen und Abhilfe zu fordern. Sie wollten nicht primär eine Kirchenspaltung, sondern eine Erneuerung auf Basis der Bibel und der Evangelien. Besonders gewichtige Missstände waren: · Die enge Verflechtung zwischen weltlicher und kirchlicher Macht · Der Reichtum der Kirche und die geistliche Verflachung und Verwahrlosung des Klerus; dem Zölibat wurde nur noch teilweise nachgelebt · Die Angstmacherei mit Hölle und Fegefeuer · Der Handel mit Ablassbriefen (mit Geld sich von Sünden freikaufen) · Der recht steife Formalismus in den Messfeiern

In Deutschland lebte ein in mehreren Disziplinen gebildeter Mann, späterer Augustinermönch und Doktor der Theologie (1512) mit Lehrstuhl der «Lectura in Biblia» an der Wittenberger Universität – Martin Luther (1483 – 1546). Dieser, seinem Gewissen folgend, lang zuvor mit sich selber ringend, prangerte solche Missstände öffentlich an. Am 31. Oktober 1517 hängte er einen Anschlag mit 95 Thesen am Hauptportal der Schlosskirche zu Wittenberg auf. Darin geisselte er, nebst vielen andern Missständen, besonders scharf den Handel mit den Ablassbriefen. Diese Thesen fanden in der Öffentlichkeit grossen Widerhall und lösten – durch den nach wie vor absoluten Widerstand der Kirche – die Reformation aus. Dazu schreibt Alfred L. Knittel in seinem Buch «Werden und Wachsen der evangelischen Kirche im Thurgau» Folgendes: «Herren regierten das Land. Die VII alten Orte, der Bischof von Konstanz, der Fürstabt von St. Gallen, sowie die Vögte und Beamten der Gerichtsherren und Klöster sorgten für den nötigen Druck der Steuerlasten. Der Thurgauer seufzte nach Erleichterung und Gerechtigkeit und Befreiung. Da brach in Deutschland der Sturm los. Martin Luther verkündete die Freiheit eines Christenmenschen, redete von der babylonischen Gefangenschaft der christlichen Kirche. Es rollte das Echo von Norden nach Süden.» Natürlich wurde auch hierzulande bekannt, was in dieser Sache in Deutschland vor sich ging. Auch in der Schweiz gab es gebildete Christen, welche ähnliche Gedanken hegten wie Martin Luther. Die bekanntesten Männer, die in der Schweiz sich der Reformation annahmen, waren der aus Wildhaus stammende Huldrych Zwingli


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(1484 – 1531) sowie der aus Paris vertriebene, damals in Genf ansässige Rechtsgelehrte Johannes Calvin (1509 – 1564). Zwingli hatte vereinzelt Kontakte mit Luther und lernte von ihm insbesondere die Glaubensinterpretationen des Paulus kennen; Luther und Zwingli waren und blieben uneinig über die Art der Abendmahlsfeier. Zwingli im Thurgau Zwingli hatte massgebenden Einfluss auf die Reformation im Thurgau. Einerseits war es die geringe Distanz zu Zürich, anderseits aber die Tatsache, dass er als junger Mann oft das Kloster Fischingen besuchte, um mit dem damaligen Abt Johann Meyli von Stocken (Weiler in der Nähe von Bettwiesen), mit dem er verwandt war, zu disputieren. Die Schwester des Abtes, Margarethe Meyli, war Zwinglis Mutter. Zwingli soll gesagt haben, dass Abt Meyli wie ein Vater für ihn war. Zwingli studierte in Basel bei Erasmus von Rotterdam und wurde Priester. Erasmus von Rotterdam war ein Gelehrter des europäischen Humanismus – er war Theologe und Philosoph und Verfasser zahlreicher Bücher. Als junger Priester amtete Zwingli in Glarus und Einsiedeln, bevor er am 1. Januar 1519 die Stelle als Leutpriester am Grossmünster in Zürich antrat. Dies sollte seine Wirkungsstätte als Reformator werden. Während seiner Glarner Zeit amtete er auch als Feldprediger und nahm an den Mailänderkriegen bei Novarra und Marignano teil. Hier erlebte er hautnah die schlimmen Folgen für Schweizer Söldner in fremden Diensten und begann mit Erfolg gegen die sogenannte Reisläuferei zu kämpfen. Zudem predigte er gegen das Wallfahrtenwesen, das Fastenwesen, die Leibeigenschaft sowie die Heiligenverehrung. Auf seine Veranlassung hin wurden 1524

Heiligenbilder und Statuen aus den Kirchen entfernt. Im gleichen Jahr ehelichte er öffentlich Anna Reinhart und erklärte den Zölibat für die Reformierten, als nicht aus der Bibel stammend, als abgeschafft. Zwingli war ein stark politisch denkender und handelnder Mann. Besonderheiten der Reformation im Thurgau und im Lauchetal Die Landgrafschaft Thurgau wurde 1460 von den eidgenössischen Orten Zürich, Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug und Glarus erobert. Der Thurgau wurde so

Bild Nr. 53 Reformator H. Zwingli im Disput mit M. Luther i.S. Abendmahlsfeier


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zu einer gemeinen Herrschaft dieser sieben Stände. In deren Auftrag regierte in Frauenfeld ein Landvogt, jeweils zwei Jahre in der Reihenfolge der Stände wie oben erwähnt. Der Thurgau gehörte in religiösen Belangen zum damaligen Bistum Konstanz. Die Gerichtsbarkeit für weltliche Dinge oblag dem Landvogt und den lokalen niederen Gerichten, während die Kirchenleitungen sich mit geistlichen Belangen zu befassen hatten. Bild Nr. 54 · Kartause Ittingen, Quelle: Diese Institution

In den Jahren 1525 – 1530 breitete sich der neue Glaube im Thurgau rasch aus; das galt auch für die Gemeinden Affeltrangen, Lommis und Stettfurt im Lauchetal. 1527 schloss sich auch die Stadt Konstanz der Reformation an; der dortige Bischof Hugo floh nach Meersburg. Damals pilgerten viele Thurgauer Bauern nach Konstanz, um dort Predigten zu hören. Die Vögte aus den inneren Orten stemmten sich, wo immer möglich, gegen die reformatorischen Bestrebungen, allerdings ohne erkennbaren Erfolg.


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Meinungsdifferenzen und religiöse Verunglimpfungen infolge der Kirchenspaltung führten oft zu gewalttätigen Exzessen. Auch im Thurgau wurden in vielen katholischen Kirchen Bilder, Messbücher und Altäre, oft mit roher Gewalt, zerstört und verbrannt. «Dies bedeutete auch,» – so Alfred Knittel in seinem Buch «Die Reformation im Thurgau» – «dass manch kostbares Kunstwerk bei dieser Gelegenheit leider zugrunde ging.» Auf Burg bei Eschenz lebte der eifrige Förderer der reformatorischen Bestrebungen, Pfarrer Hans Öchsli. Ihn kannte man auch in Stammheim, wo er vom Untervogt Wirth und seinen beiden Söhnen Hans und Adrian – ebenfalls «Neugläubige» – unterstützt wurde. Er provozierte durch sein Verhalten (Verteilung von Flugblättern u.ä.) eine starke Abneigung gegen die «Altgläubigen» und wurde im Jahre 1524 durch den zuständigen Vogt Amberg deswegen verhaftet und nach Frauenfeld gebracht. Als Folge dieser Gefangennahme marschierten mehrere Tausend erboste Bauern aus der Untersee- und der Stammheimer Region unter Führung des übereifrigen evangelischen Pfarrers Erasmus Schmid Richtung Ittingen. Ziel war Frauenfeld, wo sie den Pfarrer Öchsli befreien wollten. Das Hindernis Thur – es gab damals in jener Gegend noch keine Brücken – liess sie zum Kloster Ittingen (Kartäuser) marschieren, wo sie Einlass verlangten und frühstückten. Sodann gings zum Weinkeller, wo kräftig über den Durst hinaus getrunken wurde. Anschliessend wurde alles kurz und klein geschlagen, was ihnen im Wege war, insbesondere Heiligenbilder, Altäre, Kruzifixe usw. Sie übernachteten dort und nach dieser feuchtfröhlichen Nacht zündeten sie schliesslich das Kloster an; wer das Feuer gelegt hatte, konnte nie ermittelt werden. Diese Ereignisse gingen als «Ittingersturm»

in die Geschichte ein. Als Folge dieser Tat wurden Vater und Söhne Wirth zur Tagsatzung nach Baden gebracht, wo Vater und Sohn Hans geköpft und Sohn Adrian freigelassen wurde. Ähnliches ereignete sich in Tobel, wo Neugläubige im Februar 1529 das ehemalige Gotteshaus samt der Ritterkapelle und das Beinhaus stürmten, Altäre zerschlugen und Bilder sowie Messbücher verbrannten. Solche Zerstörungen waren aber der Sache der Reformation nicht dienlich und in diesen Formen von den Reformatoren selber sicher nicht gewollt; Überreaktionen, wie die erwähnten Beispiele, sollten später zu Gegenreaktionen führen. Zwingli wollte, entgegen den «Altgläubigen», eine klare Entscheidung, wonach es jeder Gemeinde freigestellt werden solle, den neuen Glauben zu wählen und provozierte so den ersten Kappeler Krieg von 1529; dieser konnte aber durch Vermittlung des Luzerner Landammanns Hans Aebli verhindert werden. Statt zum Blutvergiessen kam es zur sogenannten Kappeler Milchsuppe, zu der die Innerschweizer die Milch und die Zürcher das Brot beisteuerten. Der daraufhin geschlossene 1. Landfrieden sollte nicht lange halten; es kam 1531 zum zweiten Kappeler Krieg (bei Kappel und am Gubel), bei welchem Zwingli fiel und die Altgläubigen obsiegten. Die Gegenreformation Der daraufhin ausgehandelte 2. Landfrieden bildete den eigentlichen Beginn der Gegenreformation. Dieser besagte im Wesentlichen, dass jeder Ort bei seinem Glauben bleiben dürfe; wenn einzelne Gemeinden im

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Glaubensbekenntnis wieder zum alten Glauben zurückkehren wollen, soll ihnen dies ohne Sanktionen gestattet sein und sämtliche Bestimmungen der Thurgauer Kirchengesetzgebung (Thurgauer Vergriff) sollen aufgehoben werden. Da dieser Landfriede, welcher 1532 in Kraft gesetzt wurde, eher zu Gunsten der Altgläubigen ausfiel, war noch kein dauerhafter Friede zwischen den Konfessionen erreicht. «Es ergab sich aber,» – wie Pfr. Dr. A. Gäumann in seinem Vortrag zum Thema «Die Reformation im Thurgau» erläuterte – «dass nach dem 2. Landfrieden der fast vollständig neugläubig gewordene Adel wieder zum alten Glauben zurückkehrte. Der evangelische Gottesdienst hörte in einigen Thurgauer Gemeinden auf.» Man war sich auf katholischer Seite endlich klar geworden, dass Reformen notwendig waren; diese wurden im Rahmen des Reformkonzils von Trient (1545 – 1563) beschlossen. Das Trienter Konzil war die Antwort auf die Thesen des Martin Luther; dieses Konzil wurde mehrmals unterbrochen und später wieder fortgesetzt. Die hauptsächlichsten Reformen umfassen etwa die Beseitigung der Missstände im Ablasswesen, Verbot der Ämterhäufung bei Bischöfen, Vereinheitlichung der Liturgie, Formpflicht bei Eheschliessungen und vieles mehr. Die Gegenreformation wurde verstärkt durch die Gründung des Jesuitenordens durch den ehemaligen spanischen Offizier Ignatius von Loyola (1491 – 1556). Die Jesuiten – hervorragend ausgebildete Männer, die in normalen Kleidern arbeiten – leben nach vier Haupt-Ordensregeln: Armut, Ehelosigkeit, Gehorsam und besonderer Gehorsam gegenüber dem Papst. Der Orden wurde

1773 durch Papst Clemens XIV. aufgehoben, aber 1814 auf Veranlassung von Papst Pius VII. wieder zugelassen. Auch nach dem 2. Landfrieden kehrte in der Ostschweiz noch keine Ruhe unter den Konfessionen ein; die Reformierten konnten ihre Schmach von 1531 nicht verkraften. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts fingen zunächst lokal, später aber regional die kriegerischen Auseinandersetzungen wieder an. «1712» – schreibt Alfred L. Knittel – «unterbreiteten die Zürcher und Berner Kriegsräte (Reformierte) in Lommis ihren Oberen (den zuständigen Räten in beiden Orten) den Kriegsplan. Die Thurgauer baten untertänigst, sie bei dieser selten wiederkehrenden Gelegenheit, gleich wie die Toggenburger, von ihren Lasten und Bedrückungen seitens des Abtes des Klosters St. Gallen, zu befreien.» Nebst andern Klöstern wurden auch Ittingen, Sonnenberg und Fischingen, später auch St. Gallen mit Truppen belegt. Zur gleichen Zeit rückten die Berner unter General Niklaus Emanuel Tscharner in den Aargau ein. Dieser General N.E. Tscharner war der Sohn des Emanuel Tscharner aus Bern, welcher für zwei Jahre als Vogt im Thurgau geamtet und den reformierten Stettfurtern zu einer eigenen Kirchgemeinde verholfen hatte. Die letzten Religionskriege in der Eidgenossenschaft waren diejenigen von Villmergen (Kt. Aargau, Bezirk Bremgarten) von 1656, hier siegten die Katholiken, und 1712, welcher von den Reformierten gewonnen wurde. Viele hundert Männer mussten ihr Leben lassen. «Das Ergebnis der zweiten Schlacht von Villmergen» – so schreibt Peter Dürrenmatt – «war der vierte Landfriede vom 11. August 1712. Konfessionell brach er das bisherige


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Übergewicht der Katholiken und stellte den Grundsatz der Gleichberechtigung beider Konfessionen in der Eidgenossenschaft und in den Gemeinen Herrschaften her.» Auch wenn nicht in allen Teilen befriedigend, hielt dieser 4. Landfriede bis zum Untergang der alten Eidgenossenschaft 1798. In diesem Landfrieden, zwischen Bern und Zürich einerseits und den 5 alten Orten anderseits, wurde beiden Konfessionen volle Parität zuerkannt. Die Vernunft hatte schliesslich gesiegt. Die Kirchen im Lauchetal Matzingen. Erstmals im Jahr 894 wird ein Kirchlein erwähnt; vermutlich handelte es sich um einen einfachen Holzbau. Im 12./13. Jahrhundert wurde eine Kirche aus Stein gebaut, genannt Verenakapelle. 1518 wurde Matzingen eine eigene Pfarrei, von Wängi aus betreut. Die Pfarrwahl erfolgte weiterhin durch den Komtur von Tobel. 1529 trat die Gemeinde zum reformierten Glauben über. Im Jahre 1972 erhielt Katholisch-Matzingen eine eigene Kapelle; sie wurde im Juli jenes Jahres als St. Josephs-Kirche feierlich eingeweiht. Stettfurt. Die reformierten Stettfurter mussten bis Mitte des 18. Jahrhunderts die Predigten in Wängi besuchen. 1746 bauten sie ein eigenes Gotteshaus, ursprünglich «Betschopf» genannt, durften aber erst 1752 eine Kirchgemeinde errichten. Die ursprüngliche Kirche wurde im Jahre 1900 stark verändert. An Stelle des ursprünglichen Zwiebel-Dachreiters wurde ein neugotischer Kirchturm gebaut sowie das Dach modernisiert und mit Treppengiebeln (im Jahre 1951 wieder entfernt) versehen.

Seit 1663 existiert im Schloss Sonnenberg eine Kapelle, wo seit der Übernahme des Schlosses durch das Kloster Einsiedeln im Jahre 1678 bis zum Verkauf des Schlosses im Jahre 2007 regelmässig katholische Gottesdienste gefeiert wurden. Die Katholiken von Stettfurt hatten für die Gottesdienstbesuche die Wahl zwischen Wängi, Schloss Sonnenberg und später Matzingen. Lommis. Katholisch Lommis feiert 2014 das 800-jährige Bestehen ihrer Kirchgemeinde; die neugotisch geprägte St. Jakob-Kirche wurde erstmals 1214 urkundlich erwähnt. Die reformierten Lommiser feierten ihre Gottesdienste ab 1532 in der St. Jakob-Kirche. 1966 erhielt die evangelische Kirchgemeinde Lommis ein eigenes Gotteshaus, am Dorfausgang Richtung Stettfurt. Die seelsorgerische Betreuung von Evangelisch Lommis erfolgte bis 1961 durch den Pfarrer von Matzingen und seither durch denjenigen von Stettfurt. Kalthäusern/Weingarten/Zezikon. Kalthäusern und Weingarten gehören zur Pfarrgemeinde Lommis, während Zezikon kirchlich Affeltrangen zugeteilt ist. In Weingarten gibt es seit 1969 eine Kapelle der ChrischonaGemeinde. In Kaltenbrunnen (am Pilgerweg) existiert zudem die kleine Jakobskapelle, in welcher für Katholiken einmal pro Monat vom Pfarrer von Tobel eine Messe gelesen wird.

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Leben kommt ins Tal · Die Christianisierung

ein grosser Teil der Bevölkerung. Danach wurden die Katholiken Tobel zugeteilt. Im 17. Jahrhundert wurde die mittlerweile evangelische Kirche zu einer Paritätischen, wo der Pfarrer von Tobel monatlich eine Messe las. 1934 erhielten die Affeltranger Katholiken eine eigene Kapelle, worin nun der Pfarrer von Tobel monatlich eine Messe zelebriert. Tobel. Im Tal, unterhalb des seinerzeitigen Wehrturms,

existierte eine Kirche, welche, mit einem Unterbruch während der Reformationszeit von 1529 – 1531, bis 1706 als katholische Kirche diente. 1706 wurde sie in Absprache zwischen Komturei und Kirchenbehörde abgerissen. Die derzeitige katholische Kirche «auf dem Berg» mit dem als Glockenturm dienenden verbliebenen Teil des Wehrturms wurde 1707 eingeweiht.

Bild Nr. 55 · Kirche Tobel mit Wehrturm

Affeltrangen. Die Kirche wurde erstmals 1275 urkundlich erwähnt. Um 1530 wechselte der damalige Pfarrer von Affeltrangen zum reformierten Glauben und mit ihm

Quellennachweis Borer/Wiesli Dürrenmatt Peter Gäumann A. Pfr. Herdi Ernst Knittel Alfred L. Knittel Alfred L. Schär Max Aus dem Internet, Zeitungspublikationen und Dorfbroschüren

Heutige Gliederung der Bevölkerung nach Konfessionen Seit dem 19. Jahrhundert herrscht wieder weitgehend Vernunft zwischen den Konfessionen. Die Volkszählung im Jahre 2000 hat ergeben, dass im Kanton Thurgau etwa 46 % Reformierte und 36 % Katholiken leben.

Festschrift zum 300-Jahr-Jubiläum der Kirche St. Johannes, Tobel Schweizer Geschichte Drei Vorträge zum Thema Reformation Geschichte des Thurgaus Die Reformation im Thurgau Werden und Wachsen der evangelischen Kirche im Thurgau Gallus. Der Heilige seiner Zeit. Diverse Beiträge


Leben kommt ins Tal · Die Besiedlungsstruktur und erste Erwähnungen der Taldörfer

Die Besiedlungsstruktur und erste Erwähnungen der Taldörfer Vorbemerkungen In einem früheren Kapital erwähnten wir, dass das Lauchetal über viele Jahrhunderte Sumpfgebiet war. In der Umgebung der Dörfer Märwil und Lommis wurde noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts Torf gestochen. Die Kleinheit und Lage des Tals eignet sich weder für Städtebauten noch für grosse Verkehrsadern. Das Tal hat sich zu einer Landwirtschaftszone entwickelt, vorwiegend für Viehwirtschaft, Gemüse, Rüben, Mais, Getreide und Rebbau. Das Auftauchen und «Wirken» der Reblaus in unserer Region zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte im Lauchetal und andernorts zu einer starken Veränderung (Eliminierung von Rebgebieten und Steigerung der Qualität) im Rebbau. Für Detailinformationen verweisen wir auf das Kapitel «Landwirtschaft». Das Flurwesen war über viele Jahrhunderte durch die von den Alamannen eingeführte Dreifelderwirtschaft (auch Dreizelgenwirtschaft genannt) geprägt; diese Bewirtschaftungsart sollte bis Ende des 18. Jahrhunderts Bestand haben. Weitere Informationen dazu finden sich ebenfalls im Kapitel «Landwirtschaft». Zudem und wie auch im Kapitel «Unsere Vorfahren – eine geschichtliche Abfolge» erwähnt, siedelten die Alamannen vorwiegend in Weilern oder kleinen Dörfern; das führten später die Franken so weiter. Viele unserer Dörfer tragen Namen, die auf alamannischen Ursprung zurückgehen und die im Laufe der Zeit entsprechend dem jeweiligen Sprachgebrauch angepasst wurden und schliesslich

zu den heutigen Bezeichnungen führten; siehe nachfolgende Tabelle. Auch die Namen der Hauptflüsse im Tal sind alamannischen Ursprungs. Die gesellschaftliche Struktur der Alamannen hatte eine klare Gliederung. Man unterschied zwischen «Freien» (Hofstattbesitzer) und «Hörigen» (Leibeigene). Darüber gab es den Stand der Adligen (eine sozial exklusive Gruppe mit gesellschaftlichem Vorrang), welcher massgebend bei der Regelung und Überwachung der Hierarchien war. Diese gesellschaftliche Ordnung hatte bis Ende des 18. Jahrhunderts Bestand, also bis zur französischen Revolution. Weitere Informationen zu diesem Bereich finden sich im Kapitel «Die Toggenburger und die Komturei Tobel». Bekanntwerden der Dörfer Wollen wir erfahren, seit wann unsere Dörfer ins «geschichtliche» Bewusstsein kamen, müssen wir zwei Zeitabschnitte unterscheiden, nämlich: · Vor der urkundlichen Erwähnung unserer Dörfer · Ab der urkundlichen Erwähnung unserer Dörfer Zum ersten Zeitabschnitt kann uns – neben teilweisen mündlichen Überlieferungen – nur die Archäologie helfen. Wenn irgendwo im Tal Grabungen vorgenommen wurden oder werden und menschliche Körper oder Teile davon oder auch Gegenstände gefunden wurden oder werden, sind die Archäologen in der Lage, die Zeitabschnitte, in welchen solche Menschen gelebt haben,

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recht genau zu bestimmen. Wir verweisen dazu auf das Kapitel «Archäologische Fundstellen». Auch hier zeigt sich die grosse Bedeutung der Archäologie für die Erforschung der Menschheitsgeschichte auch im Lauchetal. Es gilt als gesicherte Aussage, dass Menschen viel früher hier gelebt haben, als diese Dörfer erstmals in Urkunden erwähnt sind.

Tabelle Nr. 61 Erste urkundliche Erwähnung unserer Dörfer

Die Freien waren als Besitzer von Höfen zur Leistung von Militärdiensten (Heerbann) verpflichtet, während die Aufgabe der Hörigen die Arbeitsleistung auf den Gutsbetrieben war. Um sich von der Pflicht zu Militärdiensten zu befreien, zogen es viele Freie vor, ihre Höfe an ein Kloster oder an eine Herrschaft zu übertragen, um ihre Betriebe als Lehensnehmer weiter zu bewirtschaften. In

solchen Urkunden (Verpfändungen oder Schenkungen) – viele Mönche in Klöstern waren der Schreibkunst mächtig – wurde jeweils auch der Name eines Dorfes, wo ein verpfändeter oder verschenkter Hof stand und in welchem Jahr eine Liegenschaftstransaktion erfolgte, erwähnt und damit urkundlich festgehalten. So entstanden in den meisten Fällen die ersten schriftlichen Nachweise unserer Dörfer. Die nachfolgende Tabelle zeigt die Jahreszahlen der jeweils ersten urkundlichen Erwähnungen der Dörfer im Lauchetal. Die Entwicklung der Dörfer im Tal Dazu verweisen wir auf die Kapitelgruppe «Die Gemeinden».

Aktueller Dorfname

Alter Dorfname

Erstmals erwähnt

Art des Dokuments

Bemerkungen

Affeltrangen

Affultarwanga

827

Schenkungsurkunde

von Immo an Kloster St. Gallen

Anetswil

Arnoltswile

1303

Verkaufsakte

Truchsessen Eberhard von Bichelsee

Kalthäusern

Kalthusiren

1296

Verkaufsakte

Weinberg an Johanniterorden

Lommis

Loupmeissa

824

Schenkungsurkunde

von Scoppo an Kloster St. Gallen

Märwil

Marinwilare

827

Schenkungsurkunde

von Immo an Kloster St. Gallen

Matzingen

Mazcingas

779

Schenkungsurkunde

von Hiso an Kloster St. Gallen

Stettfurt

Stetivurt

827

Schenkungsurkunde

von Immo an Kloster St. Gallen

Tobel

1228

Gründungsakte

der Komturei Tobel

Weingarten

Wingarten

1270

Eigentumsverzicht

Abtretung Reben an Kloster Rüti

Wetzikon

Wezzinchova

827

Schenkungsurkunde

von Immo an Kloster St. Gallen

Zezikon

Zezinchova

813 – 816

Verleihungsurkunde

an Kloster St. Gallen

Quellennachweis Von den Gemeinden Herdi Ernst

Geschichtliche Broschüren Geschichte des Thurgaus


Herrschafts- und Gerichtssysteme

Die Wappen der Stifter der Komturei, gezeichnet im Kopialbuch des Ritterhauses aus dem Jahre 1662. In der Mitte sieht man das Johanniterwappen, darunter jenes der Grafen von Toggenburg.



Herrschafts- und Gerichtssysteme · Regelungen des Zusammenlebens

Regelungen des Zusammenlebens Die Ursprünge Aus der Frühgeschichte der hier lebenden Menschen ist nichts Schriftliches über Regelungen des Zusammenlebens bekannt. Dies war für die noch sehr geringe Anzahl von Bewohnern zu Beginn der Besiedlung auch nicht erforderlich. Auf Grund der archäologischen Funde glauben die Forscher, in der Zeitepoche der Kelten und Helvetier Hinweise auf die Organisation des Lebens in einer Siedlung gefunden zu haben. In jener Zeit wohnten Menschen in zerstreuten Landsiedlungen oder in Einzelhöfen. Die Forscher vermuten, dass es regional aktive Clans gab, an deren Spitze jeweils eine Oberschicht stand, welche gewisse Regeln des Zusammenlebens anordnete; konkrete schriftliche Quellen aus jener Zeit sind, wie erwähnt, keine bekannt. Auch während der Zeit der Römer – diese lebten mehrheitlich am Rhein und Bodensee – hat die Zahl der Bewohner im Lauchetal kaum merklich zugenommen. Die Römer aber hatten bereits ein ziemlich klares Rechtssystem. Die örtlichen Militärkommandanten passten es jeweils den Verhältnissen der von ihnen beherrschten Regionen an. Wo erforderlich erliessen sie Ge- und Verbote, um ein geordnetes Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen. Konflikte unter Einheimischen oder zwischen diesen und Römern wurden durch die militärischen Instanzen ohne Gerichte und formelle Gerichtsverfahren geregelt; dies geschah teilweise recht willkürlich.

Die nachfolgenden Alamannen bevorzugten ein Leben in kleinen Dorfstrukturen; auch aus dieser Zeit sind keine schriftlichen Regelungen des Zusammenlebens bekannt – wohl weil solche nicht für erforderlich erachtet wurden. Der Adel als Herrschaftsbesitzer Adlige, als sozial exklusive Gruppe mit gesellschaftlichem Vorrang, waren – auch im Lauchetal – oft die Besitzer von Schlössern oder Burgen; das galt sowohl für Sonnenberg, als auch für Spiegelberg und Lommis. Auch in den Gemeinden Tobel, Affeltrangen, Märwil und Zezikon, welche durch die Komturei Tobel verwaltet oder «regiert» wurden, waren stets Adlige als Komture tätig. Mit einer Ausnahme waren alle deutscher Herkunft. Diese Adligen prägten wie keine andere Gruppe das Leben im Mittelalter – besonders in unserem Tal. Die letzten 250 Jahre vor der Übernahme des Thurgaus durch die Eidgenossenschaft der Acht Alten Orte waren eine unruhige und teilweise kriegerische Zeit. Kämpfe gegen die Habsburger mit nur kurzzeitigen Waffenstillständen führten u.a. zur Abwanderung von Mitgliedern des Adels. Auch als Folge dieser Entwicklung in der Landgrafschaft Thurgau schmolz der Adel deutlich, verarmte oder kehrte im Dienstgefolge (z.B. der Habsburger) nach Österreich zurück. «Zur Verminderung des hiesigen Adels» – so kann man in der Schrift «Landgrafschaft Thurgau» vom Historischen Verein des Kantons Thurgau (1861) lesen – «trug auch die damalige Sitte bei, dass

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Herrschafts- und Gerichtssysteme · Regelungen des Zusammenlebens

das Erbe jeweils nur auf den ältesten Sohn übertragen wurde. Die jüngeren Nachkommen von Adligen wurden entweder in Domherrenpfründe oder in Klöster oder auf Pfarrstellen gesandt. Wenn dann der Haupterbe, auf dem der Familienstamm beruhte, ohne Leibeserben starb, war das Erlöschen des ganzen Geschlechtes die unvermeidliche Folge und fremde Namen traten in das Erbe ein.» Wie man in der genannten Schrift des historischen Vereins weiter lesen kann – «traf dieses Problem bei so bekannten Geschlechtern wie den «von Klingen», den «von Bussnang» oder den «von Griessenberg» zu.» Es kamen daher oft fremde, meist aus Schwaben stammende, reiche Familien hierher und kauften solche Burgsitze, oft ausgestattet mit Gerichtsverantwortung. Ein typisches Beispiel dafür ist die aus Konstanz stammende Patrizierfamilie Muntprat; sie besass nicht nur Güter im Lauchetal, sondern auch in Weinfelden und Wil. Die Familie wurde nach und nach Teil des Thurgauer Landadels. Auch den Klöstern ist es gelungen, früher an Burgherren verliehene Herrschaften wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Besonders aktiv in unserer Region waren diesbezüglich die Klöster St. Gallen, Reichenau und Rheinau, sowie die Abteien Wil und Fischingen, das Domstift Konstanz und der Johanniter (oder Malteser) Orden. Da­raus ergab sich, dass eine Grosszahl kleiner Gerichtsherrschaften sich in nur wenigen Händen befand. Diese Form der herrschaftlichen Gebietsverwaltungen dauerte von deren Beginn ab dem 12. – 14. Jahrhundert bis zur französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts.

Die Herrschaften im Lauchetal Zu jeder Burg gehörte Grundbesitz, oft auch Lehensgüter mit Leibeigenen. War ein Herrschaftsbezirk auch mit einer Gerichtsbarkeit ausgestattet – das war in allen Herrschaften im Lauchetal der Fall – so amtete der Burgherr auch als Gerichtsherr. Er war demnach sowohl für zivile als auch für richterliche Belange im Zusammenleben seiner Untertanen zuständig. Die Hauptaufgabe des obersten Herrn einer Herrschaft bestand in der Regelung des Zusammenlebens seiner Untertanen. Diese Aufgabe erfüllte er durch zwei Arten von Aktivitäten. Einerseits stellte er Ge- und Verbote im Sinne von Verhaltensnormen in Form von sogenannten Offnungen auf. Solche Dokumente gab es für das ganze Herrschaftsgebiet, im heutigen Sprachgebrauch etwa Bezirksgesetze und auch für die einzelnen Dörfer, im heutigen Sprachgebrauch Gemeindegesetze genannt. Anderseits war er gehalten, ein Gerichtswesen einzurichten, um dadurch allfällige Verfehlungen abzuurteilen. In diesen Offnungen war jeweils das Herrschaftsgebiet sowie alle Besitztümer umschrieben – also sozusagen der Zuständigkeitsbereich festgehalten. Als wichtiger Bestandteil waren die Strafen für die Verfehlungen aufgelistet. In den Dorfoffnungen waren die für ein Dorf gültigen Rechte und Pflichten der Untertanen umschrieben. Dazu gehören z.B. die Grenzmarkierung der Landparzellen, das Jagdrecht, die Regelung des Zehntenwesens, Vorschriften zur Viehhaltung, Öffnungszeiten der Schankstuben, die Regelung des Alkoholausschanks besonders vor Gottesdiensten und das Verbot des vorzeitigen Beischlafs und vieles andere.


Herrschafts- und Gerichtssysteme · Regelungen des Zusammenlebens

Ordnung in Wirtshäusern halten und Trunksucht bekämpfen war schon den damals Verantwortlichen ein Anliegen, wie das nachstehende Beispiel zeigt: Zitat aus einem Nachtrag von 1554 zur Offnung der Herrschaft Tobel «Diweill laider vill und etlich Jahr hero ein grosse und zum Theil unerschwingliche Teüwrung gewesen und noch ist, und aber vill der Leüth seindt, die sich des Weintrinkens und der Würthshäuseren nit abthuen wellen, sondern Tag und Nacht im demselbigen ligen, und etwan Weib und Kindth daheim weder Muoss noch Broth nit haben» ... und weil es Leute gebe, die bis zu vierzig Gulden Schulden in Wirtshäusern gehabt hätten und es zur Gant gekommen sei und diese «umb alles khommen und letstlich miessen beteln gohn» . . . wurde es den Witwen verboten, mehr als einen Gulden aufzuschreiben, ausgenommen Kindbetterinnen und kranken Leuten. Wer öffentliche Almosen bezog, durfte kein Wirtshaus besuchen.

Die einzelnen Herrschaften Im Lauchetal gab es anfänglich vier, ab 1599 noch drei Herrschaften, die alle mit einer Gerichtsbarkeit ausgestattet waren. Wir wollen sie hier kurz beschreiben. Die Herrschaft Tobel. Sie umfasste das ganze obere Lauchetal mit den Gemeinden Tobel, Märwil, Affeltrangen und den Höfen darum herum, sowie Zezikon und Teile von Kaltenbrunnen, zeitweise auch Lommis. Diese Herrschaft ist im nachfolgenden Kapitel «Die Toggenburger und die Komturei Tobel» detailliert beschrieben. Die Herrschaft Sonnenberg. Sie umfasste die Gemeinden Stettfurt und Kalthäusern, ab 1402 auch Matzingen. Die Gerichtsbarkeit im Einzugsgebiet dieser

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Herrschaft übten die jeweiligen Schlossherren auf Sonnenberg bereits ab dem 13. Jahrhundert aus. Diese Herrschaftsrechte – Lehen von Reichenau – blieben bis zur Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts bei der Herrschaft Sonnenberg. Besitzer dieser Herrschaft waren u.a.: Die Edlen von Sonnenberg, die Herren von Ramschwag, die Herren von Hohenlandenberg-Greifensee, die Herren von Knöringen, Ulrich von Breitenlandenberg, die Familie Gutensohn (aus St. Gallen), Jost Zollikofer, Oberst Konrad von Beroldingen und schliesslich das Kloster Einsiedeln. Die älteste bekannte Offnung für die Gemeinden der Herrschaft Sonnenberg stammt aus dem Jahre 1482 (siehe Bild Nr. 71). Diese Herrschaftsoffnungen – so auch jene der Herrschaft Sonnenberg – waren recht detailliert. Die «Sonnenberger-Offnung» von 1482 umfasste 101 Paragraphen; darin war eine lange Liste von

Bild Nr. 71 · Ausschnitt aus der Dorfoffnung StettfurtMatzingen von 1482


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Herrschafts- und Gerichtssysteme · Regelungen des Zusammenlebens

Bussen oder andere Strafen für Verfehlungen enthalten und gleichzeitig das Strafmass, in Geld (Pfund Pfennig *) oder in anderer Form festgelegt. *) Pfund Pfennig. «Diese Währung stammt» – so lesen wir in der Schrift «Das Münzwesen im Thurgau vom Mittelalter bis zur Wende des 19. Jahrhunderts» von Ulrich Zingg – «von Karl dem Grossen; sie wurde anfangs des 9. Jahrhunderts eingeführt. Pfundmünzen gab es nie. Aus einem Pfund Silber wurden 20 Solidi oder Schillinge bzw. 240 Denare oder Pfennige als Zahlungsmittel geprägt. Pfund war ursprünglich ein Gewichtsbegriff, wurde nach und nach aber lediglich noch als Wertmass verwendet. Ab dem 15. Jahrhundert wurde das Pfund als Währung durch den Gulden ersetzt, welcher bis 1850 Zahlmittel im Thurgau blieb. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte fast jeder Kanton eine eigene Währung.» In der ersten Sonnenberger Offnung waren Geldbeträge noch in Pfund Pfennig enthalten.

Drei Beispiele von Verfehlungen mit Strafmass aus der Offnung: · Paragr. 74 – Item welcher sein messer üebelich und frefenlich über den andern zuckt, ist die buess 6 Pfd.Pfg. · Paragr. 76 – Item welcher dem andern einen fuststreich gibt und in doch nit herdfällig macht, ist die buess 6 Pfd.Pfg. · Paragr. 89 – Item welcher dem andern seine Marchen ussgräbt und das ussfund wirt, der ist der Herrschaft verfallen 10 Pfd.Pfg. Dass die oben erwähnten Strafmasse sehr hart waren, lässt sich aus einer Relation zu den damaligen

Verdienstmöglichkeiten ersehen. Einer Dissertationsarbeit von Alfred Zangger mit dem Titel «Grundherrschaft und Bauern» aus der Region Rüti ZH – im Mittelalter auch eine ländliche Gegend – entnehmen wir folgende Beispiele aus dem Jahre 1475: · Der Tageslohn eines Dreschers oder Zimmerers betrug 48 Pfennige · Der Tageslohn für Heuen oder Weinlesen betrug 36 Pfennige Ausgehend vom ersten Beispiel und unter der Annahme, dass im Monat 25 Tage gearbeitet werden konnte, ergibt dies einen Monatslohn von (25x48) 1200 Pfennige oder, dividiert durch 240, einen solchen von 5 Pfund. Bei einer Verfehlung gegen den o.e. Paragraphen 89 war das Strafmass 10 Pfund; dafür musste ein Mann zwei Monate arbeiten. Die Herrschaft Spiegelberg. Sie umfasste das Dorf Wetzikon und einen Teil von Weingarten. Ursprünglich wurde diese Herrschaft als Lehen des Domstiftes von Konstanz bis 1376 von Rittern von Spiegelberg verwaltet. Hernach erfolgten mehrere Handänderungen. In der Zeit von 1464 – 1582 war die aus Konstanz stammende Patrizierfamilie Muntprat Besitzer der Herrschaft Spiegelberg und in dieser Zeit vereinigten sie diese Herrschaft mit derjenigen von Lommis. Damals gehörten dazu: Lommis, Grüssi, St. Margarethen, Wetzikon, Mezikon, Weingarten, Hinterwangen und Losenberg. Die Muntprats verkauften diese zusammengefasste Herrschaft an die Familie Breitenlandenberg. 1629 veräusserte Margaretha von Breitenlandenberg-Hornstein die Herrschaft Spiegelberg an das Kloster Fischingen.


Herrschafts- und Gerichtssysteme · Regelungen des Zusammenlebens

Die Herrschaft Lommis. Die Herren Heinrich, Berthold, Conrad und Eberhard von Lommis waren zunächst Besitzer dieser Herrschaft. Nach dem Tode von Ulrich (Sohn von Eberhard) im alten Zürichkrieg 1443 kam diese Herrschaft in den Besitz eines Mannes namens Petermann (Peter) von Raron, der sie 1457 zunächst als Lehen an die (unter «Herrschaft Spiegelberg») erwähnte Familie Muntprat übertrug. 1476 schliesslich kaufte Heinrich Muntprat die Herrschaft Lommis und ein Zweig dieser Familie residierte fortan in Lommis. Nach dem Tode des Hans Muntprat (1474) wurde in der katholischen Kirche eine Seitenkapelle als Grablege für die Muntprats errichtet; diese wurde im Zuge der Kirchenvergrösserung 1504 durch eine zweite (die heutige) abgelöst. 1599, nach zwei weiteren Handänderungen (Stadt Frauenfeld und nach 20 Jahren Kloster Rheinau) erwarb das Kloster Fischingen auch diese Herrschaft. Aber erst ab 1644 war Kloster Fischingen umfassende und alleinige Besitzerin der vereinigten Herrschaft Spiegelberg-Lommis. Die Gewaltentrennung in den Herrschaften – Das Gerichtswesen Grundsätzlich gab es vom Jahre 1200 bis zur Aufnahme des Thurgaus als selbständiger Kanton praktisch keine Gewaltentrennung. Der oberste Herr einer Herrschaft war sowohl gesetzgebende (Offnungen) als auch überwachende (ernannte Aufpasser) sowie auch richterliche (eigene Gerichtsbarkeit) «Behörde». Eine «indirekte» Gewaltentrennung lässt sich aber doch erkennen. So wurden zur Überprüfung der Einhaltung der Dorfoffnungen vom obersten Herrn lokale Dorfmeier oder Weibel eingesetzt, welche Verfehlungen der Untertanen der Herrschaft zu melden hatten. Zur Überprüfung der korrekten

Erfüllung der Zehntenpflichten wurden sogenannte Zehntknechte ernannt. Die Gerichte selbst bestanden aus 12 Richtern, welche im Namen und Sinne der Herrschaft zu richten hatten. Überdies ernannte der Herr einen Herrschaftsvogt, der u.a. die Gerichte und andere Angelegenheiten im Auftrage des Herrn leitete. Für die Wahl der Richter und des Vogtes besassen die Gemeinden weder Wahl- noch Vorschlagsrecht. Die Richter wurden zumeist auf Lebenszeit ernannt. Im Mittelalter (Zeitepoche, als der Thurgau Untertanenkanton der alten Eidgenossenschaft war) wurden im Thurgau und im Lauchetal zwei Arten von Gerichten unterschieden, nämlich: · Hohe oder Malefiz-Gerichte (auch Blutgerichte genannt) und · Niedere Gerichte Die Hohen oder Malefiz-Gerichte, entsprachen den damaligen Landgerichten, denen der jeweils amtierende Landvogt in Frauenfeld vorstand. Der Begriff Malefiz ist abgeleitet vom lateinischen Wort «Maleficium» was ungefähr mit Frevel, Verbrechen oder Kapitalverbrechen übersetzt werden kann. Hier wurden auf der Grundlage von Gesetzen der Alten Eidgenossenschaft schwere Verbrechen, schwere Diebstähle, Mord und Totschlag sowie Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Herrschaften und Zuwiderhandlungen gegen Obrigkeiten behandelt und abgeurteilt. Die niedrigen Gerichte fielen in die Zuständigkeit der einzelnen Herrschaften. Diese wurden als feste Jahresgerichte oder als sporadische, zwischenzeitliche Gerichte durchgeführt.

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Herrschafts- und Gerichtssysteme · Regelungen des Zusammenlebens

An den obligatorischen Jahresgerichten wurden wichtige Angelegenheiten der Herrschaft oder der Dörfer behandelt. Diese wurden z.B. in Stettfurt und Matzingen abgehalten, während die sporadisch stattfindenden Gerichte meist am Ort des Geschehens durchgeführt wurden. In gewissen Fällen konnte ein Urteil an die zweite Instanz, das Landgericht oder gar an die Tagsatzung weitergezogen werden. Die Durchführung der Jahresgerichte Die Durchführung der jährlichen Gerichte in der Herrschaft Sonnenberg ist in der einschlägigen Offnung in Paragraph 9 und folgende wie folgt geregelt: · Item ein Herrschaft zu Sonnenberg soll järlich zway offne Jargricht,halten, ains zu Mayen, das ander in der Herbstzeyt. · Item ein Vogt oder Richter soll auch an jeglichem Gricht die richter fragen, Urtel ze geben, was sy recht bedunkt, bey dem ayd, es seyen Jargricht oder Mutgricht. · Item die Weibel zu Stepfurt und Matzingen söllen allweg ein Jargricht 8 tag vorhin verkünden und gebieten, an einem Jargricht weder insässen noch gest, ungefarlich, doch frawen soll man darzu verkünden, wann man rechtens zu Inen begert. · Item an einem Jargricht soll man zuerst richten umb erb und eigen, darnach witwen und waisen, darnach den frawen, darnach den gesten, und dann den einsässen, und dann der Herrschaft auch so lang und vil, und sy des bedarff. Es seyen Jargricht oder Mutgricht.

Für Detailinformationen zum Gerichtswesen und dessen Funktionieren in der Herrschaft Tobel verweisen wir auf das Kapitel «Die Toggenburger und die Komturei Tobel». Noch 50 Jahre bis zur geregelten Demokratie Von der französischen Revolution der 1790er-Jahre drangen die Begriffe Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch nach Helvetien. Das löste hierzulande auch bei den Herrschaften im Lauchetal, besonders in der Komturei Tobel sowie in den Klöstern, Ängste und Unsicherheiten aus. Doch noch war der Thurgau «Untertanenland» anderer Kantone. In dieser Situation, und nach einem Besuch einer appenzellischen Landsgemeinde, spürte der Tuchfärber Joachim Brunschweiler aus Hauptwil die Kraft der Idee von Freiheit. Zusammen mit dem Hauptwiler Gerichtsherrn Johann Jakob Gonzenbach und einigen Gesinnungsgenossen verfassten und publizierten sie eine Denkschrift mit dem Titel: «Unmassgebliche Vorschläge eines Thurgauer Volks-Freundes – allen Freunden der Freyheit gewidmet zur reiflichen Überlegung». Der Kreis der Gleichgesinnten wuchs kontinuierlich und am 1. Februar 1798 hielt der Weinfelder Apotheker Paul Reinhard auf der Treppe des Gasthauses Trauben zu Weinfelden eine Ansprache. Darin stellte er die zwei bedeutenden Fragen: «Soll man die regierenden Orte mit Nachdruck bitten, die Thurgauer aus dem Untertanenverhältnis zu entlassen und als selbständige Eidgenossen in den Schweizerbund aufzunehmen oder ob es genügt, die Beseitigung der Missstände in der gegenwärtigen Zivil- und Militärverwaltung zu verlangen.» Die überwältigende Mehrheit der Anwesenden verlangte die


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Ablösung des Untertanenverhältnisses. Danach wurde eine Organisation unter der Bezeichnung «Comité» gebildet mit dem Auftrag, alle dafür notwendigen Aktivitäten zu koordinieren. Das ging nicht reibungslos, weil die bisherigen Machtträger und auch der Landvogt zu Frauenfeld die bisherigen Zustände bewahren wollten. Der «Zug zur Freiheit» liess sich aber nicht mehr aufhalten. Mittlerweile, ebenfalls im Jahre 1798, wurde der Schweiz von Napoleon Bonaparte eine zentralistische Einheitsverfassung, als Grundlage für die von ihm gewollte «Eine und unteilbare Helvetische Republik», aufgezwungen. Während der Thurgau der neuen Verfassung rasch zustimmte, regte sich in andern Kantonen erheblicher Widerstand. Nach nur fünf Jahren, 1803, wurde – wiederum von Napoleon – die sogenannte Mediationsakte, durch welche die Kantone wieder deutlich mehr Kompetenzen erhielten, in Kraft gesetzt. Damit wurde auch der Thurgau als selbständiger Kanton anerkannt

Quellennachweis Herdi Ernst Historischer Verein des Kantons Thurgau Internet Stutz Jakob Zangger Alfred Zingg Ulrich Diverse Quellen

und in den Bund der Eidgenossenschaft aufgenommen. Auch diese neue Verfassung dauerte nur bis zur Abdankung Napoleons 1814. Nach verlorener letzter Schlacht bei Waterloo (in Belgien) und anschliessender Verbannung auf die Insel St. Helena war die Ära der Helvetik abgeschlossen. Auf dem Wiener Kongress von 1815 wurde die Souveränität und Neutralität der Schweiz anerkannt. Im August 1815 wurde ein neuer «Bundesvertrag» der Schweizerischen Eidgenossenschaft im Grossmünster zu Zürich feierlich beschworen; er diente als Grundlage für die Organisation des jungen Staatenbundes. Am 12. September 1848 wurde die erste Verfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft als Bundesstaat in Kraft gesetzt. Damit wurden die alten Herrschafts- und Rechtsstrukturen endgültig abgeschafft und durch die noch heute gültige demokratisch-föderalistische Ordnung und deren Prinzipien ersetzt.

Geschichte des Thurgaus Landgrafschaft Thurgau, 1861 Die Muntprat und die Eidgenossenschaft Aus der Geschichte von Matzingen; (Sonnenberger Offnung von 1482) Grundherrschaft und Bauern, 1991 Das Münzwesen im Thurgau vom Mittelalter bis zur Wende des 19. Jahrhunderts

Bewilligungsnachweis urheberrechtlich geschützter Bilder Bild Nr. 71 Stiftsarchiv Kloster Einsiedeln

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Herrschafts- und Gerichtssysteme · Die Toggenburger und die Komturei Tobel

Die Toggenburger und die Komturei Tobel Einleitung Das Adelsgeschlecht der Toggenburger, vor allem aber die Komturei Tobel haben die Entwicklung von Teilen der Ostschweiz und ganz besonders des Lauchetals im Mittelalter bestimmt und geprägt. Das überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass die Komturei Tobel das obere Lauchetal über eine Periode von nahezu 600 Jahren regiert hat. Ihr Einfluss betraf sowohl weltliche als auch religiöse Angelegenheiten; letztere besonders intensiv während der Glaubensspaltung im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts. Die Toggenburger Im Raume Untertoggenburg und Fürstenland lebten um die Zeit vom 9. – 11. Jahrhundert Familien, die grosse Ländereien besassen. Zur damaligen Zeit sind in Urkunden stets nur Vornamen genannt, womit Hinweise auf Stammsitze fehlen. Unter diesen «Freien» mit grossem Grundbesitz befand sich der Alamanne Tocchin (dokko =

Bild Nr. 81 · Iddaburghügel, auf welchem einst die «Alt-Toggenburg» stand

der Hervorragende). Mit grosser Wahrscheinlichkeit ist er der Urvater der Freiherren und späteren Grafen von Toggenburg. Die erste urkundliche Erwähnung des Freiherrn Diethelm von Toggenburg stammt aus dem Jahre 1044. Stammsitz dieser Adelsfamilie war die «Alt-Toggenburg» in der Gemeinde Kirchberg SG. Sie stand auf einem Hügel und ist nur aus einer Richtung auf einem Strässlein erreichbar; auf drei Seiten fallen die Flanken steil ab. Dort, wo die «Alt-Toggenburg» stand, wurde 1860 eine Wallfahrtskirche mit Pilgerhaus zu Ehren der hl. Idda von Toggenburg*) gebaut. Bekannt ist dieser Ort heute unter dem Namen St. Iddaburg. *) Legende der Idda von Toggenburg. Ein gräflicher Jäger fand in einem nahegelegenen Rabennest den schmucken Ring der Gräfin Idda, welcher ein Geschenk ihres Ehegatten, Graf Diethelm IV. war. Sogleich steckte er den Ring an seinen Finger. Als der Graf von Toggenburg diesen Ring am Finger des Jägers sah, liess er ihn zur Strafe an den Schwanz eines wilden Pferdes binden und trieb es den Berg hinunter. Ausser Sinnen und voll Zorn nahm er seine Gemahlin und stürzte sie die steile Felswand zweihundert Meter in die Tiefe. Unversehrt fiel sie zu Boden und dankte Gott. Bei Einbruch der Dunkelheit begegnete ihr ein Hirsch. Mit Kerzen auf dem Geweih leuchtete er Idda den Weg in das nahegelegene Kloster Fischingen. Fortan lebte sie als fromme Einsiedlerin in Abgeschiedenheit und Einsamkeit.

Die Grafschaft von Toggenburg war Teil des Herzogtums der Zähringer, welches 1218 durch jenes der Kyburger abgelöst wurde.


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Die damals weitaus grösste Grundbesitzerin in der Ostschweiz war das Kloster St. Gallen; dies sowohl auf Grund von Schenkungen als auch aus Übertragung von Höfen samt Land von sogenannt «freien» Bürgern. Diese konnten sich durch die «Abtretung» ihrer Höfe vom Heerbann (Pflicht zu Militärdienstleistungen) befreien, konnten aber den Hof als Lehensnehmer weiter bewirtschaften. Im Zusammenhang mit Grundbesitz hatten die Toggenburger öfters Streit mit dem Kloster St. Gallen. Um ihre Position zu stärken, schlugen sie sich mit dem Herzog von Zähringen und Adligenfamilien aus dem Hause der Kyburger sowie dem Kloster Reichenau auf die Seite des Papstes, wohingegen das Kloster St. Gallen auf der Seite des deutschen Königs stand. Zudem, und nicht ohne Eigennutz, unterstützten die Toggenburger die Benediktinerabtei Fischingen. Die Rechte der Grafen – Bewirtschaftung ihrer Liegenschaften sowie Einzug der Zehnten und anderer Abgaben – liessen diese durch Ministeriale oder Dienstmannen durchsetzen; diese wohnten in einfachen, aber leicht zu verteidigenden Burgen wie z.B. Heitenau, Lommis oder Zezikon/Wildern. Das bestätigt auch, dass die Toggenburger zu ihrer Zeit das ganze obere und mittlere Lauchetal beherrschten. Auch im Thurgau versuchten die Toggenburger, ihre Position zu verstärken. Das Kloster St. Gallen unter dem damaligen Abt Konrad von Bussnang – er stammte aus einem Bussnanger Adelsgeschlecht – sah dies höchst ungern und versuchte vieles, um die Vormachtstellung der Toggenburger im Thurgau zu schwächen. Im Wissen darum wollten die Grafen mit einer andern geistlichen Macht ihre Position verteidigen. Sie wählten für die Vergabung ihrer Besitztümer im Thurgau die Johanniter aus,

mit denen sie durch deren Komturei Bubikon ZH (Mutterhaus der Johanniter in der Schweiz) bereits in gutem Einvernehmen standen. Auch als Zeichen ihrer politischen Absicht entstand wahrscheinlich damals der heute als Kirchturm dienende Wehrturm in Tobel oberhalb der Komtureigebäude. Zur Realisierung ihrer Absichten im Thurgau übertrugen die Grafen Diethelm II. und sein Sohn Diethelm III. dem Johanniterorden im Laufe des Jahres 1228 30 «Huben» (so nannte man im Frühmittelalter grössere selbstversorgende Bauernhöfe). In den zwei Jahren vor diesem Akt gab es heftige familieninterne Streitereien und sogar eine Blutrache. Nachkommen von Diethelm III. erhoben Einspruch gegen diese Liegenschaftsübertragung, weshalb der Orden noch im gleichen Jahr 13 Fronhöfe (eine Art herrschaftlicher Gutshof, auf welchem u.a. auch Frondienst geleistet werden musste), teilweise im Lauchetal zwischen Stettfurt und Märwil gelegen, zurückgeben musste. Er behielt aber den Fronhof und die Kirche Tobel.

Gebietserweiterung durch Heirat – ein Beispiel Diethelm V. von Toggenburg verheiratete sich mit Elisabeth (Guota) von Rapperswil. Sie brachte ihm als Morgengabe (Hochzeitsgeschenk ihres Vaters) die obere March samt dem Hofe mit ein. Das Gebiet der Toggenburger reichte hernach in südlicher Richtung über die Linth und bis über das Ende des Zürcher Obersees hinaus. Auf diesem Gebiet befanden sich beidseits des Sees die wichtigen Verbindungswege von Italien über Chur oder den Gotthard nach Zürich und weiter.

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Im Wald des Hartenauer Tobels (östlich des Dorfes Tobel) befand sich die Burg «Hartenau» (Heitnau), heute noch als Ruine zu besichtigen. Hier hausten Dienstmannen der Grafen von Toggenburg. Ihre Aufgabe war die Sicherung des Besitzes dieser Adelsfamilie im oberen Lauchetal. Im Jahre 1275 erfolgte die Übertragung dieser Burg an die Komturei Tobel, womit die vorletzte Bastion der Toggenburger im Thurgau aufgegeben wurde. Nun blieb ihnen nur noch das reichenauische Lehen Lommis, welches ein gewisser Petermann (Peter) von Raron 1443 an sich zog, 1456 die Lehensrechte ablöste und diese Herrschaft 1461 an eine Familie Muntprat veräusserte. Der Johanniter- oder Malteserorden – ein Ritterorden Ende des 11. und im 12. Jahrhundert fanden unter päpstlicher Anordnung die unrühmlichen Kreuzzüge zur Befreiung Jerusalems und als Reaktion auf den aufkommenden gefürchteten Islam statt. Sie endeten mit einem Misserfolg. Während jener Zeit, im Jahre 1048, entstand in Jerusalem der Ritterorden der Johanniter. Seine ursprüngliche genaue Bezeichnung lautet: «Souveräner Ritter- und Hospitalorden vom Heiligen Johannes zu Jerusalem». Ziele dieses Ordens waren: «Bezeugung des christlichen Glaubens und Hilfeleistung an Bedürftige (Kriegsverwundete, Flüchtlinge, Alte, Schwerkranke z.B. Leprakranke usw.)» – in Deutschland z.B. sind die Malteser in diesen Bereichen noch heute sehr aktiv (siehe http://www.malteser.de/). Sein Sitz war ursprünglich Jerusalem; später wurde er mehrmals verlegt; letztmals 1530 nach Malta. Der Orden wurde daher auch «Souveräner Malteserorden» genannt.

Die Ordensgemeinschaft der Johanniter teilte sich in zwei Gruppen auf, nämlich: · Die Kreuzritter: Sie waren zumeist Adlige, wurden im Waffendienst eingesetzt und trugen einen roten Waffenrock mit einem weissen Kreuz auf der Vorderseite. · Die Ordensritter: Sie waren Priester und Samariter und sorgten in der Herberge für das Wohl der durchziehenden «Glaubenskrieger»; das umfasste zunächst die Pflege von Verwundeten, Begräbnis der Toten sowie die geistliche Betreuung. Sie trugen einen schwarzen Mantel mit einem weissen achtspitzigen Kreuz auf der Vorderseite. Gründung und Aufbau der Johanniter-Komturei Tobel Die detaillierte Geschichte der Entstehung und Entwicklung der Komturei Tobel ist im hervorragenden Werk von Dr. Hans Bühler «Geschichte der Johanniterkomturei Tobel» beschrieben. Die nachfolgenden Abschnitte sind, neben anderen Quellen, eine Zusammenfassung aus dem genannten Werk.

Die Gründung geht auf die oben erwähnte Schenkung vieler Bauernliegenschaften zurück. Das genaue Datum der Gründung des Ritterhauses im Laufe des Jahres 1228 ist aus Akten nicht erkennbar. In den ersten 100 Jahren ihres Bestehens erfolgte ein zügiger Auf- und Ausbau der Komturei, damals in enger Zusammenarbeit mit den Toggenburgern. 1270 tritt erstmals ein Bruder (Geistlicher) mit dem Titel Komtur


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(Vorsitzender der Niederlassung eines Ritterordens) auf. Mit den vielen Schenkungen und Erwerbungen aus der Hand der Grafenfamilie zeichnete sich das Gebiet ab, in welchem das Ritterhaus – die spätere Herrschaft Tobel – zu regieren sann. Das Gebiet umfasste die Dörfer Affeltrangen, Braunau, Buch, Märwil (mit umliegenden Höfen), Tägerschen *), Tobel und Zezikon. In einer Urkunde von 1348 erhielt die Komturei das letzte Geschenk der Grafen, nämlich das halbe Dorf Zezikon. Früh schon griff das Ritterhaus über seine Grenzen hinaus in Richtung westliches Lauchetal; anvisiert wurden die Dörfer Anetswil, Kalthäusern und Stettfurt. Das sollte so aber nicht gelingen. Abseits des sonst zusammenhängenden Gebietes der Komturei ist am Übergang zum 14. Jahrhundert in einer Zinsentabelle bereits auch Besitz in Herten (oberhalb Frauenfeld) ausgewiesen und 1380 kaufte ein Tobler Leutpriester von den in Finanznöte geratenen Tänikoner Nonnen den «Bengelhof» zu Herten ab. 1391 ist bezeugt, dass der Orden feste Einkünfte aus Zehnten an diesem Orte besass.

*) Sonderfall Tägerschen. Ausgenommen von der Herrschaft Tobel war in Tägerschen der mit «Schlossfreiheit» ausgestattete sogenannte Freisitz. In den Jahren 1798 – 1871 diente dieser einst stattliche Landsitz als Amtssitz des Bezirksstatthalters von Tobel. Ende 2010 hat der damalige Besitzer ein Gesuch auf Abbruch dieses Objektes gestellt. Nun entnehmen wir einem Artikel im St. Galler Tagblatt Online vom 5.1.2013, dass die Denkmal Stiftung Thurgau unter dem Präsidium von Beat Haag dieses historische Gebäude käuflich erworben habe, um es zu restaurieren und einer neuen Zweckbestimmung zuzuführen.

Charakter der Komturei – Aufgaben und Führung Die Herrschaft Tobel als Komturei oder «Kommende», war eine Art ausserstaatliche Regierungsorganisation und konnte, auch wegen der vielen «Obrigkeiten», ziemlich autonom regieren. Sie wurde mit einer Ausnahme stets von deutschen Adligen geführt. Abhängigkeiten bestanden ursprünglich von den Toggenburgern, später vom johannitischen Grosspriorat Deutschland, vom Grossmeister von Malta und in geringerem Masse vom deutschen Kaiserreich. Das änderte sich, als im Jahre 1460 der Thurgau von der Eidgenossenschaft erobert wurde. Ab jenem Zeitpunkt hatte die Komturei die Anordnungen des jeweilig regierenden Ortes und dessen Landvogts, sowie die einschlägigen Beschlüsse der Tagsatzung zu befolgen. Aus einem Brief der regierenden Orte aus dem Jahre 1525 z.B. ging hervor – «dass der

Bild Nr. 82 Komturei Tobel – Luftaufnahme aus den 1950er-Jahren


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Komtur keine Aktiven veräussern dürfe und wenn er ins Ausland reisen wolle, müsse er dafür eine Bewilligung einholen.» Die Aufgaben der Komturei*) waren sehr vielfältig; grundsätzlich können zwei Aufgabengebiete unterschieden werden, nämlich:

*) Der gesellschaftlich/wirtschaftliche Aufgabenbereich, dazu gehörten: · Pflege der Kontakte mit den Obrigkeiten · Erstellen von Gemeindeordnungen – Gebote und Verbote · Regelung der Finanzierung der Komturei-Aktivitäten · Überprüfung der Einhaltung der Pflichten der Untertanen · Regelung des Warenverkehrs zwischen Komturei und Untertanen · Aufbau und Führung einer Gerichtsbarkeit · Regelung von Religionsfragen, Zivilstandswesen Der religiöse Aufgabenbereich, dazu gehörten: · Erstellen von Kirchenordnungen · Wahl oder Abwahl von Geistlichen – Ausübung des Kollaturrechtes · Regelung von Eheschliessungen und des Begräbniswesens · Organisierung des Samariterdienstes und des Armenwesens · Aufbau eines Schulwesens (erst in späteren Zeitabschnitten)

Der Komtur war der oberste Funktionär der Herrschaft mit Gesamtverantwortung; er war gleichzeitig auch Gerichtsherr. Der Komtur war aber nicht Besitzer der Aktiven, sondern nur Nutzniesser; es war ihm deshalb auch untersagt, Güter zu veräussern oder zu verpfänden. Der zweite Mann in der Hierarchie war der Verwalter (auch Schaffner oder Statthalter genannt); dieser war verantwortlich für die wirtschaftlichen Belange des Ritterhauses. Während der Wirren der Reformation amtierte Bernhard Koch als Verwalter; dieser war recht erfolgreich darin, Rechte und Besitz des Ordens sowohl gegen die Begehrlichkeiten des Standes Zürich wie auch der Untertanen zu schützen. Die Gemeinde-Offnungen Wie erwähnt, war eine der wichtigen Aufgaben des Komturs die Erstellung von Gemeinde-Offnungen, also Grundgesetze für eine Gemeinde oder Gemeindeordnungen und deren Bekanntmachung im Herrschaftsgebiet. Diese beinhalten alle Gebote und Verbote der Herrschaft gegenüber den Untertanen. Sie wurden für jedes Dorf erstellt und erlassen und wenn nötig angepasst. Der Inhalt dieser Offnungen wurde den Untertanen an den Jahresgerichten bekannt gemacht. Für deren Einhaltung hatten die sogenannten Dorfmeier (später Weibel genannt) zu sorgen; sie mussten Verstösse von Untertanen der Herrschaft melden. Die Behandlung von Verstössen erfolgte je nach Schwere an den Maiengerichten oder den Jahresgerichten. Solche Dorfoffnungen existierten auch in den übrigen Herrschaften Sonnenberg und Lommis.


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Die Finanzierung der Komturei – die Zehnten Für die Erstellung und den Unterhalt von Gebäuden sowie für die Bezahlung des Personals der Komturei wurden bedeutende Geldmittel benötigt. Diese beschaffte man sich, zunächst auf Kreditbasis, durch den Erwerb von Kirchensätzen mit Pfründen*) sowie vor allem aber durch den Kauf von Zehnten-**) und Vogtrechten im Einzugsgebiet von mehreren, zumeist adligen Personen und Gemeinden. Solche Erwerbungen führten zu laufenden Einnahmen für das Ritterhaus. *) Kirchensätze mit Pfründen. Kirchensatz war ein bis in die Neuzeit benutzter Rechtsbegriff. Er beinhaltet das Mitwirkungsrecht des «Kirchherrn», z.B. der Komturei Tobel, in einer bestimmten Pfarrei u.a. bei der Besetzung einer Pfarrstelle. Pfründe sind Einnahmen einer Pfarrei z.B. aus Verköstigung von Dritten oder aus Grundbesitz.

1401 erwarb die Komturei im südwestlichen Teil des Lauchetals für 960 Gulden den Kirchensatz von Wängi und den kleinen Zehnten von Margaretha und Elsbeth aus dem toggenburgischen Dienstmanngeschlecht «In der Bünd». Sogar der damalige Papst gestattete der Komturei die Inkorporation der Pfründe dieser Kirche mit dem Hintergedanken, damit Mittel für den Kampf gegen den Islam zu erhalten. Die Kirchgemeinde Wängi umfasste damals neben der Kapelle Tuttwil auch die Gemeinden Stettfurt und Matzingen sowie die umliegenden Höfe. In diesem Gebiet besass die Herrschaft Tobel nun verschiedene grosse, sowie alle kleinen Zehnten – eine Angelegenheit, die später zu Konflikten mit den Herren von Sonnenberg Anlass geben sollte.

Bild Nr. 83 · Ausschnitt aus der Dorfoffnung Tobel von 1460 Quelle: Stiftsbibliothek Einsiedeln **) Der Zehnt oder Zehnte. Ursprünglich war dies eine kirchliche, durch die Bibel an mehreren Stellen im alten und neuen Testament begründete Abgabe. Unter Karl dem Grossen (ab dem 9. Jahrh.) wurde sie zu einer Bewirtschaftungsabgabe, welche Pächter und Grundbesitzer zu erbringen hatten. Pächter hatten zudem auch Grundzinsen – eine Art Pachtzins – zu bezahlen. Die Zehnt-Abgabe entspricht einer etwa 10 %igen Steuer auf Eigenleistungen in Form von Naturalien, später auch von Geld. Dieser Zehnt konnte verkauft, verschenkt oder verpfändet werden. Über viele Jahrhunderte bis in die Neuzeit, so auch in der Zeit des Bestehens der Komturei Tobel, wurde diese Art von Abgaben der Untertanen an die entsprechenden Herrschaften geleistet. Man unterschied zwischen den grossen Zehnten (hauptsächlich auf Getreide und Wein) und den kleinen Zehnten auf Baumfrüchten (z.B. Obst und Most), auf Gartenfrüchten (z.B. Bohnen, Erbsen, Kartoffeln), auf Bodenerträgen (z.B. Heu) sowie auf geschlachtetem Vieh und geschleudertem Honig. Diese Zehnten waren, neben Erträgen aus Erblehen, Grundzinsen und Leibeigenschaft, der bedeutendste Teil der Einkommen der Herrschaften.


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Die Durchführung der Zehntabgaben war recht klar wie folgt geregelt: · Bei der Getreide- und Heuernte musste jede 10. Garbe bzw. jeder 10. Heuhaufen auf dem Feld liegen bleiben · Analog verhielt es sich mit den Früchten der Bäume und Gärten · Während der Weinernte musste jeder 10. Eimer in ein von der Komturei zur Verfügung gestelltes «herrschaftliches Zehntfass» geschüttet werden. Zur korrekten Handhabung dieser Zehntabgaben bestimmte die Komturei in jeder Gemeinde einen oder zwei vertrauenswürdige «Zehntknechte», welche die korrekte Aussonderung und das Einsammeln dieser Abgaben zu überwachen hatten. Ebenso waren sie auch Dörfer

Gulden

Dörfer

Gulden

Tobel und Isenegg Bussnang Buch Märwil/Unterlangnau Zezikon Stehrenberg Herten Wängi Nägelishub Ueterschen Oberhausen Thor Total

23 465 17 768 7 847 8 293 9 489 6 071 4 411 7 884 1 208 927 3 899 912 92 174

Karlishub Thürn Bohl Rüti Berg/Hunzikon Oberhof Ghürst Matzingen Moos/Istighofen Hittingen Hitzliswies Hohrüti Total

1 808 857 3 399 787 3 121 2 069 934 1 994 360 2 293 684 317 18 623

Gesamttotal

110 797

Tabelle Nr. 84 · Durchschnittliche Zehnt-Erträge über 12 Jahre vor 1807 aller an die Herrschaft Tobel zehntpflichtigen Höfe

mitverantwortlich für die Überführung dieser Güter in die einschlägigen Scheunen in der Komturei oder in spezielle dezentrale Zehntscheunen. Analog vereidigte der Verwalter der Komturei in jedem Dorf einen oder zwei Bauern und stellte das herrschaftliche Fass in die jeweiligen Torkel. Natürlich versuchten die Zehntpflichtigen alle möglichen Tricks, um ihre Abgaben zu verkleinern (z.B. ungleich grosse Garben oder Heuhaufen, Verdünnung des Weins mit Wasser, Pflücken von Obst in der Nacht usw.). Dies weitgehend zu verhindern war ebenfalls Aufgabe der Zehntknechte. Diese Abgaben waren ein Lohnteil für das Komtureipersonal und einen Teil davon verkaufte man auf dem Markt in Wil. Im Jahre 1807 verlangte die Thurgauer Kantonsregierung eine Zusammenstellung der Zehnteinkünfte der Komturei in Durchschnittswerten pro Jahr der letzten 12 Jahre. Die Tabelle Nr. 84 widerspiegelt etwa die Einnahmenstruktur der Komturei seit der Reformationszeit. Diese Werte dienten auch dazu, eine Ablösesumme für die in der Helvetik beschlossene Aufhebung der Zehnten zu bestimmen. Daraus geht auch hervor, dass Zehnten von Gemeinden gezahlt wurden, die eigentlich nicht zum Herrschaftsgebiet Tobel gehörten. Die Leibeigenschaft Der Begriff bezeichnet die persönliche Abhängigkeit eines «Unfreien» von seinem «Herrn». Man nannte diese Menschen auch «Hörige» oder «Eigenleute». Im Frühmittelalter waren die Leibeigenen an ihre Herren, z.B. an Grundbesitzer, «gebunden». Vom Begriff abgeleitet, gehörten die Hörigen zu einem Hof und mit Wechsel des Besitzers wechselten auch die Leibeigenen zum neuen Herrn. In diesem Sinne waren sie Menschen mit sehr


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beschränkten Rechten; man könnte sie fast als «lebenslängliche Betriebsangehörige» bezeichnen. Sie standen aber deutlich höher als andernorts die Sklaven, die man als «Ware» behandelte. Wirtschaftlich gesehen waren sie billige Arbeitskräfte und eine Art Kapitalanlage des jeweiligen Herrn. Die Komturei begründete ihr Leibeigenenrecht mit zwei Stiftungsbriefen der Toggenburger sowie einem einschlägigen Tagsatzungsbeschluss. In den kleinräumigen Verhältnissen des Lauchetals war es nicht zu vermeiden, dass es zu Kontakten mit Eheschliessungen von Leibeigenen verschiedener Höfe kam. Wenn der eine Partner einem Ritterhaus angehörte, musste er diesem eine Abgabe bezahlen. Das war nach einem Tagsatzungsbeschluss von 1526 entweder ein paar Handschuhe oder 18 Pfennige. Umgekehrt war der Komtur verpflichtet, jeder Frau eines Leibeigenen bei der Geburt eines Kindes 1 Mass Wein und 2 Brötchen zu geben, wenn sie darum ersuchte. Etwas schwieriger wurde eine Heirat, wenn die Partner nicht dem gleichen Herrschaftsterritorium angehörten. Im äbtischst. gallischen Einflussbereich galt diesbezüglich nicht das gleiche Recht. Die Tobler Verwalter erstellten von Zeit zu Zeit, ohne Begeisterung, neue Listen der Leibeigenen in ihrem Herrschaftsbereich. Schon der Reformator Huldrych Zwingli forderte während der Reformationszeit in den 1520er-Jahren die Abschaffung der Leibeigenschaft. Unter dem Einfluss der Adligen, aber auch der Kirche, sollte diese erniedrigende Form der praktischen Rechtlosigkeit der nicht adligen Bürgerschaft bis Ende des 18. Jahrhunderts dauern. Erst durch den Einfluss der französischen Revolution – Ende des 18. Jahrhunderts – begann auch hierzulande ein

diesbezügliches Umdenken. Zwar passte das den bisherigen Feudalherren und auch den Kirchenfürsten gar nicht. Aber die Begriffe «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» hörten sich auch hier «beim gemeinen Volk» wie Schalmeien an. So wurde in der Helvetik *) mit der ersten, von Frankreich «aufgezwungenen», Verfassung vom 12. April 1798 dieser höchst undemokratische «Rechtsstatus Leibeigenschaft» auch im Thurgau abgeschafft und die rechtliche Gleichstellung aller Bürger festgeschrieben. Endgültig bestätigt wurde dies dann mit der ersten Bundesverfassung von 1848. *) Helvetik. Darunter versteht man die Epoche der Schweizergeschichte von 1798 – 1803. Am 12. April 1798 erhielt die Eidgenossenschaft eine von den Franzosen unter Napoleon diktierte Einheitsverfassung. Diese sah eine starke Zentralregierung vor, mit einem Parlament ohne wesentliche Kompetenzen. Das passte vielen Eidgenossen nicht; auch Napoleon erkannte nach einigen Jahren, dass das Schweizervolk eine föderalistische Einstellung hat und keine starke Zentralregierung wollte. Diese Korrektur kam 1803/04 mit der sogenannten Mediation – der Zeitphase von 1804 bis 1814.

Die religiöse Verantwortung der Komturei Der Johanniterorden zu Tobel war eine katholische Organisation. Ihre glaubensbezogene Aufgabe und Verantwortung stützte sich auf den ursprünglichen Stiftungsbrief der Grafen von Toggenburg aus dem Jahre 1228. Danach hatte das Ritterhaus zwei Priester und einen Bruder zur religiösen Betreuung der Bevölkerung in Tobel und im Herrschaftsgebiet zu halten. Die Priester und die Brüder wohnten anfänglich im Wehrturm, bevor sie eine neue Behausung im Tal erhielten. Der Komtur besass

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das Kollaturrecht: Er setzte die Priester in den Gemeinden ein und konnte sie absetzen – ohne Mitsprache der Untertanen.

Beinhaus von reformierten Untertanen gestürmt wurde. Altäre wurden zerschlagen, Bilder verbrannt und die Ordensritter verliessen die Komturei.

In den ersten rund 200 Jahren seit ihrer Gründung war es in der Komturei in Glaubensfragen relativ ruhig. Im 15. Jahrhundert hörte man auch hier vom Konstanzer Konzil und der Verbrennung von Männern, die in verschiedenen Fragen gewisse Veränderungen gewünscht hatten. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts vernahm man auch im Einzugsbiet der Tobler Herrschaft, dass einige Mönche, Priester und Religionsgelehrte ausserhalb und innerhalb der Schweiz konkrete Vorstösse zur Korrektur von Fehlentwicklungen in der katholischen Konfession unternahmen. Die bald einsetzende Reformation – siehe Kapitel «Die Christianisierung» – ging nicht spurlos an der Komturei vorbei. Die geografische Lage der Komturei erlaubte es den Verantwortlichen, sich ziemlich lange aus den Wirren jener Zeit herauszuhalten. An einer Tagsatzung im Mai 1525 hörten sich die Gesandten der regierenden Orte die Beschwerden der Untertanen aus dem Thurgau und auch aus dem Lauchetal an. Deren Hauptforderungen waren: · Abschaffung der Leibeigenschaft · Wahl der Geistlichen durch das Volk · Möglichkeit, sich an der Landsgemeinde Gehör zu verschaffen

Kurze Zeit nach diesem Ereignis, nämlich 1531, nach dem zweiten Kappelerkrieg, der zu Gunsten der katholischen Orte ausging, setzte in der Eidgenossenschaft eine Gegenreformation ein. Bereits 1532 zog der neue Komtur Dietbold Gyss von Gyssenberg, ein schwäbischer Adliger und Altgläubiger, wieder im Ritterhaus ein. Er stellte wieder einen Priester ein und liess die Kirche erneut nach katholischer Manier herrichten und fortan im alten Glauben Gottesdienste halten. Der sogenannte zweite Landfriede – er sollte allerdings nicht lange Bestand haben – erlaubte es allen Gemeinden, darüber zu befinden, ob sie wieder den alten Glauben annehmen oder beim neuen Glauben bleiben wollten. Viele Gerichtsherren nahmen wieder den alten Glauben an; 1617 war Tobel wieder ganz katholisch. Erst nach dem zweiten Villmergerkrieg von 1712 und dem darauffolgenden 4. Landfrieden gewann die Vernunft endlich Oberhand; man tolerierte einander über die Grenzen der Konfessionen hinweg.

Die Thurgauer Gemeinden auch im Lauchetal waren mittlerweile weitestgehend zum neuen Glauben übergetreten. So erstaunt es nicht, dass im Februar 1529 auch das Gotteshaus in Tobel samt Ritterkapelle und

1706 wurde die alte Kirche von Tobel im Talgrund abgerissen und oben auf dem Berg eine neue Kirche samt Friedhof errichtet. Der alte Wehrturm dient noch heute als Glockenturm. Bis zum Ende der Komturei im Jahre 1809 kam das religiöse Leben in Tobel wieder in ruhigere Bahnen. Darüber waren die nachfolgenden Komture nicht unglücklich.


Herrschafts- und Gerichtssysteme · Die Toggenburger und die Komturei Tobel

Die Gerichtsbarkeit der Komturei Tobel Der Komtur war befugt und verpflichtet, als zweitwichtigstes Organ neben dem Verwalter ein Gericht und eine Polizei aufzubauen und zu führen. Man darf staunen, wie einfach und doch recht klar das Leben in jener Zeit geregelt wurde. Der Komtur stellte Gebote und Verbote*) auf und überwachte deren Einhaltung durch von ihm eingesetzte Vertrauenspersonen. Diese Anordnungen waren zunächst nur mündlich, denn es konnte ja kaum jemand schreiben oder lesen. Später wurden diese «Regeln des Zusammenlebens» in sogenannten «Dorf-Offnungen» (eine Art Gemeindegesetz) festgehalten. *) Gebote und Verbote. Dazu gehörten u.a.: Flur- und Holzfrevel, Friedversagen und Friedbruch, Schlaghändel, Frevel gegen Wild- und Fischereibann, Übersitzen in Wirtshäusern, frühzeitigen Beischlaf sowie geringe Fälle von Wucher.

Der Gerichtsbezirk war identisch mit dem Herrschaftsbereich und war durch Marksteine abgesteckt. Er umfasste Tobel, Tägerschen, Braunau, Märwil, Buch, Affeltrangen, Zezikon mit umliegenden Weilern Langnau, Atzenwilen, Haghof, Kaltenbrunnen, Wahrenberg und Wilderen sowie ausserhalb des Lauchetals auch Herten, Ergaten, Griesen, Hub und Oberherten bei Frauenfeld. Das Gericht setzte sich aus 12 Richtern zusammen, die allesamt vom Komtur, ohne Mitsprache der Untertanen, bestimmt wurden. Im Namen des Komturs stand der Vogt oder Stabhalter dem Gericht vor. Mit dabei waren stets auch der Weibel und der Schreiber. Die Richter mussten eidlich versprechen, ihr Amt unparteiisch zu führen – sie galten als Anwälte des Herrn und urteilten in seinem

Namen. Die einzelnen Funktionsträger hatten recht klar umschriebene Aufgaben und Verantwortungen*). *) Beispiel des Aufgabenbereich eines Vogtes. Führen der Gerichtsverhandlungen, Ausfertigung der Urteile, Teilnahme an Erbteilungen und Ganten, Ausfertigung der Komturei-Rechnungen, Verkauf von Frucht auf dem Wiler Markt im Auftrag des Verwalters und Sicherstellung, dass bei der Weinlese niemand den Zehnten hinterzog. Er war zudem der Verbindungsmann zwischen Herrschaft und Untertanen.

Auf Empfehlung von Richtern ernannte der Komtur hin und wieder Bekannte oder Verwandte desselben für bestimmte Aufgaben. So wurde auf Empfehlung von Richter Adam Nadler von Kalthäusern der Stettfurter Johann Lüthi als Zehntknecht für Stettfurt bestimmt. Im Frühling jeden Jahres wurden in Tobel, Affeltrangen, Zezikon, Märwil, Tägerschen und Braunau die sogenannten Maiengerichte abgehalten. Diese galten als niedergerichtlich angeordnete Gemeindeversammlungen. Bei diesen Gerichten wurden zuerst die Dorf-Offnungen verlesen und dann die Dorfvorsteher oder Dorfmeier *) gewählt. Diese waren die oberste lokale Exekutiv- und *) Zu den Aufgaben eines Dorfmeiers gehörten Beaufsichtigung von Weg und Steg, Feld und Wald sowie korrekte Behandlung des Viehs; zudem amtierten sie als eine Art Feuerpolizei, indem sie jährlich die Öfen und Feuerstellen besichtigten. Sie zeigten schliesslich Frevler an. Diese Fälle wurden dann an den Maiengerichten behandelt, Bussen verfügt und Fristen gesetzt, bis wann Mängel behoben werden mussten.

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Überwachungsbehörde und wurden vom Weibel unterstützt. Auch die Dorfmeier hatten recht klare Aufgaben. Angezeigte Vergehen wurden auf der Stelle gebüsst oder in schwereren Fällen ans Jahresgericht verwiesen. Während der Erntezeit wurden Flurwachen aufgestellt und an Sonntagen patroullierten sogar «Streifen» während den Sonntagsgottesdiensten, weil dann die Gefahr von Diebstählen besonders gross war. Die Maiengerichte benutzte der Komtur durch seine Direktunterstellten auch zur Bekanntgabe von neuen Geboten und Verboten oder zur Ankündigung von Befehlen und Erlassen. Zuweilen fasste ein Maiengericht harsche Beschlüsse. Beispiel aus Zezikon: Im Jahre 1710 wurde dort bestimmt, dass Hochzeitstrünke und Gemeindetrünke ausschliesslich beim Wirt in Kaltenbrunnen zu geniessen seien. Neben diesen Maiengerichten mussten sich die Untertanen jährlich ein- bis zweimal mit dem Degen gegürtet zu den Jahresgerichten – das war obligatorisch für alle Männer – in den Hof der Komturei begeben. Der Ablauf dieser Jahresgerichte war recht formell geregelt*).

*) Abwicklung der Jahresgerichte. Zunächst läuteten die Glocken, dann wurde die Offnung (Rechte und Pflichten sowie Gebote und Verbote der Bewohner) und anschliessend das weisse Buch (Rechte der Herrschaft) verlesen. Sodann wurden die Strafsachen und Zehntstreitigkeiten behandelt. Am Ende wurden die jungen Bürger sowie die Zuzüger in die Herrschaft aufgenommen, wobei diese zuvor den Huldigungseid gegenüber dem Komtur leisten mussten.

Erstaunlich ist, dass es schon zu jener Zeit – um 1716 – so etwas wie einen Ombudsmann in Streitsachen gab. Der damalige Komtur Merveldt führte sogenannte Audienztage ein, wo die Streitparteien im Beisein des Vogtes ihre jeweiligen Argumente vortragen konnten, bevor sie einen Prozess anstrengen sollten. Bedeutsam ist zudem, dass nach der Reformation die Tagsatzung entschied, dass Urteile des Niedergerichtes zu Tobel in Frauenfeld anfechtbar seien. Auf Grund des Kollaturrechtes, wie früher erwähnt, hatte der Komtur das Recht, Pfarrer zu ernennen. Die aufgrund des Kollaturrechts nominierten Pfarrer mussten als erstes in der Komturei mit dem Finger auf der Bibel dem Komtur die Treue schwören. Hernach mussten sie vor dem Bischof von Konstanz erscheinen, wo sie in religiösen Fragen geprüft wurden und anschliessend mussten die Neuernannten dem Bischof den Treueeid ablegen. Nach einem Vertrag mit Zürich aus dem Jahre 1638/39 sollte die Komturei jeweils drei Vorschläge machen und nur davon sollte dann Tobel die Wahl treffen. Das führte immer wieder zu Unstimmigkeiten. Der bedeutendste Kollaturstreit ereignete sich 1771 um die Pfarrstelle in Stettfurt. Nachdem der ehemalige Berner Landvogt Emanuel Tscharner Stettfurt zweimal mit einem evangelischen Geistlichen versehen hatte, protestierten die Tobler beim dritten Mal und verlangten einen Dreiervorschlag, weil – so argumentierten sie – Stettfurt als Filiale von Wängi – unter ihrem Kollaturrecht liege. Zürich aber wies den Protest mit der Begründung zurück, Stettfurt sei vom Wängemer Kollaturrecht abgelöst. Tobel rief die Tagsatzung an, was zu einem langen Prozess führte. Schliesslich trennte sich Stettfurt 1785 endgültig


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von Wängi, womit diese Frage indirekt entschieden war. Im 18. Jahrhundert begann sich das Verhältnis zwischen den Konfessionen zu entkrampfen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erliess der Komtur von Hohenlohe die Vorschrift für die Pfarrherren, dass sie Verzeichnisse über Eheschliessungen, Taufen und Begräbnisse (eine Frühform von Zivilstandsregistern) führen mussten und diese zu Beginn jeden Jahres der Komturei vorzulegen seien. Eine Besonderheit war auch das Tavernenrecht, welches in der ganzen Herrschaft von der Komturei vergeben wurde. Man unterschied Tavernen und Schenken. Erstere waren Gasthäuser im heutigen Sinne, während Schenken nur eigenen Wein ausschenken durften und weder Verköstigung noch Übernachtung anbieten durften. Der Alkoholausschank vor Gottesdiensten war ohnehin verboten. Für Bäcker und Metzger gab es Fleisch- und Brotschauen und dabei wurden die Preise festgesetzt. Wer nicht selber buk, musste das Brot bei vom Ritterhaus ernannten Bäckereien kaufen. Ebenfalls von der Komturei geregelt waren Jagd und Fischerei. Entsprechende Patente wurden ausschliesslich durch die Herrschaft vergeben. Für die Strafverbüssung diente ein kleines Gefängnis im alten Turm zu Tobel. Zu Gefängnis führen konnten Gotteslästerung, Ehebruch, Drohung mit Totschlag, Heiraten ohne Erlaubnis, Waldfrevel u.Ä.. In 20 Jahren wurden lediglich 19 Fälle durch Gefängnis bestraft.

Das Ende der Komturei Auch in den Herrschaften im eher ruhigen und beschaulichen Lauchetal sind Signale von der französischen Revolution von 1789 aufgefangen worden. Die von dorther stammenden Begriffe «Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit» liess auch hierzulande ein Missbehagen über die bestehenden Verhältnisse, aber auch Hoffnung bei den Untertanen aufkommen. 1794 traten ernsthafte Viehkrankheiten verbreitet auf, weshalb der regierende Landvogt den Viehhandel erschwerte und die Ausfuhr von gedörrtem Obst sowie Korn – beides Grundnahrungsmittel – stark einschränkte. Das wiederum bewog etwa 50 unzufriedene Männer, mit dem Duft von Freiheit in der Nase, nach Frauenfeld zu marschieren, um gegen die Massnahmen des Landvogtes zu protestieren. Sie wurden dort abgewiesen und der Rädelsführer Hans Ruckstuhl aus Oberhausen (ein Viehhändler) wurde vor die Tagsatzung geladen und dort zu 4 Jahren Landesverweis verurteilt. Diese Begebenheit machte deutlich, dass es in der Herrschaft Tobel zu gären begann. Die Saat der Idee von Freiheit ging langsam auf. Der letzte Komtur zu Tobel, der Adlige Carl Philipp von Hohenlohe – Offizier, Jesuitenschüler, thurgauischer Gerichtsherr und Malteserritter – war aufgeschlossen und erkannte, dass die Zeit der absolutistischen Herrschaft zu Ende ging. Die politischen Veränderungen in der Schweiz führten 1798 – unter dem Diktat der Franzosen – zur neuen helvetischen Republik; darin erhielt der Thurgau, vorerst aber nur für kurze Zeit, die Selbständigkeit. Der Komtur zu Tobel war grundsätzlich und aus weiser Voraussicht bereit, mit den neuen Verantwortlichen im Rahmen der «Helvetik» zu kooperieren; es war

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allerdings in dieser Phase recht schwierig, den rechten Weg zu finden. Nun wurden die Zehnten nur noch teilweise bezahlt, so dass Hohenlohe bald in Geldnöte kam. 1803 kamen hohe Abgeordnete des deutschen Ordens und verlangten die Sequestierung (Zwangsverwaltung) der Komturei und stellten hohe Geldforderungen. Der

damalige Verwalter aber stellte fest, dass diese Forderungen nur durch Auskauf aller Zehntenrechte erfüllt werden könnten. Die Thurgauer Regierung stellte sich hinter Hohenlohe und bestätigte ihm, dass sie der Komturei eine grössere Summe schuldeten. Carl Philipp von Hohenlohe kam zusehens in eine Zwickmühle. Einerseits war er Angehöriger einer deutschen Adelsfamilie, anderseits sah er die Zerbröckelung seines Ordens und zudem hatte er sich in den Dienst eines demokratischen Staates begeben. Er wusste nicht mehr, wohin er gehörte; es fehlte ihm an Geld und er wurde krank. Als letzter Höhepunkt in seinem Leben wurde er 1805 Chef der thurgauischen leichten Infanterie im Range eines Obersten. Mit der Mediationsakte von 1803 wurden die Kantone wieder aufgewertet und der Thurgau bekam endlich festen Status als selbständiger Kanton der Eidgenossenschaft.

Bild Nr. 85 · Letzter Komtur von 1766 bis 1806, Prinz Philipp von Hohenlohe Quelle: Staatsarchiv

Seit Jahrhunderten betrachtete Tobel die Kirchengüter aller zur Herrschaft gehörenden Gemeinden als Eigentum des Ritterhauses. 1807 weilte eine Delegation des Kirchenrates in Tobel und inventarisierte die Finanzen der Kirchgemeinden der Herrschaft. Im Sinne eines zweckmässigen Kompromisses sollten die Kirchengüter auf die beiden Konfessionen aufgeteilt werden. Nachdem zuvor der vorgesetzte Orden in Deutschland, dem Tobel unterstellt war, zusammengebrochen war, stellte sich niemand gegen diesen Kompromiss. Diese Lösung wurde dem Regierungsrat des neuen Kantons unterbreitet, welcher die Rechtsfrage des Besitzes klärte. Man war dort jedoch der Meinung, dass nach dem Landfrieden von 1713/14 die Kirchengüter der Komturei zur Verwaltung, nicht aber zum Besitz übertragen worden


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waren. Nachdem die Güter in diesem Sinne neu zugeteilt waren, war die Kirchenverwaltung des Ritterhauses 1807 beendet. Die Domäne Tobel ging danach in den Besitz des Kantons Thurgau über. Zuerst regelte der Regierungsrat die finanziellen Ansprüche Hohenlohes in grosszügiger Weise. Im Juli 1809 schrieb dieser an die Regierung, dass er seit Jahrzehnten im Thurgau lebe und dass er nicht länger als Fremdling

hier umherirren, sondern als Staatsbürger der Eidgenossenschaft anerkannt werden möchte. Dies gewährte man ihm 1810; er wurde Bürger von Tobel und Eidgenosse. 1818 wählte ihn der Kreis Tobel gar in den Grossen Rat, wo er jedoch nur einmal, 1819, teilnahm. Carl Philipp von Hohenlohe amtete 40 Jahre von 1766 bis 1806 als Komtur der Kommende Tobel und starb 1824 81-jährig.

Nachtrag – Junge Geschichte dieser Anlage Nach Beendigung der Komturei entschied der Regierungsrat des jungen Kantons Thurgau, diese Anlage als Zucht- und Besserungsanstalt zu nutzen. 1811 wurde der Betrieb aufgenommen. 1870 erfolgte ein Erweiterungsbau und gleichzeitig wurde im Hauptgebäude eine Gefängniskapelle eingerichtet. Nach gut 160 Jahren wurde diese kantonale Strafanstalt 1972 geschlossen. In den Folgejahren wollte sich der Kanton dieser Anlage entledigen; eine Abstimmung zur Errichtung eines Museums für Bauern- und Dorfkultur scheiterte in einer kantonalen Volksabstimmung. Eine Botschaft im Grossen Rat zum Kauf der Anlage durch die Gemeinde Tobel wurde 2001 zurückgezogen, da die Gemeinde den Kauf abgelehnt hatte. Im Jahre 2006 schliesslich wurde dieses geschichtsträchtige «Denkmal» in eine Stiftung überführt. Der Kanton überliess dieser Stiftung sämtliche Gebäude und das umliegende Land und zahlte überdies eine Einmaleinlage von 2.9 Mio. Franken.

Quellennachweis Borer Robert, Wiesli Josef Bühler Dr. Hans Gubler Ueli Stäheli R., Weber Ch. Stark Jakob Diverse Quellen

Festschrift 300 Jahre Pfarrkirche St. Johannes, Tobel Geschichte der Johanniterkomturei Tobel Tagebuch des Jakob Gamper 1752-1837 Die Grafen von Toggenburg – Nachschlagewerk Zehnten statt Steuern

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Herrschafts- und Gerichtssysteme · Burgen und Schlösser im Tal

Burgen und Schlösser im Tal Einleitung Im historischen Lexikon der Schweiz lesen wir, dass unter dem Begriff Burg eine mittelalterliche Wehranlage zu verstehen ist. Als Schloss bezeichnete man im Hochmittelalter ein burgartiges Gebäude, primär als Wohnsitz von Herrschaften (Herrensitz), meist ohne ausgesprochenen Wehrcharakter. In diesem Sinne waren solche Liegenschaften vor allem Zeichen von Reichtum und Adel. Die Anfänge des Burgenbaus gehen ins frühe 10. Jahrhundert zurück. Damals wurden diese Gebäude mehrheitlich als Holz-Erdbauten, später dann als Steinblockbauten errichtet. Die eigentliche Blüte des Burgenbaus fällt ins späte 12. und ins 13. Jahrhundert. Die Errichtung von Burgen und Schlössern ist aufs Engste mit dem

Bild Nr. 91 · Burgenkarte des Thurgaus: Burgen und Schlösser im Lauchetal

Prozess der adligen Herrschaftsbildung verbunden. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, also mit dem Ende der Feudalherrschaftszeit, verloren die Burgen ihre Bedeutung. Einige Schlösser blieben weiterhin bewohnt oder wurden für andere Zwecke eingesetzt. So wurde das Schloss Frauenfeld, nachdem die Eidgenossen den Thurgau erobert hatten, zum Sitz des Landvogtes für den Thurgau. Seit einigen Jahrzehnten dient es als Museum für Kulturgeschichte und Sonderausstellungen. Schloss Sonnenberg erhielt 1663, also 15 Jahre vor dem Erwerb durch das Kloster Einsiedeln eine Kapelle und 1890 auch eine Gastwirtschaft. Dieses Schloss wurde darum sehr beliebt für Gottesdienste, für Hochzeitsfeiern sowie als Einkehrort von Wanderfreunden. Burgen und Schlösser im Thurgau Dem Werk «Archäologie im Thurgau» entnehmen wir in diesem Zusammenhang, dass unser Kanton eine markante Burgendichte aufwies. Dies veranschaulicht die Karte auf Bild Nr. 91 eindrücklich. Besitzer von Burgen und Schlössern waren einerseits die Klöster Reichenau, St. Gallen und Rheinau sowie das Bistum Konstanz und anderseits adlige Herrschaftsfamilien, wie z.B. in unserer Region die Grafen von Toggenburg sowie die verschiedenen Herrschaftsfamilien auf Schlössern im Lauchetal. Die Burgen wurden zumeist von Dienstleuten oder Ministerialen, also von Abhängigen ihrer jeweiligen Herrschaftsfamilien bewohnt. In Schlössern hingegen, teilweise im Eigenbesitz und teilweise als Lehen von Klöstern, wohnten herrschaftliche Adelsfamilien.


Herrschafts- und Gerichtssysteme · Burgen und Schlösser im Tal

Burgen und Schlösser im Lauchetal In unserem eher kleinen Lauchetal existierten im Mittelalter insgesamt 8 Burgen oder Schlösser; davon steht lediglich noch eines dieser historisch bedeutenden und markanten Gebäude, nämlich das Schloss Sonnenberg oberhalb Stettfurt. Als weiteres historisches Denkmal besteht eine noch besichtigbare Ruine, diejenige der ehemaligen Burg Heitenau. Alle übrigen Burgen, nämlich diejenigen von Matzingen, Stettfurt, Spiegelberg, Lommis (ehemaliges Schloss), Ghöögg und Zezikon/Wildern sind verschwunden. Teilweise ist nicht einmal mehr bekannt, wo genau diese Bauten gestanden hatten. Einige ergänzende Informationen Die nachfolgenden Erläuterungen stützen sich einerseits auf die Broschüre «Schlösser und Burgen im Lauchetal» von Ferdinand A. Stutz aus dem Jahre 1992 und anderseits auf die Werke «Die Burgen und Schlösser des Kantons Thurgau, Teil I und II» vom Historischen Verein des Kt. Thurgau sowie «Burgen und Schlösser der Schweiz, Band 1 Thurgau» von Fritz Hauswirt.

Matzingen. In Matzingen soll eine Burg gestanden haben; eindeutige Funde dafür fehlen aber bis heute. Es wird vermutet, dass sie entweder auf dem «Ruggenbühl» (gegen Jakobstal hin) oder im Gebiet «Thomisrain» (nordöstlich des Dorfzentrums) stand. Die Freiherren von Matzingen, welche erstmals im Jahre 1094 urkundlich erwähnt werden, sollen die ersten Bewohner gewesen sein; die letzten Bewohner seien Ulrich und Konrad von Matzingen gewesen (bis 1530). Danach muss die Burg langsam zerfallen sein.

Stettfurt – Burg. In der Chronik von Johannes Stumpf*) lesen wir: «Under Sonnenberg nit weyt vonn Matzingen ist gelegen das alt burgstal Stettfurt genent ... auch vorzeyten ein wohnung und behausung der selbigen von Stettfurt Edelknechten ... sind mitsampt der burg vergangen.» Eine erste Erwähnung dieser Burg findet sich in einer Urkunde aus dem Jahr 1282. Es wird vermutet, dass diese Burg am Südhang des Imenbergs, zwischen Stettfurt und Kalthäusern (östlich des «Bettelweges», der zum Schloss Sonnenberg führt) gestanden haben könnte. Nach 1400 ist über diese Burg nichts Schriftliches mehr bekannt. *) Johannes Stumpf (1500 – 1578). Er kam um die Zeit der beginnenden Reformation aus Baden-Württemberg als Theologe in die Schweiz, wo er 1522 in Basel zum Priester geweiht wurde. Später wurde er Prior des Johanniterhauses in Bubikon im Kanton Zürich. Dort fand er Kontakt zum Reformator Zwingli und schloss sich dessen Lehren an. 1529 heiratete er die Tochter des Chronisten Brennwald. Dessen Unterlagen, nebst weiteren Dokumenten und eigene Forschungen dienten ihm für seine grossartige Chronik. Für seine Verdienste erhielt er 1548 das Bürgerrecht der Stadt Zürich.

Stettfurt – Schloss Sonnenberg. Als erstmalige urkundliche Erwähnung wird im Jahre 1242 ein «Castrum Sunnenberg» genannt, aber die Historiker sind sich nicht sicher, ob es sich dabei um das Schloss oberhalb von Stettfurt handelte. Wann Schloss Sonnenberg ursprünglich erbaut wurde und von wem, lässt sich nach heutigem Wissensstand – so die Auskunft des Amtes für Denkmalpflege in Frauenfeld – nicht feststellen. Sicher dagegen ist, dass in einer Urkunde von 1243 ein

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Herrschafts- und Gerichtssysteme · Burgen und Schlösser im Tal

Rodolfus de Sunnenberg als Erster des Geschlechtes der Edlen von Sonnenberg erwähnt ist. Letzte dieses Geschlechtes war vermutlich Elisabeth de Sunnenberg; sie ist 1316 in einer Urkunde über den Verkauf eines Weingartens am Imenberg erwähnt.

Bild Nr. 92 · Schloss Sonnenberg, Luftaufnahme aus dem Jahre 2000

Das Schloss wurde in den folgenden Jahrhunderten viermal gebrandschatzt und stets wieder aufgebaut. Den letzten Wiederaufbau realisierte 1596 Jost Zollikofer, und zwar äusserlich nahezu so, wie es heute noch besteht. Er hat sich wahrscheinlich mit diesem Neubau


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finanziell übernommen; jedenfalls mussten seine Nachkommen einen Käufer suchen. Sie fanden diesen in der Person von Oberst Johann Konrad von Beroldingen. 60 Jahre lang blieb das Schloss im Besitz dieser Familie. Schloss Sonnenberg diente während mehr als sechs Jahrhunderten als Herrschafts- und Vogtei-Sitz. Es wurde von verschiedenen Adelsfamilien bewohnt und war mit niederer Gerichtsbarkeit über die Gemeinden Stettfurt und Matzingen (bis 1505 auch Guntershausen und Maischhausen und zeitweise Kalthäusern) ausgestattet. Bis 1508 blieb Schloss Sonnenberg Lehen des Klosters Reichenau und dorthin zinspflichtig. In jenem Jahr erklärte die Tagsatzung zu Einsiedeln alle reichenauischen Lehen frei von Dienst- und Zinspflicht. 48 Jahre zuvor, 1460, wurde der Thurgau durch Eroberung Teil der Alten Eidgenossenschaft und war während dieser Zeit Landgrafschaft. 1678 schliesslich, nach einer etwas turbulenten Vorgeschichte, wurde Schloss Sonnenberg durch das Kloster Einsiedeln käuflich erworben. Mit der Übernahme dieses Objektes durch das Kloster Einsiedeln erhielt Sonnenberg eine zusätzliche Funktion. Vom Kloster delegiert, residierte fortan stets ein Statthalter, der Priester war, im Schloss. In der Schlosskapelle, die schon 15 Jahre zuvor eingebaut worden war, wurden jeden Sonntag Gottesdienste abgehalten. Viele Katholiken aus Stettfurt und Umgebung zogen es vor, die sonntägliche Pflichterfüllung statt in Wängi, oder später in Matzingen, im Schloss Sonnenberg zu erfüllen. Nach fast 330 Jahren, im Jahre 2007, verkaufte das Kloster Einsiedeln dieses historische Objekt an einen

Bild Nr. 93 · Letzter Statthalter auf Schloss Sonnenberg nach 44 Dienstjahren – Pater Benno Felder mit Abt Martin Werlen

Österreicher, der es – nach eigenen Verlautbarungen – nach einer umfassenden Sanierung zu einem seiner Wohnsitze machen möchte. Heute, mehr als sechs Jahre nach Übernahme dieses wichtigen Zeugen der Vergangenheit ist die angekündigte Sanierung noch nicht erfolgt. In den Jahren 2009 und 2010 wurden archäologische Grabungen auf der Nordseite des Schlosses vorgenommen; entsprechende Hinweise finden sich im Kapitel «Archäologische Fundstellen».

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Burg/Schloss Spiegelberg. Südwestlich von Wetzikon auf dem ostwärts abfallenden Imenberg soll dieses burgartige Schloss gestanden haben. Seit der erstmaligen Erwähnung 1209 hausten die Herren von Spiegelberg bis 1376 in diesem Schloss. Bekannt waren u.a. die zwei Frauen von Spiegelberg, Gisela und Elisabeth, beide Äbtissinnen der Fraumünsterabtei Zürich. Ums Jahr 1374 starb Guntram, die Letzte des Geschlechtes der Spiegelberger. Die Erben, die Ritter von Strass, ver­äusserten daraufhin den Besitz an die Grafen von Toggenburg. Bekannte Geschlechter die hier wohnten, waren u.a. auch die Adelsfamilien Muntprat sowie Breitenlandenberg; eine Familie dieses Namens bewohnte von 1530 bis 1559 auch Schloss Sonnenberg. 1629 ging Spiegelberg in den Besitz des Klosters Fischingen über. Die Fischinger Statthalter aber residierten auf Schloss Lommis, so dass das burgartige Schloss Spiegelberg lange Zeit unbewohnt blieb und wohl in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zerfiel. Die ursprüngliche Ruine diente als Steinbruch. Steine davon wurden u.a. zum Bau der ursprünglichen Baumwollspinnerei (später Mühle Graf) und des Restaurants Krone, beide in Lommis, verwendet. Schloss Lommis. Und wieder dürfen wir den Chronisten Stumpf zitieren: «Lomnis ein dorff mit einem alten thurn und burgstal … nit weyt von Tobel gelegen; ward im jar des Herren 1440 im alten Zürychkrieg überzogen … yngenommen … gwunnen … und geplündert … durch herr Petermann von Raron herre zu Togkenburg … und Böss Beringen von Landenberg …» Das Schloss war Stammsitz der toggenburgischen Dienstleute von Lommis, doch gehörte die Hälfte der

Lehensherrlichkeit bis 1456 dem Abt von der Reichenau. Erstmals erwähnt wurde das Geschlecht der Herren von Lommaiss in einer Urkunde von 1209 und wiederum 1228. Ein Eberhard von Lommis erwarb 1353 die Vogtei Lommis, verlegte seinen Stamm jedoch nach Zürich. Ende der 1430er-Jahre begann der «Alte Zürichkrieg» (auch als Toggenburger Erbschaftskrieg bekannt), an dessen Spitze für die Truppen der Toggenburger, Wiler und Schwyzer ein Petermann von Raron kämpfte. Sein Gegner in dieser Schlacht war Ulrich von Lommis, damals noch Besitzer der Herrschaft Lommis; dieser unterlag, zusammen mit den Zürchern, den Truppen aus der Ostschweiz. Nach dieser Schlacht zerstörte Petermann von Raron 1440 dieses Schloss. Ulrich von Lommis, der Letzte seines Geschlechtes, fiel in der Schlacht bei St. Jakob an der Sihl im Jahre 1443. Darauf riss der indirekte Erbe der Grafen von Toggenburg, Petermann von Raron, die Herrschaft Lommis an sich. Er löste die reichenauischen Lehensrechte ab. 1457 belehnte Petermann die Familie Muntprat, welche diese Herrschaft 1476 käuflich erwarb. Nach mehreren weiteren Besitzerwechseln ging die Herrschaft Lommis 1629 an das Kloster Fischingen über, in dessen Besitz es bis zum Beginn der Helvetik im Jahre 1798 verblieb. Das Schloss fiel 1847 an den Kanton, welcher es 1853 an drei Baumeister aus Frauenfeld auf Abbruch veräusserte. Stehen geblieben ist das heutige Bauernhaus «Zum Schloss» sowie eine Eckgruppe des Ökonomiegebäudes des ehemaligen Schlosses. Details dazu finden sich im Kapitel «Landwirtschaft», Abschnitt «Portraits von Landwirtschaftsbetrieben».


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In einem Vortrag von Lehrer Otto Graedel im Jahre 1932 (Dokument in der Kantonsbibliothek Frauenfeld) vermutete dieser, dass der Kirchturm von Lommis auf Grund seiner Bauart (1 ½ m dicke Mauern aus Bollensteinen) einst ein Wehrturm war. Er meinte, Analogien zum Kirchturm in Tobel, welcher tatsächlich ein Wehrturm war, erkennen zu können. Neuere Forschungen ergaben aber, dass es in Lommis tatsächlich zwei Türme gab. Der eine war Wehrturm und Teil des Schlosses, abgebrochen zusammen mit dem Schloss um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Der andere ist der heute noch bestehende Kirchturm. Ghöögg (Gehege). Nebst dem Schloss Lommis soll noch ein Edelsitz in der Gemeinde Lommis bestanden haben. Vieles in diesem Zusammenhang basiert auf Indizien; es soll, gemäss der Klingenberger Chronik, wohl eine aus Holz gebaute Burg gewesen sein. Sie soll südöstlich des Dorfes Lommis, auf einer Kuppe in der heutigen Waldparzelle «Ghöögg» gestanden haben. Vermutet wird auch, dass es sich bei diesem Gebäude um eine alamannische Befestigungsanlage gehandelt haben könnte. Wildern (Wildenrain/Zezikon). Wildern war Stammsitz der toggenburgischen Ministerialen von Zazikoven (Zezikon). In einer Urkunde der Toggenburger Grafen Diet­helm und Friedrich aus dem Jahre 1214 wird erstmals ein Ulricus von Zatzikhoven erwähnt. Bei dieser Persönlichkeit handelt es sich wohl um den bedeutenden Lommiser Kaplan, welcher das im Mittelalter berühmte Gedicht «Der Ritter Lancelot vom See» in die damalige deutsche Sprache übersetzte. Es gibt weitere Urkunden, in welchen das Geschlecht der «von Zezikon» bezeugt ist. Nach 1286 kommt dieser Name allerdings

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nicht mehr vor. Die Historiker sind sich einig, das Geschlecht habe sich später nach seiner Stammburg «von Wildern» oder «Wildenrain» umbenannt. In diesem Zusammenhang werden bereits seit den 1270er-Jahren urkundlich die Herren Jakob, Heinrich und Arnold von Wildenrain erwähnt. Diese Adelsfamilie betrieb dieses Gut als Lehen der Grafen von Toggenburg. Diese wiederum schenkten diesen Besitz 1348 der Komturei Tobel, genauer und wie es in einer Urkunde heisst: «den erbern gaistlichen mannen, dem commendur und den brüdern gemainlichen des huses zu Tobel, Sant Johans orden des hailigen Spitals zu Jerusalem, gelegen in Constentzer bistüm.» Damit aber wurde diese Burg, wie diejenige von Heitenau, nutzlos und zerfiel im Laufe der Jahre. Diejenigen, die genau wissen, wo die Burg stand, können noch Reste von Kiesel- und Bruchsteinmauern finden; mehr ist nicht geblieben. Heitenau. Dank der Chronik von Johannes Stumpf wissen wir darüber Folgendes: «Nit weyt von Tobel ist auch gelegen ein Burgstal ... genennt Hattnow oder Heydtnow ... die ist brochen ... hat vor zeyten besonderen Adel diss namens gehept ... die sind abgestorben ... von inen ist allein das Waapen überbliben.» Was der Chronist noch nicht wusste, ist, dass immerhin eine Ruine dieser Burg erhalten blieb. Die Burg (im Heitenauer Tobel, südöstlich des Dorfes Tobel gelegen,) stand auf einem gut zu verteidigenden, rundum recht steil abfallenden Hügel.

Bild Nr. 94 Grundriss der einstigen Burg Heitenau - aus dem Buch von F.A. Stutz


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Herrschafts- und Gerichtssysteme · Burgen und Schlösser im Tal

In einer Urkunde aus dem Jahre 1209 wird erstmals ein Arnold von Heitnau als Dienstmann eines Grafen von Toggenburg erwähnt. Die Vogtei über einige Güter in Tägerschen wurde 1258 von Konrad von Heitnau an die Komturei Tobel verkauft. Im Jahre 1275 schliesslich übertrugen die Toggenburger auch die Burg – es war ihr zweitletzter Stützpunkt auf dem Gebiete des heutigen Kantons Thurgau – an die Komturei Tobel. Damit war auch die Mission der Burgvögte von Heitenau beendet. Danach ist wenig über das weitere Schicksal dieser Burg bekannt. Wie in andern Fällen wurden auch Steine dieser langsam verfallenden Burg für die Errichtung anderer

Quellennachweis Amt für Archäologie Graedel Otto Hauswirth Fritz Henne Anton Kommission historischer Verein Thurgau Stumpf Johannes, Chronist Stutz Ferdinand Arnold

Gebäude in der Umgebung verwendet. Auf Grund von Ausgrabungen vermutet man, dass die Burg noch bis Mitte des 14. Jahrhunderts bewohnt war. Zunächst auf privater Basis und in den 1950er-Jahren mit behördlicher Unterstützung wurden bei dieser Ruine umfangreiche Grabungen vorgenommen; die entsprechenden Ergebnisse sind im Heft Nr. 93 des historischen Vereins des Kantons Thurgau dargestellt. Es konnten eine ansehnliche Zahl von Fundgegenständen sowie die Grundmauern der ehemaligen Burg zu Tage gefördert werden. Ein Sommerspaziergang im kühlen Heitenauer Tobel und ein Besuch dieser Burgruine ist empfehlenswert.

Historisches Lexikon der Schweiz (HLS) Archäologie im Thurgau, 2010 Vortrag aus dem Jahre 1932 Burgen und Schlösser der Schweiz, Bd. 1 Thurgau Klingenberger Chronik 1861 Burgen und Schlösser der Schweiz, Teile I und II TG Chronik der Eidgenossenschaft, 1547/48 Burgen und Schlösser im Lauchetal, 1992


Das heutige Tal



Das heutige Tal · Der Bach, der dem Tal den Namen gab

Der Bach, der dem Tal den Namen gab Lebens- und Kulturraum Lauchetal In diesem Kapitel wollen wir den vielfältigen Lebensraum und seine herrlichen Naturschätze beschreiben. Wir haben ein paar kleine Paradiese im Tal; zwei davon sind sogar in Bundesinventaren als «von nationaler Bedeutung» registriert. Unser Tal verfügt dank eher milden klimatischen Verhältnissen über eine sehr reichhaltige Flora. Schon seit 1920 steht diese, insbesondere am Imenberg Südhang, im Augenmerk der Botaniker. Sie ist vom frühen Frühling bis in den Spätherbst bewundernswert. Auch die Fauna darf als vielfältig und erlebenswert bezeichnet werden. Die Geographie des Tals Es gibt keine offizielle geographische Umschreibung unseres Tals. Die durch Millionen von Jahren geformte Topographie unter Beachtung der Wasserläufe von Scheiteln ins Tal (hydrologische Betrachtungsweise) lässt aber anhand von Karten eine recht eindeutige Tal­ beschreibung zu.

Um diese Karte zu präzisieren, lässt sich das Lauchetal wie folgt eingrenzen: Die Politischen Gemeinden im Tal sind die Folgenden: · Affeltrangen mit den Dörfern und Weilern Märwil, Zezikon, Buch, Meienhof, Azenwilen, Haghof, Wahrenberg, Isenegg und Chrüzegg · Lommis mit den Dörfern Kalthäusern, Weingarten · Matzingen mit dem Dorf Halingen · Stettfurt mit Schloss Sonnenberg · Tobel-Tägerschen mit dem Weiler Flüügenegg · Die Dörfer Friltschen, Lanterswil und Weingarten b. Märwil gehören zur Politischen Gemeinde Bussnang, die insgesamt 18 Dörfer umfasst · Die Dörfer und Weiler Rimensberg, Oberhof und Hohrüti gehören zur Politischen Gemeinde Braunau · Der dem Lauchetal zurechenbare Nordteil des Dorfes Anetswil gehört zur Politischen Gemeinde Wängi

Bild Nr. 101 Das Lauchetal aus hydrologischer Betrachtungsweise

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Das heutige Tal · Der Bach, der dem Tal den Namen gab

Westliche Begrenzung: · Matzingen (Zusammenfluss von Murg, Lauche, Thunbach und Lützelmurg) · Halingen mit «Tannhalde» Östliche Begrenzung · Rimensberg/Hohrüti · Lanterswil · Weingarten bei Märwil · Friltschen · Märwiler Ried · Meierhof Südliche Begrenzung · Matzingen/Kuppe Ruggenbühl, Liegenschaft Waldhof · Höfe: Höchi, Grüthof, Egglisbüel · Nördliche Häuser von Anetswil · Scheitel der Waldparzelle «Ghöögg» südlich Lommis · Isenegg, Flüügenegg, Chrüzegg · Tobel mit Nordgrenze Waldparzelle Hartenauer Tobel · Oberhof Nördliche Begrenzung · Meienhof, Azenwilen, Haghof, Schlatt, Wahrenberg · Wetzikon · Scheitel des Imenbergs · Schloss Sonnenberg

Die Lauche Der zentrale Talfluss ist die Lauche. Die ursprüngliche Bezeichnung dieses Flusses, wie wir im Kapitel «Unsere Vorfahren – eine geschichtliche Abfolge» feststellten, ist alamannischen Ursprungs. Die Schreibweise des Flussnamens hat sich über die Jahrhunderte oft verändert. Im Thurgauer Namenbuch von Eugen Nyffenegger wird der Flussname Lauche aus «Lauka» oder «Loucha» hergeleitet, was etwa «die Gebogene» oder die «Gewundene» oder auch die «Weisse» bedeutet. «Der Bach erhielt» – laut dem Geologen Erich Müller – «seinen heutigen Lauf erst in der Nacheiszeit.» Vor ihrer Laufkorrektion in den frühen 1920er-Jahren hatte die Lauche tatsächlich einen gewundenen Lauf. Der Fluss entspringt im Dorf Lanterswil, südlich des Weilers Rimensberg rund 150 m nordwestlich des Hofes «Hohrüti» am Südostrand der Waldparzelle Weidholz auf rund 700 m Höhe. Von seiner Quelle fliesst das dünne Bächlein bis nach der Unterführung an der Strasse rund 1 km nördlich des Dorfes Stehrenberg mehrheitlich unterirdisch in Röhren; ab dort ist der Bach offen bis zu seiner Einmündung in die Murg in Matzingen. Auf dem Weg zum Ziel nimmt die Lauche nebst verschiedenen kleinen Seitenbächlein und Einläufen von Drainagen drei grössere Seitenbäche auf. Das sind in Affeltrangen der von Tobel herkommende Hartenauerbach, in Lommis der aus der Waldparzelle Ghöögg herkommende Kaabach und kurz vor ihrer Einmündung in die Murg in Matzingen, der aus Thundorf herkommende Thunbach. Bild Nr. 102 · Quelle der Lauche


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Nach starken Regenfällen lief oft Wasser über die Ufer der Lauche und dies führte verschiedentlich zu Überschwemmungen. Im «Technischen Bericht des Amtes für Umweltschutz und Wasserwirtschaft des Kantons Thurgau – Hochwasserschutz Lauchetal» vom September 1983 wird von «einem überaus grossen Hochwasser im Jahre 1876»*) berichtet. Hochwasser, wenn auch nicht im Ausmass von 1876, gab es immer wieder. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts begannen Diskussionen über eine mögliche Sanierung des Talflusses, die aber erst in den 1920er-Jahren realisiert wurde. In der Mitte der 1950er-Jahre wurde die Lauche bei Stettfurt auf einer Länge von 360 m um einen Meter gesenkt, um den Wasserfluss zu verbessern. *) Anekdote aus Matzingen zum Jahrhunderthochwasser von 1876. 1873 begann in Matzingen ein Lehrer namens Heinrich Gremminger seine Tätigkeit. Am 11. Juni 1876 weilte er zu Besuch auf dem Hügel «Ruggenbühl» (östlich Matzingen) und konnte wegen des Hochwassers nicht mehr zurück nach Matzingen. Im Frühjahr des folgenden Jahres heiratete er die dannzumal 20-jährig gewordene Susanna Stutz vom Ruggenbühl und ein Jahr später erblickte des jungen Ehepaars erstes Kind das Licht der Welt.

Bild Nr. 103 · Hochwasser 1876, untere Lauchebrücke Stettfurt

Nach Ende des ersten Weltkrieges wurden endlich die sehr wichtigen Sachgeschäfte – Güterzusammenlegung und Drainage – ernsthaft an die Hand genommen. Bald zeigte sich aber, dass eine sinnvolle Melioration nur mit einer Begradigung der Lauche erzielt werden konnte. Aus verschiedenen Gründen, vor allem wegen hoher Kosten, wurden solche Projekte mehrmals verschoben. Bild Nr. 104 · Laufkorrektur der Lauche zwischen Affeltrangen und Weingarten, beim heutigen Flugplatz Lommis. Das untere geschwungene Flussbett ist der ursprüngliche Flusslauf; das obere Flussbett zeigt die begradigte Lauche. Die Landparzellendarstellung entspricht derjenigen vor den Güterzusammenlegungen.

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In den Jahren des zweiten Weltkrieges wurde wegen der behördlich angeordneten, kriegswirtschaftlich bedingten Nahrungsmittelproduktion (Anbauschlacht), die Bodenentwässerung prioritär behandelt. Weitergehende Informationen zu Entwässerung oder Drainage sowie Güterzusammenlegungen finden sich im entsprechenden Abschnitt im Kapitel «Landwirtschaft».

Einzelaufgaben sind: Beratung bei Wasserentnahmen, Beurteilung von Bauten an Bächen sowie Abwicklung von Gewässerverschmutzungen. In Ermatingen und Romanshorn existiert je eine kantonale Brutanstalt, wo vor allem Seefische, aber auch Bachfische gezüchtet werden. Bachforellen-Brütlinge werden sowohl in der Lauche als auch in deren Zuflüssen eingesetzt.

Die Fischerei in der Lauche Die folgenden Informationen basieren auf je einem Interview mit dem Fischereiaufseher Kreis 4, Thurgau (Einzugsgebiet Thur, also auch der Lauche) Markus Grünenfelder, sowie dem Chef der Fischereigesellschaft Stettfurt, Guido Graf.

Das Fischereiwesen im Thurgau ist für alle Gewässer, ausgenommen Thur, Sitter, Murg sowie Binnenkanäle, vom kantonalen Amt für Jagd- und Fischereiverwaltung an die Gemeinden delegiert. Diese wiederum erteilen Pachten an Einzelpersonen oder Fischereivereine gegen einen Pachtzins. Für das Lauchetal sind derzeit fünf Pachten vergeben. Zur Unterstützung und Überwachung der Fischerei sind für den ganzen Kanton insgesamt vier Fischereiaufseher eingesetzt. Deren Hauptaufgaben sind stichwortartig folgende: Die natürliche Artenvielfalt und den Bestand einheimischer Fische, Krebse und Fischnährtiere zu erhalten, zu verbessern oder nach Möglichkeit wiederherzustellen; zudem bedrohte Arten von Fischen und Krebsen zu schützen und eine nachhaltige Nutzung der Fisch- und Krebsbestände zu gewährleisten. Weitere

Wer eine Berechtigung zum Fang von Fischen und Krebsen erwerben will, muss nachweisen können, dass er oder sie ausreichende Kenntnisse über Fische und Krebse und die tierschutzgerechte Ausübung der Fischerei hat. In Sachkunde-Nachweiskursen (SANA Kursen) kann diese Prüfung abgelegt werden. Verschiedene Fluss- und Seefischereivereine, z.B. Fischereivereine Frauenfeld, Sirnach oder im Seebereich die Fischereivereine Arbon und Kreuzlingen bieten solche halbtägigen Kurs an. Wichtige Teile der notwendigen Kenntnisse für das Fischen sind: Kenntnis der See- und Flussfischarten, Regelung der Schonzeiten, minimale Länge der Fische, Fischregionen, sowie die kantonalen Vorschriften für das Fischereiwesen. Nach erfolgtem Abschluss dieser Prüfung kann sich der Fischer um ein Patent in einem Fischereiverein oder als Einzelpächter bei den Gemeindepachten bewerben. Für das Fischen gibt es Auflagen. Während der Schonzeit vom 1. Oktober eines Jahres bis Ende Januar des Folgejahres ist das Fischen untersagt, ebenso eine Stunde nach Sonnenuntergang bis eine Stunde vor Sonnenaufgang. Es darf nur mit Angel ohne Widerhaken oder von Hand gefischt werden und die Fische müssen nach


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kantonaler Vorschrift mindestens 22 cm lang sein und somit mindestens einmal gelaicht haben. Die einzelnen Vereine können höhere Masse vereinbaren; für die FG Stettfurt z.B. müssen die Fische mindestens 26 cm lang sein. Jeder berechtigte Fischer muss jährlich einen Rapport erstellen und dem Fischereiaufseher einreichen. Darin ist einerseits der Einsatz jeglicher Art von Fischen und andererseits die Fangerfolge (nach Arten von Fischen) pro Monat aufzuführen. Pro Verein werden die Ergebnisse aller Einzelfischer zusammengefasst und in einem Sammelrapport weitergeleitet. In früheren Jahren sei der Fluss reich an Krebsen (es gibt sie auch heute noch), Forellen und gar Hechten gewesen. Heute werden hauptsächlich Bachforellen gefischt. Die Fangmengen haben in den letzten Jahren laut Fischereiaufseher markant abgenommen. Hauptursachen dafür sind (dies gilt für die ganze Schweiz): Eine Nierenkrankheit bei Fischen, bekannt als PKD (sie tritt vor allem bei

Wie es einmal war In Bezug auf das Fischen in den Bächen der Herrschaft Sonnenberg findet sich in Art. 49 und 50 der Offnung dieser Herrschaft aus dem Jahre 1482 eine einschneidende Regelung. Danach war es verboten, in den vier Hauptbächen unseres Tals, Lochnow (Lauche), Thun (Thunbach), Murg und Lützelmurg zu fischen. Für Zuwiderhandlung wurden Bussen an die Herrschaft fällig; 1 Pfund Pfennig für Einheimische und 10 Pfund Pfennig für Fremde. In den übrigen Kleingewässern durften Einheimische ohne Einschränkung fischen und krebsen; wurden aber Fremde erwischt, mussten sie eine Busse von 3 Schilling entrichten.

Bach-, See- und Regenbogenforellen auf), höhere Wassertemperaturen, Graureiher (gesetzl. geschützte Vogelart), Gänsesäger (eine der grössten Entenvogelart, zumeist Wintergast) und sogar Kormorane (Märwiler Ried). Flussbaumeister – die jüngsten Bewohner der Lauche Viele der folgenden Informationen über diese interessante und intelligente Tierart stammen aus einem Interview mit dem Biberfreund und Biberfachmann Kon­ stantin Fuchs aus Wängi. Die Rede ist vom Biber, konkreter vom europäischen Biber «Castor fiber». Diese Tiergattung war in der Schweiz zunehmend vom Aussterben bedroht, ist mittlerweile aber eine national und international geschützte Tierart. Zur Bereicherung der Artenvielfalt wurden 1957 die Biber in der Schweiz wieder angesiedelt und 1968 hat der WWF in Absprache mit den zuständigen Behörden

Bild Nr. 105 Bachforelle mit Fischer


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in Bern eine Neuansiedlung dieser Tierart im Seebachtal (Nussbaumer- und Hüttwilersee) vorgenommen. Diese Biber haben sich gut entwickelt und sich ausgebreitet. In der Lauche wurde das erste Tier im Jahre 2002 gesichtet, vermutlich ein Weibchen, welches Junge zur Welt brachte. Heute leben in unserem Talhauptfluss 12 – 15 Tiere in mehreren Revieren; diese sind in Matzingen, im Lommiserried sowie in Märwil und im Märwiler Ried angesiedelt. Einzeltiere sind aber auch an andern Stellen der Lauche aktiv. Die Biber werden bis 15 Jahre alt; in Gefangenschaft gar bis 25 Jahre und bis zu 30 kg schwer.

Bild Nr. 106 · Ausgewachsener Biber im Lauchetal

Der Biber ist ein Säugetier und gehört in die Gruppe der Nagetiere; er ist in Europa der grösste Nager. Seine Charakteristika, wie Bild Nr. 106 zeigt, sind einerseits sehr starke Nagezähne und anderseits die Kelle (Schwanz) sowie ein dichtes braunes Fell. Sein Gebiss hat zwei Teile. Der vordere Teil besteht aus 7 – 10 cm langen Nagezähnen, im hinteren Gebissteil sind die Mahlzähne zur Verkleinerung seiner Nahrung. Die Kelle wird zum Steuern im Wasser und zum Schlagen, z.B. gegen Feinde, eingesetzt. Sie ist überdies Fettreserve für den Winter und stark durchblutet. Die Biber sind dämmerungs- und nachtaktiv. Die Weibchen bringen im April/Mai, nach einer Tragzeit von 15 Wochen, jährlich 2 – 3 Junge zur Welt.

Bild Nr. 107 – Angenagte Bäume an der Lauche

Die Nahrung dieser Tiere besteht aus Sumpf- und Wasserpflanzen, Blättern, Zweigen und Rinde von Weichhölzern. Im Sommer umfasst ihr Speiseplan auch Gras, und als Delikatessen auch mal Zuckerrüben oder Getreide.


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Deshalb sind Biber keine besonderen Lieblinge der Bauern. Weshalb bauen die Biber oft Dämme quer über ein Gewässer? Bekanntlich leben sie in Höhlen neben dem Fluss. Der Eingang zu ihrem Bau liegt aber höher als der normale Flusspegel. Damit sie schwimmend in die Höhle hinein kommen, stauen sie das Wasser. Im Bau legen sie einen Teich an; darin werden die Jungen von der Mutter im Schwimmen, später im Tauchen unterrichtet. Erst wenn sie diese beiden Fertigkeiten beherrschen (nach ein bis zwei Jahren), dürfen sie aus der Höhle. Höhere Flusspegel machen es zudem einfacher, Äste von Bäumen zu transportieren um damit Dämme zu flicken oder zu erhöhen. Dieses Nagetier ist auch in unserem Tal eine Bereicherung der Tiervielfalt. Dort, wo es Probleme mit Landwirten entlang der Lauche gibt, sucht Konstantin Fuchs in Absprache mit dem kantonalen Amt für Jagd- und Fischereiverwaltung nach zweckmässigen Lösungen. In diesem Sinne erfüllt er eine wichtige Vermittlerfunktion. Konstantin Fuchs führt auch Exkursionen mit Schülern und Erwachsenen durch und vermittelt sein breites Wissen über diese Tierart in Vorträgen. Das Märwiler Ried – ein Flachmoor von nationaler Bedeutung Wenige 100 m nördlich von Märwil, zwischen der Weinfelderstrasse und der Turbo-Bahnlinie einerseits und dem Strässlein nach Meienhof anderseits, liegt ein Naturparadies in Form einer Moorlandschaft. Das Bohlerund Friltschener Ried im Nordteil und das grössere Märwiler Ried im Südteil werden gemeinhin nach diesem

benannt. Letzteres ist rund 9,5 ha gross und hat eine Wasserfläche von rund 0,6 ha. Die Weiher sind im nördlichen Teil umgeben von Büschen und mehreren Baumarten, vornehmlich Moor-Birken; 1994 wurden im Ried 39 seltene, gefährdete oder geschützte Arten von Blütenpflanzen nachgewiesen. Darunter sind u.a. Raritäten wie der Geknickte Fuchsschwanz, zwölf Orchideenarten wie z.B. Helm Orchis, Angebrannte Orchis, Fleischfarbene Orchis oder Zweiblättriges Breitkölbchen, sowie die Sibirische Schwertlilie. Im Sommer können verschiedene Libellen- und Heuschreckenarten sowie Ringelnattern und Waldeidechsen entdeckt werden. Im Weiher tummeln sich, nach Angaben des zuständigen Fischereiaufsehers, eine Vielzahl von Fischarten wie Hecht, Zander, Karpfen, Schleien, Egli, Brachsen, Rotfedern, Rotaugen, Laube und Edelkrebse und seit wenigen Jahren sind auch Biber hier heimisch. In jüngster Zeit kann man auf Bäumen um den Weiher herum zeitweise gar vereinzelt Kormorane entdecken; eine Vogelart, die den Fischern missfällt. Für die grosse Vielfalt von Vögeln, die man hier bewundern kann, verweisen wir auf den Abschnitt «Die gefiederten Freunde». Diese Erholungsregion eignet sich für Schulunterricht in naturkundlichen Fächern oder für Familienspaziergänge. Der Weiher ist für regionale Anwohner in markierten Teilen auch zum Schwimmen benutzbar – wenn man das etwas moorhaltige Wasser verträgt. Gegen die Bahnlinie hin ist ein Umkleidehäuschen aufgestellt. Die Entstehung der Weiher ist aussergewöhnlich. In diesem Ried wurde bis Mitte des 20. Jahrhunderts Torf

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Grütried – ein weiteres Bijou Dieses Kleinod liegt am Südrand des Lauchetals, westlich der Liegenschaft des ehemaligen Bauernverbandsund Nationalratspräsidenten Hansjörg Walter, im Grenzgebiet zwischen Stettfurt und Wängi auf Boden der Gemeinde Wängi.

Bild Nr. 108 · Das Märwiler Ried, Quelle: Gemeinde Affeltrangen

gestochen. «In den Jahren 1944 – 46» – so entnehmen wir einer Studie «Schutz- und Pflegekonzepte für Thurgauische Naturschutzgebiete – Märwiler, Bohler und Friltschener Ried» von 1995 – «wurde Torf maschinell abgebaut. Als Folge dieser Tätigkeit quoll plötzlich Grundwasser aus der Tiefe und der Weiher entstand. In den 1980er-Jahren wurde der Weiher durch Baggerungen stellenweise erweitert. Aus dieser Entwicklung entstand in diesem Flachmoor diese Lebenswelt für viele Pflanzen und Tiere und damit eine wunderschöne Erlebniswelt für uns Menschen.» Das Märwiler Ried wurde im Jahre 1990 ins eidgenössische Flachmoor-Inventar, als Flachmoor von nationaler Bedeutung aufgenommen.

Im Jahre 1936 wurde die «Naturschutzvereinigung Grütried NVG» von Männern mit viel Pioniergeist gegründet. Zum 75-Jahr Jubiläum 2011 erarbeitete der pensionierte Wängemer Naturfreund, ehemalige Sekundarlehrer und Inspektor, Ruedi Götz, mit viel Bildmaterial eine schön gestaltete Jubiläumsbroschüre. Sie beschreibt die Geschichte dieser Vereinigung und insbesondere die grossartige Vielfalt an Flora und Fauna in diesem Ried. «Die Bedeutung von Biodiversität» – so schreibt der derzeitige Präsident dieser Vereinigung, Bernhard Wettstein in dieser Broschüre – «war den Gründern bereits bewusst – lange bevor dieser Begriff in die Umgangssprache aufgenommen wurde.» Der Imenberg Südhang als Landschaft von nationaler Bedeutung Auf Grund intensiver Vorbereitungsarbeiten nachfolgender Organisationen wurde diese Region 1977 ins Bundesinventar der Landschaften von nationaler Bedeutung aufgenommen. Die beteiligten Organisationen waren: Forstamt Thurgau, Amt für Raumplanung, Pro Natura Thurgau, Gemeinden Stettfurt und Lommis, Forstreviere Thunbachtal-Sonnenberg, sowie Lommis-AffeltrangenWängi. Zur Erhaltung dieser einmaligen Landschaft wurde das Projekt «Imenberg-Südhang» ins Leben gerufen und im Jahre 1996 fand eine Orientierungsversammlung für Interessierte statt.


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Es handelt sich hier um einen Lebensraum für selten gewordene Pflanzen; nachgewiesen sind – so eine einschlägige Broschüre von Pro Natura Thurgau – «636 Arten von Blüten- und Farnpflanzen wie z.B. Goldgelber Frauenschuh, 25 Orchideenarten, darunter die Hummelorchis und die Türkenbund-Lilie. Bei den Kleintieren sind neben 350 Arten von Grossschmetterlingen, die kleine Goldschnecke, der Waldteufel (seltener Tagfalter) sowie der Siebenschläfer und eine grosse Anzahl von Insekten nachgewiesen. Als besonderer Lebensraum für Schwarzspechte, Hohltauben und Dohlen wurden bewusst Altholzinseln stehen gelassen.» Wichtige Voraussetzungen für den erfolgreichen Fortbestand dieses einmaligen Lebensraums waren die Auslichtung des Waldes am Südhang sowie die extensive Bewirtschaftung der Wiesen am Südrand des Waldes. An verschiedenen Orten sind Orientierungs- bzw. Informationstafeln aufgestellt. Wir verweisen hier auf die hervorragende Schrift von Pro Natura lokal Nr. 1/14 Thurgau mit dem Titel «Der Immenberg». Es gab leider auch eindrückliche Naturlandschaften welche den Meliorations-Aktivitäten zum Opfer fielen, so z.B. in den 1950er-Jahren das seinerzeitige «Schalchmoos» an der Strasse von Stettfurt nach Wängi, südöstlich der Liegenschaft «Waldhof» gelegen. Die gefiederten Freunde im Tal Die nachfolgenden Ausführungen basieren weitgehend auf einem Interview mit Lehrer Urs Thoma, Märwil, sowie einer Arbeit «Schutz.- und Pflegekonzepte für Thurgauische Naturschutzgebiete – Märwiler, Bohler und Friltschener Ried» aus dem Jahre 1995.

Bild Nr. 109 · Naturschutzregion Imenberg-Südhang

Bereits seit 1955 existiert ein Natur- und Vogelschutzverein Lauchetal (NVVL) mit Sitz in Märwil. Der Verein hat weit über 100 Mitglieder. Gemäss seinen Statuten bezweckt er den Schutz der einheimischen Vögel und deren natürlichen Lebensräumen, die Wiederherstellung beeinträchtigter Natur, die Förderung der Vogelkunde im Interesse des Vogelschutzes sowie die Zusammenarbeit mit Organisationen, welche sich ähnlichen Zielen verpflichtet fühlen. Das Märwiler, Bohler und Friltschener Ried sind ein Eldorado für unsere gefiederten Freunde. Letztmals wurden die Brutvogelarten 1994 von Herrn Guido Leutenegger erfasst. Auf Grund dieser Feststellungen «brüten hier derzeit insgesamt 16 Vogelarten regelmässig, darunter: Stockente, Wasserralle, Blässhuhn, Teichrohrsänger, Sumpfrohrsänger, Zaunkönig, Rotkehlchen, Amsel, Garten- und Mönchsgrasmücke und Rohrammer.» Der Sumpf­rohrsänger hat eine für Vögel eher seltene Begabung; er ist ein begnadeter Stimmenimitator, der in seinen Gesang auch Rufe anderer einheimischer und sogar auch afrikanischer Vogelarten einbaut. Weitere Vögel,

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Urs Thoma führt auf Anfrage Exkursionen im und ums Märwiler Ried, hält naturkundlichen Klassenunterricht vor Ort und legt selbst aktiv Hand an. So reinigt er jährlich etwa 130(!) Nistkästen in der Umgebung von Märwil und Lommis und kann anhand der vorgefundenen Nester feststellen, wer im Kasten nistete und ob es Nachwuchserfolge gab oder nicht. «Eines seiner schönsten Erlebnisse war,» – so schilderte er uns – «dass er an einem nebligen Herbstmorgen plötzlich eine Gruppe von 32 Kranichen in ihrer bekannten Flugformation um das Ried und um Märwil kreisen sah.» Er nimmt an, dass diese sich auf ihrem Flug nach Spanien wegen des Nebels verflogen hatten. «Sie seien dann ohne zu landen Richtung Bodensee weiterflogen. Es waren» – wie er weiter sagte – «seine ersten «Thurgauer» Kraniche.»

Bild Nr. 109a · Aus der Vogelwelt im Ried: Sumpfrohrsänger Aufnahme: Ruedi Aeschlimann, Uetendorf

die man hier oft oder mit Glück bewundern kann, sind: Verschiedene Finken- und Meisenarten sowie den Feldsperling, den Graureiher und als Rarität auch die Zwergdommel. Zur Zugzeit kann man weitere Vogelarten entdecken, so den Waldwasserläufer, den Silberreiher, den Gartenrotschwanz oder auch den Rotrückenwürger oder Neuntöter. Letzterer nistet zumeist in Dornenbüschen (sehr bodennah) und spiesst seine Beute (meist Käfer und andere Insekten) an einem Dorn auf, um sie später zu verspeisen; der Volksmund meinte, dass dieser Vogel zunächst neun Beuteexemplare aufgespiesst haben wollte, bevor er sie frass. Auch der Neuntöter hat die Fähigkeit, Stimmen anderer Vögel zu imitieren, allerdings nicht so perfekt wie der Sumpfrohrsänger.

Auf Wanderungen und Velofahrten das Tal erkunden Eine Vielzahl gut beschilderter Wandermöglichkeiten durch Wälder und/oder Felder bieten Gelegenheit, die herrliche Naturwelt Lauchetal zu erkunden. Das Tal querend führt z.B. eine Wanderung von Bettwiesen durch das Waldgebiet «Ghöögg» nach Lommis, von dort nach Weingarten, dann westwärts nach Kalthäusern und etwa in der Mitte zwischen dem genannten Dorf und Stettfurt den bekannten «Bettelweg» hinauf zum Schloss Sonnenberg. Weiter bietet sich eine Wanderung auf ebenen Pfaden von Affeltrangen-Nord nahe der Lauche entlang via Flugplatz Lommis nach Weingarten und via Kalthäusern und Stettfurt nach Matzingen. Gelegenheiten zum Innehalten bieten sich genug; vielleicht um dem Treiben der Stockenten im Bach zuzuschauen oder gar einen schüchternen Fischreiher zu beobachten. Ein Fundus für besondere Wanderungen im östlichen Teil des


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Tales ist auch das schmucke Wanderbüchlein von Hannes Stricker mit dem Titel «Rund um die Komturei Tobel». Am Schluss des Kapitels «Das Lauchetal als militärstrategische Zone im Kalten Krieg» haben wir zusätzlich einige Wanderungen beschrieben. Nebst vielfältigen Wandermöglichkeiten bieten sich auch mehrere markierte Velotouren an, um das Tal besser kennen zu lernen. Dabei ist es sinnvoll, an verschiedenen Punkten einen Halt einzuschalten, vielleicht auf einem Bänklein an der Lauche, wo man zur Entspannung auch dem Lispeln des Lauchewassers zuhören kann. Die wohl bekannteste Tour ist diejenige, die von Mettlen herkommend via Friltschen, Märwil, Affeltrangen hernach mitten durchs Tal bis Matzingen und weiter westwärts führt. Mit seitlichen Abstechern von dieser Route lassen sich auch mit dem Fahrrad alle bisher beschriebenen Schönheiten des Tals ganz nahe erleben. Quellennachweis Amt für Umwelt Thurgau Die Grundwasservorkommen im Thurgau Amt für Umweltschutz und Wasserwirtschaft Thurgau Hochwasserschutz Lauche – Risikostudie und Richtprojekt 1983 Amt für Raumplanung Thurgau Schutz- und Pflegekonzepte für Thurgauische Naturschutzgebiete – Märwiler, Bohler und Friltschener Ried Götz Ruedi 75 Jahre Naturschutzvereinigung Grütried Nyffenegger Eugen Thurgauer Namenbuch Pro Natura Thurgau Der Imenberg Südhang Pro Natura Thurgau Das Märwiler Ried Stricker Hannes Wanderungen rund um die Komturei Tobel TZ-Artikel betreffend Märwiler Ried Schönheit mit vielfältiger Fauna Fuchs Konstantin Graf Guido, Stettfurt Grünenfelder Markus, Märstetten Thoma Urs, Märwil

Interview betreffend Biber Interview betreffend Fischerei Interview betreffend Fischereiwesen im Thurgau Interview betreffend «Gefiederte Freunde»

Bild Nr. 109b Wegweiser «Bettelweg»


Winterzauber an der Lauche

Einmündung Kaabach in die Lauche

Lauche und Murg vereinigen sich

Informationstafel Magerwiese

Einmündung des Hartenauer Baches in die Lauche bei Affeltrangen

Teilstück der Lauche bei Stettfurt

Idyllisches Lauche-Teilstück

Graubindiger Mohrenfalter Quelle: Jörg Gemsch, Pro Natura Thurgau


Weingarten 1935 mit Teilstück des Imenberg Südhang Quelle: Florin Rutschmann, Pro Natura Thurgau

Laubholz-Säbelschnecke Quelle: Florin Rutschmann, Pro Natura Thurgau

Purpur Knabenkraut Quelle: Florin Rutschmann, Pro Natura Thurgau


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Das heutige Tal · Landwirtschaft

Landwirtschaft Die Anfänge In früheren Kapiteln wiesen wir darauf hin, dass das Lauchetal, insbesondere die Talsohle, als Folge seiner geologischen Entstehung bis ins 19. Jahrhundert sehr sumpfig war. Deshalb war dieses Gebiet für eine aktive landwirtschaftliche Nutzung zu jener Zeit eher ungeeignet. «Zudem» – wie Ernst Herdi in seiner «Geschichte des Thurgaus» bemerkt – «waren Flüsse, auch die Lauche, damals immer ein Risiko wegen Uferübertretungen.» Erst mit der Besiedlung des Tals durch die Alamannen im Laufe des fünften und sechsten Jahrhunderts n.Chr. wurde die Landwirtschaft im Lauchetal heimisch. Ernst Herdi schreibt dazu: «In den Adern der Alamannen fliesst nicht nur Blut eines Kriegers sondern auch Blut eines Bauern.» «Die damaligen Menschen ernährten

Bild Nr. 111 · Ein von Kühen gezogenes Gefährt

sich» – wie auch J.A. Pupikofer in seiner «Geschichte des Thurgaus» schreibt – «im 5. und 6. Jahrhundert von der Viehwirtschaft sowie vom Ackerbau. Sie verwendeten Gerste und Haber zur Herstellung ihres Volksgetränkes, dem Alamannenbier. Zur Ergänzung der Nahrungsquelle gingen sie auch häufig jagen.» Selbstversorgung «Im Lauchetal» – so berichtet Hans Matthey in seiner Chronik «Zezikon» – «wohnten die Menschen in kleinen Dörfern und Einzelhöfen; das war von unseren Vorfahren, den Alamannen, so gewollt. Sie lebten zu jener Zeit beinahe ausschliesslich von der Landwirtschaft und waren zum weitaus grössten Teil Selbstversorger. Neben der eher geringen Bedeutung der Viehwirtschaft» – so Hans Matthey – «war der Ackerbau im Lauchetal vorherrschend; Getreide und die daraus erzeugten Produkte wurden zu Hauptnahrungsmitteln. Missernten führten schnell zu Hungersnot. Vieh diente damals hauptsächlich als Lieferant von Mist für den Ackerbau; Ochsen und Kühe wurden als Zugtiere gebraucht, die Haltung zur Fleischproduktion war nur von geringer Bedeutung.» Als Nahrungsmittel wurde in geringem Ausmass auch Gemüse angepflanzt. Ab dem Hochmittelalter begann der Rebbau. Holz aus Gemeindewäldern wurde als Bauund Brennmaterial benutzt. Über die Selbstversorgung hinaus, zur Verbesserung der Haushaltlage, wurde Wein und teilweise auch unverarbeitetes Getreide an verschiedene Abnehmer verkauft. Die Abgabe der «Zehnten» an


Das heutige Tal · Landwirtschaft

die seinerzeitigen Herrschaften – dieses Regime dauerte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – haben wir in zwei andern Kapiteln beschrieben. Sobald eine ganze Bevölkerungsgruppe ein günstiges Gelände fand, entstanden sogenannte Markgenossenschaften, wie z.B. diejenige von Lommis, die unter dem Namen «Loupmeissamarka» (Loupmeissa bedeutet geschlagener Wald) geschichtlich verankert ist. Zu diesen Märkten hatten aber nur die Hofstattbesitzer, also die «Freien», Zugang. Die Wende Über Jahrhunderte änderte sich in der Landwirtschaft, sowohl was die Produktepalette und die Art der Leistungserbringung betrifft, nur wenig. Als Folge des Untergangs der Alten Eidgenossenschaft ergaben sich insbesondere in der Landwirtschaft grosse Umwälzungen. Das Zehntensystem wurde aufgehoben, der Flurzwang wurde abgeschafft und die Theorie der Brachzelgen wurde verworfen. Zudem wurden die bisherigen Herrschaften aufgelöst und die gesellschaftlichen Unterschiede aufgehoben. Die Klosterlehenshöfe wurden vergantet, wodurch zuweilen die Lehensbauern zu Eigentümern wurden. Das führte da und dort aber zu finanziellen Engpässen. Diese politischen Umstellungen brachten zuerst etwas Unruhe und der Neubeginn brauchte Zeit. Erst als der Thurgau 1803 selbständiger Kanton der Eidgenossenschaft wurde, kam nach und nach wieder ein geordneteres Leben in die Landwirtschaft und brachte damit entscheidende Veränderungen. Wichtige Förderer einer Modernisierung der Landwirtschaft waren die Herren Joh. Jakob Wehrli, Lehrer, «angelernter» Bauer und Seminardirektor sowie Regierungsrat Joh. Conrad Freyenmuth. Dieser errichtete bei Frauenfeld einen

landwirtschaftlichen Musterbetrieb. Auch von den Klöstern erhielt die Landwirtschaft manch positiven Impuls. Mit der Gründung des Thurgauischen Landwirtschaftlichen Kantonalverbandes im Jahre 1835 wurde dieses Jahr zu einem Meilenstein in der Entwicklung der Landwirtschaft im Thurgau. Dessen Initiator und erster Verwalter war der obgenannte J.J. Wehrli. Zu jener Zeit war der Thurgau noch fast durchwegs ein «Bauernkanton». «Mit wenigen Ausnahmen» – so lesen wir in der Jubiläumsschrift «150 Jahre Thurgauischer Landwirtschaftlicher Kantonalverband 1835 – 1985» – «war die gesamte erwerbstätige Bevölkerung in diesem Wirtschaftszweig tätig.» Fast alle Handwerker und Beamten betrieben zu ihrer Selbstversorgung eine kleine Landwirtschaft. «Das Landleben der damaligen Zeit» – so lesen wir in der genannten Schrift weiter – «darf man sich nicht zu rosig vorstellen. Der Ertrag der strengen, mühsamen Arbeit reichte kaum für das Notwendigste. Die Armut plagte viele Leute. Die Strassen waren schlecht. Maschinen, die dem Bauern halfen, tauchten erst allmählich auf. Primitiv waren Wohnhäuser und Ställe, russig die Küchen, eintönig die Speisezettel. Fast ein Drittel der Kinder starben, bevor sie ein Jahr alt waren; mehr als die Hälfte der Menschen erlebten ihren 20. Geburtstag nicht. Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug nur 27 Jahre, wie heutzutage in den Entwicklungsländern.» Was hier für den ganzen Thurgau beschrieben wurde, galt ebenso für das Lauchetal. Eine Weisheit, die besonders die Landwirtschaft betrifft und die der legendäre Stettfurter Bauer und Tagebuchautor Jakob Gamper (1752 – 1837) früh erkannte, behält

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auf Dauer Gültigkeit. Er schrieb schon damals anhand vieler Beispiele, «dass der wichtigste Faktor von Erfolg oder Misserfolg in der Landwirtschaft das Wetter sei.» Anfügen darf man hier – «dass der Boden» – so schreibt der Agronom Andreas Chervet in der «Schweizer Familie» Ausgabe Nr. 37/2013 – «für das Überleben der Menschen ebenso wichtig ist wie Wasser und Luft.»

Bild Nr. 112 Bildungs- und Beratungszentrum Arenenberg; zur Publikation bewilligt Quelle: www.arenenberg.ch

Bereits vier Jahre nach Gründung des Thurgauischen Kantonalen Landwirtschaftsverbandes wurde 1839 die erste Landwirtschaftsschule in der Schweiz in Kreuzlingen errichtet. 1897 wurde der Schweizerische Bauernverband gegründet und 1906 war für die Thurgauer Landwirtschaft wieder ein besonderes Jahr. Das von der Ex-Kaiserin

Eugénie dem Kanton Thurgau geschenkte Gut Arenenberg wurde gemäss Beschluss des Grossen Rates in diesem Jahr zur Landwirtschaftsschule aufgewertet. Damit war eine bis heute bedeutende Bildungsstätte geschaffen worden, an welcher auch viele Bauern aus dem Lauchetal ihre Ausbildung erfahren haben. Die Hauptsparten der landwirschaftlichen Tätigkeit Ackerbau «Im 18. Jahrhundert» – so schreibt Jakob Stark in seiner Doktorarbeit «Zehnten statt Steuern» – «sei die vorherrschende Bewirtschaftungsart im Thurgau der Ackerbau gewesen, wofür sich auch das Lauchetal besonders eigne. 1834» – so lesen wir in der genannten Arbeit weiter – «waren in den Bezirken Frauenfeld, Tobel und Weinfelden zwischen 60 und 65 % der Kulturfläche Äcker.» Schon im Mittelalter war der Grossteil des im Lauchetal bebaubaren Bodens als Ackerfeld angelegt; pfluguntaugliches Land diente als Wiese oder Weide. Dabei durften die Bauern nicht pflanzen was sie wollten; es herrschte Flurzwang. «Das Ackerland wurde» – so Ernst Herdi – «nach einem straffen Plan bewirtschaftet, indem je ein Drittel abwechslungsweise als Kornzelg mit Winterfrucht bzw. als Haberzelg mit Sommerfrucht bepflanzt werden musste.» Das dritte Drittel, Brachzelg genannt, musste abwechslungsweise jeweils ein Jahr ruhen; darauf durfte höchstens etwas Salat und Gemüse wie Bohnen und Raps angepflanzt werden. Dieses Bewirtschaftungssystem ist unter dem Namen Dreizelgenwirtschaft oder Dreifelderwirtschaft in die Geschichte eingegangen. Es wurde, wie wir schon früher erwähnten,


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von unseren Vorfahren, den Alamannen eingeführt und bis zum Ende der Alten Eidgenossenschaft beibehalten. Selbst die abgelegenen Einzelhöfe hielten sich an das System der Dreizelgenwirtschaft, obwohl diese dazu nicht verpflichtet gewesen wären. Dieses Bewirtschaftungssystem wurde so gehandhabt, dass jedes Dorf auch im Lauchetal das verfügbare Ackerfeld in drei Teile, also drei etwa gleichgrosse Zelgen, einteilte. Als Beispiele waren dies in Matzingen die «Breitwidenzelg», die «Bettlingerzelg» sowie die «Wittenwilerzelg». In Zezikon hiessen die drei Zelgen die «Lee», die «Soreth» sowie die «Staffel». Innerhalb dieser Zelgen wurde dem einzelnen Bauern je ein Streifen zugeteilt. An Getreide erschienen Dinkel (Korn), Roggen, Gerste, Weizen sowie Haber, welch letzterer für die Volksnahrung Habermus benötigt wurde. Wald, Moor und Allmend blieben lange Zeit Gemeindeeigentum und jede Hofstatt hatte gleichen Anspruch auf dessen Nutzung. Als Folge der Untergliederung der Zelgen in einzelne Streifen hatten nicht alle Bauern direkten Zugang zu ihren Feldern. Um Schäden durch das Überfahren anderer Zelgen zu verhindern, mussten die verantwortlichen Männer im Dorf die Arbeiten so anordnen, dass Aussaat und Ernte von allen Bauern zur gleichen Zeit erfolgten. Sobald die Aussaat erfolgt war, wurden alle Felder eingezäunt, um zu verhindern, dass Vieh darauf weidete. Auf die Brachzelgen, sowie nach «Sichel und Sägis», also nach der Ernte, durfte das Vieh auch auf die Fruchtzelgen getrieben werden.

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Zelge 1

Zelge 2

Zelge 3

Sommerfrucht

Winterfrucht

Brachzelge

Jahr 1 Jahr 2 Jahr 3

Bild Nr. 113 · Schematische Darstellung des Systems der Dreizelgenwirtschaft

Mühlen Für die Verarbeitung von Getreide entstanden Kundenmühlen. Mit Ausnahme von Märwil, Wetzikon und Stettfurt existierte in jedem Taldorf eine Mühle, in Lommis gab es gar deren zwei. Da die Mühlen zu jener Zeit ausschliesslich mit der Kraft des Wassers betrieben werden konnten, standen sie zumeist an oder in unmittelbarer Nähe der Lauche. Oft war mit der Mühle eine Sägerei verbunden, um die Wasserkraft doppelt zu nutzen. Ein Risiko für den Betrieb war die unstete Wasserführung der Bäche; in Trockenzeiten mussten diese Betriebe zeitweise die Arbeiten einstellen. Nachdem das Getreide gedroschen war, konnten die Bauern ihr Korn in eine der Mühlen zur Verarbeitung bringen und das Mehl zurücknehmen. Die nachfolgenden Bemerkungen basieren teilweise auf dem Buch «Die alten Mühlen im Thurgau» von Hans Nater, Berg und im Falle der «Mühle an der Sägestrasse» in Lommis auch auf der Dokumentation von Peter Bretscher im Auftrag der Denkmalpflege Thurgau. Matzingen. Nach urkundlicher Erwähnung war die Mühle zu Matzingen die erste im Lauchetal; sie wurde um das Jahr 1150 in einem Güterverzeichnis des Klosters Allerheiligen von Schaffhausen erstmals erwähnt. Bis der Besitz im Jahre 1800 an eine Familie Ammann


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überging, fanden zuvor zahlreiche Handänderungen dieses Lehensgutes statt. Im Jahre 1886 übernahm ein Conrad Ringold die Mühle; damit begann die aktive Geschichte dieses Betriebes. Nach mehreren dafür notwendigen Gebäudesanierungen schuf der neue Besitzer 1904 eine moderne Getreidemühle; dazu betrieb Ringold auch einen Getreidehandel. So brachte er diesen Betrieb «zur Blüte»; seine Vorgänger staunten über diesen Erfolg. Nahezu 65 Jahre führte die Familie Ringold in drei Generationen diese Mühle erfolgreich. Deshalb kam es für die Matzinger Bevölkerung wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als sich im Sommer 1968 die Nachricht verbreitete – aufgrund einer Mitteilung im «Tages-Anzeiger» vom 15. August 1968 – dass die Mühle Matzingen die Weizenmüllerei per Ende September 1968 aufgeben werde. Dies sei in Absprache mit den grösseren Mühlen der Ostschweiz so entschieden worden. Diese andern Mühlen

Bild Nr. 114 · Ehemalige Mühle an der Sägestrasse – renovierter Wohntrakt

übernahmen das Kontingent der Mühle Ringold, teilten es unter sich auf und entschädigten Ringold finanziell. Ab dem gleichen Jahr 1968 begannen die Konrad-Ringold-Erben eine Futtermittelproduktion, bis schliesslich 1995 auch dieser Zweig komplett stillgelegt wurde. Im Rahmen eines grösseren Umbaus der Gebäude konnten 1998 das Restaurant «Mühli» eröffnet sowie mehrere Wohnungen zur Vermietung freigegeben werden. Lommis. Zunächst existierte oberhalb des Dorfes am Kaabach, unweit der alten Burgstelle im «Ghöögg», eine Mühle. In der Zeit von 1478 bis 1722 arbeiteten mehrere Müller auf diesem Betrieb. Immer wieder zerstörte der bei starken Regenfällen zu einem Wildwasser anschwellende Kaabach das Wuhr und bedrohte die Mühle. Die Reparaturkosten überstiegen oft die finanziellen Mittel der jeweiligen Betreiber. Zudem war das Mühlegebäude baufällig, weshalb der letzte Müller, Ulrich Schaffhauser, sich 1722 entschloss, diesen Betrieb stillzulegen. Der gleiche Ulrich Schaffhauser liess in den Jahren 1721/22 eine neue Mühle im Dorf, wie es in einem Dokument heisst – «unden an der Lauchen in der so genannten Bruggwyss» – (heute Sägestrasse) errichten. Der Bau beinhaltete ebenerdig und unterirdisch den Mühlebetrieb, darüber wurde der Wohntrakt gebaut. Neben der Getreidemühle existierte auch eine «Mostmühle». Für die Wasserzufuhr wurde von der alten Mühle her ein Kanal gebaut. 1808 habe auch eine «Sagen» (Sägerei) bestanden; diese war auf der Nordseite des Wohn- und Gewerbehauses angebaut. In den Folgejahren wurden mehrere Ausbauten realisiert. 1895 wurde der Schlossbauer Johannes Hasler Besitzer dieser Liegenschaft und sie blieb bis heute im Besitz der


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Nachfahren des Johannes Hasler. 1905 wurde der Mühlebetrieb eingestellt; die Sägerei dagegen wurde durch den derzeitigen Liegenschaftsbesitzer, Josef Hasler, genannt «Müli-Sepp», noch bis in die frühen 1950er-Jahre weitergeführt. Der Wohntrakt wurde in Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege in den Jahren 2003/4 prächtig renoviert. Im Jahre 1817 errichteten zwei mutige Männer, Kaspar Fröhlich und Konrad Wellauer, westlich des Dorfes an der Lauche eine Baumwollspinnerei. Dieses Gewerbe und später die Mühle wurden durch ein Wasserrad angetrieben. Das dafür notwendige Wasser wurde in einem Kanal parallel zur Lauche an die Nordwand des damaligen Spinnereigebäudes geführt und danach wieder in den Talfluss geleitet. Das Wasserrad als Antriebselement wurde Jahrzehnte später durch eine Turbine ersetzt. Nach Aufgabe der Müllereitätigkeit übernahm die Firma F. Kaufmann AG in Stettfurt die letzte Turbine; sie steht seitdem – blau bemalt mit einem gelben Antriebsrad – vor dem Betriebsgebäude der genannten Firma. Zwischen Bach und Kanal führte schon damals das bestehende Strässchen Richtung Westen.

wachsender Konkurrenz bis 1990 in Betrieb; dem Mühlebetrieb war auch ein ansehnlicher Landwirtschaftsbetrieb angeschlossen. 1990 übernahm eine Familie Zurschmiede diese Liegenschaft ohne die Landwirtschaft; zuvor wurden die Mahlrechte an eine Mühle in Erlen verkauft. Die neuen Besitzer richteten in diesem Gebäude 4 Wohnungen ein.

Wegen ungenügender Rendite musste die Spinnerei in den 1830er-Jahren eingestellt werden. An dessen Stelle errichteten die Familien Fröhlich und Graf 1839 eine Getreidemühle – zuletzt bekannt als «Mühle Graf». Neben der Kundenmühle für Getreide wurde in einem Anbau an der Nordseite des Mühlegebäudes Raps und Nuss zu Oel gemahlen. Nach Aufgabe dieses Geschäftszweiges und Abbruch dieses separaten Anbaus wurde 1960 ein Getreidesilo zur höheren Mahlflexibilität erbaut; dieser besteht noch heute. Diese Getreidemühle blieb trotz

Zezikon. Am 29.4.1538 erhielt Hans Weber die dortige Mühle von einem F. von Heidenheim zu Lehen. Danach betrieben mehrere Lehensnehmer die Mühle, bis diese 1775 von Hans Adam Höppli käuflich erworben wurde. Um 1870 brannte die Mühle ab und wurde nicht mehr aufgebaut. An genau dieser Stelle wurde hernach ein Landwirtschaftsbetrieb erbaut; dieser wird derzeit von der Familie Nauer betrieben. Die Lauche, die zur «Mühlezeit» direkt bei der Mühle vorbei geflossen war, wurde später begradigt.

Bild Nr. 115 Mühle Graf


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Affeltrangen. Seit 1540 ist die Existenz einer Mühle in Affeltrangen nachgewiesen. Ein Erblehensbrief von 1590 zeigt an, dass der Mühle damals auch eine Sägerei zugeordnet war. 1895 ging dieser Mühlenbetrieb ein und sechs Jahre später übernahm eine Familie Linder die Sägerei; derzeit wird an dieser Stelle nur noch ein Holzhandel betrieben. Tobel. Auch in diesem Dorf ist seit 1635 eine Mühle bekannt; der damalige Müller war Hans Bär. Im Jahre 1716 wird auch eine Säge erwähnt. Die Herrschaft Tobel und damit auch die Mühle wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts vom jungen Kanton Thurgau übernommen. Um 1900 wurde diese Mühle stillgelegt, während die Sägerei noch weiter betrieben wurde. Der letzte Säger heisst Weber, der später die heutige Sägerei mit Hobelwerk an einem neuen Standort, an der Hauptstrasse südwestlich des Bahnhofes in Tobel errichtete. Kartoffel- und Gemüseanbau Zu einem besonderen Ackerbau-Produkt wurde auch bei uns die ursprünglich aus Südamerika stammende und via Spanien ins restliche Europa gelangte Kartoffel oder der Erdapfel. Bis ins 17. Jahrhundert noch als Teufelszeug geächtet, brauchte es die Teuerungs- und Hungerjahre 1770 – 72, um diesem vielfältigen Grundnahrungsmittel zum Durchbruch für alle Menschen zu verhelfen. Einem Artikel in der Thurgauer Zeitung vom 4.7.2013 entnehmen wir: «Die Kartoffel (Solanum tubersosum) ist nach Reis und Weizen die drittwichtigste Nahrungspflanze. Sie hat gar das Potential, das globale Hungerproblem zu lösen.» Eines der Gerichte der Kartoffel – die Rösti – wurde gar zum Nationalgericht der Schweizer.

Der Ackerbau sollte aber – auch durch die zunehmende Akzeptanz dieser neuen Ackerfrucht – nochmals eine ausserordentliche Aufwertung erfahren. Ende der 1930er-Jahre zeichnete sich die Möglichkeit eines kommenden Krieges ab. Die Konstellation der wahrscheinlichen Kriegsparteien liess befürchten, dass Importe massiv erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht werden könnten. Deshalb begann 1937 Bundesrat T.F. Wahlen einen Plan zur Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung zu entwickeln; der Plan wurde denn auch nach ihm benannt, aber im Volksmund als «Anbauschlacht» bezeichnet. Das daraus resultierende Gesetz zur Förderung des Ackerbaus wurde Ende 1940 erlassen. Aufgrund der Vorgaben dieses Gesetzes musste die Ackerfläche massiv ausgebaut werden; im Thurgau ergab sich aus diesen Auflagen eine Verdreifachung der Ackerfläche von 6 092 Hektaren vor dem Krieg auf 18 346 Hektaren im Jahre 1945. Entsprechend wurde die Ackerfläche im Lauchetal vergrössert. Sogar die Industrie wurde verpflichtet, für jeden Arbeitnehmer zwei Aren Ackerfläche zu bebauen; eine grossartige Leistung aller damaligen Verantwortlichen, insbesondere der Bauernschaft. Auch nach dem Krieg gab es behördliche Appelle, durch Anbauprämien unterstützt, den Getreidebau auszudehnen. Als Teil des Ackerbaus darf ein jüngerer Zweig nicht unerwähnt bleiben. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird in mehreren Teilen des Lauchetals in grossem Stil Gemüseanbau betrieben und zwar durch die «Gemüsekulturen Erwin Gamper», Stettfurt. Weitere Einzelheiten finden sich bei den «Portraits von Landwirtschaftsbetrieben» gegen Schluss dieses Kapitels.


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Seit Ende der 1970er-Jahre begann der initiative Unternehmer, nebst der Produktion diverser Gemüsesorten, die bis dahin hierzulande noch wenig bekannte Gemüseart «Chicorée» anzupflanzen und diese an Grossverteiler zu verkaufen. Das stark gewachsene Unternehmen beschäftigt derzeit im Sommer rund 100 Mitarbeiter; im Winter etwa die Hälfte. Rebbau Der genaue Zeitpunkt der Einführung von Reben in der Ostschweiz ist nicht restlos geklärt. Allgemein geht man davon aus, dass die Römer im Laufe der ersten Jahrhunderte nach Christus dieses edle Gewächs in die Schweiz und an den Bodensee gebracht haben. Der Rebbau in unserer Talschaft kann bis zurück ins 13. Jahrhundert nachgewiesen werden. Dieser wichtige Zweig der Landwirtschaft im Lauchetal wurde schon ursprünglich hauptsächlich, heute ausschliesslich, auf der Nordseite des Tales, also am Südhang des Imenbergs betrieben. «Diese Südhanglage im Lauchetal gehört» – so schreibt auch Jakob Stark in seinem bereits zitierten Werk – «neben den Südhanglagen im Thur- und Seebachtal zu den Regionen, in welchen die besten Qualitätsweine im Thurgau wachsen.» Im 19. und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dieser Landwirtschaftszweig eine Haupterwerbsquelle für die Bauern in den Gemeinden entlang des genannten Hügelzuges. Allerdings waren nur wenige Bauern auch selbst Besitzer von grösseren Parzellen Rebland. Dagegen bearbeiteten viele Talbauern das Rebland im Auftrag der grossen Rebbergbesitzer. Dies waren zu jener Zeit: die Herrschaft Sonnenberg, die Klöster Tänikon, Magdenau

und Fischingen, die Komturei Tobel und, so eigenartig dies tönt, auch das Spital Wil. Der letztgenannte Besitz rührte aus altem st.-gallischem Klosterbesitz; dafür existierte seinerzeit in Stettfurt sogar eine eigene Trotte, die «Spitaltrotte». Diese Besitzverhältnisse haben sich im 19. und 20. Jahrhundert fundamental verändert. Im Mittelalter und bis in die beginnende Neuzeit war der Rebberg im Lauchetal das grösste zusammenhängende Rebbaugebiet im Thurgau; es erstreckte sich von Matzingen/Halingen via Stettfurt, Kalthäusern und Weingarten bis nach Wetzikon/Wilderen auf einer Länge von 7 – 8 Kilometern. Wieder einmal dürfen wir dazu den Chronisten Stumpf zitieren und zwar wie folgt: «Gleich under Wenge zwüschend Wyl und Frowenfeld auf der rechten Seyten der Murk, ein wenig vondan ligt ein schön Weyngebirg, genennt der Ymmenberger. In Mitten auf einem Vorspitz des selbigen Bergs ligt das Schloss Sonnenberg.» Der Rebbau ist sehr arbeitsintensiv und vielfältig und ist zudem äusserst witterungsabhängig. Die Weinlese wurde in den einzelnen Weinbaugemeinden auf Gemeindeebene geregelt. In Matzingen z.B. wurde jährlich an einer «Herbstgemeinde» die Weinlese für ihre Weinberge wie folgt festgelegt: «Ehe der Messmer die grosse Glocke läutet» – schreibt der Matzinger Chronist Jakob Stutz – «soll niemand sich erfrechen, in die Reben zu gehen, so auch am Abend nach dem Läuten niemand mehr sich dort aufhalten darf.» Gegen Übertretungen – der Dorfweibel ist für die Einhaltung dieser Vorschrift zuständig – wurden Bussen verhängt. In jüngerer Zeit bestimmt der Käufer oder der Kelterer (Verarbeiter) der Weintrauben den Zeitpunkt der Ernte.

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Das Landwirtschaftsamt setzt mittels Entscheid die Höchstmenge für die Traubenernte (Kilogramm Trauben pro Quadratmeter) und den Mindestzuckergehalt (Grad Oechsle) fest und veröffentlicht diese Daten im Amtsblatt. Das Landwirtschaftsamt entscheidet zudem über die Aufnahme von Land in den Rebbaukataster. Der bis Ende des 19. Jahrhunderts forcierte Rebbau im Lauchetal führte dazu, dass neben Most auch Wein zum Hauptgetränk wurde. Trotzdem resultierte eine Überproduktion – man achtete mehr auf Quantität und vernachlässigte die Qualität. Die Folge davon war ein markanter Preiszerfall. Die grosse Katastrophe ereignete sich jedoch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Bereits um 1880 wurde das Insekt «Phylloxera», auf Deutsch Reblaus, als Gefahr erkannt. 1896 wurde die Reblaus im Lauchetal zuerst am «Trötteli» bei Weingarten entdeckt. Sie verbreitete sich aber rasch auf dem ganzen Rebhang im Lauchetal. Praktisch sämtliche Rebstöcke wurden von diesem Insekt zerstört; man liest von rund 350 000 Stöcken, die ausgerottet werden mussten. Dies führte dazu, dass einige Betriebe, die sich auf Rebbau konzentriert hatten, Konkurs anmelden mussten. Viele Arbeitsplätze gingen verloren und der Beruf des Küfers starb nahezu aus. In Zusammenhang mit dem Weinbau entnehmen wir aus einem Artikel der Thurgauer Zeitung aus dem Jahre 1921 Folgendes: «Noch vor hundert Jahren spielte der Wein bei uns eine viel grössere Rolle als heute. Der Wein galt nicht als Genussmittel, sondern als Lebensmittel. Kornund Weinpreise entschieden über gute oder schlechte Jahre. Fast jede Sonnenhalde trug Reben, und wo sie heute schon seit Menschengedenken verschwunden

sind, deuten Flurnamen wie Wingerten,» (in Stettfurt kennt man Alt-Wingerten, Glas-Wingerten und HeinisWingerten) «Rebbühl, Rebacker auf sie hin. Weinberge in bevorzugten Lagen zu erwerben war der Ehrgeiz der Klöster und reichen Herren. Auch das «Gottshaus» Fischingen besass Reben am Imenberg – zu Stettfurt, Kalthäusern und zu St. Margrethen. Es liess sie durch Rebleute im Taglohn oder in Pacht bearbeiten.» Krisen bedeuten häufig auch Chancen. Die Reblaus hat die Rebbergbesitzer genötigt, nur noch an geeigneten Orten das Geschäft mit neuen, auf hohe Qualität ausgerichteten Weinstöcken, weiter zu betreiben. Viele Rebhänge verschwanden; geblieben sind – nicht mehr zusammenhängend – jene in Stettfurt, Kalthäusern, Weingarten und Wetzikon. Hier werden nun Qualitätsweine erzeugt, die überregionale Bekanntheit erlangten. Aus Stettfurt stammen der «Sonnenberger Pinot noir», die Weissweine «Sauvignon blanc» und «Chardonnay» sowie der «Federweiss»; aus Weingarten kennen wir den «Müller Thurgau» (eine Kreuzung aus der Riesling und der Sylvaner Traube), den «Wygärtler», den «Blanc de noir» und sogar einen Schaumwein mit der Bezeichnung «Perl». Bewirtschaftet werden die Rebberge von Stettfurt und Weingarten mehrheitlich vom Rebenbewirtschaftungs-Ehepaar Roth in Weingarten. Milch- und Viehwirtschaft, Käsereien Die Vieh- und Milchwirtschaft sind heute die bedeutendsten Zweige der Landwirtschaftsbetriebe im Lauchetal. Das war aber nicht seit jeher so. Dieser Zweig der Landwirtschaft hatte im Lauchetal bis über das Mittelalter hinaus wenig Bedeutung. Für


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den Milchbedarf einer Familie genügte eine Kuh; Käse kannte man damals in unserer Region noch nicht. Während den Sommermonaten blieb das noch in kleinen Stückzahlen vorhandene Vieh konstant auf der Weide. Die Heuvorräte für den Winter waren oft zu klein, um die Tiere über mehr als vier Wintermonate zu füttern. Dauerte der Winter länger, musste dem Vieh frisches Tannenreis (Chris) gefüttert werden, was nicht ohne Folgen für die Gesundheit der Tiere blieb. Wichtiger denn als Milchlieferanten waren die Tiere damals als Zugvieh; dabei wurde der Kuh oft auch ein Ochs beigestellt. Für den Fleischbedarf wurde da und dort auch ein Schwein gehalten.

Mit dem Aufkommen von internationalen Eisenbahnverbindungen entstand für den hiesigen Getreideanbau eine ernsthafte Konkurrenz; diese Produkte konnten aus dem Ausland billiger importiert werden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ging dadurch der Getreideanbau zurück; dafür wurden die Viehbestände nach und nach erhöht. Der Ackerbau verlor also an Bedeutung zu Gunsten der Vieh- und Milchwirtschaft. Für die Milchverarbeitung – mittlerweile wurde auch hierzulande Käse hergestellt – entstand in fast jedem Dorf eine Käserei. Als erste im Tal ist jene von Affeltrangen aus dem Jahre 1870 bekannt. In den folgenden drei

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Dekaden entstanden weitere Käsereien; Mitte des 20. Jahrhunderts bestanden insgesamt vierzehn(!) Käsereien im Tal. 1907 wurde der Schweizerische Milchproduzentenverband gegründet. Nach dem ersten Weltkrieg begann die Zeit der staatlichen Interventionen in der Landwirtschaft; es wurden Absatzpreise, z.B. für die Milch, festgelegt. Gesamtschweizerisch und auch im Lauchetal nahm die Milchproduktion laufend zu; erste Milchkontingentierungen wurden in den Jahren 1933 – 1936 sowie 1938 ff. verfügt. Während des Zweiten Weltkrieges wurde umgekehrt zeitweise gar eine Milchrationierung eingeführt. Mit der Mechanisierung im Stall nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Milchproduktion weiter stark zu. In den 1960er-Jahren kamen Wörter auf wie «Milchsee» und «Butterberg»; es gab in jener Zeit eine markante Überproduktion von Milch. Nach langen agrarpolitischen Auseinandersetzungen musste der Bundesrat auf den 1. Mai 1977 eine tiefgreifende Milchkontingentierung erlassen. Jeder Landwirt erhielt ein Kontingent zugeteilt, das in der Regel seiner Ablieferung im Milchjahr 1975/76 entsprach. Diese staatliche Regelung – sie dauerte immerhin 32 Jahre – brachte eine Beruhigung im Milchmarkt, löste das Problem aber nur teilweise, weshalb das Eidgenössische Parlament auf den 1. Mai 2009 diese Mengen- und Preisregulierung wieder aufhob. Der Milchmarkt sollte durch initiative und unternehmerisch denkende Bauern im freien Markt geregelt werden. Die Folgen waren: Eine markante Senkung des Milchpreises für die Milchproduzenten und die Milchmenge nahm zu. Einige Bauern gaben deshalb die Milchproduktion auf und stellten auf Mutterkuhhaltung um.

Die im Jahr 2007 eingeführte Liberalisierung des Schweizer Käsemarktes ergab auch eine Preissenkungswelle bei den Milchverarbeitern für deren Produkte. Diese Entwicklung führte auch im Lauchetal zu einer völlig neuen Milchmarktsituation. Ab Ende des 20. Jahrhunderts setzte ein veritables «Käsereisterben» ein. Von den einst vierzehn Betrieben im Tal sind gerade noch drei übriggeblieben, nämlich diejenigen von Affeltrangen, Lommis und Lanterswil. Letzterem wird zur Gewährleistung der angestammten «Emmentalerproduktion» zusätzlich Milch aus der Käserei Wängi zugeführt. Grundsätzlich war ab 1. Mai 2009 jeder Milchproduzent frei, einen Abnehmer zu suchen. Sinnvolle Hilfestellung konnten hierbei die Käsereigenossenschaften bieten, indem sie für ihre bisherigen Milchproduzenten andere Milchabnehmer und -verarbeiter vermittelten. Ein solcher Abnehmer ist z. B. die Käserei Kurmann*) in Lommis. *) Käserei AHS Kurmann GmbH, Lommis. Vater Kurmann mit zwei Söhnen begannen ihre Tätigkeit in Lommis am 1. November 1997. Sie verarbeiten die bei ihren Vertragspartnern jeden Morgen abgeholte Milch zu Emmentaler Käse und Schlagrahm. Sie nehmen aber nur Milch von Bauern, die ihre Tiere nicht mit Silofutter füttern. Grundsätzlich erstellen sie mit jedem Michproduzenten einen Vertrag. Im Falle eines Vertrages mit einer Käsereigenossenschaft müssen sämtliche Bauern, die ihre Milch an Kurmann liefern, den Vertrag mitunterzeichnen. Im Schnitt beträgt die tägliche Milcheinlieferung rund 7500 Liter und damit stellen sie täglich 7 Laib Emmentaler zu rund 100 kg her.


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Die Käserei Kurmann, wie alle übrigen Milchhändler und Milchverarbeiter, müssen jährlich einen TätigkeitsRapport erstellen, worin die Milchanlieferungen aus ihrem Vertragsgebiet sowie die Verarbeitung in die verschiedenen Produkte und die weitergelieferte Restmilch aufgeführt sein müssen. Diese Rapporte gehen an die «Treuhandstelle Milch» zu Handen des Bundesamtes für Landwirtschaft. Am Beispiel der Käsereigenossenschaft Stettfurt – hier stellte die Käserei ihren Betrieb bereits per 1. Mai 2000 ein – wollen wir aufzeigen, wie die neue lokale Milchmarktlösung aussieht. Die Käsereigenossenschaft Stettfurt konnte mit der Käserei Kurmann einen Vertrag abschliessen. Darin sind sowohl die Lieferpflicht als auch der Abnahmepreis vereinbart. Dieser kann in Abhängigkeit des Käsepreises zwar schwanken, bleibt aber jeweils mindestens für einen Monat fest. Zudem hat sich der Vertragspartner verpflichtet, die Milch bei den Stettfurter Milchproduzenten – derzeit gerade noch sechs – täglich abzuholen. Die Käserei Kurmann, Lommis ihrerseits verarbeitet diese Milch zusammen mit derjenigen der Milchproduzenten von Lommis und Oppikon sowie zwei Betrieben aus Bettwiesen. Die nicht selbst verarbeitete Milch liefern sie an umliegende Käsereien nach deren Bedarf und zu einem geringeren Teil an die Nordostmilch AG*), eine regionale Milchhandelsorganisation. In der Viehwirtschaft kam bereits im 19. Jahrhundert die Geflügelhaltung dazu. Die Eierproduktion und die Pouletmast sind heute bedeutende Erwerbszweige der Landwirtschaft. Nur wenig später begann die Haltung

*) Nordostmilch AG. Diese Firma hat ihren Sitz in Winterthur. Ihr sind alle Lauchetaler Milchproduzenten durch ihre Zwischenhändler oder Verarbeiter angeschlossen. Diese liefern nicht selbst verarbeitete Milch an die Nordostmilch AG. Die Nordostmilch AG realisiert für ihre Milchproduzenten (Aktionäre) Absatzsicherheit und einen überdurchschnittlichen Milchpreis, indem sie ihre Milch gebündelt prioritär an Kunden in strategischen Partnerschaften vermarktet. Die Nordostmilch AG ist eine der 8 MilchhändlerOrganisationen, die dem Dachverband «Schweizer Milch Produzenten» (SMP) angeschlossen sind.

von Schafen und Ziegen. Zudem tauchen seit wenigen Dekaden auch Tiere auf, die nicht aus unserer Region stammen. Zu erwähnen sind etwa Heidschnucken (sie stammen aus nördlichen Gebieten), Schottische Hochlandrinder (Herkunft im Namen) sowie gar aus Südamerika stammende Lamas und Alpacas; die meisten dieser Exoten eignen sich als «Fleischlieferanten». Obstbau Zuerst ein Zitat aus der «Thurgauer Geschichte» von Ernst Herdi: «So richtig thurgauisch wird uns aber erst zumute, wenn wir hören, dass im Jahr 812(!) allbereits ein Karren Speiseobst und zwar dreiunddreissig halbe Eimer «Schnitz» als Zins abgeliefert werden konnte.» Im Lauchetal ist der Obstbau ein eher vernachlässigbarer Zweig der Landwirtschaft, auch heute noch. Es ging auch nur um Apfel-, Birnen- und Nussbäume und diese wurden zumeist in der Nähe der Häuser in sogenannten Baumgärten angelegt. Hauptgrund ist das für den Obstbau eher ungeeignete Klima; so ist es z.B. im Talgrund immer etwa 2 – 4 °C kälter als an den Talrändern;

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zudem gibt es im Tal häufig Zugluft und im Frühling oft Frost. Beides ist den Obstbäumen gar nicht zuträglich. Der Grossteil der hiesigen Apfel- und Birnbäume trägt Mostobst und die Früchte werden zu bekömmlichem Most verarbeitet. Most war im Mittelalter ein weit verbreitetes Getränk; es wurde zumeist aus je einem Drittel Apfel- und Birnenmost sowie einem Drittel Wasser serviert; oftmals schon zum Frühstück, sicher aber zum «Znüni», zum Mittagessen und zum «Zvieri». Etwas Tafelobstbau finden wir noch in Weingarten und am Westrand von Affeltrangen. Als Folge der Abnahme von verfügbaren Arbeitskräften wurden ab den 1940er-Jahren im ganzen Kanton vermehrt Niederstammbäume gepflanzt und zwischen 1950 und 1960 in einer Fällaktion 97 000 Hochstammbäume eliminiert. Eine erwähnenswerte Besonderheit finden wir noch bei Ernst Herdi. «Die Bienenzucht» – so schreibt er – «spiele eine bedeutende Rolle, weil der Naturhonig damals der einzige Süssstoff war. Später wurde auch Bienenwachs für Kerzen begehrt.» Faktoren zur Effizienz- und Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft Grundsätzlich können wir drei Faktoren nennen, die markant zur Erzielung höherer Arbeitseffizienz und höherer Produktionsleistung beitragen. Es sind dies: Die Entwässerung (Entsumpfung oder Drainage) pfluguntauglicher Gebiete, die Güterzusammenlegungen (diese beiden Faktoren werden oft unter dem Begriff Meliorationen*) zusammengefasst), sowie der Einsatz von Maschinen und Arbeitsgeräten. All diese Massnahmen betreffen in hohem Mass unser Lauchetal.

*) Das Meliorationswesen im Thurgau. Darunter versteht man langfristig wirksame Strukturverbessungsmassnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Ertragsfähigkeit des Kulturlandes und zur langfristigen Nutzung durch die Landwirtschaft. Sie umfassen vor allem Entwässerungen (Entsumpfungen) und Güterzusammenlegungen sowie den Wegbau in der Landwirtschaftszone.

Bodenentwässerungen Das Lauchetal war – wie bereits früher erwähnt – auf Grund seiner geologischen Entstehung und der grossflächigen Ebenen entlang des Talflusses – eingebettet in zwei Ost-West verlaufende Hügelzüge – bis ins 19. Jahrhundert stark sumpfig. Deshalb konnte hier, wie auch in andern Teilen des Thurgaus, die Landwirtschaft nur ungenügende Erträge erwirtschaften. Beidseits des Flusses wuchs nur Streugras und solche Gebiete wurden zumeist als Weideland genutzt. Der Schlüssel zur Problemlösung war die Entwässerung des Bodens entlang der Lauche. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen diesbezügliche Massnahmen. Zunächst konnten mit offenen Gräben kleine Erfolge erzielt werden. Ende der 1840er-Jahre reiste der Landwirtschaftslehrer Moosheer in dieser Sache nach England und Belgien. Dort fand er eine Methode zur Bodenentwässerung, welche schon die Römer praktiziert haben sollen, nämlich das Verlegen von Tonröhren 1,5 – 2,5 m unter den Boden. Mit dieser Methode konnte das Kulturland in wenigen Jahren markant entwässert werden und es wurde damit für den Anbau verschiedener Produkte geeignet. Die Erträge solcher Produkte konnten in den entwässerten Gebieten teilweise mehr als verdoppelt werden. Auf Grund dieser Erkenntnisse wurden auch Anleitungen zum praktischen Vorgehen für die Drainage geschrieben und


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publiziert. Eine davon ist diejenige von J. Kopp aus dem Jahre 1865 mit dem Titel «Anleitung zur Drainage», verfasst im Auftrag des landwirtschaftlichen Vereins des Kantons Thurgau. Schon während des ersten Weltkrieges wurden in Märwil und ab 1921 in Affeltrangen und Lommis erste Bodenentwässerungen realisiert; zum Glück wurde dabei das kleine Naturparadies «Märwiler Ried» (siehe Kapitel «Der Bach, der dem Tal den Namen gab») erhalten. Die Bodenentwässerungen erfolgten zumeist in Verbindung mit lokalen Güterzusammenlegungen. Neben den grossen Erfolgen der Bodenentwässerungen wurden die Tatsachen zweitrangig, dass dadurch die Torfgewinnung in mehreren Teilen des Tales unmöglich wurde und auch die Streugrasernten erheblich zurückgingen. Gesamtmeliorationen wurden im Lauchetal aus kriegswirtschaftlichen und finanziellen Gründen in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg verlegt. Lommis. In den Jahren 1978 – 1995 wurde in der Gemeinde Lommis, zusammen mit Bettwiesen und einigen angrenzenden Gebieten, eine Gesamtmelioration (Güterzusammenlegungen, Entwässerungen und Flurstrassenbau) durchgeführt. Die früher getätigten ersten Bodenentwässerungen konnten zumeist beibehalten werden. Details finden sich in der Broschüre «Schlussbericht der Güterzusammenlegungskorporation Lommis-Bettwiesen 1978 – 1995» vom 1.9.1995. Affeltrangen. Für die neu formierte Gemeinde Affeltrangen, bestehend aus den Orten Affeltrangen, Märwil, Buch und Zezikon, wurde – nach einer

Vorbereitungszeit von über 20 Jahren – eine Gesamtmelioration in den Jahren 1980 – 2011 realisiert. Auch hier konnten bestehende Entwässerungsanlagen in das Gesamtprojekt eingebunden werden. Für Einzelinformationen verweisen wir auf die Broschüre vom 7. März 2011, herausgegeben vom Vorstand Güterzusammenlegung Affeltrangen, sowie dem Landwirtschafts- und Forstamt des Kantons Thurgau. Stettfurt. In dieser Gemeinde wurden schon in den Jahren 1905 – 1925 kleine korporative Entwässerungsanlagen erstellt. Diese konnten später mit dem Gesamtmeliorationsprojekt einschliesslich einer Absenkung der Lauche kombiniert werden, was zwischen 1953 und 1963 realisiert wurde. Weitere wichtige Informationen finden sich im Schlussbericht der «Güterzusammenlegung Stettfurt» vom 15.8.1967, herausgegeben vom Meliorationsamt des Kantons Thurgau. Matzingen. Hier wurden während und nach dem ersten Weltkrieg (1914/15, 1918/19, 1933 und 1945) kleinere korporative Entwässerungsanlagen erstellt. 1957 wurde das Gesamtmeliorationsprojekt an die Hand genommen und im Herbst 1965 abgeschlossen. Einige Nacharbeiten in der Entwässerung und im Strassenbau erfolgten im Jahre 1969. Für Einzelheiten verweisen wir auf den Schlussbericht «Güterzusammenlegung Matzingen» vom 20.1.1970, herausgegeben vom Meliorationsamt des Kantons Thurgau. Tobel. Diese Gemeinde realisierte ihr Gesamtmeliorationsprojekt zusammen mit den Gemeinden Tägerschen und Braunau sowie angrenzenden Gebieten von andern Gemeinden. Die Ausführung, inklusive der auch

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in andern Gemeinden stets vorzunehmenden Vermessung, erfolgte in diesen Gemeinden im Jahre 1980 und endete im Jahre 2006. Detaillierte Angaben sind im «Schlussbericht der Gesamtmelioration Tobel 1979 bis 2006» vom 7.3.2011 zu finden. Güterzusammenlegungen Als Folge der Aufgabe der Dreizelgenwirtschaft begannen initiative Bauern zur Produktionsausweitung Landparzellen zuzukaufen, wo immer solche verfügbar waren. Das führte zu einer zusätzlichen Zerstückelung des Landbesitzes der Bauern mit langen Arbeitswegen. Die Folge war eine schlechte Arbeitseffizienz. Zudem erschwerte dies den wirtschaftlichen Einsatz moderner Maschinen und Geräte. Obwohl grundsätzlich jeder Bauer an seinem eigenen Land hing, setzte sich nach und nach die Erkenntnis durch, dass es sinnvoll wäre, gemeinsam eine koordinierte Zusammenlegung von Landparzellen einschliesslich der Waldparzellen zu erzielen. Diese Umverteilung mit der Bezeichnung Güterzusammenlegung wurde im Rahmen von Korporationen, wie oben erwähnt, parallel zu Bodenentwässerungen als Gesamtmeliorationen durchgeführt. Nach durchgeführter Neugliederung des Kulturlandes musste dann jeweils noch die Vermarkung vorgenommen werden. Das grösste Problem bei diesen Güterzusammenlegungen, welches nicht selten zu Streitigkeiten führte, war jeweils die Bewertung der einzelnen Landparzellen. Für den gewünschten Erfolg dieser Güterzusammenlegungen, nämlich der Optimierung der Arbeitseffizienz

und damit der Verbesserung der Ertragskraft der Betriebe, waren die zweckmässige Arrondierung sowie der Bau eines zweckdienlichen Flurstrassennetzes sinnvolle Ergänzungen. Die erste derartige Aktion im Kanton Thurgau wurde bereits 1865 in Mauren durchgeführt. In den Gemeinden des Lauchetals wurden entsprechende Beschlüsse, wie im vorangehenden Abschnitt aufgezeigt, erst im 20. Jahrhundert gefasst und realisiert. Zwei Beispiele verdeutlichen die tiefgreifenden Ergebnisse von Güterzusammenlegungen. Aus der Chronik «Zezikon» von Hans Matthey entnehmen wir: «Fritz Haas bewirtschaftete im Zusammenlegungsgebiet vor der GZ total 406,8 Aren auf 11 Parzellen; er verlor bei dieser Aktion zwar etwa eine halbe Hektare, bewirtschaftete aber nach der GZ total 346 Aren auf gerade noch zwei Parzellen von 166 und 180 Aren.» Aus dem Buch «Stettfurt im 20. Jahrhundert» von Heinz Roggenbauch entnehmen wir: «Gottlieb Nussberger besass zur Zeit der GZ 10 Hektaren Land, welches vor der GZ auf 30 Parzellen aufgeteilt war; nach der GZ waren die gleichen 10 Hektaren auf gerade noch 4 Parzellen verteilt.» Ein eindrückliches Beispiel gibt es auch aus der Gesamtmelioration der Gemeinden Tobel/Tägerschen/ Braunau. Hier entstanden bei 920 Hektaren Flurfläche mit ursprünglich 725 Parzellen gerade noch deren 295. Es darf hier festgehalten werden, dass im Bereich Meliorationen die jeweils zuständigen örtlichen und kantonalen Behörden im Interesse unserer Bevölkerung gross­ artige Arbeit geleistet haben. (siehe dazu Bilder auf der folgenden Seite)


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Bild Nr. 116 · Landparzellen-Aufteilung in einem Teil von Stettfurt vor der Melioration Mitte der 1950er-Jahre

Bild Nr. 117 · Landparzellen-Aufteilung im gleichen Teil von Stettfurt nach der Melioration Mitte der 1950er-Jahre

Maschinen und Arbeitsgeräte Zwei Hauptgründe haben dazu geführt, dass die Kon­ struktion von Arbeitsgeräten und Maschinen erforderlich wurde. Einerseits war es der ab dem 19. Jahrhundert sich abzeichnende und ab Mitte des 20. Jahrhunderts sich zuspitzende Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft; dieser konnte zwar in kleinerem Umfange durch ausländische Arbeitskräfte – anfangs hauptsächlich aus

Italien – kompensiert werden. Anderseits war dies die zunehmende Nachfrage nach Landwirtschaftsprodukten als Folge der Bevölkerungszunahme. Arbeitsgeräte im Ackerbau. Es war früh bekannt, dass die Erde für den Getreidebau jährlich gelockert und gewendet, nach heutiger Ausdrucksweise gepflügt werden musste. Dafür wurden ursprünglich sogenannte

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Geschnitten wurde Getreide ursprünglich mit der Sichel; ab dem 19. Jahrhundert wurde diese durch die Sense verdrängt. 1895 kam die von der Firma «Aebi», Burgdorf entwickelte Gespannmähmaschine (auch fürs Grasmähen) zum Einsatz. Später wurden Traktoren auch zum Mähen von Getreide eingesetzt. Schliesslich wurden Mähdreschmaschinen entwickelt, die gleich zwei oder in Kombination mit der Strohballenerzeugung gar drei Funktionen erfüllten. Entwickelt wurden weitere Erntemaschinen, wie z.B. auch der «Kartoffelernter».

Bild Nr. 118 Selbsthalter-Pflug

Grabstöcke eingesetzt bevor der Pflug erfunden wurde. Dieses Arbeitsgerät war eine Art Meilenstein im Ackerbau. Viel wurde an diesem Gerät getüftelt und verbessert. Entwicklungsstadien waren hier der «AargauerPflug», der «Brabanter-Pflug», der «Dombasle-Pflug» und schliesslich der ganz aus Eisen hergestellte «Selbsthalter-Pflug»; letzterer war über viele Jahrzehnte im Einsatz. Mit der Motorisierung ging diese Entwicklung weiter; ein modernes Gerät heute ist der traktorgezogene «Anbau-Vierscharvolldreh-Pflug» (siehe Bild Nr. 119).

Arbeitsgeräte als Zughilfen. Zunächst waren dies Kühe und Ochsen, später Pferde. (Wir verweisen auf Bild Nr. 111 in diesem Kapitel.) Ab Mitte der 1930erJahre kamen die motorisierten Zuggeräte auf. Die Firmen «Hürlimann» und «Bührer» brachten in der Schweiz die ersten Traktoren auf den Markt. Mit ihnen wurden auch die Gespannmähmaschinen nach und nach überflüssig. Während des zweiten Weltkrieges mussten die Traktoren (auch die Lastkraftwagen) auf Holzgas-Betrieb umgestellt werden, weil der Treibstoffbezug stark eingeschränkt wurde. Die Traktoren kamen in einer grossen Vielfalt, teils für spezielle Einsatzgebiete, auf den Markt. Auch an diesem Arbeitsgerät gab es laufend Weiterentwicklungen; eine solche waren z.B. Traktoren mit Dreipunkt-Hydraulik. Das ist eine Vorrichtung zum Anbau verschiedener Geräte, die jeweils an drei Punkten am Traktor befestigt werden. Eine weitere Möglichkeit sind Traktoren zur Kraftübertragung mittels Zapfwelle. In den 1950erJahren kamen die günstigeren Einachstraktoren als Zugund Mähgeräte auf.


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Arbeitsgeräte mit elektrischem Strom. 1905 wurde das Elektrizitätswerk des Kantons Thurgau gegründet. Zu jener Zeit kam die elektrische Energie nach und nach auch in alle Dörfer im Lauchetal. Strom wurde zunächst als Lichtquelle genutzt, bald aber auch als Ersatz für Muskelkraft, z.B. für Jauchepumpen, Stroh- und Futterschneider, Dreschmaschinen sowie für Wein- und Obstpressen, Heubelüfter, Melkmaschinen usw. Die Beschaffung von Arbeitsgeräten war für kleinere und mittlere Betriebe oft ein finanzielles Problem. Dies führte u.a. dazu, dass einerseits kleine Betriebe nach und nach eingingen. Als Unterstützung für viele Betriebe entstanden anderseits Selbsthilfegesellschaften, welche grössere Maschinen und teure Geräte kauften und sie an Bauern auf der Basis von einschlägigen Reglementen gegen Entschädigung auslehnten. Landwirtschaft aktuell Bevor wir einige Landwirtschaftsbetriebe aus dem Lauchetal vorstellen, wollen wir hier wichtige Voraussetzungen für die aktuelle und künftige Führung von Landwirtschaftsbetrieben darstellen. Rechtliche Rahmenbedingungen Die Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung ist eine wichtige Aufgabe des Staates. Die Landwirtschaft hat dazu als einziger Wirtschaftszweig einen Verfassungsauftrag, den Artikel 104 der Bundesverfassung, worin u.a. geregelt ist: «Der Bund sorgt dafür, dass die Landwirtschaft durch eine nachhaltige und auf den Markt ausgerichtete Produktion einen wesentlichen Beitrag leistet zur:

· sicheren Versorgung der Bevölkerung, · Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Pflege der Kulturlandschaft, · dezentralen Besiedlung des Landes.» Die Landwirtschaft ist der am umfassendsten regulierte Bereich der Wirtschaft. Neben dem «landwirtschaftlichen Grundgesetz», dem Landwirtschaftsgesetz vom 29. April 1998, bestehen weitere 16 Bundesgesetze und eine weit grössere Zahl von Verordnungen; hinzu kommen die kantonalen Gesetze und Verordnungen.

Bild Nr. 119 Traktorgezogener Dreischarvolldreh-Pflug – gibt es auch als Vierscharvolldreh-Pflug


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Darauf abgestützt und in Beachtung der Entwicklungen der Nahrungsmittelproduktion erstellt der Bundesrat periodisch Botschaften zum Zahlungsrahmen Landwirtschaft, mit welchen die finanziellen Mittel dem Parlament beantragt werden, sowie Botschaften zur Weiterentwicklung der Agrarpolitik. Im Frühling 2013 hat das Parlament die Agrarpolitik 2014 – 2017 mit grossem Mehr gutgeheissen. Mit der Änderung des Landwirtschaftsgesetzes und weiterer Gesetze sowie mit finanziellen Mitteln für diese Periode soll eine langfristig wettbewerbsfähige und nachhaltige, auf hohe Qualität ausgerichtete Nahrungsmittelproduktion in der Landwirtschaft unterstützt werden. Das Kernelement ist das neue Direktzahlungssystem. Es ist zielgerichteter als das bisherige und soll die gemeinwirtschaftlichen Leistungen der Landwirtschaft besser abgelten. Das sind die rechtlichen Rahmenbedingungen für das praktische Handeln jedes einzelnen Landwirts. FHAL CH – EU Die Schweiz hat im November 2008 mit der EU Verhandlungen über ein Abkommen in den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittel- und Produktionssicherheit sowie öffentliche Gesundheit (FHAL&GesA) aufgenommen. Angestrebt wird eine Marktöffnung der gesamten ernährungswirtschaftlichen Produktionskette sowie eine verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen Lebensmittel- und Produktionssicherheit sowie öffentliche Gesundheit. In einer ersten Phase kamen die Verhandlungen gut voran. So wurden beispielsweise im Verhandlungsteam «Marktzugang und Agrarbereich»

erste wichtige gemeinsame Nenner gefunden. Seit Mitte 2010 sind die Verhandlungen jedoch blockiert. Für die Blockierung der Verhandlungen gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Einerseits macht die EU weitere Fortschritte in den offenen Marktzugangsdossiers abhängig von Resultaten der Diskussion über die horizontalen institutionellen Fragen (Verhältnis Schweiz – EU). Anderseits bestehen immer noch Differenzen über den Verhandlungsgegenstand, da die Verhandlungsmandate der beiden Parteien bei zwei wichtigen Punkten (Konsumentenschutz und nicht-harmonisierter Bereich – gegenseitiges «Cassis de Dijon-Prinzip» – voneinander abweichen. Der Bundesrat hat im Juni 2013 eine wichtige Weichenstellung vorgenommen, indem er seine Bereitschaft zu Verhandlungen über die institutionellen Fragen kundgetan und entschieden hat, welche konkrete Option er diesbezüglich weiterverfolgen will. Im Sommer 2013 sind die Verhandlungen Schweiz-EU immer noch blockiert. Mittlerweile erfährt die umfassende Marktöffnung im Agrar- und Lebensmittelbereich auch von Seiten des Parlamentes starken Widerstand. Mögliche Folgen einer umfassenden Agrar- und Lebensmittelmarkt Öffnung. In der Schweiz wurden mittlerweile von verschiedenen Institutionen unabhängige Studien erstellt, welche die Auswirkungen der Einführung eines solchen Abkommens Schweiz – EU auf die Schweizerische Landwirtschaft aufzeigen. Unter Beachtung des Beispiels Oesterreich und in Berücksichtigung bestimmter Begleitmassnahmen (Überbrückungshilfen) sowie erforderlicher struktureller Anpassungen in mehreren Teilbereichen der


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Landwirtschaft, ergeben diese Studien langfristig eine positive Entwicklung. Gesamthaft werden folgende Schlüsse gezogen: · Chancen ergeben sich aus dem Zugang zum EUMarkt mit rund 500 Mio. Konsumenten und Konsumentinnen sowie durch Senkung der Rohstoffpreise, unter anderem für Saatgut, Dünger und Futtermittel. · Herausforderungen ergeben sich aus einer markanten Senkung der Preise für Landwirtschaftsprodukte durch verstärkten Importdruck, insbesondere bei Fleisch, Milch, Getreide, Obst und Gemüse. Jeder Bauer als Unternehmer ist gehalten, seinen Betrieb hinsichtlich dieser möglichen neuen Herausforderungen zu überdenken und notwendige Anpassungen – Veränderung seiner Produktionssparten, Rationalisierungen, Zusammenarbeit mit Berufskollegen usw. – vorzubereiten, um sie zu gegebener Zeit realisieren zu können. Staatliche Unterstützungen. Um unseren Landwirtschaftsbetrieben angemessene Existenzsicherheiten einzuräumen, existieren einerseits auf Landwirtschaftsprodukten Importschranken in Form von Einfuhrkontingenten für bestimmte Produktgruppen. Anderseits gewährt der Bund den Landwirten sogenannte Direktzahlungen als Abgeltung für die ökologischen und gemeinwirtschaftlichen Leistungen. Im Übrigen aber gibt es derzeit für Landwirtschaftserzeugnisse keinerlei staatliche Preisregulierungen mehr.

Ausbildung. Der Beruf des Landwirts ist sehr vielfältig und erfordert eine breite Ausbildung. Zunächst geht es um Allgemeinkenntnisse in allen landwirtschaftlichen Bereichen. Besonders wichtig sind sodann Detailkenntnisse in den Produktionssparten, die ein Landwirt betreiben will (Vieh-, und Milchwirtschaft, Acker-, Gemüse-, Reb-, Beeren- und Obstbau). Überdies ist es sehr hilfreich, wenn er über verschiedene handwerkliche Fähigkeiten (z.B. zum Reparieren von Maschinen usw.) verfügt, um damit Fremdkosten zu sparen und die Winterzeit sinnvoll zu nutzen. Auch betriebswirtschaftliche Kenntnisse sowie Buchführung sind von grosser Wichtigkeit. Weiterbildung ist eine Notwendigkeit. Zur Sicherstellung einer zielführenden Ausbildung verfügt der Thurgau über das Bildungs- und Beratungszentrum Arenenberg. Betriebsberatungen. Hierfür können die zuständigen Stellen im Bildungs- und Beratungszentrum Arenenberg sowie von der Forschungsanstalt Agroscope Reckenholz und Tänikon beansprucht werden. Risikoabsicherungen. Die Risiken, die jeder einzelne Landwirt hat, soll er angemessen absichern. Dazu zählen u.a. Krankheit und Unfall der Bauernfamilien und allfälliger Mitarbeiter, die Folgen von Wetterkapriolen, Tierund Maschinenproblemen. Personenrisiken lassen sich mit den üblichen Versicherungen decken. Gegen Wetterkapriolen, insbesondere Hagel- und Elementarschäden, existiert die bäuerliche Selbsthilfeorganisation, die «Schweizer Hagel» in Zürich; alternativ lassen sich bei Obst und Beeren Hagelnetze

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installieren. Gegen Dürre dagegen gibt es keine Versicherung. Maschinendefekte – aber nicht deren Folgen – sind während der Garantiezeit teilweise gedeckt. Ein besonderes Risiko ist die Änderung der Landwirtschaftspolitik; dagegen aber gibt es eine starke Vertretung der Interessen der Landwirtschaft im eidgenössischen und den kantonalen Parlamenten und noch immer einen starken Rückhalt in der Bevölkerung und somit beim Stimmbürger für unsere eher kleinräumige Landwirtschaft. Sollten aber einmal Regierung und Parlament die Abschaffung von Schutzmechanismen beim Import von Landwirtschaftsprodukten beschliessen, könnte das für mittlere und kleinere Betriebe zu Existenzproblemen führen. Chancen. Es gibt sie auch in der Landwirtschaft. Vor allem mittlere und kleinere Betriebe tun gut daran, geeignete Nischen zu suchen und seriöse Absatzabklärungen durchzuführen, um so erfolgreich zu wirtschaften. In diesen Bereich gehört auch die Zusammenarbeit mit Nachbarn in der gemeinsamen Nutzung von Maschinen und Einrichtungen, sowie gegenseitige personelle Unterstützung und Erfahrungsaustausch. Neben der Haltung besonderer Tiere oder der Spezialisierung auf bestimmte Produkte, kann auch die Erbringung bestimmter Dienstleistungen für andere Betriebe als Nische in Betracht kommen.

Portraits von Landwirtschaftsbetrieben Nachfolgend stellen wir sieben zufällig ausgewählte, übers Tal verteilte Bauernbetriebe vor. Wir beschreiben Lage und Grösse der Höfe sowie deren hauptsächliche Produktionssparten. Zudem erkunden wir allfällige aktuelle oder künftige Problembereiche für Landwirte.

Affeltrangen/Haghof – Betrieb von Wirth-Geng, Ernst und Salome Haghof ist eine Häusergruppe nordöstlich von Affeltrangen, bestehend aus den drei Höfen Bieri, Roth und Wirth. Die Familie Roth hat ihr Land verpachtet und die Familie Bieri betreibt neben einem Landwirtschaftsbetrieb eine Lohnunternehmung. Bis Mitte der 1980er-Jahre existierte in diesem Weiler ein Restaurant mit dem Namen «Haghof», geführt von der Familie Roth. Die Familie Wirth-Geng betreibt ihren Hof in der 4. Generation; ihr Ururgrossvater erwarb diesen, damals kleineren, Betrieb im Jahre 1895. Der jetzige Besitzer hat das elterliche Gut 1995 übernommen und erweitert. Die Familie hat drei Söhne. Ernst Wirth erlernte seinen Beruf zunächst bei seinem Vater; die eigentliche Landwirtschaftslehre aber absolvierte er auf einem fremden Bauernhof. Das theoretische Wissen erarbeitete er sich im Berufsbildungszentrum Arenenberg. Der Hof umfasst rund 25 Hektaren Kulturland; dieses setzt sich aus Eigenland, Pachtland sowie einer Waldparzelle zusammen. Das Land ist teilweise kupiert, lässt


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sich aber gut mit Maschinen bewirtschaften. Auf dem Betrieb arbeiten die Ehefrau und an schulfreien Tagen auch die Söhne mit. Ob einer der Söhne später einmal den Hof übernimmt, steht derzeit noch offen. Die Familie Wirth betreibt neben Milchwirtschaft als Haupterwerbszweig auch Ackerbau mit Getreide, Zuckerrüben, Mais und Raps sowie etwas Mostobstbau und Waldwirtschaft. Für die Ernten im Ackerbau setzt Ernst Wirth Lohnunternehmer ein, während er für die Graswirtschaft eigene Maschinen besitzt. Die Milchkühe werden im Boxenlaufstall mit Melkstand gehalten. Bis 2011 lieferte er die Milch an die Käserei Affeltrangen; hernach stellte er auf «Silofütterung» um und seither geht die Milch seiner Kühe an die Firma «Züger Frischkäse AG» in Oberbüren SG. Ernst Wirth arbeitet neben der Führung seines Hofes als «Rübenringleiter» Lauchetal (Koordination aller Rübenanlieferungen an die Zuckerfabrik Frauenfeld), ist Mitglied des Vorstandes der «Rübenrodegemeinschaft» Frauenfeld (Selbsthilfeorganisation der Bauern für die Rübenernte) und arbeitet auch mit in der «Gruppe Unterhalt der Flurstrassen» in der Gemeinde Affeltrangen. Neben der Mitarbeit auf dem Hof und im Feld, betreute Salome Wirth über mehrere Jahre eine behinderte Frau vom Friedheim Weinfelden; dies jeweils für etwa 90 Tage pro Jahr. Ausserdem hält sie für den Eigenbedarf einen Gemüse- sowie einen Blumengarten. Des Weiteren organisierte das Ehepaar Wirth insgesamt viermal einen 1.-August-Brunch auf ihrem Betrieb.

Bild Nr. 119a Betrieb Wirth-Geng, Haghof

Mit Freude am Beruf mit Sonnen- und Schattenseiten ist auch in Zukunft für eine Familie ein angemessenes Einkommen möglich.

Tobel – Staatsdomäne-Betrieb von Rupp-Schüpbach, Fritz und Annerös Bereits die Komturei besass auf ihrem Territorium einen Landwirtschaftsbetrieb. Nach Auflösung der Komturei übernahm der Kanton Thurgau diese Liegenschaft einschliesslich des Gutsbetriebes; dieser wurde von der Zucht- und Strafanstalt weitergeführt. Seit jener Zeit ist dieser Betrieb eine von insgesamt sechs Staatsdomänen im Besitz des Kantons. 1973 wurde die Strafanstalt

Alle Hofaufnahmen sind «Drohnenfotografien» der Firma art-adfines, Pfyn


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Die Familie Rupp hat zwei Töchter und zwei Söhne. Während die Eltern im Gebäude der ehemaligen Mühle Tobel wohnen, ist der ältere Sohn mit seiner Familie im ehemaligen Betriebsleiterhaus untergebracht. Da er beabsichtigt, zu gegebener Zeit diesen Hof weiterzuführen, hat das Ehepaar Rupp mit diesem Sohn und dessen Familie eine Generationengemeinschaft errichtet. Der Sohn arbeitet derzeit hauptberuflich noch ausserhalb des Hofes, hilft aber mit seiner Frau den Eltern auf dem Hof.

Bild Nr. 119b Staatsdomäne Tobel

geschlossen; der Gutsbetrieb wurde zunächst am alten Ort weitergeführt, im Jahre 1992 dann aber an den jetzigen Standort im Gebiet Mühle (Nähe Bahnhof) verlegt. Seit 1.1.1995 führt die Pächterfamilie Rupp-Schüpbach (aus dem Bernbiet stammend) diesen Gutsbetrieb. Zuvor wurde dieser Betrieb direkt vom Kanton, unter Einsatz eines Betriebsleiters, geführt. Von 1987 bis zur Pachtübernahme arbeiteten sie als Angestellte auf diesem Hof, welcher derzeit eine Grösse von rund 30 Hektaren aufweist. Fritz Rupp hat seine praktische Ausbildung auf mehreren Höfen im Kanton Bern erlernt und danach die schulische Ausbildung im Emmental absolviert. Einige Jahre später absolvierte er auch die Ausbildung zum Betriebsleiter.

Der Pachtvertrag mit dem Kanton sieht vor, dass dieser Hof als reiner Bio-Betrieb bewirtschaftet und da­ rauf Ackerbau und extensive Tierhaltung betrieben werden soll. Auf dieser Grundlage betreibt die Familie Rupp Mutterkuhhaltung mit Angus-Kühen (eine von Natur aus hornlose schottische Rasse, bekannt für gutes Fleisch) sowie Aufzucht und Weidemast. Die Gesamtzahl der gehaltenen Tiere – Mutterkühe, Kälber und Aufzuchtrinder beträgt zwischen 80 und 90. Einige Tiere werden auch verkauft. Das Raufutter produziert der Pächter selbst. Im Bereich Ackerbau pflanzt und erntet die Pächterfamilie Brotgetreide, Raps und Mais. Während sie die Vorbereitungsarbeiten sowie die Aussaaten selbst ausführen, wird das Dreschen bzw. Häckseln (Mais) durch Lohnunternehmer gemacht. Gemäss Pachtvertrag gehören Gebäude und fest damit verbundene Installationen dem Kanton, während das Inventar inkl. Tiere und Maschinen Besitz des Pächters sind. Die Familie Rupp arbeitet daher finanziell eigenverantwortlich.


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Fritz Rupp ist seit 2012 Mitglied des Gemeinderates von Tobel-Tägerschen und er arbeitet auch im Strassenunterhalt mit; überdies war er für eine Amtsperiode Mitglied des Grossen Rates. Seine Frau Annerös ist Mitglied des Verwaltungsorgans des in Entstehung begriffenen Dorfmarktes. Als ausgebildete Pflegeassistentin hatte sie gute Voraussetzungen für Kindererziehung und Haushalt; heute hilft sie in Teilzeit im Altersheim Tobel im Service aus.

Ökonomiegebäude des damaligen Schlossgutes. Darin befindet sich der Wohnbereich der Familie Hasler.

Der Hof ist gut aufgestellt und bietet ein angemessenes Auskommen für eine Familie.

Die Familie Hasler hat drei Töchter und zwei Söhne. Maria-Theresia ist ausgebildete Bäuerin und ehemalige Lehrerin für Textiles Werken und Hauswirtschaft. Sie arbeitet neben der Führung des Haushaltes aktiv auf dem Hof mit. Die Mitarbeit der Kinder ist auf deren Freizeit beschränkt. Der jüngste Sohn ist in der Zweitausbildung zum Landwirt.

Ein aussergewöhnlicher Nebenerwerb. Die Staatsdomäne Tobel verfügt über zwei Wohnhäuser mit 12 – 16 freien Schlafstellen und liegt am Pilgerweg (Jakobs- oder Schwabenweg) Konstanz–Einsiedeln. Die Familien Rupp offerieren durchreisenden Pilgern Zimmer mit Frühstück; ein Service, der rege benutzt wird. Im Jahre 2011 konnten die beiden Familien insgesamt 450 – 500 Übernachtungen registrieren.

Lommis – Schlossbetrieb von Hasler-Fontanive, Josef und Maria-Theresia Ein Landwirtschaftsbetrieb existierte hier lange bevor Johann Hasler, der Urururgrossvater des heutigen Besitzers anfangs der 1850er-Jahre diesen Hof käuflich erwerben konnte. Josef Hasler, der heutige Besitzer, kaufte diesen Betrieb in fünfter Generation 1985 von seinem Vater. Vom ursprünglichen Schloss ist noch der Nord- und Nordwesttrakt bis zur Scheune erhalten geblieben. Es handelt sich dabei um die ehemaligen

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Josef Hasler wuchs auf diesem Hof auf; bei seinem Vater erlernte er das Handwerk eines Landwirts und fand Freude an diesem Beruf. Das theoretische Rüstzeug zur Führung eines landwirtschaftlichen Betriebes erwarb er sich damals an der Landwirtschaftlichen Berufsschule in Münchwilen in zwei Wintersemestern.

Bild Nr. 119c · Schlosshof Lommis


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Bild Nr. 119d Hof Haas-Steinemann

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Der Hof hat derzeit eine Grösse von rund 30 Hektaren; Josef Hasler hat die Fläche seines Hofes in den letzten zwanzig Jahren durch Zukäufe verdoppelt. Das Kulturland ist leicht kupiert, ist aber dennoch, mit Ausnahme eines Abhanges auf der Südseite des Hofes, gut mit Maschinen bearbeitbar. Es handelt sich um einen mittelgrossen Mischbetrieb.

für das Heupressen und für Forstarbeiten. Es wird ausschliesslich mit eigenen Maschinen gearbeitet.

Die Milchwirtschaft ist Haupterwerbszweig; die Milch wird vom dorfeigenen Käser abgeholt. Im Hauptbetriebszweig arbeitet die Familie Hasler mit rund 90 Tieren, davon sind die Hälfte Milchkühe. Bei den Milchkühen handelt es sich einerseits um Braunvieh und anderseits um rotfleckige Holsteiner. Als weitere Betriebssparten betreiben sie Munimast, Ackerbau (Getreide, Mais und Zuckerrüben) sowie Schweinemast. Zudem arbeitet die Familie Hasler auch als Lohnunternehmer, vornehmlich

Für die Zukunft des Familienbetriebes gilt es, sowohl in baulicher als auch in betriebswirtschaftlicher Hinsicht Entscheidungen zu treffen.

Ausserbetrieblich ist Josef Hasler seit vielen Jahren Mitglied des Vorstandes der Milchlieferungsgesellschaft Lommis. Im Sinne eines Hobbys ist er leidenschaftlicher Jäger und Mitglied der Jagdgesellschaft Lommis-Süd.

Weingarten – Betrieb von Haas-Steinemann, Peter und Susanne Mitten im Dorf Weingarten, gleich unterhalb des Restaurants Linde befindet sich der Landwirtschaftsbetrieb von Peter und Susanne Haas-Steinemann. Das Ehepaar besitzt und führt diesen Hof in dritter Generation Haas seit 1990. Sie haben vier Söhne. Die Urgrosseltern (Eltern der Grossmutter), die zuvor in dieser Liegenschaft – sie ist ungefähr 200 Jahre alt – wohnten, betrieben ein Baugeschäft mit einer nebenberuflichen Landwirtschaft. Der jetzige Besitzer ist auf diesem Hof bei seinen Eltern aufgewachsen und hat hier die Freude am Beruf des Landwirts entdeckt. Er absolvierte je ein Praxislehrjahr auf zwei verschiedenen Betrieben im Thurgau. Die theoretische Ausbildung erwarb Peter Haas in zwei Wintersemestern im Berufsbildungszentrum Arenenberg. Einige Jahre später bestand er auch die Meisterprüfung, eine wichtige Voraussetzung für die Befähigung zur Ausbildung von Lehrlingen.


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Mit einer Fläche von 25 – 30 Hektaren handelt es sich um einen mittelgrossen Betrieb. Gegen den Imenberg hin ist das Terrain ansteigend, kann aber dennoch gut mit Maschinen bearbeitet werden.

Peter Haas amtet nebenberuflich als Präsident der Landi Wängi; davor war er 16 Jahre, zunächst als Suppleant, später als aktiver Richter am Bezirksgericht Münchwilen tätig.

Peter Haas betreibt mit seiner Frau einen Mischbetrieb. Neben der Milchwirtschaft mit Braunvieh als Haupt­ erwerbszweig, betreibt die Familie auch Kalbermast (Mastzeit rund 16 Wochen), sowie Ackerbau (Weizen, Gerste, Raps und Mais) und Tafelobstbau (z.B. Gravensteiner, Rubinette, Jonagold) – im Tal eher selten. Hauptsächlich für den Eigenbedarf rundet eine Parzelle Wald das Tätigkeitsfeld ab.

Die Zukunft des Hofes des Ehepaares Haas-Steinemann ist sehr gut aufgestellt und bietet angemessenes Einkommen für eine Familie.

Die Milch wird täglich von der «Nordostmilch AG» abgeholt und grösstenteils in Lanterswil zu Emmentaler Käse verarbeitet. Für die Ernten im Ackerbau setzt Peter Haas externe Firmen mit geeigneten Maschinen im Lohn ein. Susanne Haas ist ausgebildete Handarbeitslehrerin; eine gute Voraussetzung für die erfolgreiche Führung des Haushalts und der Kindererziehung. Mit einem grossen Garten, worin sie eine breite Palette von Gemüsen pflegt, trägt sie viel zur Selbstversorgung bei. Verschiedene Blumenarten im Garten sorgen für eine gemütliche Atmosphäre in und ums Haus. Sie hilft auch bei Feldarbeiten sowie in der Lehrlingsausbildung aktiv mit. Das Ehepaar Haas bildet jährlich einen Lehrling aus, der seinerseits auch ein wertvoller Mitarbeiter ist. Ob einer der Söhne einmal den Betrieb übernimmt, steht derzeit noch nicht fest.

Stettfurt – Gemüsekulturen Gamper Erwin Erwin Gamper wuchs im «Lindenhof» in Stettfurt, dem Gut seines Vaters, auf und erlernte hier den Beruf des Landwirts. Sein zweites Lehrjahr absolvierte er auf dem Gutsbetrieb der «Roco» Konservenfabrik, Horn. Die theoretische Ausbildung genoss er im Berufsbildungszent­ rum Arenenberg. Nach einigen Praxisjahren besuchte er eine Handelsschule und später die landwirtschaftliche Ingenieurschule in Zollikofen. Bereits mit 27 Jahren übernahm er vorerst pachtweise den elterlichen Hof und kaufte diesen im Jahre 1982. Parallel zur Führung des Hofes des Vaters begann er mit der Produktion von Konservengemüse wie Zwiebeln, Sellerie, und verschiedenen Kohlarten. Die Vorliebe für Gemüsebau reifte in ihm bereits zur Zeit seiner Tätigkeit bei der Firma «Roco». Ende der 1970er-Jahre entdeckte er ein vielfältig verwendbares Gemüse, das bis damals hierzulande noch wenig bekannt war – den Chicorée. Nachdem 1978 ein erster Anbauversuch mit dieser Gemüseart geglückt war, verkaufte er anfangs der 1990erJahre die letzten Kühe, gab die herkömmliche Landwirtschaft auf und stellte voll auf Gemüsebau um.

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Der Gemüsebau benötigt auch viel Personal. Der Unternehmer Erwin Gamper sucht laufend nach Möglichkeiten, um den Personaleinsatz effizienter zu gestalten. So hat er bei den Zugfahrzeugen, welche u.a. für das Setzen von Salat Anwendung finden, ein GPS-System (Global Positioning System – Globales Navigationssystem) in­ stallieren lassen. Während der Fahrt von einem zum andern Ende eines Feldes fährt das Fahrzeug ohne Chauffeur; dieser kann beim Setzen mithelfen. Auf Grund der laufend erweiterten Produktion musste der initiative Gemüseproduzent etappenweise seine Betriebskapazitäten erweitern. Heute verfügt er neben einem Gewächshaus über vier Produktions-, Lager- und Kühl-Räume sowie drei Tunneltreibhäuser. Die gesamte Arbeitsfläche beträgt rund 10 000 m2. Bild Nr. 119e Hauptbetriebsgebäude der Gemüsekulturen Erwin Gamper

Schwerpunkt seiner Gemüseproduktion ist der Chicorée. Neben dieser Haupt-Gemüseart produziert er Eisbergund Kopf-Salat, sowie Broccoli, Fenchel, Blumenkohl und einige mehr. Ein wichtiger Zweig seiner Gemüseproduktion sind auch die «Hors-Sol-Tomaten». Mittlerweile bearbeitet er eine Gemüsebaufläche von rund 80 Hektaren. Das Land ist zum grösseren Teil Pachtland und liegt in den Gemeinden Stettfurt, Lommis und Matzingen; einiges ist auch ausserhalb des Lauchetals. Er beschäftigt im Sommer rund 100 Mitarbeiter; im Winter reduziert sich die Mitarbeiterzahl auf etwa die Hälfte. Die Tomaten wachsen und reifen in seinen Treibhäusern in Stettfurt. Für den Gemüsebau ist ein vielfältiger Fahrzeug- und Maschinenpark Voraussetzung; er ist damit sehr investitionsintensiv.

Chicoréetreiberei – Herkunft und Beschreibung Die Wildform der Wegwarte C hat verschiedene Kulturformen hervorgebracht. Die Wurzelzichorie mit langer rübenartiger Pfahlwurzel wird seit Beginn des 18. Jahrhunderts in Europa kultiviert. Sie ist als Kaffeezichorie bekannt und wird wie Zuckerrüben angebaut. Die Wurzel wurde zu Kaffeezusatz geröstet und gemahlen. Noch bis nach dem zweiten Weltkrieg wurde Zichorienkaffee getrunken. Heute werden die balaststoffreichen Zichorienwurzeln auch zu Medizinalzwecken angebaut. Chicorée ist der gebleichte Winterspross einer besonders für die Treiberei gezüchteten Gemüsezichorie. Im 19. Jahrhundert wurde Chicorée erstmals in Belgien entdeckt und angetrieben. Gegessen wird der etwa 15 cm lange, bis zu 5 cm dicke, feste, eiförmig zugespitzte gelblichweisse Blattzapfen (Knospe).


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Erwin Gamper ist einer der grossen Gemüseproduzenten im Thurgau und der grösste Chicoreé-Produzent in der Ostschweiz . Chicorée und andere Gemüsearten kann man in allen Migros-Läden der Ostschweiz kaufen; im Übrigen führt er einen Laden in Stettfurt für den Verkauf seiner Gemüse. Er bildet regelmässig Lehrlinge aus. Bedeutung und Verwendung von Chicorée Heute zählt der Chicorée zu den beliebtesten Gemüsearten in Westeuropa. Hauptanbaugebiete sind Belgien, Frankreich und Holland. In Deutschland und in der Schweiz erlangt er zunehmend Bedeutung. Die Chicoréesprosse hat einen hohen Anteil an Mineralstoffen und Vitaminen. Ihr typischer Geschmack ist aromatisch bitter. Chicorée ist vielseitig verwendbar. In der deutschen Schweiz kennt man ihn hauptsächlich als Salat, in der französischen Schweiz wird er auf verschiedene Arten als Gemüse gekocht. Aber auch auf Wähen, Pizzas und Dips findet der Chicorée Verwendung.

Erwin Gamper war neben seinem Beruf 2 ½ Amtsperioden Mitglied des Gemeinderates von Stettfurt; er spielte über viele Jahre in der Musik Edelweiss Stettfurt (später Musik Stettfurt-Matzingen) als Euphonium-Bläser und präsidierte diesen Musikverein während mehrerer Jahre. Er ist aktives Mitglied des Verbandes Schweizerischer Gemüseproduzenten VSGP. Leider zu früh ist seine aktive Frau gestorben; sie hatte grossen Anteil am Aufbau dieses bedeutenden Familienbetriebes. Das Ehepaar hat vier Töchter, wovon mittlerweile drei aktiv im Betrieb, vorwiegend in der Logistik, mitarbeiten.

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Als Folge der Globalisierung ist auch im Bereich Gemüse fast jederzeit alles erhältlich und zumeist im Übermass vorhanden. Daraus schliesst Erwin Gamper, dass die Wertschätzung besonders auch für lokal produziertes Gemüse eher abgenommen hat. Im Moment ist für bestimmte Gemüse zu festgelegten Zeiten der Import zwar stark eingeschränkt. Sollten aber einmal zwischen der EU und der Schweiz Importzollschranken auf Landwirtschaftsprodukten fallen, sieht er ernsthafte Probleme für Schweizer Gemüseproduzenten.

Stettfurt – Waldhofbetrieb von Gamper-Wartmann, Manfred und Esther Der als «Waldhof» bekannte Gutsbetrieb auf dem Gemeindegebiet von Stettfurt (Nähe Ruggenbühl) wurde als einer von vier Aussensiedlungen des Dorfes anlässlich

Bild Nr. 119f Betrieb Waldhof, Stettfurt


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der Güterzusammenlegung und Melioration in dieser Gemeinde in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre erbaut. Der Bauherr dieser Siedlung war der Vater des jetzigen Inhabers, Alfred Gamper. Seit 1986 bewirtschaftet sein jüngster Sohn, Manfred Gamper, diesen Hof, anfänglich als Pachtbetrieb. Nach seiner Heirat mit Esther Wartmann 1994 hat er diesen Hof käuflich erworben. Die Familie hat drei Kinder, Remo und die Zwillingstöchter Céline und Nadine; alle helfen mittlerweile aktiv im Betrieb mit. Schon während der Schulzeit hat Manfred Gamper auf dem Hof bei seinem Vater mitgearbeitet. Hernach absolvierte er das erste Lehrjahr als künftiger Landwirt im Welschland; parallel dazu lernte er die französische Sprache. Die schulische Berufsausbildung – zwei Jahre Vollzeitschule – genoss er an der Zürcher Landwirtschaftsschule «Strickhof». Später absolvierte Manfred Gamper noch die Ausbildung zum Betriebsleiter und schloss seine Ausbildung mit der Meisterprüfung ab. Beim Gut Waldhof handelt es sich um einen mittelgrossen Betrieb mit rund 22 Hektaren Landfläche zuzüglich etwas Pachtland. Die Topographie um den Betrieb herum ist leicht kupiert aber dennoch gut mit Maschinen bearbeitbar. Die Familie Gamper betreibt einen typischen Mischbetrieb. Dabei achten sie einerseits auf eine sinnvolle Risikoverteilung und anderseits darauf, dass die Feldarbeiten zweckmässig über die Zeitspanne Frühling bis Herbst anfallen. Die Tätigkeitsbereiche auf dem Waldhof sind sehr vielfältig. Vieh- und Milchwirtschaft ist Haupterwerbszweig mit Holsteiner- und Braunvieh. Dazu gehört eine

abgestimmte Fläche von Wiesland. Das Melken geschieht mit eigener Melkmaschine. Sie planen einen neuen Viehstall für rund 50 Stück Grossvieh mit effizientem Milchstand. Die Milch wird vom Hof abgeholt und geht an zwei Milchverarbeiter. Die Familie Gamper betreibt auch Aufzucht; sie halten die Kälblein für etwa fünf Monate auf dem Hof, geben sie dann in eine Vertragsaufzucht und nehmen sie nach rund zwei Jahren wieder zurück. Weitere Sparten sind der Zuckerrübenanbau, der Kartoffelanbau, sowie Getreideanbau und etwas Mostobst. Für die Zuckerrübenernte wird ein Lohnunternehmer eingesetzt; für die Kartoffel- und die Getreideernte hat die Familie Gamper eine Maschinengemeinschaft mit einem Partner. Neben seinem Hauptberuf ist Manfred Gamper einer von einigen hundert Experten der Schweizerischen Hagelversicherung (eine bäuerliche Selbsthilfeorganisation) sowie Gemeindestellenleiter der Landwirtschaft im Auftrage des kantonalen Amtes für Landwirtschaft. Zudem amtet er als Prüfungsexperte für die Abnahme von Prüfungen für angehende Landwirte und ist auch noch Aktuar der Käsereigenossenschaft. Manfred und Esther Gamper geben ihr Wissen und Können sowie ihre Erfahrung an junge Leute weiter; sie bilden jährlich zwei Lehrlinge zu Jungbauern aus. Die Familie hofft sehr, dass ihr Sohn diesen gut ausgerichteten Gutsbetrieb erfolgreich weiterführen wird.


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Matzingen – Ziegelhofbetrieb von Egloff-Hug, Heinz und Ursula An der ansteigenden Strasse von Matzingen-Ost nach Ruggenbühl stand einst eine Ziegelei. Von daher rührt der Name des hier vorgestellten «Ziegelhofes». Der Vater des jetzigen Besitzers begann seine Tätigkeit auf diesem Hof im Jahre 1974; 1994 erwarb ihn Sohn Heinz. Seinen Beruf als Landwirt lernte er bei seinem Vater kennen; die Lehrjahre aber absolvierte er auswärts, so auch in einem Praktikum in Dänemark. Das theoretische Rüstzeug eignete er sich im Berufsbildungszentrum Arenenberg an. Die Familie Egloff-Hug hat zwei Söhne. Der Betrieb umfasst rund 25 Hektaren Kulturland; es ist teilweise hügelig, lässt sich aber gut mit Maschinen bewirtschaften. Die Ehefrau und an schulfreien Tagen auch die Söhne arbeiten mit. Dass einer der Söhne später einmal den Hof übernimmt, ist inniger Wunsch der Eltern. Die Familie Egloff führt einen hauptsächlich auf die Milchwirtschaft ausgerichteten Betrieb. Im Jahre 2012 bauten sie einen modernen Freilaufstall mit Melkroboter. Sie halten derzeit 40–45 Milchkühe der Rasse «Rotfleckige Holsteiner». Die Kälber behält der Landwirt jeweils rund ein halbes Jahr und gibt sie dann zur Aufzucht weiter. Heinz Egloff ist davon überzeugt, dass die Kühe dank der freien Bewegungsmöglichkeiten weniger Stress haben und darum gesünder sind als in einem «Anbindestall». Deshalb gäben sie auch mehr Milch von hoher Qualität.

Die Installation des Melkroboters von der Marke «Lely» – einer Firma aus Holland mit über 20-jähriger Erfahrung – bietet dem technikorientierten Bauern Heinz Egloff viele Vorteile. «Seine Kühe» – so Heinz Egloff – «gewöhnten sich nach 4 – 6 Tagen an die neue Art des Melkens durch den Roboter, welcher ihm überdies eine detaillierte Kontrolle und Überwachung seiner Tiere ermöglicht.» Der neue Freilaufstall und die Roboter-Installation sind so konzipiert, dass eine bedeutende Betriebserweiterung auf bis zu 70 Kühe möglich ist. Die Milch wird von der Käserei Lanterswil täglich abgeholt und dort zu Emmentaler verarbeitet. Neben der Gesundheit und Leistung seiner Kühe war für den Unternehmer Egloff die Tatsache wichtig, dass er eine wesentlich höhere Flexibilität in seiner

Bild Nr. 119g Ziegelhofbetrieb mit neuem Stall


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Das heutige Tal · Landwirtschaft

Zeiteinteilung hat. Er oder seine Frau sind mehrmals am Tag im Stall, sorgen für Futter-Nachschub, reden auch mit den Tieren und überprüfen alle Datenaufzeichnungen. Damit bleibt die Beziehung zu den Tieren ebenso eng wie mit einem herkömmlichen Tierhaltungs- und Melksystem. Diese neue Art der Milchkuhhaltung erlaubt es Heinz Egloff, derzeit 50 % seiner Zeit in der Gemeinde im Strassenbau und -unterhalt zu arbeiten. Als eher unbedeutenden Nebenzweig in der Landwirtschaft betreibt die Familie auch etwas Ackerbau in Form

von Getreide-, Zuckerrüben- und Maisanbau. Für die Ernte dieser Bereiche setzt die Familie Lohnunternehmer ein. Neben der Führung des Haushaltes arbeitet Frau Ursula Egloff aktiv im Betrieb mit. In Abwesenheit ihres Mannes betreut sie den Stall, füttert die Tiere, prüft anhand der Aufzeichnungen im Computer die Milchmenge und Milchqualität für jedes Tier und ob alle Kühe periodisch – etwa alle 7 Stunden – zum Melken gegangen sind. Mit Freude am Beruf mit Sonnen- und Schattenseiten ist auch in Zukunft für eine Familie auf diesem Hof ein angemessenes Einkommen möglich.

Unsere Landwirte im Lauchetal sind nicht nur Produzenten qualitativ hochstehender Produkte, sondern sorgen durch gepflegte Felder, Wälder, Rebberge und Flurstrassen für eine liebenswerte und lebenswerte Landschaft im Lauchetal. Alle befragten Bauern haben ihren Beruf aus Überzeugung gewählt. Sie führen dafür vorwiegend drei Gründe an, nämlich: die Selbständigkeit, das Arbeiten in und mit der Natur sowie der Umgang mit den Tieren.

Quellennachweis Bretscher Peter Chervet Andreas Gamper Jakob Herdi Ernst Matthey Hans Nater Hans, Berg Puppikofer J.A. Stark Jakob Stumpf Johannes, Chronist Stutz Jakob Thurgauer Zeitung Thurgauischer Landwirtschaftlicher Kantonalverband Interviews mit

Dokumentation «Neue Mühle, Säge», Lommis Schweizer Familie Nr. 37/2013 Tagebuchautor Geschichte des Thurgaus Chronik «Zezikon» Die alten Mühlen im Thurgau Geschichte des Thurgaus Zehnten statt Steuern Chronik der Eidgenossenschaft, 1547/48 Aus der Geschichte von Matzingen Artikel 1921 und 2013 150 Jahre Thurgauischer Landwirtschaftlicher Kantonalverband 1835 – 1985

Markus Harder – Chef Amt für Landwirtschaft TG, Frauenfeld; Josef Hasler – Alte Mühle Lommis Stefan Kurmann – Käserei Lommis; Hans Stettler – Ehemaliger Chef Amt für Landwirtschaft TG Beda Wismer – Umstrukturierung der Milchanlieferungen; A.u.R. Zurschmiede – «Mühle Graf» Lommis sowie mit allen portraitierten Bauernfamilien.


Das heutige Tal · Wasserwirtschaft

Wasserwirtschaft Einleitung An etlichen Brunnen ist der Spruch «Wasser ist Leben» eingraviert. Im Umkehrschluss bedeutet diese Aussage: Wo Wasser fehlt, existiert weder menschliches noch tierisches oder pflanzliches Leben. Das widerspiegelt die grosse Bedeutung dieses kostbaren Gutes. Auf Grund der Topographie des Lauchetals gehören wir, hinsichtlich Wasserverfügbarkeit, zu den Privilegierten. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Wasserversorgung der Privatinitiative überlassen. Das galt sowohl für die damals bereits existierenden Gewerbe wie Käsereien, die Hefefabrik Stettfurt, die Mosterei Märwil usw. als auch für Landwirtschaftsbetriebe und Privathaushalte. Nach und nach entstanden Dorfbrunnen für die Allgemeinheit, wofür oft Bezugsregelungen existierten oder auch Brunnen für Einzelliegenschaften. Die Gemeinden konzentrierten sich zunächst auf den Unterhalt

Bild Nr. 121 · Dorfbrunnen

der Flüsse und Bäche. In die Verantwortung der Gemeinden kam zusätzlich die Bereitstellung von Löschwasser zur Brandbekämpfung. Dies und die Zunahme der Bevölkerung führten in allen Talgemeinden zwischen 1875 und 1925 zum Bau von Wasserreservoiren. Wasser, ein Lebensmittel – Staatliche Regelungen Wir haben eingangs auf die grosse Bedeutung des Wassers hingewiesen. Trinkwasser ist rechtlich als Lebensmittel deklariert und hat einen grossen Einfluss auf die Gesundheit der Menschen. Deshalb haben sich die zuständigen Behörden im Bund und später in den Kantonen und Gemeinden der wichtigen Aufgabe der Förderung der Volksgesundheit angenommen. Die Grundlage für das Handeln der zuständigen Instanzen ist in Art. 118 der Bundesverfassung (BV) – Schutz der Gesundheit *) – verankert. *) Art. 118 der BV lautet: Der Bund trifft im Rahmen seiner Zuständigkeiten Massnahmen zum Schutz der Gesundheit. Er erlässt Vorschriften über: a) Den Umgang mit Lebensmitteln sowie mit Heil- und Betäubungsmitteln, ebenso über Organismen, Chemikalien und Gegenstände, welche die Gesundheit gefährden können; b) Die Bekämpfung übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Menschen und Tieren; c) Den Schutz vor ionisierenden Strahlen.

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Das heutige Tal · Wasserwirtschaft

Neben andern eidgenössischen Gesetzen und Verordnungen, sind für die Sicherstellung der Qualität unserer Lebensmittel und damit auch unseres Trinkwassers zwei Dokumente zentral, nämlich: · Das Bundesgesetz über Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände (LMG), vom 9. Oktober 1992, in Kraft seit 1. Juli 1995 · Die sich auf das obige Gesetz stützende Lebensmittelverordnung (LGV), vom 23. November 2005, in Kraft seit 1. Januar 2006.

Bild Nr. 122 Willi Meienberger Betriebsleiter RVM Süd Quelle: Stadtarchiv Wil

Das Lebensmittelgesetz umschreibt im Wesentlichen den Zweck und Geltungsbereich sowie den Vollzug. Der Vollzug ist den Kantonen übertragen; der Bund überwacht den Vollzug. Die Lebensmittel- und Gebrauchsgegenstände-Verordnung regelt die Einzelheiten der Ausführung des Gesetzes. Konkret beinhaltet die LGV Bestimmungen für das Herstellen, Behandeln, Lagern, Transportieren und Abgeben von Lebensmitteln; das Kennzeichnen und Anpreisen von Lebensmitteln sowie die landwirtschaftliche Produktion, soweit sie der Herstellung von Lebensmitteln dient.

Die Wasserversorgung ist in der BV nicht geregelt; sie ist Aufgabe der Kantone, welche diese Aufgabe den Gemeinden übertragen haben. Im Thurgau ist die Wasserwirtschaft in Art. 82 der Kantonsverfassung geregelt und dem Amt für Umwelt unterstellt; die Lebensmittelkon­ trollen (einschliesslich Trink- und Badewasserkontrolle) sind dem Kantonalen Laboratorium unterstellt. Die Aufgaben- und Verantwortungs-Gliederung im Bereich Wasserversorgung ist wie folgt geregelt: Der Kanton erlässt Vorschriften an die Gemeinden und Verteilnetze (wie z.B. die RVM) und überwacht deren Einhaltung zur Sicherstellung der Einhaltung der Vorschriften der eidgenössischen Lebensmittelversorgung – Bereich Wasser. Die Gemeinden und Verteilnetze (z.B. die RVM) sind verantwortlich für die Einhaltung der Qualitätsvorschriften hinsichtlich Trink- und Badewasser sowie für die konstante Bereitstellung der benötigten Mengen für Brauchwasser und Löschwasser. Dazu bestimmt jede Gemeinde einen oder mehrere Wasserwarte.

Qualtitätssicherung durch die Wasserwarte Trinkwasser ist unser wichtigstes Lebens- und Hygienemittel. Davon abgeleitet ist die Hauptaufgabe der lokalen Wasserwarte die konstante Sicherstellung der gesetzlich vorgeschriebenen Qualität unseres Trinkwassers. Zur Erreichung dieses Ziels gibt der SVGW (Schweizerischer Verein des Gas- und Wasserfaches) Empfehlungen für den Aufbau und die Realisierung eines Qualitätssicherungs-Systems an die Gemeinden ab. Der Wasserwart der Gemeinde Affeltrangen, Willi Meienberger, amtet neben seiner lokalen Aufgabe in diesem Bereich auch als Betriebsleiter der RVM-Süd. Er ist


Das heutige Tal · Wasserwirtschaft

damit Wasserqualitäts-Verantwortlicher ab dem Pumpwerk «Gugel» (zwischen Märstetten und Amlikon) bis zur Wasser-Abgabestelle bei jeder der 12 Verbandsgemeinden. Er erfüllt damit eine wichtige Aufgabe für die Gesundheit der Bevölkerung in unserer Talschaft. Das Qualitätssicherungssystem (QSS) von Willi Meienberger als Betriebsleiter der RVM-Süd stellen wir nachfolgend stichwortartig dar. · Organisation: Organigramm, Alarmsystem und Pikettorganisation, Adresslisten von Kontaktpersonen, Aus- und Weiterbildung. · Betriebsanlagen: Übersichtsschema, Leitungen, Techn. Beschrieb aller Anlagen, Anlagenbewertung. · Fremdanlagen/Fremdeinspeisungen: Pumpwerk Gugel, Reservoire, Anlageteile bei Verbandspartnern. · Kritische Kontrollpunkte, Massnahmen: Gefahrenliste, Mögliche Massnahmen und deren Realisierung. · Überwachungskonzept: Betriebs- und Unterhaltsanleitungen, Kontroll- und Wartungsintervalle, Anleitung für Reservoirreinigung, Probenerhebungsplan, Wasseranalysen Kontroll- und Wartungsrapportierung, Instandhaltungsanleitungen. · Störfallmanagement / Trinkwasser in Notlagen: Interventionsmassnahmen bei Störfällen, Interventionsmassnahmen bei Trinkwasserverunreinigungen und bei Wasserleitungsbrüchen, Vorsorgeplanung zur Sicherstellung der Trinkwasserverfügbarkeit in Notlagen inkl. Verfügbarkeit von Notstromgruppen. · Reglemente und Verträge

Angepasst an die lokalen Verhältnisse erstellt jede Gemeinde ein QSS und ein darauf abgestimmtes Pflichtenheft für den jeweiligen Wasserwart. Im Rahmen der Verantwortung einer Gemeinde für die Wasserversorgung

ist jede von ihnen verpflichtet, zu Handen ihrer Bewohner jährlich einen Trinkwasserbericht zu erstellen und zu publizieren. Darin sind u.a. aufgeführt, wie viele Einwohner versorgt wurden, wie viele Wasserproben genommen wurden, eine hygienische und eine chemische Beurteilung der genommenen Proben sowie die Herkunft des Wassers. «Das Trinkwasser sei» – so das Amt für Umwelt – «in diesem Sinne das bestkontrollierte Lebensmittel.» Grundwasser «Grundwasser ist unterirdisches Wasser, welches die Porenräume des Untergrundes ausfüllt» – so definiert das Amt für Umwelt in seiner Schrift «Grundwasservorkommen im Kanton Thurgau» diese Wasserresource. Das Vorhandensein von Grundwasser ist, neben der Topographie eines Gebietes, hauptsächlich von der geologischen Beschaffenheit der Bodenschichten abhängig. Nach der letzten Eiszeit haben sich auch im Lauchetal Moränen (gesteinsartige oder lehmartige Ablagerungen der Gletscher) gebildet. Auf Grund dieser Bodenschichten existiert im Lauchetal ein oberflächennahes geringmächtiges Grundwasservorkommen von beschränkter Feldergiebigkeit. Das Vorkommen wird durch die direkte Niederschlagsversickerung und durch seitliche unterirdische Hangwasserzuflüsse gespeist und wird in kleinen bis mittelgrossen Fassungen verschiedener Art genutzt. Grundwasser war bis in die 1960er-Jahre unser wichtigster Trinkwasserlieferant und ist auch heute noch von grosser Bedeutung. «Der Kanton Thurgau» – so entnehmen wir weiter der genannten Schrift des AfU – «ist mit Grundwasser von sehr guter Qualität reichlich versehen. Ein Hauptgrundwasser-Reservoir ist das Thurtal, von wo

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Das heutige Tal · Wasserwirtschaft

seit den 1970er-Jahren auch alle Lauchetal-Gemeinden den Grossteil des Trinkwassers erhalten.» Der östliche Talabschnitt. In Märwil – hier liegt der Anfang des Lauchetal-Grundwasserstromes – nutzte die Mosterei eine alte Fassung aus dem Jahre 1927 im Gebiet «Unterlangnau», deren Wasser aber wegen seines Eisengehalts nur als Brauchwasser verwendet werden konnte. In Affeltrangen-Ost wurde 1930 ein Vertikalfilterbrunnen errichtet. Wegen ungenügender Ergiebigkeit wurde dieser 1948 durch eine neue Fassung auf der Westseite des Dorfes ersetzt. Nur rund 500 m grundwasserstromaufwärts hatte die Gemeinde Tobel eine Grundwasserfassung errichtet, die aber nicht mehr benutzt wird. Der mittlere Talabschnitt. In diesem Gebiet existieren drei Grundwasserfassungen der «Vereinigten Wasserversorgung Lommis, Weingarten und Kalthäusern». Die Ergiebigste liegt in Lommis-Ost (Pumpwerk Heuberg), die zweite von geringerer Ausbeute liegt in Lommis-West (sie wird nicht mehr benutzt) und die dritte liegt zwischen Weingarten und Kalthäusern, im Gebiet «Lätten», nördlich der Lauche.

Der westliche Talabschnitt. Südöstlich des Dorfes Stettfurt, auf der Südseite der Lauche im Gebiet «Chürzi» existieren zwei Fassungen der Wasserversorgung Stettfurt, eine im östlichen und eine im westlichen Teil dieses Gebietes. Die Besonderheit hier ist, dass es sich um subartesische Fassungen handelt, was bedeutet, dass man mit geringen Pumpleistungen zu diesem Wasser kommt. Westlich von Matzingen im Gebiet «Ronnen» wurde Grundwasser in zwei Fassungen zu Tage gefördert; Näheres dazu findet sich im Abschnitt «Die Wasserversorgung Matzingen». OK Terrain

474.3 m ü. M.

0.0 – 2.2 m

Kies mit Sand

2.2 – 4.0 m

Sand mit Kies

4.0 – 4.6 m

Sand

4.6 – 5.6 m

lehmiger Sand

5.6 – 7.0 m

Kies mit Sand

7.0 – 9.0 m

sauberer Kies (Sohle nicht erreicht)

Grundwasserspiegel

1.5 m u. T (06.07.1946)

Bohrung

ø 1 000 mm

Filterrohr

ø 600 mm, gelocht von 7 – 9 m

Bild Nr. 123 · Grundwasser-Bohrprofile im oberen Lauchetal

Bild Nr. 124 Schutzzonentafel

Zum Schutz von Grundwasservorkommen, das als Trinkwasser gefördert wird, müssen Schutzzonen errichtet werden; diese sind mit Nutzungsbeschränkungen der Landbesitzer in den entsprechenden Gebieten verbunden. Diese Schutzzonen müssen deutlich markiert sein. Es gibt drei Stufen von Schutzzonen mit abgestuften Beschränkungen in Bezug auf deren Nutzung.


Das heutige Tal · Wasserwirtschaft

Quellen Neben den oben erwähnten Grundwasservorkommen, die mittels Pumpen gefördert werden, gibt es die Quellen; das sind natürliche Austritte von Grundwasser an der Erdoberfläche. Der Sekundarlehrer Jakob Engeli hatte anfangs des 20. Jahrhunderts, zusammen mit 142 Helfern, mehrheitlich Kollegen «seiner Zunft», sämtliche Quellen im Thurgau ermittelt und in seinem Buch aus dem Jahre 1912 «Die Quellen des Kantons Thurgau» publiziert; eine grossartige, weitgehend aus Liebe zur Heimat erstellte Arbeit. In praktisch allen Gemeinden unseres Tals finden sich solche Quellen. «Die Ergiebigste im Lauchetal» – so Jakob Engeli – «ist jene im Hardholz bei Ruggenbühl, Gemeinde Matzingen.» Diese Quelle wurde kürzlich vollständig saniert. Einige dieser Quellen speisen Dorfbrunnen, andere werden in die Wasserreservoire der Gemeinden geleitet und wieder andere, die weniger ergiebigen schliesslich, werden den Bächen zugeführt. In der Vergangenheit gab es auch immer wieder Wassermangel als Folge von extremen Trockenperioden. So lesen wir z.B. in der alten Stettfurter Chronik von Jakob Stutz: «Der Sommer 1807 war sehr heiss und trocken, so dass an vielen Orten die Quellen versiegten. In Kalthäusern lief kein Brunnen mehr und auf dem Sonnenberg musste das Wasser für Mensch und Vieh aus dem Weiher geholt werden, in der Vorstatt drohte das Wasser auszugehen, der Dorfbach war am Versiegen und der Brunnen bei der Schmiede lief bloss noch wie ein «Handgiessli». Auch 1832 herrschte grosser Wassermangel. Vom August bis in den Herbst heinein war der Dorfbach ohne Wasser und die Tröckne erzeugte bald grossen Futtermangel.»

Alle Grundwasservorkommen reichten jedoch seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht mehr aus, um den Wasserbedarf der verschiedenen Bezüger decken zu können und um Wassermangel in Trockenperioden zu verhindern. Neue Lösungen mussten gefunden werden. RVM – die Lösung der Trinkwasserprobleme auch im Lauchetal Im 20. Jahrhundert nahm die Bevölkerung im Lauchetal stark zu. Nach dem 2. Weltkrieg zeigte sich eine deutliche Zunahme von Gewerbe und Industrie. Die Landwirtschaft wurde intensiviert und die Tierbestände wurden merklich erhöht; die Weiterentwicklung der Hygiene trug das ihrige dazu bei. Die Folge dieser Entwicklungen führte zu markant höherem Bedarf an Trink- und Brauchwasser in allen Gemeinden, auch im Lauchetal. Weitsichtige Männer aus dem Mittelthurgau und dem angrenzenden Wil – neben vielen andern der Alt-Gemeinderat von Weinfelden, H. Büchel, sowie der AltStadtrat von Wil, J. Lüthi – haben intensive Gespräche in engerem Kreis, aber auch unter Einbezug von Gemeindevertretern geführt. Sie sind zum Schluss gekommen, dass das Problem einer quantitativen und qualitativen Wasserversorgung nur regional gelöst werden könne. Als Hauptwasserquelle kam nur das Thurtal-Grundwasser in Frage. Die Gespräche ergaben auch sehr schnell, dass ein tragfähiger Verband nur möglich ist, wenn sich alle betroffenen Gemeinden zu einer Interessengemeinschaft finden. So entstand 1964 die RVM – Regionale Wasserversorgung Mittelthurgau. Diese Organisation wurde später in zwei Unterorganisationen aufgeteilt, nämlich die RVM-Nord (für Weinfelden, Berg und Umgebung) als einfache Gesellschaft, sowie die RVM-Süd

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Das heutige Tal · Wasserwirtschaft

Regionale Wasserversorgung Süd Leitungsnetz

10

Stettfurt 22

21

Thundorf 25

10

Verbandsleitungen

Lommis

wichtige Ortsleitungen

Zezikon

Bettwiesen

7

Bronschhofen 4

7

7

7

3

sch Täger

Tobel

2

26

12

1

Affeltrangen

29

30

23

11

6

en

Buch

Wil 31

9

24

27 28

8

20

Amlikon

12

Oppikon

Braunau 32

5

Märwil Wuppenau 1 Pumpwerk Gugel Süd (Grundwaser aus der Thur) an der Strasse zwischen Amlikon und Märstätten 2 3 4 5

Reservoir und Pumpwerk Maltbach Reservoir Luegen Bettwiesen Pumpwerk Bronschhofen Reservoir und Pumwerk Märwil

Leitungsbauten Gugel (1) – Maltbach (2) Maltbach (2) – Luegen (3) PW Bronschhofen (4) – Netz Wil PW Maltbach (2) – Reservoir Märwilen (20) Reservoir Märwilen (20) – Thundorf-Stettfurt PW Maltbach (2) – Reservoir Kurzacker (23) und Reservoir Rebhalde (24) 12 PW Maltbach (2) – Reservoir Lindenholz (5) 6 7 8 9 10 11

Bild Nr. 126 – Leitungsnetz der RVM-Süd

2 000 m3 3 0 0 m3 4 0 0 m3

20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

Fernbedienbare Gemeinde-Reservoirs Märwilen/Amlikon 1000 m3 Rohracker, Thundorf 400 m3 Bergholz. Stettfurt 380 m3 Kurzacker, Affeltrangen 200 m3 Rebhalde, Zezikon 200 m3 Weingarten, Lommis 500 m3 Buchhalde, Tobel 400 m3 Moosrüti, Tägerschen 200 m3 Dorf Bettwiesen 500 m3 Grund, Bronschhofen 1 270 m3 Hofberg, Wil 1 800 m3 Nieselberg, Wil 2 000 m3 Heid, Braunau, Wuppenau 600 m3

Thur

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Das heutige Tal · Wasserwirtschaft

(für Amlikon bis Wil und Lauchetal ohne Matzingen) als Zweckverband. Beide Teilorganisationen arbeiten eng zusammen und haben einen gemeinsamen «Wasserlieferanten» – das an der Strasse zwischen Amlikon und Märstetten errichtete Pumpwerk Gugel. Dieses Trinkwasser bedarf keinerlei Aufbereitung. Das aktuelle Reglement des Zweckverbandes RVM-Süd, dem die Lauchetalgemeinden, ohne Matzingen, angeschlossen sind, umschreibt den Zweck dieses Verbandes wie folgt: a) Gewinnung von Grundwasser aus dem Grundwassergebiet Gugel, Märstetten, gemeinsam mit der RVM-Nord. b) Schutz dieses Grundwasservorkommens. c) Zulieferung von Trink-, Brauch- und Löschwasser in gesetzlich vorgeschriebener Qualität bis an die Verteilnetze der Verbandsmitglieder. d) Bau, Unterhalt, Erneuerung und Betrieb der hierzu notwendigen Verbandsanlagen.

Bild Nr. 125 · Pumpwerk Gugel

Die Hauptleitung führt zunächst von Amlikon bis Maltbach. Von dort führen drei Stränge weiter, nämlich: Einer nach Affeltrangen (mit Abzweiger Zezikon und Lommis), TobelTägerschen, Bettwiesen und Wil, der zweite nach Oppikon, Buch, Märwil bis Braunau und Wuppenau und der dritte nach Thundorf und Stettfurt. Der Bau der ersten beiden Stränge, einschliesslich der Leitung von Maltbach zum Reservoir Märwilen, wurde in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre realisiert; am 1. Mai 1972 begannen die Wasserlieferungen. Der Strang von Märwilen nach Thundorf und Stettfurt entstand erst um die

Bild Nr. 127 · Reservoir und Pumpwerk Maltbach

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Das heutige Tal · Wasserwirtschaft

Mitte der 1980er-Jahre; der Anschluss Stettfurt erfolgte 1989. Die Wasserlieferungen aus dem Pumpwerk Gugel ab dem ersten vollen Geschäftsjahr – 1.10.1972 bis 30.9.1973 – haben sich wie folgt entwickelt: Jahr

RVM-Nord

RVM-Süd

Total

1972/73

399 510

166 880

566 390

1982/83

581 500

164 100

745 600

1992/93

734 190

728 230

1 462 420

2002/03

505 400

1 126 300

1 631 700

2011/12

787 830

1 388 150

2 175 980

Bezugsmengen in m3

Diese Zahlen zeigen etwa eine Vervierfachung der Grundwasserlieferungen in den ersten 40 Jahren des Bestehens dieser Institution. Anfänglich bediente die RVM rund 45 000 Menschen mit «chemiefreiem», klarem und frischem Wasser aus dem Pumpwerk Gugel; derzeit werden rund 65 000 Leute versorgt. Die starke Zunahme der Lieferungen bei der RVM-Süd seit den Jahren 2002/03 hat als Hauptgrund den Vollanschluss der Stadt Wil. Die Fassungsmöglichkeit aus dem Pumpwerk Gugel (Thurtal Grundwasser) für die RVM beträgt 36 000 m3 pro Tag und steht je zur Hälfte der RVM-Nord und -Süd zur Verfügung. Derzeit liegt die Beanspruchung der Bezüge der RVM Süd bei rund 21 %.

Probleme machen in jüngster Zeit vor allem die Umlegung von Leitungen als Folge von Bauprojekten entlang der ursprünglichen Wasserhauptleitungen; so geschehen in Amlikon und Tägerschen. Mit gutem Willen konnten bisher stets befriedigende Lösungen gefunden werden. VTN / TWN Dies sind zwei weitere Kürzel im Bereich Wasserversorgung. VTN steht für die per 1. Januar 1992 in Kraft gesetzte eidgenössische Verordnung über die Sicherstellung der Trinkwasserversorgung in Notlagen*). *) Eine Notlage im Sinne dieser Verordnung liegt vor, wenn die normale Versorgung mit Trinkwasser, insbesondere infolge von Naturereignissen, Störfällen, Sabotage oder kriegerischen Handlungen, erheblich eingeschränkt oder verunmöglicht ist.

Sie bestimmt die Mengen an Trinkwasser**), die den Bürgern zur Verfügung zu stellen sind und verpflichtet die Kantone, Massnahmen zu ergreifen, um die in der Verordnung vorgegebenen Mengen zu garantieren. **) In Notlagen muss, gemäss der o.e. Verordnung, mindestens folgende Trinkwassermenge verfügbar sein: a) bis zum dritten Tag so viel wie möglich b) ab dem 4. Tag 4 l pro Person und Tag; 60 l pro Grossvieheinheit und Tag c) ab dem 6. Tag 15 l pro Person und Tag, im Krankenhaus 100 l pro Person und Tag

Gestützt auf die genannte eidgenössische Verordnung hat das Amt für Umwelt Thurgau ein Handbuch für die


Das heutige Tal · Wasserwirtschaft

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Gemeinden erstellt – das TWN (Trinkwasserversorgung in Notlagen). Dieses ist im Wesentlichen eine Wegleitung zur Planung von Massnahmen, um die Vorgaben der VTN sicherzustellen. Damit liegt die Verantwortung bei den Gemeinden. Die Gemeinden des Lauchetals arbeiten zur Erfüllung ihrer diesbezüglichen Verpflichtungen eng mit ihrer Wasserversorgungskorporation AG, der RVM-Süd zusammen. Ausgenommen ist Matzingen; dazu verweisen wir auf den Abschnitt «Die Wasserversorgung Matzingen». Zur Realisierung der TWN im Lauchetal ist, im Rahmen einer vertraglichen Vereinbarung, eine Wasserleitung vom Bodensee (Kreuzlingen) bis Berg mit Anschluss an das Netz der RVM geplant und derzeit im Bau. Sie soll bis spätestens 2016 in Betrieb sein. Partner der RVM und damit der Lauchetalgemeinden für deren Versorgung mit Trinkwasser in Notlagen ist die «Wasserversorgung Region Bodensee-Thurtal». Ursprünglich war lediglich ein «Notwasserkonzept» geplant. Zwecks Optimierung der Wirtschaftlichkeit der notwendigen Investitionen wurde aus dem ersten Plan ein Konzept «Wasserversorgung Region Thurtal-Bodensee». Die RVM-Süd ist zur Erfüllung der Notwasserversorgung im Lauchetal mit Wasser aus dem Bodensee an dieser Organisation beteiligt. Da das Seewasser keine Trinkwasserqualität hat, erfolgt die Aufbereitung dieses Wassers im Seewasserwerk Kreuzlingen. Die Wasserversorgung Matzingen Matzingen ist in der glücklichen Lage, über genügend Grund- und Quellwasser zu verfügen, um alle lokalen

Bedürfnisse zu decken. Deshalb, wie im vorangehenden Abschnitt erwähnt, hat sich diese Gemeinde für ihre Wasserversorgung der RVM bisher nicht angeschlossen. Bis Mitte der 1930er-Jahre konnte dieses Dorf ausschliesslich durch reines Quellwasser von den Quellen auf dem Ruggenbühl, ohne irgendwelche chemischen Zusätze, versorgt werden. 1935 kam eine erste Grundwasserfassung mit gepumptem Wasser aus dem Lauchefeld dazu; dieses Grundwasser wurde bis 1973 direkt ins Leitungsnetz eingespeist. Daneben existiert im Gebiet «Ronnen» ein Grundwasservorkommen, welches ab 1951 genutzt wurde. Wegen dessen eher geringen Ergiebigkeit und Qualitätsproblemen wird das Wasser der Ronne seit 1992 nicht mehr genutzt. Da die Pumpstation als mögliche Trinkwasser-Notreserve dienen kann, wird sie jedoch weiterhin unterhalten.

Bild Nr. 128 · Seewasserwerk Kreuzlingen für die Aufbereitung von Seewasser


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Das heutige Tal · Wasserwirtschaft

Im Rahmen des Baus der A1 zwischen Winterthur und St. Gallen musste in der Gegend von Aawangen zur Überbrückung des Lützelmurgtals für diese Schnellstrasse ein Viadukt erstellt werden. Um den Untergrund für den notwendigen Bau von Viaduktpfeilern zu untersuchen, wurde von den Autobahnplanern ein geologisches Gutachten in Auftrag gegeben. Bei den Bohrungen zwecks Erforschung des Untergrundes geschah etwas, womit niemand rechnen konnte: Plötzlich sprudelte reines Trinkwasser aus dem Boden.

Bild Nr. 129 Pumpwerk Lützelmurg

Es war bekannt, dass in dieser Gegend ein Grundwasserstrom existiert; nicht bekannt aber war die genaue Lage, Ergiebigkeit und Tiefe desselben. Dieser Grundwasserstrom ist ein unterirdischer Abfluss aus dem Bichelsee. Eine positive Überraschung war, dass das Wasser in der Gegend der Lützelmurg artesisch zu Tage tritt. Das

Pumpwerk Lützelmurg wurde 1975 erstellt und 1976 in Betrieb genommen; es dient dazu, das hier gewonnene Wasser ins 1954 erstellte Hoch-Reservoir Ruggenbühl zu pumpen, von wo aus die Versorgung der Gemeinde mit Trinkwasser erfolgt. Da die Ortschaft Aawangen politisch zu Aadorf gehört, wurde die Nutzung der Wasserfassung Lützelmurg für die Gemeinde Matzingen zwischen dieser Gemeinde und Aadorf vertraglich geregelt. Derzeit ist die Wasserversorgung der Gemeinde Matzingen zu rund 85 % aus «Grundwasser Lützelmurg» und zu rund 15 % aus Quellwasser einer der Ruggenbühl-Quellen, welche im Jahre 2001 saniert wurde, sichergestellt. Die Trinkwasser-Notversorgung ist in Matzingen durch drei Elemente sichergestellt. Einerseits kann eine zusätzliche Quelle auf dem Ruggenbühl nutzbar gemacht werden; anderseits könnte der Grundwasserbezug aus dem Gebiet «Ronnen» reaktiviert werden. Überdies besteht eine Anschlussstelle an die Wasserversorgung Frauenfeld im westlichen Grenzgebiet der Gemeinde, von wo im Notfall Wasser bezogen werden kann. Bei weiterem Wachstum der Gemeinde und damit zusätzlichem Trinkwasserbedarf sehen die zuständigen Verantwortlichen in Matzingen zwei grundsätzliche Möglichkeiten. Das sind entweder eine Vergrösserung des Reservoirs oder der Anschluss an die RVM-Süd. ARA – ein neuer Begriff Gewerbe, Industrie, Landwirtschaft und die markante Zunahme der Bevölkerung zeitigten ein neues Problem, nämlich die Abwässer und folglich deren


Das heutige Tal · Wasserwirtschaft

Bewirtschaftung. Auch dieses Problem konnte sinnvollerweise nur regional gelöst werden. Das Kürzel ARA steht für Abwasser-Reinigungs-Anlage. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden die Abwässer der Bauernhöfe und zum Teil auch der Privathäuser in Jauchegruben geleitet, deren Inhalt von Zeit zu Zeit als «Düngemittel» auf die Felder verteilt wurde. Andere Abwässer gelangten in nächstliegende Gewässer und damit auch in die Lauche. In diesen Bach flossen seinerzeit auch die Abwässer der Mosterei Märwil und der Verzinkerei Bettwiesen. Eines Tages – vor mehreren Dekaden – stellte man ein starkes Fischsterben in der Lauche fest; Verursacherin war die genannte Verzinkerei, von wo damals Abwasser mit Zyankali und Blausäure vermischt in unseren Talfluss gelangte. Auch für die Behandlung des Abwasserproblems gibt es eine gesetzliche Grundlage, nämlich das Bundesgesetz über den Schutz der Gewässer*) (Gewässerschutzgesetz).

*) Das Gewässerschutzgesetz. Dieses Gesetz vom 24.1.1991 bezweckt, die Gewässer vor nachteiligen Einwirkungen zu schützen. Insbesondere soll die Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen, die haushälterische Nutzung von Trink- und Brauchwasser, die Erhaltung natürlicher Lebensräume für die einheimische Tier- und Pflanzenwelt und die Erhaltung von Fischgewässern sichergestellt werden. Die Erhaltung der Gewässer als Landschaftselemente, die Bewässerung für die Landwirtschaft, die Sicherung der natürlichen Funktion des Wasserkreislaufes sowie die Nutzung zur Erholung sind weitere Vorgaben dieses Gesetzes.

Alle Gemeinden in unserer Talschaft und diejenigen des Murgtales begannen, sich mit dem Problem der Abwasserbewirtschaftung zu befassen. Nach vielen Vorgesprächen mit allen interessierten Gemeinden wurde 1965 der «Abwasserverband Lauchetal-Murgtal» von den Gemeinden Affeltrangen, Buch, Friltschen, Lommis, Märwil, Matzingen, Stettfurt, Tobel, Wängi, Wittenwil und Zezikon gegründet. Nach Abwägung, ob die AbwasserReinigung durch eine grosse zentrale oder mehrere kleinere Anlagen vorzunehmen sei, entschied man sich aus Kostengründen für eine zentrale Anlage. Als Standort wurde das Gelände neben der früheren Weberei Matzingen gewählt. Das Führungsgremium dieses Verbandes war und ist die Betriebskommission. Es musste ein Organisationsreglement erstellt und die Baupläne in Auftrag gegeben werden. Die erste Bauetappe beinhaltete die Errichtung der Hauptleitung und der Abwasserleitungen von den einzelnen Gemeinden in die Sammelleitung. Anschliessend bedurfte es eines Reglements für die Kostenaufteilung unter den Verbandsgemeinden. Dieses Reglement wurde von der zuständigen kantonalen Behörde und danach von allen angeschlossenen Gemeinden nahezu einstimmig bewilligt, was als Beweis für das Vertrauen in die leitenden Organe, aber auch der Erkenntnis der Notwendigkeit zum Bau einer solchen Abwasser-Reinigungs-Anlage betrachtet wurde. Die Baukosten der Anlage wurden mit 15,8 Mio. Franken veranschlagt. Mit dem Bau wurde im Frühjahr 1973 begonnen. Am 29. September 1977 konnte der Mitgründer und erste Präsident der Betriebskommission, Kurt Gamper-Neuweiler, Stettfurt, mit Vertretern aller Verbandsgemeinden

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Das heutige Tal · Wasserwirtschaft

dieses grosse regionale Gemeinschaftswerk im Rahmen einer feierlichen Zeremonie dem Betrieb übergeben. Seitdem wurden mehrere Ausbauten realisiert. Die gereinigten Abwässer fliessen in die Murg, während der zurückbleibende Klärschlamm früher den Bauern zur Düngung der Felder abgegeben wurde, heute aber nahezu ausschliesslich in einer Verbrennungsanlage entsorgt wird. Während einer gewissen Zeitdauer ergaben sich in der näheren Umgebung der Anlage recht unangenehme Gerüche. Dieses Problem konnte mittlerweile in Zusammenarbeit mit einer darauf spezialisierten Firma und dem Amt für Umwelt definitiv gelöst werden.

Bild Nr. 129a · Areal der heutigen ARA Lauchetal-Murgtal in Matzingen Quelle: Amt für Umwelt Frauenfeld

Quellennachweis Abwasser-Reinigungs-Anlage Amt für Umwelt Bund und Kanton Thurgau Engeli Jakob Regionalwasserversorgung Mittelthurgau-Süd Regionale Wasserversorgung Mittelthurgau Roggenbauch Heinz Rusch Hermann , Kantonales Laboratorium Stutz Jakob Weber Albert

Mit dem Bau dieser Abwasserreinigungs-Anlage ist der Wasserkreislauf geschlossen. Zwei zweckmässige und sinnvolle Institutionen im Lauchetal konnten im Inte­resse der Bewohnerschaft errichtet werden.

Prospekte und Verbandsberichte Die Grundwasservorkommen im Kanton Thurgau Verfassungen Die Quellen des Kantons Thurgau Zweckverbands-Reglement Prospekte der RVM Stettfurt im 20. Jahrhundert Gespräche Stettfurter Chronik Die Grundwasserverhältnisse des Kt. Thurgau


Das heutige Tal · Verkehrsanbindung

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Verkehrsanbindung Das Umfeld Das Lauchetal ist ein ruhiges, beschauliches Tal, abseits von grossen Zentren wie Zürich, St. Gallen und Kon­ stanz und fern von Schnellstrassen und Eisenbahnlinien, welche diese Städte miteinander verbinden. Bis Ende des 18. Jahrhunderts blieb das Lauchetal eine kleingliedrige landwirtschaftsorientierte Region; sie wurde durch mehrere Gerichtsherrschaften – für Einzelheiten dazu verweisen wir auf das Kapitel «Regelungen des Zusammenlebens» – verwaltet. Der Waren- und Güterverkehr beschränkte sich im Wesentlichen auf das Einsammeln und Verteilen der «zehntpflichtigen» Güter; grosse Märkte gab es hier keine. Sowohl für den seinerzeit geringen Güterverkehr, als auch für die Verteilung von Post – wie wir noch erfahren werden – genügte das damals existierende bescheidene Wegnetz; von Strassen im heutigen Sinne konnte man hier bis Mitte des 18. Jahrhunderts nicht reden. Folglich hatte die Verkehrsanbindung des Lauchetals zu jener Zeit eine untergeordnete Bedeutung. Das aber sollte sich ab der Mediationszeit (1803 – 1815) und danach markant ändern. Im Jahre 1984 gab der Bund den Auftrag zur Erarbeitung des Inventars historischer Verkehrswege der Schweiz IVS. Diese Studie wurde auf die Kantone aufgeteilt; so entstand von jedem Kanton ein Heft mit diesem Inventar.

Historische Verkehrswege im Kanton Thurgau

TG Diese Kantonshefte sind nicht nur eine Fundgrube historischer Daten mit Übersicht der existierenden Strassen, sondern dienen auch als Planungsinstrument für die Zukunft. Die Geschichte des Strassenbaus im Thurgau ist auch in der Lizentiatsarbeit von Mirko Saruga vom Juni 2001 mit dem Titel «Strassenbau im Thurgau 1803 – 1848» systematisch dargestellt. Für die Gemeindestrassen bieten die Chroniken der einzelnen Gemeinden einen einschlägig aufschlussreichen Fundus. Fuss- und Reitwege sowie Römerstrasse Die ursprünglich angelegten Fuss- und Reitwege als Verbindung zwischen den Dörfern und Weilern verschwanden mit dem Bau von ordentlichen Strassen allmählich. Einige davon leben mit dem Aufkommen der «Wanderkultur» ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder auf. 1985 trat das «Fuss- und Wanderweg-Gesetz» in Kraft. Es regelt u.a. die Beschaffenheit, die Pflege, die Markierungen und den Unterhalt der Wanderwege.

Bild Nr. 131 Broschüre «Historische Verkehrswege im Thurgau»


Das heutige Tal · Verkehrsanbindung

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Konstanz Kreuzlingen H H K

H Ellighausen Lippoldswilen

H

Märstetten K

Weinfelden

Amlikon H

K H Affeltrangen

Lommis H K H H

Tobel Tägerschen K

Münchwilen K

H Sirnach H

Wil

H K Fischingen K H

N

Der wohl bekannteste supranationale Fuss- und Wanderweg, welcher auch durch den östlichen Teil des Lauchetals führt, ist der sogenannte Jakobsweg oder Pilgerweg; in den deutschsprachigen Regionen auch Schwabenweg genannt. Er kommt von Deutschland, durchquert die Schweiz und Frankreich und endet in Santiago de Compostela, Nordspanien. Dort soll gemäss der Legende der hl. Jakobus begraben sein. Das Bild Nr. 132 zeigt den Teil des Schwabenweges, welcher durch den Thurgau und in einer Teilstrecke auch durch das Lauchetal führt. Dieser Pilgerweg wurde erstmals im Jahre 1047 urkundlich erwähnt. Im Mittelalter wurde er häufig begangen; in der beginnenden Neuzeit aber vernachlässigt. Ab den 1980er-Jahren erlebte dieser Pilgerweg eine Renaissance; er wurde wieder zunehmend stark begangen. Im Jahre 2010 seien 272 135 Pilger gezählt worden; das genannte Jahr wurde als Festjahr zu Ehren des heiligen Jakobus gefeiert.

H Hörnli

Bild Nr. 132 · Der Schwabenweg im Thurgau Quelle: Broschüre «Historische Verkehrswege im Kanton Thurgau»

Wie wir in anderem Zusammenhang feststellten, waren die Römer gute Strassenbauer; das von ihnen erbaute Strassennetz diente ihnen vorwiegend zur Realisierung machtpolitischer Absichten und zur Überwachung ihres ausgedehnten Reiches. Für die nachkommenden Alamannen war ein Strassennetz eher unbedeutend; sie lebten in dörflichen Strukturen und begehbare Wege zwischen den Dörfern waren für sie ausreichend. Bis ins 17. Jahrhundert waren die Römerstrasse vom Genfersee zum Bodensee sowie der oben beschriebene Jakobs-Pilgerweg von Konstanz bis Genf die einzigen zusammenhängenden Verbindungswege im Thurgau. Ausbau der Flurstrassen Mit dem Ende der alten Eidgenossenschaft verschwand in der Landwirtschaft auch das System der Dreizelgenwirtschaft. Bevor der moderne Strassenbau einsetzte, war es für die Landwirtschaft wichtig, den Ausbau des Flurstrassennetzes voranzutreiben, um durch kürzere Arbeitswege die Effizienz der Produktion zu steigern. Das galt besonders auch für unser Lauchetal. Eine weitere Anpassung des Flurstrassennetzes zwecks Verbesserung der Wirtschaftlichkeit der Landwirtschaftsbetriebe im Tal erfolgte anlässlich von Güterzusammenlegungen in den einzelnen Gemeinden im Laufe des 20. Jahrhunderts. Einzelheiten dazu finden sich im Kapitel «Landwirtschaft». Der moderne Strassenbau 1769 legte der damalige Landvogt im Thurgau den regierenden Orten der alten Eidgenossenschaft einen Plan vor, wie hierzulande das bestehende Strassen- und Wegnetz repariert werden sollte. Das war aber für die hohen Herren der Tagsatzung zu teuer, zumal nach deren Ansicht


Das heutige Tal · Verkehrsanbindung

«die Thurgauer der Obrigkeit gegenüber nicht genügend freundlich gesinnt sind». In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam aus Frankreich eine neue Strassenbautechnik auf – die sogenannten Kunststrassen*). Dies war der Durchbruch im modernen Strassenbau, ab den 1770er-Jahren auch in der Schweiz und in der Gemeinen Herrschaft Thurgau. *) Natur- und Kunststrassen. Naturstrassen wurden weitgehend als kürzestmögliche Verbindung von zwei Orten und günstigsten Baukosten gebaut, ohne Berücksichtigung topographischer Probleme. Kunststrassen «durchschneiden» wo erforderlich die Natur, werden mit einem stabilen Unterbau errichtet und sind oft mit seitlich angebrachten Entwässerungsgräben versehen. Zudem wird auf schnelleren Verkehrsfluss geachtet. Im Lauchetal haben wir zwei typische Beispiele für die beiden Strassenarten. Die alte Natur-Strasse von Frauenfeld nach Matzingen führte durch das «Altholz», ist stark kupiert und 5,0 km lang; sie ist mittlerweile mit einem Bitumen-Belag versehen. Die neue, zwischen 1841 und 1847 gebaute Kunststrasse von Frauenfeld nach Matzingen mit aufwändigem Durchstich des «Hundsrückens», ist eben, bietet flüssigen Verkehr und ist mit 5,5 km also 10 % länger.

Als der Thurgau 1803 als selbständiger Kanton in den Bund der Eidgenossenschaft aufgenommen wurde, begann auch im Strassenbau eine neue Epoche. Das «Reglement über das Strassenbauwesen vom 5.4.1805» legt Zeugnis dafür ab. In diesem Reglement wurde das Strassen- und Wegnetz in 4 Kategorien gegliedert, nämlich: Heer- oder Hauptstrassen, Landstrassen, Kommunikationsstrassen sowie Bau- und Güterstrassen. Und im IVS

Thurgau ist dazu vermerkt: «Was der junge Kanton Thurgau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Strassenbau geleistet hat, ist in jeder Hinsicht beeindruckend. Er holte die Versäumnisse der Alten Eidgenössischen Herrschaft innert weniger Jahrzehnte auf und errichtete ein Strassennetz, das damals zu den modernsten der Schweiz zählte.» Der erste Regierungsrat im Thurgau, dem das Strassenwesen unterstand, ist als Pionier auf diesem Gebiet in die Geschichte eingegangen; sein Name: Johann Conrad Freyenmuth*). Mangels Geldmittel im jungen Kanton Thurgau wurde der Strassenbau zum Grossteil den Gemeinden überbunden; die restlichen Kosten wurden durch Weggelder und Brückenzölle gedeckt. Zunächst erfolgte der Bau der Strassen mittels Frondiensteinsätzen. Ab den 1830erJahren wurden auch Sträflinge für Strassenbauarbeiten zugezogen, so z.B. für den oben erwähnten Hundsrücken-Durchstich der neuen Strasse von Frauenfeld via Matzingen nach Wil. *) Freyenmuth Johann Conrad (1775 – 1843) stammte aus einer Bauernfamilie in Wigoltingen. Er erlernte zunächst den Chirurgenberuf und studierte anschliessend diese Disziplin. Er war langjähriges Mitglied des Grossen Rates und wurde 1804 in die Regierung des jungen Kantons Thurgau gewählt. Ihm wurde das Finanzdepartement zugewiesen, welches auch das Strassen- und das Gesundheitswesen umfasste. Er führte eine moderne Staatsfinanzierung ein, gründete 1806 die kantonale Gebäudeversicherung, setzte ein professionelles Medizinalwesen durch und wurde zum Pionier des Strassenbaus in unserem Kanton. 1833 schied er vorzeitig aus freiem Willen aus der Regierung aus. 1836 wurde er in die Expertenkommission für die Bildung einer eidgenössischen Münzordnung gewählt.

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Das heutige Tal · Verkehrsanbindung

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Bild Nr. 133 · Thurgauer Hauptstrassennetz Mitte des 19. Jahrhunderts Quelle: Broschüre «Historische Verkehrswege im Kanton Thurgau»

Schaffhausen

Der Thurgauer Strassenbau-Pionier gliederte sein Ausführungsprogramm in drei Prioritätsstufen. Zunächst ging es darum, bestehende Strassen zu reparieren, wo es sinnvoll erschien. Als zweite Priorität sollten bestehende alte Landstrassen erneuert und neue Strassen gebaut werden; dabei ging es darum, grössere Orte zu vernetzen, so z.B. Frauenfeld–Konstanz, Frauenfeld–Weinfelden–Arbon, Frauenfeld–Matzingen–Münchwilen–Wil, Konstanz–Märstetten–Affeltrangen–Tobel–Wil sowie Frauenfeld–Steckborn und Diessenhofen. Mit dem forcierten Strassenbau nicht nur im Thurgau, wurden stets Landkarten benötigt und zunehmend wichtiger*).

W B G Diessenhofen

W G

W

W B B

In der Zeit von 1815 – 1830 liess der Kanton 154,7 km und von 1831 bis 1847 115,2 km Strassen bauen.

G W G

W

Üsslingen B

Mitte des 19. Jahrhunderts war das Hauptstrassennetz im Kanton, wie das Bild Nr. 133 zeigt, weitgehend gebaut.

Steckborn

Stein am Rhein W

*) In diesem Zusammenhang darf ein weiterer bedeutender Thurgauer nicht unerwähnt bleiben, nämlich der Frauenfelder Ingenieur Johann Jakob Sulzberger. Er schuf in den Jahren 1830 – 1838 die erste genaue topographische und trigonometrische Thurgau-Karte. Diese ist seither als «Sulzberger-Karte» bekannt.

W

W

Konstanz Kreuzlingen W G G Uttwil

Pfyn

Frauenfeld

B W

B

W

Weinfelden W Sulgen W B B

W

W

Winterthur W

Romanshorn

Amriswil

G Arbon W

W Wil

Bischofszell B W

W

W

W

W St. Gallen


Das heutige Tal · Verkehrsanbindung

Ab 1838 übernahm der Kanton den Grossteil der Strassenunterhaltskosten. Dies alles führte dazu, dass Mitte der 1840er-Jahre der Anteil an Strassenkosten, gemessen am gesamten Staatshaushalt, auf einen Drittel stieg. Als dritte Priorität kam gemäss Regierungsrat Freyenmuth ab ca. Mitte des 19. Jahrhunderts der Ausbau der lokalen Verbindungen zur Ausführung. So wurde im Lauchetal zunächst die Verbindung Wängi–Lommis– Affeltrangen–Märwil gebaut; nur wenig später dann die Strasse Matzingen–Stettfurt–Kalthäusern–Weingarten–Lommis. Parallel dazu erfolgte der Ausbau der Gemeindestrassennetze. Bis anhin waren alles sogenannte Kies- oder Staubstrassen gewesen. Die meisten Gemeinden besassen daher eigene Kiesgruben. Ab den 1920er-Jahren setzte der motorisierte Verkehr auf den Strassen ein. Als Folge davon wurde ein neues Schlagwort bekannt, nämlich: «Staubplage». Teer- und Asphaltbeläge kamen auf, gefolgt von Betonstrassen (ziemlich lärmig); später kam man wieder auf die ruhigeren Bitumenbeläge (Asphalt) zurück. Die Brücken Ursprünglich gab es an mehreren Stellen, an welchen Bäche oder Flüsse überwunden werden mussten, sogenannte Furten, das sind untiefe Flussstellen, wo man zu Fuss oder mit robusten Fahrzeugen den Fluss überqueren konnte. Der zweite Teil des Dorfnamens von Stettfurt weist gemäss dem Thurgauer Namenbuch tatsächlich auf eine in diesem Dorf vorhanden gewesene Furt über die Lauche hin. Bild Nr. 134 · Lauchebrücke zwischen Weingarten und Lommis

Als Folge der zunehmenden Bevölkerung, des sich entwickelnden Handels sowie des Aufkommens der motorisierten Verkehrsmittel, wurde die Querung von Flüssen und damit der Bau von Brücken immer wichtiger. Auch im Lauchetal bekamen Brücken nach und nach mehr Bedeutung; zunächst in Affeltrangen, wo einerseits die Lauche und anderseits der Hartenauer Bach überbrückt werden mussten. Westwärts ergab sich die Notwendigkeit von Brücken über die Lauche zwischen Weingarten und Lommis, sowie zwischen Stettfurt und Wängi und schliesslich mussten in Matzingen die Lauche, der Thunbach, die Murg und die Lützelmurg überbrückt werden. Das Strassenbauwesen blieb über all die Jahrzehnte stets aktuell und ist es heute ganz besonders wieder – sei es, um Dörfer vom stark angestiegenen Durchgangsverkehr zu entlasten oder um Regionen besser an die Wirtschaftszentren anzubinden.

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Das heutige Tal · Verkehrsanbindung

Der Postverkehr Im Frühmittelalter war hierzulande ein Postverkehr nicht erforderlich; Kommunikation zwischen Herrschaften und der Landbevölkerung, gerade im Lauchetal, fand mehrheitlich mündlich statt. Zudem waren nur ganz wenige Menschen der Schreib- und Lesekunst mächtig. Diese postlose Zeit blieb im Thurgau und im Lauchetal bis Ende des 18. Jahrhunderts bestehen. So schreibt J. Kolb, alt Posthalter von Frauenfeld, in seinem Buch «Das Postwesen im Thurgau bis 1848» – «habe es 1790 zwar eine Postablage beim «Kreuzwirt Rogg» in Frauenfeld gegeben,» (Gemäss dem Stadtarchivar von Frauenfeld entspricht das seinerzeitige Gasthaus Kreuz dem heutigen Gasthaus «Goldenes Kreuz») – «sonst aber gab es bis 1806 keine einzige Poststelle im ganzen Kanton.» In den Anfängen des Postwesens war der Posttransport auf privater Basis organisiert. Haupthindernisse in der Entwicklung des Posttransportwesens waren bis gegen Mitte des 18. Jahrhunderts der schlechte Zustand der Strassen im Kanton und die damals oft fehlenden Brücken bei Flussübergängen. «Der Ruhm, die erste schweizerische Post eingerichtet zu haben,» – so schreibt der ehemalige Thurgauer Kreispostdirektor Emil Rüdt in der Thurgauer Zeitung von 1929 – «gebührt der Stadt St. Gallen.» Die Leinwandweberei stand damals – im 14. – 16. Jahrhundert – in der Gallusstadt in voller Blüte. Die Hauptgeschäftsverbindungen gingen von St. Gallen einerseits nordostwärts nach Nürnberg und anderseits südwestwärts nach Lyon. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurden erste regelmässige 14-tägliche Botenkurse*) St. Gallen–Lindau–Ulm–Nürnberg eingerichtet. Analoge Botenkurse wurden ab dem

letzten Quartal des 16. Jahrhunderts auch von St. Gallen via Genf nach Lyon aufgebaut. Es waren vertrauenswürdige Männer, die wie militärische Meldeläufer diese Kurse zu Fuss bewältigten und so Dokumente und kleine Warensendungen in beide Richtungen transportierten. «Ein Bote» – so schreibt Kolb im seinem bereits zitierten Werk – «habe zu jener Zeit von St. Gallen nach Genf nur gerade 5 Tage benötigt» – eine olympiareife Leistung! Bald aber zeigte sich das Bedürfnis, diesen Botenverkehr zu beschleunigen und so wurden die Fussbotenkurse ab 1611 durch Boten zu Pferd, also durch Botenritte, abgelöst und ab 1624 bereits wöchentlich durchgeführt. *) Botenkurse. Das Lauchetal bedienten, gemäss einer Zusammenstellung im zitierten Buch von J. Kolb (Stand 1844) folgende Botenkurse: Mo, Do, Sa: Mettlen, Stehrenberg, Lanterswil, Toos, Märwil, Friltschen, Zezikon, Bollsteg, Affeltrangen, Tobel, Lommis, WeingartenKalthäusern und Stettfurt. Mo, Do, Sa: Braunau, Hittingen, Oberhausen, Karlishub, Tobel, Affeltrangen, Bollsteg, Kaltenbrunnen, Maltbach, Bänikon, Junkholz, Amlikon. Di, Do, Sa: Stettfurt Kalthäusern. Mo bis Sa: Münchwilen, St. Margarethen, Sedel, Tägerschen, Tobel, Lommis. Wann diese Botenkurse eingeführt wurden, konnte nicht ermittelt werden.

1764 richteten einflussreiche Frauenfelder Bürger – noch war der Thurgau kein selbständiger Kanton – eine Eingabe an die Regierung des Kantons Zürich betreffend Übertragung des Postregals (Postrecht) an die


Das heutige Tal · Verkehrsanbindung

Landschaft Thurgau. Dieser fundiert begründete Antrag wurde von den zuständigen Herren in Zürich abgelehnt. 1790 wurde der Thurgauer Ratsherr und Kreuzwirt Rogg – wie oben erwähnt – in Frauenfeld zum Postkommis (Post-Spediteur) ernannt. Seine Aufgabe war es, den Postwagenkurs Zürich–Frauenfeld–Konstanz zu bedienen, also für Frauenfeld und Umgebung bestimmte, ankommende Sendungen entgegenzunehmen und zu verteilen und anderseits zum Versand bestimmte Postgüter aus der Region einzusammeln und dem Postwagenkurs zum Weitertransport zu übergeben. Während der «Helvetik» (1798 – 1803) wurde die Zentralisation der Post verordnet; das behagte den Eidgenossen aber gar nicht. Schon zuvor war das Postwesen in der alten Eidgenossenschaft – mit vielen Nachteilen wie z.B. unterschiedliche Taxen – kantonal geregelt gewesen. Nach der Helvetik beschloss die Tagsatzung vom 2.8.1803 wiederum die Dezentralisation, geltend für die ganze erweiterte Eidgenossenschaft, also auch für den jungen Kanton Thurgau. So musste unsere Regierung entscheiden, wie sie das Postwesen organisieren wollte. Weil hier keinerlei einschlägige Erfahrung vorhanden war, entschied man sich, das Postwesen für den Thurgau als Pacht an den Kanton Zürich zu vergeben. Der ausgehandelte Vertrag zwischen – wie es in diesem Dokument hiess – «der «Finanz-Commission des Hohen Standes Thurgau» und der «Generalpostdirektion des Hohen Standes Zürich»» – trat am 1. Juli 1807 in Kraft. 1842 wurde der Vertrag mit Zürich letztmals verlängert und blieb noch bis Ende 1848 bestehen. Massgeblich am Aufbau des Postwesens im Thurgau war der erste Regierungsrat für das Finanzwesen (1804 – 1833),

der bereits als Strassenbaupionier zitierte Johann Conrad Freyenmuth. Oft führten diese Botenkurse zu Reklamationen. Im Zusammenhang mit den Postbotenkursen durch das Lauchetal schrieb die Thurgauer Zeitung in ihrer Ausgabe vom 15. März 1833 folgendes: «Der Postbote für den Kurs von Bischofszell über Neukirch a.d. Thur, Schönholzerswilen, Mettlen, Märwil, Affeltrangen, Lommis und Stettfurt nach Frauenfeld, kann der vielen Ablagen wegen seine Tour in einem Tage hin und zurück nicht bewältigen; er muss jeweils in Mettlen übernachten. Dadurch gibt es Verspätungen.» Aus der Jahrzahl dieser Zeitungsnotiz darf geschlossen werden, dass diese Postbotenkurse durch unser Tal zwischen Ende der 1820er-und Anfang der 1830er-Jahre eingeführt wurden.

Per 1. Juli 1807 wurde in der «Krone» Frauenfeld – einst ein Gasthaus, heute ist in diesem Gebäude die Bank CS untergebracht – das erste Postamt im Thurgau eingerichtet. Erster Postdirektor war Jakob Anderwert aus Münsterlingen. Diesem Amt war das Postwesen im ganzen Kanton unterstellt. Sodann erhielten alle damaligen Bezirkshauptorte eigene Postbüros. Die kleineren Gemeinden, so auch alle im Lauchetal, waren aufgefordert, sich mit der nächstgelegenen Poststelle zu arrangieren. In den Jahren 1826 – 1848 wurden 70 neue Poststellen geschaffen; davon mehrere auch im Lauchetal. Lange vor 1848 zeichnete sich ab, dass es sinnvoll wäre, das Postwesen in der Eidgenossenschaft zu zentralisieren und zu vereinheitlichen. Schon 1831 stellte der junge Kanton Thurgau Antrag an den eidgenössischen

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Datum Gemeinden

Bemerkungen

01.01.1845 Affeltrangen 01.10.1845 Zezikon und Lommis 01.10.1846 Matzingen, Märwil und Tobel 01.10.1847 Weingarten-Kalthäusern 1857 Stettfurt 30.05.1896 Stettfurt Tabelle Nr. 135 Erste Poststellen im Lauchetal

Postablage (Sammel- und Verteilstelle) Poststelle mit Rechnungspflicht

Vorort «es sei der Bundesvertrag von 1815 einer Revision zu unterziehen und das Postwesen zu vereinheitlichen». Die Urkantone widersetzten sich diesem Anliegen. In der Neujahrsausgabe der Thurgauer Zeitung geisselte diese die Haltung gewisser Kantone, die sich gegen diese notwendigen Anliegen stellten. Aber erst an der Tagsatzungs-Sitzung vom 16.8.1847 wurde beschlossen, eine Kommission einzusetzen. Der Thurgauer Dr. Johann Konrad Kern war massgeblich an der Redaktion der ersten Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft beteiligt. Darin enthalten war auch der Art. 33, welcher die Verantwortung für das Postwesen ab 1.1.1849 dem Bund übertrug. Für den Vollzug wurde ein eigenes Departement, das Eidgenössische Postdepartement gebildet; als dessen erster Vorsteher wurde der St. Galler Bundesrat Wilhelm Naeff gewählt. In dieser Zeit kamen die Postwagenkurse auf, die zunächst auf den Personentransport ausgerichtet waren,

Bild Nr. 136 · Eine 4-plätzige Postkutsche vom Typ «Berline», wie sie ab 1896 im Lauchetal sowie auf vielen andern Nebenstrassen in der Schweiz verkehrten. Ein allfällig fünfter Fahrgast musste oder durfte neben dem Postillion auf dem Bock sitzen. Gepäck wurde auf dem Dach verladen. Alle Postkutschen dieses Typs – es gab Hunderte davon – waren bis zu deren Ausmusterung Mitte der 1920er-Jahre stets eisenbereift.


Das heutige Tal · Verkehrsanbindung

später aber auch den Transport der Briefpost übernahmen. Die Lauchetalgemeinden mussten sich auch hier in Geduld üben, bis auch sie an diesem Fortschritt teilhaben durften. 1865 wurde eine Postkutschenverbindung «Märstetten – Tobel – Wil» und 1882 eine solche «Weinfelden – Affeltrangen – Wil» eingerichtet. Erst 1896 erhielt das Lauchetal den ersten Postkutschenkurs «Matzingen – Stettfurt – Weingarten – Lommis – Affeltrangen», seinerzeit liebevoll «Rössli-Post» genannt. 1914 begann der 1. Weltkrieg und die Post musste auf breiter Basis sparen. Ab den 1920er-Jahren begann der motorisierte Postverkehr; die Postautokurse setzten sich auf breiter Front durch. 1927 wurde eine Postautolinie durchs Lauchetal eingerichtet und die Postkutschenkurse mussten der Moderne weichen. Die segensreiche Einrichtung Post wurde laufend weiterentwickelt und ausgebaut. Der letzte Satz des erwähnten Alt-Kreispostdirektors Rüdt (er stammte aus dem Heimatort des Verfassers – Mauren TG) in seiner Zeitungsinformation lautet: «Möge die Post sich auch in alle Zukunft als treue und zuverlässige Dienerin des Verkehrs und der Volkswirtschaft erweisen.» Es dauerte also nahezu ein halbes Jahrhundert, bis die Eidgenossenschaft ein einheitliches und geordnetes Postwesen erhielt. Gut Ding will Weile haben, sagt ein Sprichwort. Und es ist ein gutes Ding geworden.

Das Eisenbahn Zeitalter Das 19. Jahrhundert war eine wahrhaft spannende Zeit, eine Phase des Aufbruchs in vielen Bereichen. 1803 wurde der Thurgau als selbständiger Kanton in den Bund der Eidgenossenschaft aufgenommen. In der Folge musste der junge Kanton organisiert werden. Im Rahmen der ursprünglich vorgegebenen 8 Bezirke und 32 Kreise wurde aus den Kreisversammlungen der Grosse Rat mit 100 Abgeordneten gebildet; diese wiederum wählten den Kleinen Rat (Regierungsrat) mit damals 9 Mitgliedern. Nun mussten Gesetze erlassen und umgesetzt werden, welche das Zusammenleben der Thurgauerinnen und Thurgauer in allen Lebensbereichen regelten, so z.B. das Finanz- und Steuerwesen, das Bildungswesen sowie das Gerichtswesen, die Volkswirtschaft und das Militärwesen. Ab 1809 dienten die Gebäude der ehemaligen Komturei Tobel als «Zucht- und Strafanstalt» des Kantons.

Nach dem in den letzten Abschnitten beschriebenen Auf- und Ausbau des Thurgauischen Strassennetzes sowie des Postwesens, kam gegen Mitte des 19. Jahrhunderts ein bisher unbekannter Virus auf, welcher eine neue Art Fieber auslöste. Es handelte sich um das «Eisenbahnfieber», welches in den 1840er-Jahren auch auf die Schweiz überschwappte. 1847 nahm die erste Bahnlinie in der Schweiz auf der Strecke Zürich–Baden ihren Betrieb auf. Es handelte sich um die Schweizerische Nordbahn, besser bekannt unter dem Namen «Spanisch-Brötlibahn»*).

*) Spanisch-Brötlibahn. Die «Spanischen Brötli» waren ein damals köstliches, aus Spanien stammendes Gebäck, das auch in Baden als Spezialität hergestellt und verkauft wurde. Nach der Legende hätten die Zürcher Herrschaften sich dieses Gebäck allmorgendlich frisch von Baden her anliefern lassen. Daher der Spitzname «Spanisch-Brötlibahn».

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Weniger als 10 Jahre nach Betriebsaufnahme der ersten Eisenbahn in der Schweiz kam auch die Ostschweiz und der Kanton Thurgau in den Genuss des neuen Transportmittels. Unter grossem Jubel konnte 1855 die Bahnlinie Winterthur–Frauenfeld–Weinfelden–Romanshorn in Betrieb genommen werden. Ende des gleichen Jahres wurde auch die Bahnlinie Winterthur–Wil–St. Gallen dem Betrieb übergeben. Und das Fieber breitete sich weiter aus und sollte bald auch das Lauchetal erfassen. Im Rahmen einer privaten Gesellschaft nahm 1887 die Überlandbahn Frauenfeld–Matzingen–Wängi– Münchwilen–Wil (FWB) – aus Kostengründen als Schmalspurbahn gebaut – ihren Betrieb auf. Diese immer noch existierende Bahn – es gab zwischenzeitlich mehrere Projekte, diese Bahn durch Busse zu ersetzen – wurde liebevoll «'s Zügli» genannt. Anfänglich wurde sie, wie viele andere Bahnen mit Dampf betrieben; 1921 wurde sie elektrifiziert. Im Jahre 2012 konnte die FWB ihr 125-jähriges Jubiläum feiern. Um die gleiche Zeit, in den 1880er-Jahren, wurde im Thurgau die Frage einer Bahnverbindung Wil–Weinfelden–Konstanz erörtert. Am 11. August 1890 lud der damalige Gemeindeammann von Weinfelden – Jakob Bornhauser, welcher die Bedeutung einer solchen Bahnverbindung erkannte – die betroffenen Gemeinden, zu denen auch einige aus dem Lauchetal zählten, zu einer ersten Aussprache nach Kreuzlingen ein. Die Idee wurde begeistert aufgenommen. Einige Gemeinden opponierten zwar gegen die vorgesehene Linienführung. Dennoch konnten an dieser ersten Sitzung die folgenden Beschlüsse gefasst werden:

· Die Erstellung einer normalspurigen Eisenbahn Konstanz – Wil ist – unter möglichster Berücksichtigung der zwischenliegenden Gemeinden – allen Ernstes an die Hand zu nehmen. · Das Initiativkomitee wird die nötigen Schritte zur Ausführung des Projektes tun und die diesbezüglichen Vorarbeiten auf Kosten der interessierten Gemeinden vornehmen lassen. · Das bisherige Initiativkomitee besteht aus neun Mitgliedern mit Selbstergänzungs- und Cooptationsrecht bis auf 15 Mitglieder. Die Städte Wil und Konstanz erhalten je zwei Vertreter. Unzählige Sitzungen fanden statt zu Fragen der Linienführung, zu weiterführenden Bahnen sowohl auf der Nord- (Deutschland) wie auch auf der Südseite Richtung Wattwil, sowie zur wichtigen Frage, ob diese Bahnverbindung privat oder aber staatlich (vom Kanton Thurgau) geführt werden sollte. Wegen der Grösse dieses Projektes und unter Berücksichtigung des 1905 in Kraft getretenen thurgauischen Eisenbahngesetzes wurde eine «Aktiengesellschaft Mittel-Thurgau-Bahn» gebildet. Damit wurde diese Bahn als Privatbahn, aber mit Mehrheitsbeteiligung der öffentlichen Hand (Kanton und angeschlossene Gemeinden) geführt; grösster Einzelaktionär war der Kanton. Nun begann die immense Detailarbeit, die allseits mit Begeisterung angegangen wurde. Nach vorgängigen Prüfungen durch die staatlichen Instanzen konnte im September 1909 der Bau beginnen. Es mussten Erdwälle durchstochen, Brücken gebaut und die Schienen gelegt werden. Parallel dazu musste das Rollmaterial ausgesucht und bestellt, sowie eine Tarifstruktur erarbeitet


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werden. Am 18. Dezember 1911, also nach nur gut zweijähriger Bauzeit, konnte die neue Bahn, die Mittelthurgaubahn (MThB) eröffnet werden. Mit einem Extrazug aus Konstanz kamen die Gäste angereist. Um 10.45 Uhr verliess der erste Zug aus acht funkelnagelneuen Wagen, gezogen von zwei festlich bekränzten Dampflokomotiven den Bahnhof Wil in Richtung Konstanz. An jeder Station wartete viel Volk; es gab Ansprachen, Schulklassen trugen lange eingeübte Lieder vor und Vereine schwenkten ihre Banner. Das Wetter war leider nicht ideal, aber das tat der Festfreude keinen Abbruch. Beim Bahnhof Tobel-Affeltrangen hing folgender Spruch: «Me chauft e Billet a dr Bah, und saat, ob me's au well retour ha. 'S ischt öppe an uf Tobel cho, er hetti lieber retour gno!» (Der Spruch erinnert – wie unschwer zu vermuten ist – an die Zeit der Existenz der Zucht- und Strafanstalt des Kantons Thurgau in Tobel.) Am 20. Dezember 1911 wurde der offizielle Betrieb aufgenommen. Nur drei Jahre später begann der erste Weltkrieg, was eine erste existenzielle Belastung werden sollte. Diese und viele andere schwierige Phasen mussten überwunden werden. Grosse Entwicklungsschritte der neuen Bahn waren die Umstellung von Dampf- auf Diesellokomotiven und schliesslich die Elektrifizierung der MThB. Stets waren damit auch wichtige finanzielle Fragen zu lösen. Sowohl der Regierungsrat als auch das Thurgauer Volk standen und stehen stets zu ihrer Mittelthurgau-Bahn!

Nach diversen Turbulenzen wurde im Jahre 2003 nebst der Seelinie auch die Mittelthurgau-Bahn von den Schweiz. Bundesbahnen übernommen und in eine neue Tochtergesellschaft der SBB, die «Turbo-Bahnen AG», überführt. Damit wurde nun aus der ehemaligen MThB eine Staatsbahn. Eine Bahnlinie durchs Lauchetal Das Lauchetal war nun durch zwei Bahnen – am Westende durch die Frauenfeld – Wil-Bahn in Matzingen sowie am Ostende durch die Mittelthurgau-Bahn in Märwil und Tobel-Affeltrangen – mitberücksichtigt. Neben der Gruppe der Bahnprojekte erster Dringlichkeit, zu denen die Mittelthurgau-Bahn gehörte, wurden Ende des 19. Jahrhunderts weitere Bahnprojekte zweiter Dringlichkeit geprüft. Dazu gehörte u.a. ein Bahnprojekt, das von West nach Ost das Lauchetal bedient hätte. Es Bild Nr. 137 · Dampflok-Romantik der Mittelthurgaubahn

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ging dabei um die Linie Aadorf – Matzingen – Stettfurt –  Lommis – Affeltrangen – Tobel – Lanterswil – Schönholzerswilen – Neukirch – Schweizersholz – Bischofszell. Auf Grund der damals recht dünnen Besiedlung des Lauchetals und der Tatsache, dass es in dieser Region wenig

Quellennachweis Herdi Ernst IVS Thurgau Kolb J. Rüdt Emil Saruga Mirko Thurgauer Zeitung Thurgauer Zeitung Thurgauer Zeitung Welter Alfred

Geschichte des Thurgaus, 1943 Historische Verkehrswege im Kanton Thurgau, 2003 Das Postwesen im Thurgau bis 1848 Die Post im Thurgau, 1929 Strassenbau im Thurgau 1803 – 1848 Postbotenkurse, 15.3.1833 Neujahrsausgabe 1816 Artikel Emil Rüdt, 1929 Festschrift zur Elektrifikation der MThB, 1965

Industrie gab, wurde dieses Projekt nicht verwirklicht. An dessen Stelle wurde und wird das Lauchetal, wie früher erwähnt, durch Postbusse am öffentlichen Verkehr angeschlossen. Man mag das bedauern, aber wirtschaftlich gesehen ist dieser Entscheid nach wie vor richtig.


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Bedeutende Persönlichkeiten Viele Menschen, Frauen und Männer, Behörden, Lehrer und Pfarrer in der Vergangenheit und der Gegenwart haben zur positiven Entwicklung des Lauchetals beigetragen oder tragen aktuell dazu bei. Einige dieser Menschen, die besondere Fähigkeiten oder Anlagen hatten und die in ihrer Zeit Besonderes geleistet hatten, wollen wir hier erwähnen und deren Leistungen darstellen. Affeltrangen – Ein Pfarrer und politischer Aktivist Die nachfolgende Darstellung einer aussergewöhnlichen Persönlichkeit, die 14 Jahre in Affeltrangen gelebt und gearbeitet hat, basiert hauptsächlich auf der Biographie von Ernst Gerhard Rüsch im Werk «Thurgauische Beiträge zur Vaterländischen Geschichte», Heft 87.

Er wurde in Bürglen geboren und besuchte dort die Primarschule. Nach dem Tode seiner Eltern kam er schon in jungen Jahren zu einer Tante nach St. Gallen. Dort konnte er die Weiterbildung bis zum Abschluss eines Theologiestudiums am St. Katharinenkloster – im Volksmund «Bue­bechloschter» genannt – absolvieren. Anschliessend sammelte er erste Erfahrungen an zwei Vikariatsstellen in Wattwil und Sulgen. Seine erste Pfarrstelle erhielt er in Henau-Niederglatt im Kanton St. Gallen. Nach fünf Jahren in Henau bot sich ihm 1823 die Gelegenheit, wieder in den Thurgau, den er als seine zweite Heimat bezeichnete, zu kommen. Er wurde als Pfarrer in die Gemeinde Affeltrangen gewählt, wozu auch die

Kirchgemeinde Märwil gehörte. Es waren und sind zwei Kirchgemeinden, die von einem Pfarrer betreut werden. Im November jenes Jahres trat er diese Stelle mit grosser Begeisterung an. Die Rede ist von Wilhelm Friedrich Bion. Seinem Charakter entsprechend ging er seine pfarramtliche Tätigkeit als überzeugter reformierter Christ mit grossem Eifer und Engagement an. Wo ihm gewisse Dinge unkorrekt erschienen, meldete er sich. So empfand er es als richtig, um eine Erhöhung seiner Entschädigung nachzusuchen, weil er auch die Insassen der Strafanstalt Tobel mit vorgeschriebenen 16 Predigten pro Jahr bedienen musste. Die Regierung war aber – auch damals schon, wenn es sich um Geld handelte – schwerhörig. Zu den Aufgaben des Pfarrers gehörte seinerzeit, neben dem Armenwesen und der Führung eines Zivilstandsregisters, auch das Schulwesen; eine Aufgabe, die er mit besonderer Hingabe erfüllte. Er hatte hier vier Schulen zu betreuen, nämlich: Affeltrangen, Zezikon, Maltbach und Buch. Als Pfarrer war er Präsident dieser Schulbehörden. Wo erforderlich, kritisierte er vorhandene Missstände aller Art. So hiess es in einem seiner Berichte zu einer Schule: «Mit dieser Schule steht es in ökonomischer, geistiger und moralischer Beziehung sehr schlimm.» Anderseits, weil er sehr bildungsorientiert war, regte er bereits 1833 die Gründung einer Sekundarschule in Affeltrangen an.

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Neben seinen vielfältigen amtlichen Tätigkeiten gründete er 1820 mit Susanne Keller eine Familie. Ihr wurden insgesamt sieben Kinder geschenkt, zwei davon in Henau, die andern fünf in Affeltrangen. Die ersten drei Kinder starben sehr früh. In Affeltrangen arbeitete der engagierte Pfarrer Bion von 1823 bis 1837. Er hatte stets auch ein Auge auf die politische Entwicklung; seine Grundhaltung war freiheitlich radikal, auf Gleichberechtigung aller Menschen ausgerichtet. Visionär trat er schon zu seiner Zeit wohl als einer der Ersten für das Frauenstimmrecht in kirchlichen und schulischen Angelegenheiten ein. Auch ihm, neben andern, war bewusst, dass die Thurgauer Kantonsverfassung von 1815 mehrere bedeutende Mängel aufwies. Wieder einmal löste Paris mit der Julirevolution von 1830 Unruhe aus, die auch in die junge Eidgenossenschaft überschwappte. Nach dem Sturz Napoleons rissen die monarchistischen Bourbonen die Macht wieder an sich. Das Bürgertum wollte das nicht länger hinnehmen. Es kam zu einer Revolution, die nach wenigen Tagen mit einem Sieg der liberalen Opposition endete. «Diese Angelegenheit war nun auch Auslöser,» – so schreibt P. Dürrenmatt in seiner «Schweizer Geschichte» – «dass zuerst in der Ostschweiz» – (und zwar im Lauchetal – Nachtrag Verfasser) – «eine politische Bewegung entstand, welche die Gelegenheit nutzte, um die nachfolgenden Hauptmängel in der damals gültigen Kantonsverfassung anzuprangern: · Die Gewaltentrennung war nicht klar geregelt · Nur ein kleiner Teil des Grossen Rates konnte durch das Volk gewählt werden

· Es fehlte die Regelung der Handels- und Gewerbefreiheit · Es gab keinerlei Petitionsrecht · Die steuerliche Lastenverteilung war zu unausgewogen» Derjenige, der an vorderster Front dieser Bewegung stand, war Thomas Bornhauser aus Weinfelden. Auch er war evangelischer Pfarrer und amtete seit 1824 im Lauchetal und zwar in Matzingen. Bornhauser verfasste 1830 eine Schrift mit dem Titel: «Über die Verbesserung der Thurgauischen Staatsverfassung». Weinfelden wurde zum Zentrum dieser Bewegung und eine grosse Zahl von Anhängern unterstützen Bornhausers Ziele. Daraufhin wurde im Sinne der Vorschläge dieser Schrift eine neue Kantonsverfassung im April 1831 mit überwältigendem Mehr angenommen. Obwohl Bion wie sein Freund Bornhauser, ein feuriger Verfechter einer geeinten Schweiz war, fällt auf, dass Bion bis in den Sommer 1831 in der politischen Bewegung nicht genannt wird. E.G. Rüsch vermutet – «dass er in jener Epoche an Gesundheitsstörungen litt.» Dann aber tritt er hell ins Rampenlicht der thurgauischen politischen Bühne. Im Juli 1831 erscheint eine neue, radikalliberale Zeitung mit dem Namen «Wächter», getragen von einer Aktiengesellschaft (Aktionäre: Bornhauser, Bion, Dr. Keller und Dr. Simon). Hier entfaltet W.F. Bion seine publizistischen Fähigkeiten und gab damit dieser Zeitung sein Gepräge. Ein Beispiel aus Bions stets spitzer Feder: «Der Wächter wird seinen wohlgestählten Spiess gegen alle ihm in die Fährte kommenden politischen Buschklepper, Strolche und Gauner


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wenden und jeden entlarven, der in der Tunika oder im Talar seine aristokratische Contrebandware in liberale Balle eingepackt unter das Volk einzuschwärzen versucht.» Bion griff munter alle Missstände an, auch wo nur er glaubte, solche zu sehen. Und er traf den Volkston, weshalb der Wächter überall gelesen wurde, auch ausserhalb des Kantons. Bion profilierte sich zunehmend auch als Fest- und Volksredner, besonders auch an Jugendfesten. In Affeltrangen organisierte er als Erster ein grosses Kinderfest. Wer eine so spitze Feder führte wie Bion, der musste auch mit Gegnern rechnen; Presseprozesse blieben nicht aus. Auch Angriffe gegen die radikale Politik des Pfarrers nahmen zu, weshalb er schliesslich im Herbst 1833 die Redaktion beim Wächter niederlegte. Auch in der Gemeinde gab es zunehmend Widerstand gegen seine oft sehr direkte Ausdrucksweise. Ab der zweiten Hälfte der 1830er-Jahre war er bestrebt, in seine Vaterstadt St. Gallen gewählt zu werden. Bei einer Bewerbung um eine dortige Pfarrstelle unterlag er jedoch einem andern Kandidaten. Man hatte auch in St. Gallen Bions politisches Wirken verfolgt. Schliesslich nahm er 1837 in Rehetobel die Stelle als Pfarrer an. Seine Amtsgeschäfte übte er auch hier, wie zuvor in Affeltrangen, mit Engagement aus. Journalistisch arbeitete er ab 1839 in Beiträgen in der ebenfalls liberalen «Appenzeller-Zeitung» weiter. Von Rehetobel kam er zurück in den Thurgau nach Schönholzerswilen; es sollte seine letzte pfarramtliche Stelle werden. Er blieb weiterhin sehr aktiv in allen Belangen seiner Amtstätigkeit, auch im Schulwesen.

In Vorausahnung kommender Ereignisse, insbesondere eines möglichen Bürgerkrieges, erwachte sein politisches Feuer erneut. So gründete er, zusammen mit seinem Bruder, eine neue linksradikale Zeitung mit Namen «Volksmann». Der Sieg der Bundestruppen im Sonderbundskrieg, die Aufhebung der Klöster und die anschliessende Errichtung des Bundesstaates führten bei ihm zu einem Freudentaumel. Viele der von ihm leidenschaftlich verfolgten Ziele waren erreicht. Fazit dieser aussergewöhnlichen Persönlichkeit: Ein Vorbild in der seriösen und engagierten Ausübung seiner beruflichen Tätigkeiten, ein Vorkämpfer in fortschrittlicher Schul- und Jugendarbeit, ein auf Gerechtigkeit ausgerichteter Politiker mit Sendungsbewusstsein, ein sprachbegabter Journalist, ein begnadeter Volksredner und ein überzeugter Demokrat. Dieser überaus vielfältig tätig gewesene Wilhelm Friedrich Bion hat in Affeltrangen und im Kanton Thurgau Spuren hinterlassen, die ihm ein würdiges Andenken sichern. Buch bei Märwil – Ein Pädagoge von Weltruf So steht es auf einer Gedenktafel am Hause Reben­ strasse 8 in Buch bei Märwil. In jenem Hause wurde er als ältestes von neun Kindern geboren und wuchs daselbst bei seinen Eltern, einer währschaften Bauernfamilie, auf. Die Primarschule besuchte er in Buch-Schmidshof, die Sekundarschule in Affeltrangen. Der katholische Pfarrer der Region erkannte im heranwachsenden Knaben ausserordentliche Begabungen. Er empfahl seinen Eltern, ihren erstgeborenen Sohn nach den Grundschulen studieren zu lassen. Er, der Pfarrer, unterrichtete diesen aufgeweckten Jungen in Latein. Die Begabungen,

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Stelle als Stationsgehilfe in Bischofszell bei der Lokalbahn Gossau–Sulgen an. Nach einigen Jahren erkannte er aber, dass sein wahres Wirkungsfeld die Schule war. 1880 zog er im jugendlichen Alter von 20 Jahren nach London, wo er eine Lehrstelle für kontinentale Sprachen an der «Forest Hill Middle Class School» erhielt. Mit sehr guten Berufszeugnissen kam er nach drei Jahren zurück in die Schweiz und erhielt eine Stelle als Lehrer für Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und Kalligraphie am «Institut Schmutz-Moccand» in Rolle. Um seine Italienischkenntnisse zu vervollständigen, konnte er wiederum als Sprachlehrer ein Jahr am «Collegio Misto» in der Nähe von Pisa arbeiten. Parallel dazu begann er, Vorlesungen an der dortigen Universität zu besuchen.

Bild Nr. 141 Geburtshaus des «Pädagogen von Weltruf»

die der Pfarrer zu erkennen glaubte, sollten – wie wir noch erfahren werden – reiche Früchte tragen. Der Name des Knaben war Ulrich Schmid, der spätere Prof. Dr. Joh. Ulrich Schmidt (23.3.1860 – 28.2.1924). Während seine Eltern, J.U. und E. Schmid-Hess, bei ihrem angestammten Namen blieben, fügte der Junior seinem Nachnamen schon im Knabenalter ein «t» an. Nach der Sekundarschule absolvierte Ulrich ein Welschlandjahr; anschliessend durfte er die Kantonsschule in Frauenfeld besuchen und studierte romanische Sprachen und Englisch. Mittlerweile – 1876 – waren seine Eltern nach Eutenberg gezogen. Da die Mittel zu einem Hochschulstudium fehlten, wollte er sich diese Möglichkeit selbst erarbeiten. Er nahm eine

Aus seinen bisherigen Arbeitseinsätzen als Lehrer hatte sich Ulrich Schmidt eine finanzielle Grundlage geschaffen, die es ihm nun als 25-Jähriger erlaubte, an der Universität Zürich seine Studien aufzunehmen und 1888 als Doktor der Philosophie abzuschliessen. Kurz zuvor erwarb er sich noch ein Diplom für den Unterricht des Französischen und Englischen an höheren Lehranstalten. Gestützt auf seine umfassende Ausbildung wurde ihm, dem jungen Doktor Schmidt, im April 1888 ohne weitere Prüfungen das Reallehrerpatent für den Kanton St. Gallen erteilt. Gleich anschliessend wählten ihn die st.-gallischen Behörden als Lehrer für Französisch, Englisch und Geographie an die Mädchenrealschule «Talhof» in St. Gallen. Ein Jahr zuvor, 1887, wurde Dr. Schmidt Präsident des «English Club» in Zürich. Hier lernte er die sympathische junge Frau, Martha Reiser, kennen, die ihrerseits in Sprachen und Musik – welch sinnvolle Fügung für die


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spätere Tätigkeit – ausgebildet war. Aus Freundschaft wurde Liebe. Nachdem Dr. Schmidt über eine hervorragende Ausbildung verfügte und in St. Gallen eine feste Anstellung erhielt, fühlte er sich sicher, eine Ehe auf seriöser finanzieller Basis eingehen zu können. Dem Ende Juli 1888 geschlossenen glücklichen Ehebund entsprossen vier Töchter und zwei Söhne. Neben seiner Arbeit an der Mädchenrealschule Talhof betrieb das Ehepaar Schmidt-Reiser die Pension «Löwenhof» am Rosenberg, wo sie jungen Burschen Sprachunterricht erteilten. Als die Schülerzahl auf 22 anwuchs, wandelten sie diese Pension 1891 in ein Knabeninstitut um. Im gleichen Jahr kündigte Dr. Schmidt sein Arbeitsverhältnis mit der genannten Mädchenschule, um sich mit seiner ebenfalls arbeitsfreudigen Ehefrau ganz dem «Internationalen Erziehungs-Institut Dr. Schmidt» zu widmen. Die Schülerzahl stieg kontinuierlich an, was nach zusätzlichem Schulraum rief. Dank einem Darlehen seines Schwiegervaters konnte ein weiteres Gebäude erworben und ein Neubau erstellt werden. 1893 zählte das Institut bereits 70 Schüler. Das pädagogische Geschick von Dr. Schmidt, die tatkräftige Unterstützung durch seine Gemahlin und die tüchtigen Mitarbeiter waren Eckpfeiler des Erfolges. Hinzu kamen auch die Qualität der Ausbildung und die Tatsache, dass an diesem Institut nicht nur Wissen vermittelt wurde, sondern die jungen Menschen zu ausgewogenen Persönlichkeiten mit ausgeprägter Sozialkompetenz und hohem Mass an Selbstdisziplin erzogen wurden. Dabei hielt sich Dr. Schmidt an den Erziehungsgrundsatz von Heinrich Pestalozzi: «Das Ziel aller Erziehung ist, zu lernen das Leben zu gestalten.» Es kommt daher nicht

von ungefähr, dass ihm Persönlichkeiten wie Puccini, d’Annunzio, Segantini, Ritz, Montgolfier und viele andere ihre Söhne zur Erziehung und Ausbildung anvertrauten. Das Institut wuchs kontinuierlich und betreute im Jahre 1908 rund 300 interne und 30 externe Schüler mit gegen 35 Lehrkräften; es ist so zu einem mehrgebäudigen Grossunternehmen der Stadt St. Gallen geworden. Die besonderen Eigenschaften des Dr. Joh. Ulrich Schmidt wurden auch in der Öffentlichkeit erkannt. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde er in den städtischen Schulrat gewählt, gehörte der Realschulkommission an und führte auch das Präsidium des Kreisschulrates C. Als aktiver Staatsbürger hat er auch politische Verantwortung übernommen. Zu ihm passte das Gedankengut der Freisinnig-demokratischen Partei; hier wurde er bald zum städtischen Parteipräsidenten gewählt. Von 1912 bis 1921 war er Mitglied des Grossen Rates des Kantons St. Gallen und drei Jahre lang Vizepräsident der staatswirtschaftlichen Kommission. Der nahende erste Weltkrieg 1914 – 1918 zeitigte erste Risse im Unternehmen. Die Schülerzahlen begannen abzunehmen, was nach und nach zu finanziellen Engpässen führte. Während des Krieges wurden Ehemalige teilweise zu Gegnern und mehrere kamen im Kriege um. Diese Entwicklung machte Dr. Schmidt grosse Sorgen und könnte ein Grund gewesen sein, dass ab 1921 ein Lungenleiden einsetzte, welches sich als Lungenkrebs erweisen sollte. Jedes Leben hat ein Ende. Zunächst aber durfte diese herausragende Persönlichkeit nochmals Freude erleben.

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Sein ältester Sohn Huldi hatte 1921 sein Hochschulstudium erfolgreich abgeschlossen und wurde wie sein Vater Doktor der Philosophie. Trotz aller ärztlichen Kunst konnte das Lungenleiden nicht mehr geheilt werden. Am 28. Februar 1924 schloss Dr. Joh. Ulrich Schmidt für immer die Augen; drei Jahre später folgte ihm seine geliebte Gattin in die ewige Ruhe an ihrem Wirkungsort St. Gallen. Sein Sohn Huldi war damals der Unternehmensführung nicht mächtig. Dennoch, dank allergrösster Anstrengungen und mit Unterstützung von Freunden, gelang es ihm in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre, die Schülerzahlen wieder bis auf 100 zu steigern. Die Weltwirtschaftskrise von Ende der 1920er-Jahre führte dann aber dazu, dass das Werk von Dr. Schmidt sen. 1930 in eine AG umgewandelt werden musste. 1934 verliess Dr. Schmidt jun. St. Gallen, um sich an den Gestaden des Genfersees niederzulassen. Hier gründete er ein eigenes Institut, das nach seinem Tode von seinem Sohn weitergeführt wurde.

Um den 20. März 1960, wie wir einem Artikel des Thurgauer Tagblattes vom 22.3.1960, entnehmen, wurde der 100. Geburtstag des Dr. Joh. Ulrich Schmidt in einem würdigen Rahmen gefeiert. Am Abend vor der Feier in Buch besuchte eine Gruppe von «Schmidtianern» Schloss und Gut Arenenberg und wurde am Abend in Frauenfeld vom damaligen Regierungsratspräsidenten und Erziehungsdirektor E. Reiber herzlich begrüsst und willkommen geheissen. Der Feier in Buch wohnten neben den Ehemaligen eine grössere Zahl von Bewohnern von Buch, Märwil, Affeltrangen und Zezikon bei. Festreden hielten der Ortsvorsteher von Buch, Hans Iseli, der Gemeindeammann der Munizipalgemeinde Affeltrangen, A. Bolli und Jakob Haffter aus Märstetten, ein Ehemaliger und Organisator dieser Feier. Sie alle würdigten Leben und Werk des Geehrten. Die Dorffeier wurde mit Liedern der Bucher Schüler sowie Beiträgen der Musikgesellschaft Märwil umrahmt. Der dritte Teil der Feier bestand im Besuch der Gräber von Dr. Schmidt und seiner Gattin in St. Gallen sowie dem Besuch des Instituts Rosenberg.

Das Institut auf dem Rosenberg musste trotz vieler Schwierigkeiten, die aus den wirtschaftlichen und politischen Problemen jener Zeit herrührten, nie geschlossen werden. Ab Mitte der 1930er-Jahre konnte diese Bildungsstätte zu neuer Blüte geführt werden; dies dank einer Familie Gademann aus Zürich, die dieses Unternehmen bereits in vierter Generation führt. Aktueller Verwaltungsratspräsident ist Bernhard O.A. Gademann, aktuelle Geschäftsführerin ist Frau Monika A. Schmid. Derzeit bildet das Institut 260 interne und 35 externe Schülerinnen und Schüler aus; diese stammen aus mehr als 30 verschiedenen Ländern.

Lommis – Armutsbekämpfung durch Schaffung von Arbeitsplätzen In der Zeit von 1803 bis 1832 war der junge Kanton Thurgau noch nicht in allen öffentlichen Belangen gefestigt. In den Jahren 1816 und 1817 herrschte auch im Lauchetal eine ausgeprägte Armut. Dazu schreibt Ernst Herdi in seiner «Geschichte des Thurgaus» u.a.: «Nach mehrjähriger vorwiegend nasskalter Witterung, die 1816 zu regelrechtem Misswuchs führte, kam Schwere Not. Der Brotpreis stieg aufs Achtfache. Besonders im Hinterthurgau herrschte schwarzer Hunger, und unmögliche Speisezettel begünstigten überdies den Typhus.»


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«In eben dieser Zeit, wahrscheinlich im Jahre 1817» – das nehmen Jakob Fröhlich und Ulrich Graf, Verfasser der sehr gut recherchierten «Geschichte der ehemaligen Baumwollspinnerei Lauchetal bei Lommis» aus dem Jahre 1913, gestützt auf Indizien an – «wurde in Lommis eine Baumwollspinnerei*) gegründet.» *) Textilindustrie in der Ostschweiz. Die Entwicklung der Ostschweizer Textilindustrie lässt sich grob in drei Phasen unterteilen: Das Leinwandgewerbe dauerte etwa vom frühen Mittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts; es wurde abgelöst durch die Produktion von Baumwollgeweben und schliesslich folgte ab zirka Mitte des 19. Jahrhunderts das Stickereigewerbe.

Über der Haustüre war seinerzeit eine Holztafel mit der Aufschrift «F. Lauchetal. W. MDCCCXVII» angebracht. Die Buchstaben, sowie leider nur noch spärlich vorhandene Unterlagen lassen auf die Herren Kaspar Fröhlich, Gemeindeammann von Lommis sowie Konrad Wellauer, Gemeinderat von Weingarten als Gründer dieses Unternehmens – wahrscheinlich das erste in Lommis – schliessen. Beide Herren bzw. Familien waren sehr begütert und konnten damit das Risiko einer Unternehmensgründung – sie waren beide keine Textilfachleute – eingehen. Fröhlich besass ausgedehnte Waldungen, welche das Holz für den geplanten Fabrikbau lieferten. Wellauer war Zimmermann, der wahrscheinlich mit seinen Gesellen den Bau errichtete. Benötigte Steine hat man vermutlich zu einem günstigen Preis vom Abbruch des Schlosses Spiegelberg beschaffen können.

Die Verfasser dieser Geschichte der Baumwollspinnerei sind überzeugt, dass die beiden Unternehmer, die gleichzeitig verantwortliche Behördenmitglieder waren – «diese Unternehmung in dieser aussergewöhnlichen Zeit nicht aus Gewinnsucht gegründet hatten. Vielmehr sahen sie darin eine Möglichkeit, die Armut durch Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten zu lindern.» Leider gibt es keine Angaben darüber, wie viele Arbeiter die Fabrik beschäftigte. (Wir schätzen die Zahl auf 12 – 18.) Im Januar 1824 starb Konrad Wellauer. Im März des gleichen Jahres heiratete Ulrich Graf Dorothea Fröhlich, die Tochter des verbliebenen Prinzipals und trat in die Fabrik ein. So entstand die Firma Fröhlich und Graf. Mit Ulrich Graf – als ausgebildeter Baumwollfachmann wurde er bald zum Betriebsleiter des Unternehmens ernannt – begann eine neue Phase. Er war bemüht, die Rendite zu verbessern. Aber auch er hatte mit dem unsteten Wasserlauf der Lauche, dem alternden Maschinenpark sowie dem teilweise ungenügenden Absatz der Garne zu kämpfen. 1832, vier Jahre vor seinem Tode, liess der mittlerweile 71 jährige Mitbegründer der Baumwollspinnerei Kaspar Fröhlich einen Teilungsbrief errichten. Basierend darauf – «wurde die Hälfte des ganzen Besitzes, Fabrik mit Zubehör, alles Ackerfeld, die Scheuer bei der Fabrik, allen Heuwuchs sowie der Lettenacker und die Reben im Untergeisstal zu einem Gesamtwert von 7 100 Gulden auf den Tochtermann Ulrich Graf übertragen.» Erst ab diesem Moment erscheinen Ulrich Graf und sein Schwager Johannes Fröhlich (Sohn des Mitbegründers) als solidarisch haftende Besitzer der Fabrik.

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Anlässlich dieses Rechtsaktes mussten die Besitzer der Baumwollspinnerei wegen der völlig ungenügenden Rendite allen Ernstes daran denken, den Betrieb einzustellen. Als Unternehmer überlegten sie sich, wie die Wasserkraft weiterhin sinnvoll eingesetzt werden könnte. Damals kam erstmals die Idee auf, eine Kundenmühle zu betreiben; man blieb aber vorläufig noch beim angestammten Gewerbe. 1836, 75-jährig starb der Mitbegründer der Spinnerei, Hans Kaspar Fröhlich. 1839, nach über 20-jährigem Bestehen der Baumwollspinnerei Lauchetal in Lommis, sah sich der verbleibende Besitzer der alten Fabrik gezwungen, die ihm sehr vertraute Baumwollbranche aufzugeben. Er war mittlerweile 40 Jahre alt und hatte eine Familie mit sieben Kindern. Auch die Müllerei, von der er vorderhand nichts verstand, war mit Risiken behaftet. Dennoch entschloss sich Ulrich Graf, eine Kundenmühle zu errichten; sie sollte bis 1990 Bestand haben. Hinsichtlich der Mühle verweisen wir auf das Kapitel «Landwirtschaft», Abschnitt «Mühlen». Matzingen – Ein Unternehmer alter Schule Seine Wiege stand 1860 auf einem kleinen Bauernhof in Bänikon; da ist er auch aufgewachsen. Die Sekundarschule besuchte er in Weinfelden. Dort gab es schon damals die Mühle Meyerhans, wo er eine Lehre als Müller absolvieren konnte. Nach der Lehre nahm er sein «Ränzlein» und reiste als aufgeweckter, charakterstarker junger Mann nach Ungarn, dem damals grössten Getreideproduktionsland Europas, um sich in seinem Metier weiterzubilden.

Nach rund einem Jahr ersehnten ihn seine Eltern zurück. Dieser Wunsch, die Liebe zur Heimat sowie die anstehende militärische Pflichterfüllung führten diesen mittlerweile gereiften jungen Mann zurück in die Schweiz. Die Rede ist hier von Conrad Ringold. Seit dem Jahre 1150 ist die Existenz einer Mühle in Matzingen nachgewiesen – Einzelheiten dazu finden sich im Kapitel «Landwirtschaft», Abschnitt «Mühlen». Mit 22 Jahren erwarb Conrad Ringold diese Mühle. Vorsichtig, wie er war, pachtete er diesen Betrieb vorerst nur; er wollte sicher gehen, dass sich daraus auch eine dauerhafte Existenz aufbauen lasse. Das war umso wichtiger, als er sich zu dieser Zeit vermählte und zwar mit Genoveva Baumberger, einer jungen Frau aus angesehener Familie. Er liebte seinen Beruf und sah gute Entwicklungsmöglichkeiten in diesem Geschäft. Bereits 1886 – mit 26 Jahren – wagte er den Kauf dieser alten Mühle. In diesem Kauf eingeschlossen waren neben der Mühle auch das Wohnhaus, eine Säge, ein Wasserrad, eine Transmission und ein Getriebe, sowie sämtliche Maschinen und das Waschhaus. Nun begann der initiative aber immer umsichtige Conrad Ringold, den schrittweisen Aus-, Um- und Neubau seines Betriebes. Einen ersten Ausbau realisierte er bereits kurz nach dem Erwerb; neben vielen Teilbereichen die erneuert werden mussten, wagte er im Jahre 1904 einen völligen Mühlenneubau. Seine Firma hiess nunmehr «Conrad Ringold, Handelsmühle».


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Die Familie Ringold-Baumberger wuchs und wuchs; nach zunächst neun Töchtern, wurde ihnen 1902 auch noch der lang ersehnte Stammhalter geschenkt. Das muss ja wohl beiden, aber insbesondere dem Vater, neuen Auftrieb gegeben haben in der Hoffnung – die sich später auch erfüllen sollte – dass dieser späte Sohn Konrad einst die Mühle weiterführen und weiterentwickeln werde. Auch das Unternehmen wuchs und hatte gute Jahre. 1930 erfolgte ein Umbau des Betriebes, indem ab dann auch Hartweizen gemahlen werden konnte. Bereits ein Jahr später erfolgte die Geschäftsübergabe an seinen Sohn. Diese beiden Ereignisse führten wiederum zu einer Neufirmierung. Der neue Firmenname lautete ab Mai 1931 «Konrad Ringold Hartgriess- und Weichweizenmühle Matzingen». Einige Besonderheiten noch zum Gründer der neuen «Müllereigeschichte» in Matzingen. Er war nicht nur ein fachlich kompetenter Müller mit festem Charakter, sondern pflegte über all die Jahre einen fast väterlichen Umgang mit seinen Mitarbeitern. Es kam vor, dass er Gäste im «Übergwändli» begrüsste; das beeindruckte diese jeweils mächtig. Conrad Ringold war und blieb Zeit seines Lebens ein gottesfürchtiger Mann; er besuchte regelmässig die Sonntagsgottesdienste in Wängi. Mit 71 Jahren, nachdem er die ganze Entscheidungsgewalt auf seinen Sohn übertragen hatte, verlegte er seinen Wohnsitz nach Frauenfeld, wo er zunächst, nach dem Tode seiner Gattin, von einer ledig gebliebenen Tochter liebevoll gepflegt wurde. Am 5. Mai 1943 starb dieser vorbildliche Unternehmer seiner Zeit und

wurde in Wängi neben seiner Gattin der geweihten Erde übergeben.

Kleine Anekdote Eines Abends sass er, wie hin und wieder, mit Bekannten und auch Arbeitern in einer Beiz. Da war auch ein «Trickdieb» anwesend. Conrad Ringold, der nicht an das Können des Trickdiebes glaubte, liess sich «bestehlen». Als ihm dieser nach getanem Trick sein Portemonnaie und seine Sackuhr zeigte, wurde er fast böse und sagte: «Gib mir meine Sachen wieder zurück!»

Matzingen – Die Dynastie Gyr Einst ein blühendes Gewerbe und grösster Arbeitgeber in der Gemeinde, musste die Weberei Matzingen 1970 ihren Betrieb einstellen. Die Textilindustrie wurde durch zunehmend starke Konkurrenz aus Billiglohnländern aus der Schweiz verdrängt; es konnten nur noch diejenigen überleben, die sich auf Spezialitäten konzentrierten, wie z.B. das St. Galler Stickereigewerbe. Was die verschiedenen Generationen Gyr in den nahezu 75 Jahren vor der Betriebsschliessung leisteten, ist ein Musterbeispiel für seriöses Unternehmertum. Johannes Gyr aus Zürich erwarb 1897 die damalige Baumwollspinnerei Matzingen von einem Herrn Arter. Die Geschäftsführung übertrug Johannes Gyr kurz nach dem Kauf seinem Sohn Hans, einem ausgebildeten Maschineningenieur. Nur zwei Jahre nach dem Kauf zerstörte ein Brand grosse Teile der Fabrik. Tatkräftig bauten die beiden Herren Gyr die Fabrik wieder auf, neu aber als Wollweberei.

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In der beginnenden Industrialisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es recht üblich, für Arbeiter und Angestellte fabrikeigene Wohnhäuser zu bauen und günstig zu vermieten. Man wollte damit auch erreichen, dass diese Mitarbeiter dem Unternehmen langfristig dienten. Auch die Weberei Matzingen verfügte über mehrere solcher Mitarbeiterhäuser. Diejenigen für die Angestellten – sechs Einheiten – stehen noch immer an der Brächlistrasse; diejenigen für die Arbeiter, Kosthäuser genannt, befinden sich an der Frauenfelderstrasse. Schon 1920 errichtete Hans Gyr einen Unterstützungsfonds, welcher Beiträge für die Folgen des Alters oder Krankheit der Mitarbeiter entrichtete. Als Ergänzung zur Weberei errichtete Hans Gyr eine Kammgarnspinnerei. Max Gyr, der Sohn von Hans war Textilkaufmann und studierter Jurist. 1937 trat mit ihm bereits die dritte Generation Gyr in den familieneigenen Textilbetrieb ein. Max Gyr begann Anfang der 1960erJahre, die Weberei zu modernisieren und die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens zu verbessern. Zu diesem Zweck kaufte er neue Hochleistungswebstühle. Dies bedingte aber eine neue Schedhalle, weil für den Altbau die Erschütterungen dieser gewichtigen Maschinen zu gross waren. In den 1950er- und 1960er-Jahren war die Zahl der Arbeiter und Angestellten auf rund 100 gestiegen, für die Gemeinde Matzingen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Viele der Beschäftigten im Betrieb kamen aus dem Ausland; die Fachspezialisten und Kader dagegen waren mehrheitlich Schweizer. Auch in jenen Zeiten wuchs die Konkurrenz durch ähnliche Unternehmen auch für die Weberei Gyr. So musste man sich auch hier auf Spezialitäten (Produktnischen)

konzentrieren. Solche Produkte waren in der Weberei Gyr etwa ein elastischer Wollstoff. Diese Stoffe wurden in Zusammenarbeit mit «Heberlein», Wattwil (Helanca) und der «Färberei Schütze & Co.» unter der Marke «Derbystar» durch eine Drittfirma als Skihosen (auch Keilhosen genannt) verkauft. Sehr bedeutend war auch der Export dieser Stoffe nach den USA. Das Aufkommen von wattierten Skianzügen verdrängte jedoch die elastischen Skihosen vom Markt. 1966 trat Hans Rudolf Gyr, wie sein Vater Max Textilkaufmann und Jurist, in die Firma ein. Aus mehreren Gründen, wie Fragen der persönlichen Haftung und Fragen der Erbteilung, empfahl der junge Hans Rudolf seinem Vater, die bisherige Kommanditgesellschaft in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln, was dieser denn auch akzeptierte. Die neue Firmenbezeichnung lautete fortan «Gyr & Co. AG». Die Situation in der Textilindustrie generell und für die Weberei Matzingen im Besonderen verschärfte sich weiter. So mussten die Herren Max und Hans Rudolf Gyr im Jahre 1970 schweren Herzens die Einstellung des Betriebes beschliessen; ein Entscheid, der Respekt verdient. Eine gesamthaft über 100-jährige Geschichte der Textilindustrie in Matzingen ging damit zu Ende. Mit tatkräftiger Hilfe der bisherigen Arbeitgeberin mussten sich die noch verbliebenen Mitarbeiter nach neuen Arbeitsmöglichkeiten umsehen – auch für die Gemeinde ein herber Verlust. Die Firma «Gyr & Co. AG» existiert weiter; sie verwaltet die historischen Gebäulichkeiten der einstigen Weberei. Anfänglich stellte die Weberei Wängi für eine


Besonderheiten aus dem Tal · Bedeutende Persönlichkeiten

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beschränkte Zeit ihre Produkte in diesem Betrieb her. Mittlerweile konnte eine Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen hier im Mietverhältnis eine Arbeitsbasis finden. Stettfurt – Ein Bundesgerichts-Präsident 1843 geboren wuchs er wohlbehütet im Haus Nr. 26 an der Hauptstrasse mitten im Dorf Stettfurt auf. Ältere Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner nennen dieses Haus immer noch «Bundesrichterhaus». Die Rede ist vom späteren Dr. jur. Jakob Huldreich Bachmann, der weit über die Grenzen seines Heimatdorfes Stettfurt hinaus als Bundesrichter bekannt wurde. Nach Abschluss der Kantonsschule studierte er zunächst Philosophie an der Universität Zürich. Nach rund einem Jahr sattelte er auf Jurisprudenz um und setzte die einschlägigen Studien an verschiedenen Universitäten in Deutschland fort. 1867 erlangte er in Heidelberg die Doktorwürde. Es war eine Zeit des Aufbruchs in der Schweiz. Nach dem Zerfall der alten Eidgenossenschaft erhielt der junge Staat 1848 seine erste Verfassung; da war Jakob Huldreich Bachmann fünf Jahre alt. Handel, Gewerbe und Industrie blühten auf und da war es besonders wichtig, ein verlässliches Rechts- und Gerichtssystem zu installieren. Ausgestattet mit einem geschärften Gerechtigkeitssinn wurde Jakob Huldreich Bachmann Richter aus Leidenschaft. 1872 begann er seine Tätigkeit am Bezirksgericht Frauenfeld, wirkte dort bis 1893 und wurde anschliessend – wie zuvor sein Vater – ordentlicher Oberrichter.

Bereits 1896 wurde er ans Bundesgericht in Lausanne gewählt; dort amtete er bis 1904. Die letzten zwei Jahre als Bundesrichter wurde er zum Präsidenten des höchsten Gerichtes der Schweiz gewählt; eine Ehre, zu der ihm der damalige Gemeinderat von Stettfurt mit einem von Hand geschriebenen Brief gratulierte. Parallel zu seiner richterlichen Tätigkeit war er aber auch politisch aktiv. Von 1875 bis zur Wahl ans Bundesgericht gehörte er dem Grossen Rat des Kantons Thurgau an und präsidierte dieses Gremium mehrmals. Von 1881 – 1895 war er Mitglied des Nationalrates. In diesen Jahren war Dr. Jakob Huldreich Bachmann aktiv an der Kreation des neuen Schuldbetreibungs- und Konkurs-Gesetzes (SchKG) beteiligt. Zudem war er 17 Jahre lang Mitglied des evangelischen Kirchenrates sowie Mitglied im Leitungsgremium der seinerzeitigen Hypothekenbank.

Bild Nr. 142 Das «Bundesrichterhaus» in Stettfurt


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1876 vermählte sich Dr. Bachmann mit Anna Gertrud Lüti aus Gachnang. Dieser Ehe entsprangen drei Töchter und ein Sohn; letzterer starb bereits im fünften Lebensjahr. Auch der jüngsten Tochter Clara Gertrud, geb. 1890 war kein langes Leben geschenkt; sie wurde lediglich 24 Jahre alt. Die zweitgeborene Tochter Marie Elise (1879 – 1955) war die letzte Erbin der Hinterlassenschaft des Ehepaares Bachmann-Lüti. Sie ist älteren Stettfurtern immer noch als liebenswerte und grossherzige Frau in Erinnerung. Sie schenkte der Evangelischen Kirchgemeinde Stettfurt anfangs der 1950er-Jahre das Bauland westlich der Kirche sowie eine ansehnliche Geldsumme für den Bau eines neuen Pfarrhauses. Ein Geschenk besonderer Art war die Übergabe des Schlosses Frauenfeld an die Stadt zusammen mit einer Barsumme für den Unterhalt dieses historischen Gebäudes und mit der Auflage, dass in der Umgebung keine Bauten errichtet werden dürfen, die den Anblick des Schlosses stören könnten. Dieses historische Gebäude wurde übrigens von ihrem Grossvater, Oberrichter Joh. Jakob Bachmann, in den 1870er-Jahren käuflich erworben, um es so vor dem geplanten Abriss zu retten. An dessen Stelle hätte ein Neubau der Hypothekenbank errichtet werden sollen, was im Kanton einen Sturm der Entrüstung auslöste. In einem Nachruf der Thurgauer Zeitung für den 1915 verstorbenen Bundesrichter Bachmann hiess es: «Er hat bewiesen, dass der wahrhaft Tüchtige ohne Streberei, lediglich durch das Gewicht seiner tatsächlichen Leistungen, die werbende Kraft seines Charakters und

den heiligen Eifer, mit dem er für seine Überzeugung einsteht, auch in der Demokratie seinen Weg machen kann.» Weingarten – Ein Orgelbaumeister Die nachfolgenden Angaben entstammen einem Buch von Bernhard Wittweiler, Zürich. Danach wurde der berühmt gewordene Orgelbauer, Johann Jakob Bommer, am 25. August 1697 (wahrscheinlich in Lommis) getauft; das genaue Geburtsdatum ist nicht bekannt. Die Familie wohnte in Weingarten. Über die Jugendzeit des Genannten ist nichts bekannt. Dagegen entnehmen wir dem genannten Werk – «dass dieser – wie er in Böhmen genannt wurde – Jan Jakub Bommer, Orgelbauer, am 15. Oktober 1725 die Jungfrau Anna Daussek aus Pilsen in Kutna Hora» – (dem heutigen Kuttenberg in Mittelböhmen, Tschechoslowakei) – «ehelichte.» Wie und warum er dorthin reiste, ist unbekannt. Drei Vermutungen stehen im Vordergrund, welche davon aber stimmt, kann nicht gesagt werden: a) Er soll um 1725 im Dienste der Jesuiten gestanden haben, die in der St. Barbarakirche in Kuttenberg in eigener Regie eine grosse Orgel bauten. b) Er sei als Geselle eines süddeutschen Orgelbauers dorthin berufen worden oder sei in Prag gewesen und habe dort als Geselle bei Meister Abraham Stark an der Orgel der Kirche St. Jakob mitgearbeitet. c) Er habe sich als Wanderorgelbauer in der Tschechoslowakei aufgehalten und nach Arbeit gesucht. Wann genau er wieder in den Thurgau zurückgekehrt ist, ist ebenfalls nicht mehr feststellbar. Fest steht aber, dass er gegen Ende der 1720er-Jahre in Weingarten eine


Besonderheiten aus dem Tal · Bedeutende Persönlichkeiten

Orgelbauwerkstatt eröffnete. Ebenfalls ist die Tatsache gesichert, dass er seine beruflichen Fähigkeiten in Böhmen erworben hatte. In der Nordostschweiz war Johann Jakob Bommer, neben J.C. Speisegger aus Schaffhausen, der bedeutendste Orgelbauer seiner Zeit. Er galt als Meister seines Faches und man habe nur Gutes über ihn gehört. Abgesehen von seinen grossartigen Arbeiten, tauchte sein Name 1750 wieder auf. Er stiftete in jenem Jahr 4 Fl. (Gulden) für eine «Frei-Schule» in Lommis. «Er müsse» – so Wittweiler – «wohl der reichste Mann in Weingarten gewesen sein.» Johann Jakob Bommer starb am 17. Januar 1775 in seinem 78. Altersjahr und wurde in Lommis begraben. In der Würdigung von B. Wittweiler heisst es am Schluss: «Er ist in erster Linie ein sehr origineller, eigenständiger Künstler, der sich von Zeitströmungen nicht mitreissen liess und der sich von der Orgelbautradition seiner Region dasjenige Rohmaterial auswählte, das er für seine strengen, wohlausgewogenen Dispositionen benötigte.» Auf Grund des zu Beginn dieses Abschnitts genannten Buches von B. Wittweiler hat der Orgelbaumeister Bommer – «15 kleinere und grössere Orgeln in der Region Ostschweiz gebaut. Vier weitere Objekte wurden ihm zugeschrieben doch bestehen darüber Zweifel. Dabei ist bemerkenswert, dass in jener Zeit einerseits die evangelischen Kirchgemeinden beim Einbau von Orgeln noch sehr zurückhaltend waren und anderseits viele katholische Kirchgemeinden in kleineren Ortschaften recht knapp bei Kasse waren.»

Bild Nr. 143 · Seine erste Orgel – Standort: Bibliothek des Klosters Fischingen

Eines der schönsten Werke von Johann Jakob Bommer, das immer noch existiert, ist die prächtige, reich verzierte Barockorgel in der Klosterkirche St. Katharinental bei Diessenhofen. Sie wurde in den Jahren 1735–1741 gebaut und mehrmals, zuletzt 1965–1969, restauriert. Eine Besonderheit ist die einmalige Prospektgestaltung (künstlerisches Erscheinungsbild der Königin der Instrumente) mit den wunderbaren Schnitzereien der Pfeifenfüllungen sowie die Farbgestaltung. Ein weiteres Werk dieses Orgelbaumeisters steht noch in der Bibliothek des Klosters Fischingen; für dieses Kloster hatte J. J. Bommer insgesamt drei Orgeln gebaut und geliefert. Tobel – Ein deutscher Adliger Eine Folge der französischen Revolution war der Untergang der alten Eidgenossenschaft. Der Aufbau der neuen Eidgenossenschaft brauchte Zeit und das führte in der Übergangszeit zu Unruhe und Unsicherheit für die damalige Bevölkerung. Der letzte Komtur von Tobel war der deutsche Adlige Prinz Philipp von Hohenlohe; dieser war Offizier, Jesuitenschüler, Ritter des Malteserordens

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Besonderheiten aus dem Tal · Bedeutende Persönlichkeiten

und als Leiter der Komturei oberster Herr der Herrschaft Tobel für das ganze obere Lauchetal sowie Thurgauischer Gerichtsherr in seinem Territorium (siehe Kapitel «Die Toggenburger und die Komturei Tobel»). Die letzten Jahre seiner Amtszeit in Tobel war geprägt von den unklaren Rechtsverhältnissen während der genannten Übergangsphase; die Zehnten wurden häufig nicht mehr bezahlt, so dass dieser Mann Ende des 18. Jahrhunderts dem wirtschaftlichen Ruin nahe kam. Von Hohenlohe hat erkannt, dass die Zeit der absolutistischen Herrschaft bald vorbei sein würde. Trotz seiner entsprechenden Stellung – und darin kommt seine Grösse zum Ausdruck – hat er nicht etwa seine Untertanen geknechtet und das Letzte noch aus ihnen herausgeholt, sondern hat aktiv an der Gestaltung der neuen Eidgenossenschaft mitgewirkt. Dadurch hat er mitgeholfen, dass auch die Menschen im oberen Lauchetal der beginnenden neuen Eidgenossenschaft hoffnungsvoll entgegen sehen konnten. Gemäss dem Buch von Albert Schoop über den letzten Komtur der Komturei Tobel – «nahm die Gemeinde Tobel den Prinzen von Hohenlohe und ehemaligen Gerichtsherrn rücksichtlich seiner damaligen liebvollen vätterlichen Behandlungen sowol als nachher gegebenen Beweisen als Freund und Wohltäter formell noch einmal ins Bürgerrecht auf. Dem thurgauischen Grossen Rat» – so schreibt Schoop weiter – «sandte von Hohenlohe im Frühjahr 1809 folgendes Schreiben: «Meine überaus grosse Anhänglichkeit an die Schweiz und die besondere Vorliebe, die ich für den bisherigen Canton hege, hat in mir schon lange den Wunsch erzeugt, meine noch übrigen Lebenstage in einem Lande

zuzubringen und zu beschliessen, welches mein Herz zum Vaterlande bestimmte. In diesem Lande nicht als Fremdling herumzuirren, sondern als wirklicher Staatsbürger und Eidgenos betrachtet und anerkannt zu werden, ist mein sehnlichstes Verlangen . . ..»» Prinz Philipp von Hohenlohe wies auch auf seinen 42-jährigen Aufenthalt als ehemaliger Gerichtsherr im Thurgau hin, was ihn nach seiner Meinung zum Kantonsbürger genügend qualifiziere. 1810 gewährte ihm der Grosse Rat das Kantonsbürgerrecht. Die allgemeine Verehrung war so gross, dass ihn der Kreis Tobel 1818 gar zum Mitglied des Grossen Rates des Kantons Thurgau wählte. Mittlerweile wohnte er aber in Luzern und konnte so nur an einer einzigen Ratssitzung teilnehmen. Überdies verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zusehends. Am 21. Januar 1924 verstarb dieser Mann als einfacher Schweizer Bürger 81-jährig in Luzern. Wängi/«Greuthof» – Vom Landwirt zum höchsten Schweizer Wängi gehört zwar nicht zum Lauchetal, der «Greuthof» – ein mittelgrosser Bauernhof – aus hydrologischer Betrachtungsweise hingegen schon. Von diesem Hof aus lässt sich fast das ganze Lauchetal überblicken. Die dort lebenden Menschen brauchen zum Aufstehen keinen Wecker; sie werden jeden Morgen von der Sonne – wenn sie denn scheint – geweckt. Auf diesem Hof wuchs ein Junge namens Hansjörg Walter (geboren 5.2.1951) bei seinen Eltern auf. Nach dem Besuch der Schulen in Wängi erlernte er den Beruf eines Landwirts bei seinem Vater. Das theoretische Rüstzeug erwarb er sich an der Landwirtschaftlichen


Besonderheiten aus dem Tal · Bedeutende Persönlichkeiten

Schule Strickhof bei Zürich. Später besuchte er mehrere landwirtschaftliche und kaufmännische Weiterbildungen und wurde 1983 Meisterlandwirt. 1985, als 34-jähriger, übernahm er den Greuthof in vierter Generation von seinen Eltern. 14 Jahre zuvor hatte er seinen obligatorischen Militärdienst in einer Panzereinheit der Mech. Div. 11 begonnen. Hier konnte er schon in jungen Jahren seine Führungsfähigkeiten anwenden und weiterentwickeln. Diese wurden denn auch von seinen Vorgesetzten erkannt; nicht umsonst brachte er es im Militär bis zum Grad eines Majors. Eng mit seiner Heimat verbunden, wollte er sich auch politisch betätigen und begann seine diesbezügliche Laufbahn als Vizepräsident der Volksschule Wängi, die er dann ab 1993 sieben Jahre lang präsidierte. In der gleichen Zeitspanne wurde er auch in den Gemeinderat seiner Wohngemeinde gewählt. Parallel dazu gehörte er ab 1992, als Vertreter der SVP, dem Grossen Rat des Kantons Thurgau an. Innerhalb und ausserhalb seiner Partei wurden die besonderen Fähigkeiten dieses Mannes erkannt, sodass er 1999 erstmals in den Nationalrat gewählt und bis anhin jedesmal wiedergewählt wurde. Hier im Nationalrat, wie schon zuvor im Grossen Rat, widmete er sich mit starkem Engagement den Problemen der Landwirtschaft. Seine diesbezüglichen besonderen Initiativen und Leistungen liegen im Bereich der Beeinflussung der Agrarreform 2007 und 2014 sowie in der Revision der Regionalpolitik.

Bild Nr. 144 · Hansjörg Walter – das erste Glöggli als «frischgebackener» Nationalratspräsident

Die Tatsache, dass Hansjörg Walter bei der Bundesratswahl 2008 im dritten Wahlgang lediglich mit einer Stimme unterlag, zeigt auch die breite Wertschätzung für diesen Mann im eidgenössischen Parlament. Mit seiner ehrenvollen Wahl zum höchsten Schweizer, also zum Präsidenten des Nationalrates und damit des Parlamentes, am 5. Dezember 2011, erreichte Hansjörg Walter den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn. Nicht nur in Militär und Politik wurden Hansjörg Walters Fähigkeiten erkannt, sondern auch im Schweizerischen Bauernverband, dem er ab dem Jahre 2000 zwölf Jahre als Präsident vorstand. Eine besondere Stärke

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Besonderheiten aus dem Tal · Bedeutende Persönlichkeiten

von ihm ist sein kooperativer Führungsstil, mit dem es ihm immer wieder gelingt, für Ausgleich zu sorgen und entsprechende Mehrheiten zu schaffen. Nicht nur im Bundeshaus, sondern gerade auch in der Leitung des Schweizerischen Bauernverbandes, wo Sonderinteressen einer akzeptablen Regelung häufig im Wege stehen, kam sein Geschick voll zum Tragen. Als Präsident dieses Verbandes hat er massgebend dazu beigetragen, dass das Image der Landwirtschaft als tragende Säule der Nahrungsmittelversorgung unseres Landes und der Pflege des unvermehrbaren Bodens stark

Quellennachweis Dürrenmatt Peter Fröhlich J., Graf U. Hänzi Ernst Herdi Ernst Rüsch, Ernst Gerhard Schmidt, Dr. Huldrych Schoop Albert Stutz Ferdinand Thurgauer Tagblatt Thurgauer Zeitung Wittweiler Bernhard Internet Home Page

verbessert wurde. In die Zeit seiner Präsidentschaft fiel auch der Umbau vom durch staatliche Abnehmerpreise geschützten Bauern zum freien Unternehmer; zum Gelingen dieses für manchen Bauern schmerzlichen Prozesses hat Hansjörg Walter massgebend beigetragen. Er darf mit Fug und Recht als eine aussergewöhnliche Persönlichkeit der heutigen Zeit bezeichnet werden und wir Lauchetaler dürfen mit Recht stolz auf diesen Mann sein. Bei so viel Lob soll aber auch die ihn unbeschränkt und tatkräftig unterstützende Gemahlin, Madeleine Walter-Heim nicht unerwähnt bleiben.

Schweizer Geschichte Geschichte der ehemaligen Baumwollspinnerei Lauchetal bei Lommis Dr. jur. J.H.Bachmann 1843 – 1915, Jugenderinnerungen und Biographie Geschichte des Thurgaus Thurgauische Beiträge zur Vaterländischen Geschichte, Heft 87 – Wilhelm Friedrich Bion Gedenkschrift zur Jahrhundertfeier der Geburt von Schmidt, Dr. Joh. Ulrich (Vater des Verfassers) Prinz Philipp von Hohenlohe, der letzte Komtur von Tobel Die Mühle Matzingen und ihre Geschichte Artikel Dr. J.U. Schmidt, 22.3.1960 Nachruf Dr. H. Bachmann, 1915 Johann Jakob Bommer Hansjörg Walter


Besonderheiten aus dem Tal · Das Lauchetal als militärstrategische Zone

Das Lauchetal als militärstrategische Zone Der Kalte Krieg Nach dem Sieg der Alliierten (Sowjetunion, Frankreich, Grossbritannien und USA) über das nationalsozialistische Deutschland im 2. Weltkrieg (1939 – 45) zeigten sich bei den Verhandlungen zur Neuordnung in Europa zunehmend Differenzen zwischen den westlichen Bündnispartnern und der Sowjetunion. 1949 gründeten die USA und Kanada mit 10 westeuropäischen Staaten das Militärbündnis der NATO (Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft). 1952 kamen Griechenland und die Türkei dazu, aber die langjährigen Beitrittsverhandlungen mit der Sowjetunion scheiterten. Als dann 1955 von den westlichen Siegermächten die BRD (Bundesrepublik Deutschland, gegründet 1949) in die Nato aufgenommen wurde, gründete die Sowjetunion zusammen mit all den ost- und südosteuropäischen Staaten, welche seit ihrer Befreiung durch die Sowjetarmeen unter ihrer Kontrolle standen, den Warschauer-Pakt, in welchem auch die DDR (Deutsche Demokratische Republik, 1949 – 1990) Gründungsmitglied war. Im Gegensatz zu den einigermassen souveränen westeuropäischen Staaten wurde zumindest die Aussenpolitik der Warschaupaktländer rigoros von der Sowjetunion gesteuert und deren Grenzen gegen Westen abgeriegelt. Diese Westgrenze des Warschauer-Paktes wurde der «Eiserne Vorhang» genannt. Die Sowjetunion scheute sich auch nicht, gegebenenfalls in ihrem Einflussbereich

Militär einzusetzen (1953 Ostberlin, 1956 Ungarn, 1968 Tschechoslowakei). Um der auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs empfundenen Bedrohungslage zu begegnen, begann in beiden Militärblöcken – NATO und Warschauer Pakt – eine massive Aufrüstung sowohl mit schwer gepanzerten Truppenverbänden als auch unter Einbezug von nuklearen Waffen. Diese Zeit der beidseitigen Hochrüstung bis zum Fall der Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten (1989) und deren Wiedervereinigung (1990) nennt man den «Kalten Krieg». Das folgende Kapitel basiert auf einem verdankenswerten Interview mit und textlicher Mitgestaltung durch Herrn Arthur Stacher, Aadorf, Brigadier a.D., ehemaliger Kommandant der Panzerbrigade 11 (1995 – 2003); auf einschlägiger Literatur u.a. aus dem Internet sowie persönlichen Erinnerungen.

Auswirkungen auf die neutrale Schweiz Die Schweiz blieb auch nach dem 2. Weltkrieg ihrer verfassungsmässigen Neutralität verpflichtet, stand aber geografisch und ideologisch dem westlichen Bündnis wesentlich näher als dem diktatorischen Sowjetregime. Deshalb richteten sich taktische Überlegungen eher auf einen militärischen Angriff aus Nordosten aus.

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Besonderheiten aus dem Tal · Das Lauchetal als militärstrategische Zone

Diese zunehmende Mechanisierung der Armeen östlich und westlich des Eisernen Vorhanges zwang die Schweizer Armee, sich auf dieses neue Bedrohungsbild auszurichten. Es war nicht mehr zeitgemäss, einen mit Panzern und Kampfhelikoptern vorgetragenen Angriff mit einer linear aufgestellten Armee abwehren zu wollen. Die neu ausgerichtete Schweizer Armee nach der «Truppenordnung (TO) 61» und nach der «Konzeption der militärischen Landesverteidigung» vom 6.6.1966 sollte befähigt werden, den Verteidigungskampf beweglicher zu führen.

Bild Nr. 151 · Panzer 68 · Quelle: Armeemuseum Thun

Bild Nr. 151a · Schützenpanzer M-113 · Quelle: Armeemuseum Thun

Die neue Verteidigungsstrategie sah u.a. vor, dass die Grenzbrigaden einen eindringenden Gegner im Grenzraum verlangsamen und abnützen sollten. Dahinter war es Aufgabe der Felddivisionen, wichtiges Schlüsselgelände im Mittelland zu verteidigen und den durch die Grenzbrigaden durchgedrungenen Gegner zu kanalisieren. Die neu geschaffenen Mechanisierten Divisionen und die Panzerbataillone der Felddivisionen mit ihren Panzern 61/68 sollten den durchgebrochenen und die Tiefe des Raumes suchenden Gegner angreifen und vernichten. Das Konzept der linearen Verteidigung wurde also durch ein Konzept von tiefgestaffelten Abwehrräumen abgelöst, in denen gleichzeitig verteidigt und angegriffen werden konnte. Angriffe der schweizerischen Panzerformationen im Rahmen der Abwehr waren in sogenannten «Gegenschlagsräumen» geplant. Dies waren Räume, die von der Topographie her geeignet waren, die Kampfkraft der Panzer gut zur Geltung zu bringen und die gegnerischen Verbände gleichzeitig zu kanalisieren. In der Ostschweiz waren dies beispielsweise die Ebene bei Neerach-Stadel (Stadler Senke), das Glattal


Besonderheiten aus dem Tal · Das Lauchetal als militärstrategische Zone

mit dem Flughafen Kloten, die Stammheimer Senke und das Lauchetal. Die Neukonzeption der Armee wurde ab den Sechzigerjahren materiell und ausbildungsmässig umgesetzt. Mit dem Wegfall des Warschauer Paktes, der 1991 nach der Wiedervereinigung Deutschlands aufgelöst wurde, veränderte sich die Bedrohungslage in Europa total, womit auch die «Armee 61» ausgedient hatte. Sie wurde durch die Armeekonzeption 95 abgelöst. Der Gegenschlagsraum Lauchetal In ihren Ausbildungsdiensten hatten die Panzerverbände der Schweizer Armee die bewegliche Kampfführung und ganz besonders die neue Gefechtsform «Gegenschlag» zu trainieren und zu verinnerlichen. In diesem Zusammenhang erlangte das beschauliche Tal der Lauche während der Dauer des Kalten Krieges, also während rund 30 Jahren, schweizweite Bekanntheit. Das Lauchetal war einer der möglichen Gegenschlagsräume, also auch ein möglicher Angriffsraum der Ostschweizer Panzerbataillone.

über die Thur und weiter entlang der A7 oder Richtung Wängi – Matzingen an die A1, stand auch das Lauchetal im Fokus der Gegenschlagsplanung. Anderseits machten die Ausmasse, die besondere Topographie und der ganze geographische Raum das Lauchetal zu einem idealen methodischen Lehrbeispiel, um die neue Gefechtsform «Gegenschlag» zu veranschaulichen. So wurden über all die Jahre Hunderte von Schweizer Offizieren in Offiziersschulen, in Taktikkursen, in Zentralschulen und Generalstabskursen zwischen Affeltrangen und Wängi für den Einsatz eines Panzerbataillons im Gegenschlag taktisch geschult. Aber auch in Manövern und verschiedensten Feldübungen wurde diese neue Gefechtsform intensiv mit der Truppe trainiert, wenn auch ohne Gegner und ohne Munition. Der Gegenschlag war eine anspruchsvolle Gefechtsform, weil je nach den Bedingungen verschiedenste Truppengattungen lernen mussten, optimal zusammenzuarbeiten.

Der grosse Bekanntheitsgrad des Lauchetals unter den Soldaten lag einerseits an der geographischen Lage in Kombination mit der damaligen militärischen Bedrohung. Für einen mechanisierten Angreifer aus Nordosten standen drei interessante und einigermassen leistungsfähige Eintrittspforten im Vordergrund: Der Raum St. Margrethen, die Landenge Kreuzlingen – Konstanz oder der Raum Stein am Rhein – Diessenhofen.

Im Lauchetal hätte man sich einen Gegenschlag etwa wie folgt vorstellen können: Die Infanterietruppen verteidigen die Anhöhe Sonnenberg, die westlichen Ausgänge an die Murg zwischen Matzingen und Wängi sowie die bewaldeten Anhöhen südlich von Lommis. So wird dem Gegner der schnelle Vorstoss an die wichtigen Murgübergänge und an die A1 verwehrt. Der Angriff der feindlichen Panzerverbände wäre so ins Stocken geraten.

Bei einem gegnerischer Angriff aus dem Raum Kon­ stanz – Kreuzlingen über Berg oder Märstetten an und

Unter dem Schutz von Fliegern, Fliegerabwehr, Artillerie und Panzerjägern greifen nun die eigenen Panzer und

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Besonderheiten aus dem Tal · Das Lauchetal als militärstrategische Zone

des Lauchetals weitgehend unbekannt waren. Die Zivilbevölkerung wäre aber von dieser Art der Kampfführung ganz besonders betroffen worden. Es kann davon ausgegangen werden, dass im Ernstfall im Rahmen der eigentlichen Kampfvorbereitung eine intensive Zusammenarbeit mit den zivilen Behörden zum Schutze der lokalen Bevölkerung stattgefunden hätte.

Bild Nr. 152 · Gegenschlagsraum Lauchetal. Rote Linien = mögliche Angreifer Blaue Linien = Gegenschlag der CH-Pz-Bataillone Im Westen CH-Panzersperren

Panzergrenadiere die gegnerischen Verbände im Lauchetal an. Idealerweise erfolgt ein derartiger Angriff überraschend und aus der Flanke. Die überhöhten Geländeteile Chrüzegg, Isenegg, Flügenegg und AnetswilGrüthof drängen sich dabei als erste Schiesspodeste für die Feuereröffnung der Panzer und Panzerjäger auf. Aber auch die Lauche selbst, ein scheinbar kleines Gewässer, aber für eine bewegliche Kampfführung ein lästiges Hindernis, fand immer wieder Eingang in die taktischen Überlegungen. Anders als im Grenzraum, wo die militärische Planung in permanenten Befestigungen ihre Umsetzung fand, wurde die mechanisierte Kampfführung nur konzeptionell auf Papier geplant. Dies ist auch der Grund, weshalb die militärischen Überlegungen der Bevölkerung

Ob das Lauchetal wirklich auch Eingang in der Angriffsplanung des Warschauer Paktes gefunden hat, lässt sich heute nicht sagen. Wahrscheinlich wurden aber eher grössere Kartenmassstäbe und dickere Filzstifte bei der Planung gegen Westen verwendet. So bleibt das Lauchetal nach dem Ende des Kriegsgerassels aus dem Osten wieder das, was es ist – ein ruhige und wunderschöne Naturlandschaft. Erlebnis-Wandervorschläge Im Sinne einer friedlichen Betrachtung dieser einst sehr ernstaft geplanten Verwendung unseres schönen Lauchetals als militärischen Einsatzraum, empfehlen wir den interessierten Leserinnen und Lesern dieses Werkes, das Tal zu bewandern. Man kann in drei Wanderungen nicht nur unser Tal besser kennen lernen, sondern persönlich die einleuchtende Bedeutung des Lauchetals für mögliche militärische Gegenschläge erkennen und beurteilen. Als eine Teilwanderung empfehlen wir den Imenberg von Wetzikon bis Schloss Sonnenberg. Auf dieser Strecke kann man an verschiedenen Aussichtspunkten das Lauchetal und – bei klarem Wetter – die Bergwelt im Hintergrund bewundern.


Besonderheiten aus dem Tal · Das Lauchetal als militärstrategische Zone

Ein zweiter Vorschlag wäre eine Rundwanderung von Lommis aus, vorbei am kleinen Restgebäude des ehemaligen Schlosses Lommis, durch die Waldparzelle «Ghöögg», vorbei am Hof «Loch» nach «Flügenegg», «Isenegg» und «Chrüzegg». Hier kann man den ganzen oberen Bereich des Lauchetals überblicken. Von dort hinunter an die Lauche und vorbei am Flugplatz zurück nach Lommis. Eine abrundende dritte Wanderung liesse sich, wiederum als Rundwanderung von Matzingen aus, via Ruggenbühl, Höchi (mit dem etwas zurückversetzten, idyllischen Hochmoor «Grütried») nach Anetswils nördlichem Dorfteil realisieren. Von hier aus kann man den westlichen Teil des Tals von Weingarten bis Matzingen einsehen und überblicken. Von Anetswil aus gibt's mehrere Wege nach Stettfurt und zurück zum Ausgangspunkt Matzingen.

Bild Nr. 153 · Stettfurt (links) mit Schloss Sonnenberg (von der unteren Isenegg her aufgenommen)

Bild Nr. 154 · Wetzikon auf der Anhöhe des östlichen Imenbergs Bewilligungsnachweis urheberrechtlich geschützter Bilder Bild Nr. 152 Kartenausschnitt reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA 120274)

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Die Gemeinden



Die Gemeinden · Politische Gliederung, Statistiken, Charakteristika

Politische Gliederung, Statistiken, Charakteristika Die politische Gliederung des Lauchetals Seit der Thurgau 1803 selbständiger Kanton wurde, kannten wir das Gemeindesystem mit Munizipal- und Ortsgemeinden. In der neuen Verfassung des Kantons Thurgau, in Kraft seit 1. Januar 1990, steht u.a. dass innerhalb von 10 Jahren eine Neugliederung der Gemeinden zu erfolgen habe. Die ehemaligen Munizipal- und Ortsgemeinden sollen zu maximal 80 Politischen Gemeinden zusammengelegt werden. Das ging nicht überall reibungslos, aber per 1. Januar 2000 war das Ziel erreicht. Für das Lauchetal hatte dies zur Folge, dass seither noch fünf Politische Gemeinden bestehen. Einige Dörfer und Weiler an Randgebieten im östlichen und südöstlichen Teil des Tales gehören zu Politischen Gemeinden ausserhalb unseres Tals; wir verweisen auf Kapitel «Der Bach, der dem Tal den Namen gab». Per 1. Januar 2011 wurden die Bezirke neu formiert und die Anzahl von acht auf fünf reduziert. Die Gemeinden

Matzingen und Stettfurt gehören zum Bezirk Frauenfeld, die Gemeinden Lommis und Tobel-Tägerschen zum Bezirk Münchwilen und die Gemeinde Affeltrangen zum Bezirk Weinfelden. Statistische Vergleiche der Gemeinden Eine detaillierte Übersicht mit vielen Eckwerten der Gemeinden befindet sich auf der folgenden Seite. Charakteristika der Gemeinden Viele der nachfolgenden Informationen stammen aus Gemeindeplattformen im Internet sowie aus verdankenswerten Gesprächen mit den Gemeindeammännern der Talgemeinden. Dies sind derzeit die Herren Hans Matthey, Affeltrangen; Fritz Locher, Lommis; Walter Hugentobler, Matzingen; Thomas Gamper, Stettfurt sowie Roland Kuttruff, Tobel-Tägerschen.

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Die Gemeinden · Politische Gliederung, Statistiken, Charakteristika

Affeltrangen

Lommis

Matzingen

TobelTägerschen

Stettfurt

Elemente/Politische Gemeinden

Gemeindeverwaltung > Anzahl Gemeinderäte > Verwaltungspersonal *)

5

5

5

5

5

3.4

2.9

6

2.6

3

*) Zahlen nicht vergleichbar, weil die Arbeitsinhalte unterschiedlich sind Anzahl Einwohner

> Schweizer

2 067

1 001

2 018

1 066

1 237

> Ausländer

316

125

538

74

184

Total

2 383

1 126

2 556

1 140

1 421

> Männlich

1 252

572

1 296

568

694

> Weiblich

1 131

554

1 260

572

727

Total

2 383

1 126

2 556

1 140

1 421

Anzahl gewerbliche Arbeitsplätze

~ 620

~ 280

~ 420

~ 200

~ 570

Anzahl Landwirtschafts-Betriebe

80

13

15

11

16

Steuerfüsse für 2012

> Evangelisch

295.00 %

295.00 %

303.00 %

294.00 %

294.00 %

> Römisch Katholisch

294.00 %

298.00 %

299.00 %

291.00 %

293.00 %

> Juristische Personen

294.50 %

296.50 %

301.40 %

292.90 %

293.40 %

1 436 ha

852 ha

768 ha

635 ha

711 ha

Fläche Höhenlage > Höchster Punkt > Tiefster Punkt Feuerwehr

Tabelle Nr. 161 Eckwerte Wasserquelle der Gemeinden (2012) Abwasser

625 m ü.M.

707 m ü.M.

615 m ü.M.

705 m ü.M.

620 m ü.M.

472 m ü.M.

470 m ü.M.

440 m ü.M.

450 m ü.M.

505 m ü.M.

ZV m. Lommis

ZV m. Affeltr.

ZV m.Stettf.

ZV m.Matz.

Gemeinde FW

RVM Süd + Grundwasser

RVM Süd + Grundwasser

Grundwasser

RVM Süd + Grundwasser

RVM Süd + Grundwasser

ARA L-M-Tal

ARA L-M-Tal

ARA L-M-Tal

ARA L-M-Tal

ARA L-M-Tal


Die Gemeinden · Politische Gliederung, Statistiken, Charakteristika

Die Gemeinden des Lauchetals aus der Luft oben: westlicher Teil / unten: östlicher Teil (siehe auch Faltblatt im Anhang mit Erwähnung der Gemeinden)

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Die Gemeinden · Politische Gliederung, Statistiken, Charakteristika

Affeltrangen – Flächenmässig grösste Gemeinde, ein Ried von nationaler Bedeutung und grösste Anzahl Bauernhöfe Mit 1 436 ha ist Affeltrangen die flächenmässig grösste Politische Gemeinde im Tal. Nebst den 4 Ortsgemeinden Affeltrangen, Märwil, Buch bei Märwil und Zezikon umfasst sie auch rund 20 Weiler und Einzelhöfe. Diese Gemeinde verfügt mit rund 620 Stellen über die grösste Anzahl gewerblicher Arbeitsplätze der fünf Politischen Gemeinden im Tal.

Bild Nr. 161 Gemeindehaus von Affeltrangen

In einem zu Affeltrangen gehörenden Dorf befindet sich ein Flachmoor von nationaler Bedeutung – das Märwiler Ried. Als Überbleibsel der letzten Eiszeit weist es eine aussergewöhnliche Vielfalt von seltenen Pflanzen, Vögeln und Wassertieren auf und ist damit für den aufmerksamen Besucher ein Gebiet von hohem Erholungswert.

Im gesamten Gemeindegebiet mit den angeschlossenen Ortschaften und Weilern existieren insgesamt rund 80 Landwirtschaftsbetriebe. Das zeigt den immer noch sympathisch-ländlichen Charakter dieser Gemeinde.

Eine Besonderheit mit Pioniercharakter für die heutige Zeit ist die Existenz einer Heizgenossenschaft. Im Gebiet der ehemaligen Sägerei (Ostteil der Gemeinde) wird mittels verschiedener Arten von Holzabfällen Heiz­wärme erzeugt. Durch Fernwärmeleitungen werden mehrere Haushaltungen in der Umgebung der Heizzentrale, die Firma Prematic AG sowie auch die Primar- und Sekundarschule von Affeltrangen beheizt.

Der Name Affeltrangen geht auf «Apfel oder Apfelbaum» sowie auf «Wiese, Feld, Hang» zurück; deshalb beinhaltet das Ortswappen drei Äpfel und der Verkehrskreisel im Dorfkern zeigt als Symbol einen Apfel.

Am öffentlichen Verkehr ist diese Gemeinde durch zwei Bahnstationen  – Märwil und Tobel-Affeltrangen – mit Weinfelden und Wil, sowie durch eine Postautolinie mit Frauenfeld verbunden.


Die Gemeinden · Politische Gliederung, Statistiken, Charakteristika

Lommis – Flugplatz, «Chraiehof» und eine grüne Fahrzeugflotte Zu dieser Gemeinde gehören auch die Dörfer Weingarten und Kalthäusern; sie liegt etwa in der Mitte des Tals. Zwar hat Lommis keinen Bahnhof, dafür ist die Gemeinde direkt aus der Luft erreichbar. Dank den Ost– West verlaufenden Hügelzügen eignet sich die Ebene an der Lauche für einen Flugplatz für Kleinflugzeuge. Von Frauenfeld stammend, wo die Motorfluggruppe Thurgau dem dortigen Waffenplatz weichen musste, betreibt sie seit 1963 den Flugplatz Lommis für zumeist einmotorige Kleinflugzeuge. Start und Landung geschieht auf einer 615 m langen und 25 m breiten Graspiste.

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Mit der Wohn- und Werkstätte «Chraiehof» existiert in dieser Gemeinde eine soziale Einrichtung zur Heilung und Betreuung psychisch kranker Erwachsener. Hier werden Beschäftigungsmöglichkeiten in verschiedenen Bereichen angeboten. Nähere Angaben finden sich im Kapitel «Gesundheit und Soziales». In dieser Gemeinde hat überdies die grösste überregional tätige Bauunternehmung im Lauchetal, mit den grünen, weiss beschrifteten Betriebsfahrzeugen, ihren Rechtssitz. Näheres dazu findet sich im Kapitel «Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten». Der Anschluss an den öffentlichen Verkehr ist durch die Postautolinie Affeltrangen-Frauenfeld gewährleistet.

Bild Nr. 162 Gemeindehaus von Lommis


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Die Gemeinden · Politische Gliederung, Statistiken, Charakteristika

Matzingen – Einwohnerstärkste Gemeinde, besondere Wasserverhältnisse, lange Müllerei- und Weberei-Geschichte Matzingen liegt auf rund 440 m ü.M. und ist damit die tiefstgelegene Gemeinde am westlichen Ende des Lauchetals. Sie hat mit über 2 550 die grösste Zahl von Einwohnern aller Gemeinden im Tal (2012).

Bild Nr. 163 · Gemeindehaus von Matzingen

Topografisch ist Matzingen geprägt durch den Zusammenfluss von vier Wasserläufen, die sich hier in der Murg vereinigen. Letztere mündet nördlich von Frauenfeld in die Thur. Die drei Zuflüsse zur Murg sind: Der Thunbach, der von Lustdorf–Thundorf herkommend in Matzingen zunächst in die Lauche fliesst; die Lauche aus dem Lauchetal (siehe Kapitel «Der Bach, der dem Tal den Namen gab») und die Lützelmurg, die von Dussnang her

kommend – wo sie rund 600 m neben der dort durchfliessenden Murg entspringt – via Aadorf nach Matzingen weiterfliesst. Gelegentlich spricht man von Matzingen gar vom «Wasserschloss der Ostschweiz». Aussergewöhnlich in dieser Gemeinde ist die vollständig autonome Wasserversorgung, ausschliesslich aus Quellwasser, das hauptsächlich aus einem unterirdischen Wasserstrom aus der Gegend des Bichelsees herrührt. (Der «normale» Abfluss des Bichelsees heisst Seebach und fliesst bei Balterswil in die Lützelmurg und somit auf einem Umweg auch wieder nach Matzingen.) Anlässlich des Baus eines Autobahnviaduktes in der Gegend der Lützelmurg sprudelte plötzlich Quellwasser in grosser Menge hervor. Dieses Wasser wird zunächst ins Reservoir Ruggenbühl gepumpt und von dort in alle Haushaltungen der Gemeinde geleitet. Weitere Informationen finden sich im Kapitel «Wasserwirtschaft». Die weitherum sichtbaren unterschiedlich bemalten Silotürme sind das Überbleibsel der einst überregional bedeutenden Mühle Ringold. Die Müllereigeschichte von Matzingen ist über 850 Jahre alt. Mehr dazu im Kapitel «Landwirtschaft», Abschnitt «Mühlen», sowie im Kapitel «Bedeutende Persönlichkeiten». Eine über 100 Jahre dauernde Existenz einer Spinnerei und später Weberei gehört zu den Charakteristika dieser Gemeinde. Weitere Informationen finden sich ebenfalls im Kapitel «Bedeutende Persönlichkeiten». Matzingen liegt an der Linie der Frauenfeld-Wil-Bahn und ist damit sowohl mit der Kantonshauptstadt als auch mit der Fürstenstadt Wil am öffentlichen Verkehr angeschlossen.


Die Gemeinden · Politische Gliederung, Statistiken, Charakteristika

Stettfurt – Schloss, Hefe, Badi und Chicorée Auf Stettfurter Gemeindegebiet steht das einzige noch verbliebene, ganzheitlich erhaltene historische Schloss im Lauchetal, das Schloss Sonnenberg. Es ist derzeit in einer Renovationsphase. Für weitere Informationen zu diesem Bauwerk verweisen wir auf das Kapitel «Burgen und Schlösser im Tal». Die Hanglage des Dorfes darf wohl auch als ein Charakteristikum bezeichnet werden. Entsprechend heisst es im Logo der Gemeinde «Stettfurt – auf der Sonnenseite zu Hause». Die Hanglage gilt im Übrigen auch für die Dörfer Weingarten, Kalthäusern, «Neu»-Zezikon und den Hof «Wilderen». Als landwirtschaftliche Selbsthilfe-Organisation entstand hier im Jahre 1888 eine Schnapsbrennerei, welche 1902 in eine Presshefefabrik umgewandelt wurde. Weitere Informationen dazu im Kapitel «Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten». Seit Juni 1966 verfügt Stettfurt über ein herrliches Freibad am Südwestrand des Dorfes, derzeit das einzige im Tal. Das Besondere daran ist, dass das Wasser für das Bad mit Wasser, welches die Hefefabrik zur Kühlung während des Gärprozesses verwendet und dadurch auf ca. 26 – 28 °C erwärmt wird, gespiesen wird. Die Trägerschaft der Badi ist ein Zweckverband, gebildet aus den Politischen Gemeinden Stettfurt, Affeltrangen, Lommis, Matzingen sowie Thundorf und Wängi. Die zugehörigen Schulgemeinden leisten Betriebskostenbeiträge. Stettfurt hat noch eine weitere Bekanntheit. Hört man die Bezeichnung «Chicorée», weiss man: Diese wird hier

verarbeitet. Mehr dazu im Kapitel «Landwirtschaft», Abschnitt «Portraits von Landwirtschaftsbetrieben». Die Menschen dieser Gemeinde sind durch die Postautolinie Affeltrangen – Frauenfeld am öffentlichen Verkehr angeschlossen und derzeit im Stundentakt mit dem regionalen Zentrum Frauenfeld verbunden. Zur Haltestelle Matzingen der Frauenfeld-Wil-Bahn kommt man zu Fuss oder mit einem individuellen Verkehrsmittel. Bild Nr. 164 · Gemeindehaus von Stettfurt

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Die Gemeinden · Politische Gliederung, Statistiken, Charakteristika

Tobel – «Schwere» Geschichte, Pilgerweg, «Sunnewies» Im Mittelalter war Tobel durch die dortige Johanniter Komturei während rund 600 Jahren das «Regierungszentrum» für das obere Lauchetal. Die grosse Mehrzahl der Menschen waren zu jener Zeit sogenannte «Hörige», also in allen Bereichen des Lebens «abhängige» Menschen. Ende des 18. Jahrhunderts wurden die von Frankreich her tönenden Schalmeien von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit auch im Lauchetal gehört. Diese Entwicklung läutete u.a. das Ende der Komturei ein. Detaillierte Informationen dazu finden sich im Kapitel «Die Toggenburger und die Komturei Tobel».

wurde, wird nach einer sinnvollen Nutzung dieser historischen Stätte gesucht. In Erinnerung an die Zeit der Herrschaft der Komturei enthält das Wappen der Gemeinde das «Johanniter-Kreuz».

Die Gebäulichkeiten der ehemaligen Komturei wurden ab 1809 für rund 160 Jahre als kantonale Zucht- und Strafanstalt verwendet. Seit die kantonale Strafanstalt am Anfang der 1970er-Jahre nach Frauenfeld verlegt

Am öffentlichen Verkehr ist Tobel-Tägerschen durch die 1911 errichtete Mittelthurgau-Bahn (heute Turbo-Bahn) mit Verbindung nach Weinfelden und Wil angeschlossen. Für die Verbindung durch das Lauchetal und via Thundorf nach Frauenfeld besteht eine Postautolinie.

Bild Nr. 165 · Gemeindehaus von Tobel-Tägerschen

Der Pilgerweg von Konstanz nach Einsiedeln führt durch diese Gemeinde; entlang dieses Weges befinden sich Pilgerherbergen, so z.B. im Bauernhof der Staatsdomäne Tobel sowie in einem Gebäude der ehemaligen Komturei. Tobel-Tägerschen verfügt im Gebiet der «Sunnewies» über das grösste Alters- und Pflegeheim im Tal. Mehr dazu im Kapitel «Gesundheit und Soziales».


Die Gemeinden · Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten

Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten Bis ins 19. Jahrhundert bildete die Landwirtschaft die einzige Verdienstmöglichkeit für die Bewohner des Lauchetals. Handwerker im Nebenberuf mit Bezug zur Landwirtschaft, wie z.B. Wagner, Schmiede usw. konnten wertvolle Zusatzeinkommen erzielen. Vor dem Aufkommen der Textilindustrie fand man zu jener Zeit da und dort in den Kellern von Bauernhäusern einen Webstuhl oder einen Stickapparat; auch damit liess sich seinerzeit ein wohltuender finanzieller Zustupf erarbeiten. Im 19. und 20. Jahrhundert entstand im Lauchetal eine stattliche Anzahl von Gewerbebetrieben. Es waren zumeist Betriebe, die landwirtschaftliche Produkte verarbeiteten. Durch die hier benötigten, teils recht ansehnlichen Zahlen von Angestellten konnte in vielen Familien die Lebenssituation merklich verbessert werden. Nachfolgend die wichtigsten dieser ursprünglichen Gewerbebetriebe: · 1817, in einer Epoche grosser Armut im Lauchetal, gründeten in Lommis Kaspar Fröhlich und Konrad Wellauer eine Baumwollspinnerei. Sie war damals ein Segen für arbeitslose Leute. 1839 wurde diese Fabrik, mangels Rendite, in eine Getreidemühle umgewandelt, die bis 1990 unter dem Namen «Mühle Graf» in Betrieb stand. Mehr dazu im Kapitel «Bedeutende Persönlichkeiten». · 1882 kam ein junger, gut ausgebildeter Müller namens Conrad Ringold nach Matzingen und pachtete die dort bestehende alte Mühle, die er 1886 käuflich erwarb. 1896 errichtete dieser initiative

Unternehmer einen vierstöckigen Mühlebau, den er 1904 durch einen gewaltigen Neu- und Umbau ersetzte. 1995 endete die wechselvolle Geschichte der Müllerei in Matzingen; heute erinnern nur noch die farbigen Silotürme und der Name des Restaurants Mühli an jene Zeit. Mehr dazu im Kapitel «Bedeutende Persönlichkeiten». · 1888 entstand in Stettfurt eine Schnapsbrennerei als bäuerliche Selbsthilfeorganisation; diese wurde 1902 in eine Hefefabrik umgewandelt. Durch geschickte Verhandlungen konnte 1993 ein Zusammenschluss mit einer andern Hefefabrik erzielt werden – siehe später in diesem Kapitel – was zu einer markanten Stärkung der hiesigen Fabrik führte. Die Hefefabrik Stettfurt besteht heute noch, seit 1993 als einzige noch voll produzierende Presshefefabrik in der Schweiz. · Im Zeichen der aufkommenden Textilindustrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – mittlerweile ist die eingangs erwähnte Heimstickerei weitgehend verschwunden – entstanden in Affeltrangen zwei Textilbetriebe. 1865 errichtete die Firma Meyerhans eine Stickfabrik, die Jahrzehnte später als Tricotnäherei und Hemdenfabrik bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts bestand. 1899 baute Friedrich Stehrenberger die erste Schifflistickerei, die zeitweise bis zu 80 Angestellte beschäftigte. · 1910 gründeten weitsichtige Bauern in Märwil eine Selbsthilfeorganisation zur Obstverwertung;

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Die Gemeinden · Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten

im Herbst 1911 nahm sie ihren Betrieb auf. Sie firmierte anfänglich unter dem Namen «Mosterei- und Obst-Export-Genossenschaft Märwil»; im Volksmund liebevoll «die Mosti» genannt. Dieser gut gehende Betrieb musste Ende des 20. Jahrhunderts aus Gründen, die nicht in Märwil lagen, geschlossen werden. Die Bevölkerung wuchs kontinuierlich. Eine technische Revolution begann mit dem 20. Jahrhundert; sie brachte die elektrische Energie und die Telefonie in die Dörfer. Später kamen verschiedene Arten von motorgetriebenen Fahrzeugen auf. Mit Geräten zur Bodenbewirtschaftung begann in den 1920er-Jahren die schrittweise Mechanisierung in der Landwirtschaft. Als Folge all dieser Entwicklungen entstanden neue Berufe und kleine Handwerksbetriebe und damit neue Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten. Das waren zumeist Vollzeitbeschäftigungen. Beispiele sind etwa: · Weberei- und Stickerei-Fachleute, Schneider und Kleiderfabriken, Schuhmacher und Schuhreparaturwerkstätten · Elektriker, Landmaschinenmechaniker, Traktorreparaturwerkstätten, Velo- und Motorrad Verkauf und Reparaturen · Gastwirte, Bäcker und Konditoren, Metzger und Lebensmittelhandels-Fachleute · Holz- und Betonbau-Unternehmungen, Autogaragen mit entsprechenden Berufsausbildungen · Dienstleistungen verschiedener Art Derzeit ist in allen Dörfern eine recht breite, auf die Bedürfnisse und Absatzmöglichkeiten ausgerichtete

Gewerbestruktur vorhanden. Zudem benötigten auch die Gemeindeverwaltungen, die Bezirkshauptorte und die nahe Kantonshauptstadt eine zunehmende Anzahl von Angestellten, die auch in den Gemeinden im Lauchetal wohnen. Nachfolgend stellen wir die heutige Situation in den einzelnen Gemeinden dar. Tobel-Tägerschen Auf der Internetplattform dieser Gemeinde findet sich eine breite Palette von Gewerbe-, Handels- und Dienstleistungsbetrieben. Hier sind eine Filiale der Raiffeisenbank sowie eine Postagentur angesiedelt. Im Jahre 2013 konnte ein neuer Dorfmarkt für Lebensmittel mit Postagentur eröffnet werden. Einen jungen Industriebetrieb sowie einen über hundert Jahre alten Gewerbebetrieb wollen wir nachfolgend beschreiben.

Drei initiative Unternehmer, Christian Strahm, Bruno Frick und Edgar Konzett, gründeten 1982 in Tobel eine kleine Firma; sie nannten sie «Santex». Der Geschäftszweck war die Entwicklung, die Herstellung und der Vertrieb von Textilmaschinen zur Veredelung von Maschenware, z.B. «Poloshirts». Die Jahre des Aufbaues verliefen recht positiv; nicht ungewöhnlich beim Aufbau einer neuen Firma, mussten aber auch hier Folgen von schwierigen Entscheiden verkraftet werden. Ende der 1980erJahre begann die Ausweitung der Geschäftstätigkeit mit der Übernahme des Walzenherstellers Hans Jakob AG in Tübach. Walzen werden für praktisch alle Prozesse in der Textilveredelung benötigt.


Die Gemeinden · Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten

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Mitte der 1990er-Jahre erfolgte die Übernahme der Firmen «Caratsch Maschinenbau AG» in Bremgarten sowie der «J.C. Villars AG» in Münchwilen. Diese beiden Firmen waren im Bereich von Beschichtung, Lamination und Imprägnation von technischen Textilien, Glas- und Kohlefasern etc. tätig. Seit der Integration dieser beiden Firmen vermarktet Santex die Produkte beider ehemaliger Firmen unter der Marke «Cavitec». Im Jahre 2000 fusionierte die Santex mit der italienischen Firma «SperottoRimar», die ihrerseits ebenfalls Textilveredelungsmaschinen herstellte. Ziel des Zusammenschlusses ist die gemeinsame Vermarktung der Produkte beider Partner; die Maschinen beider Partnerfirmen werden heute mehrheitlich in Shanghai produziert. Mit vereinten Kräften wurden Tochtergesellschaften in Bangalore, Indien (Kundendienstzentrum) und ein Produktionsbetrieb in Shanghai, China, aufgebaut und seither erfolgreich betrieben. 2011 übernimmt die Santex-Gruppe das italienische Unternehmen «Isotex Engineering» in Italien, welches federführend ist in der Beschichtung von textilen und technischen Flächengebilden. Im Jahre 2012 erwirbt die Familie Marzotto, Italien (ein Konzern der Modebranche), das gesamte Aktienkapital der Santex Gruppe und ist damit Alleininhaberin der Santex Gruppe. Santex begann 1982 mit 3 Mitarbeitern (Gründer) und beschäftigt im Jahre 2013 weltweit rund 200 Mitarbeiter; davon rund 55 in Tobel. Sie ist damit die grösste Arbeitgeberin in der Gemeinde Tobel-Tägerschen. Die

Gruppe erzielt aktuell ein jährliches konsolidiertes Umsatzvolumen von rund 55 Millionen Franken; eine eindrückliche Leistung für eine Firma, die gerade mal 30 Jahre alt ist. Die nachfolgende geographische Umsatzgliederung zeigt u.a., dass ²/³ des Umsatzes in asiatische Räume geht, dorthin also, wo die grossen Menschenmassen leben. China 35 %; Indien 20 %; Übriges Asien 10 %; Türkei 15 %; Nord- u. Südamerika 15 %; Europäische Union 4 %; Schweiz 1 % Santex ist zusammen mit Cavitec auch nach dreissig Jahren weiterhin das führende Unternehmen für die Trockentextilveredelung von Maschenware sowie für das Beschichten von Textilien. Der Hauptteil der Produktion erfolgt in Shanghai (China). In Tobel sind Firmenmanagement, Engineering und Marketing, eine beschränkte Produktion sowie die Finanzadministration angesiedelt.

Bild Nr. 171 Santex-Gruppe, Tobel


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Die Gemeinden · Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten

«Willkommen in der faszinierenden Welt der Maschinen für Textilien und Technische Textilien, Glas- und Kohlefasern etc.», so stellt sich heute die Santex Gruppe vor.

Lange vor dem Bau der Mittelthurgaubahn (MThB) 1910/11 und lange vor dem ersten Weltkrieg 1914 – 18 gründete der damals 30-jährige Eduard Weber im Jahre 1901 eine Firma zum Betrieb einer Sägerei. Er pachtete dazu die alte Mühle mit Sägerei. Der Antrieb erfolgte aus dem Mühleweiher, der vom Hartenauer-Bach gespiesen wird. Eduard Weber führte neben der Mühle und der Sägerei einen Bauernhof, betrieb Holzbau, ein Dachdeckergeschäft sowie ein Restaurant. Bereits 1904 baute der initiative Jungunternehmer eine neue Sägerei mit Wohnhaus und Restaurant «Morgensonne», (später, als die MThB kam, Rest. «Bahnhof») sowie eine Scheune an der Hauptstrasse. Das benötigte Bauholz wurde in seiner Sägerei geschnitten. Die Sägerei wurde zunächst durch einen Benzinmotor angetrieben, 1909 aber auf Elektrizität umgestellt. Während dem zweiten Weltkrieg, im Jahre 1942, übergab der Firmengründer das Geschäft an seine Söhne Albert und Eduard. Schritt um Schritt wurde die Sägerei durch Einsatz damals moderner Maschinen und Einrichtungen modernisiert. 1960 schied Eduard Weber aus dem Geschäft aus; Bruder Albert und sein Sohn Leo führten den Betrieb weiter. 1970 übernimmt Leo Weber den Betrieb alleine. Dieser realisierte weitere Schritte der Modernisierung, sowohl in der Sägerei als auch auf dem

Rundholzplatz, mit dem Ziel, die Verarbeitungsmengen zu steigern und die Produktionskosten zu reduzieren. Um Betrieb und Privat zu trennen und auch um die Nachfolgeregelung zu vereinfachen, änderte Leo Weber 1991 die Rechtsform von der Einzelfirma in die Aktiengesellschaft «Weber Säge- und Hobelwerk AG». 1997 übernehmen die Söhne Norbert Weber und Leo Weber Junior die Aktien. Sie sind gemeinsam Eigentümer und Geschäftsführer der Familien-AG. Ein grosser Tag für Inhaber- und Belegschaft war der 2. September 2001; an diesem Tag konnte das 100-jährige Jubiläum mit einem Festakt in der Turnhalle zu Tobel gefeiert werden – eine unvergleichliche Leistung! Ein weiterer grosser Ausbauschritt erfolgte 2012 mit dem Bau einer Produktions- und Lagerhalle auf der Ostseite der Hauptstrasse, geografisch in der Nähe, wo der Gründer seine Aktivitäten begonnen hatte. Dieser Neubau wird vorerst als Lagerhalle genutzt; der Bau eines Silos und der Einbau von Maschinen sowie die Aufnahme der Produktion erfolgen gestaffelt. Die Firma Weber verarbeitet Nadelholz (Fichten, Tannen, Föhren, und Lärchen) aus Thurgauer, St. Galler, Schaffhauser und Zürcher Wäldern zu Balken, Brettern und Latten. Qualität, Kompetenz, Zuverlässigkeit und Vertrauen waren und bleiben Leitsätze des Handelns der jeweils verantwortlichen Personen. Die Rundholz-Verarbeitungsmengen haben sich wie folgt entwickelt: 1960 – 2 000 Kubikmeter, 1981 – 9 500 Kubikmeter und derzeit mit 11 Mitarbeitern rund 11 000 Kubikmeter.


Die Gemeinden · Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten

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Affeltrangen Diese Gemeinde verfügt, neben einer Filiale der Thurgauer Kantonalbank (der einzigen im Lauchetal), einer Postfiliale sowie einer der übrig gebliebenen Käsereien im Tal über eine Vielzahl von Gewerbebetrieben – Einzelheiten finden sich auf der Internetplattform der Gemeinde. Besonders erwähnen möchten wir hier drei Unternehmen, die zusammen einen ansehnlichen Teil der lokal verfügbaren Arbeitsplätze anbieten. Durch die Firmen «frifag märwil ag» sowie «Carna Gallo AG» ist die Politische Gemeinde Affeltrangen zu einem Zentrum der Geflügel-Verarbeitung in der Ostschweiz geworden.

Die frifag märwil ag, gegründet im Jahre 1987 von der Obi Gruppe, betreibt ihr Geschäft in den Gebäuden der ehemaligen Mosterei Märwil. Im Jahre 2000 übernahm der Inhaber der Obermühle Boswil AG, Valentin Stöckli, die Aktienmehrheit der frifag märwil ag. Zur Firmengruppe gehören überdies «Natura Güggeli AG» mit den bekannten rund 35 Grillfahrzeugen, die «Walzmühle AG» sowie die «Protecdata AG», Vertrieb von Software für KMU-Betriebe. Die beiden Mühlebetriebe stellen Qualitätsfuttermittel für Geflügel (Hühner und Truten) her. Die frifag märwil ag führt seit einigen Jahren je eine Verkaufsfiliale in der Zentralschweiz und in Bern. Zweck dieser Firmengruppe ist die Produktion und der Vertrieb von hochwertigen Geflügelprodukten – Poulets und Truten. Das Geschäftsmodell der frifag umfasst alle Bereiche zur Sicherstellung bester Qualität der Endprodukte und

sie übernimmt dafür die volle Verantwortung. Zur Erreichung dieses permanenten Ziels realisiert die frifag ein ausgeklügeltes System von externen und internen Kontrollen. Dieses Qualitätssicherungskonzept garantiert die Rückverfolgbarkeit von Problemfällen vom verpackten Endprodukt bis zum Küken. Die frifag märwil ag ist ISO- (International Standards Organisation) und IFS- (International Food Standard) zertifiziert. Die Erreichung der Qualitätszielsetzung bei der frifag bedeutet im Einzelnen: Die Aufzuchtbetriebe beziehen den Grossteil der Futtermittel von den oben erwähnten beiden Mühlen. Sowohl die Brütereien als auch die Aufzuchtbetriebe, ausschliesslich selbständige Schweizerbetriebe,

Bild Nr. 172 frifag märwil ag


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Die Gemeinden · Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten

werden von der frifag begleitet und periodisch auf vorschriftskonforme Tierhaltung kontrolliert. In der frifag wird auf jederzeit hygienisch saubere Schlachtung, Fertigung und Verpackung der Geflü­gelendprodukte geachtet. Wichtig ist zudem die konstante Einhaltung der vereinbarten Liefertermine der Produkte – ganze Poulets, Truten oder Teile davon – an die Kundschaft; das alles sind Voraussetzungen, um Vertrauen zu schaffen und zu erhalten. Die Abnehmer ihrer Produkte sind Grossverteilerorganisationen, Detailhändler, Metzgereien, Gastrobetriebe und weiterverarbeitende Gewerbebetriebe. Um die 1990er-Jahre betrug die Belegschaft rund 80 Mitarbeitende; derzeit beschäftigt die frifag rund 230 Mitarbeiter, davon rund 215 in Märwil. Sie ist damit der grösste Arbeitgeber in der Politischen Gemeinde Affeltrangen. Verwaltungspräsident der frifag märwil ag ist Valentin Stöckli. Für die Führung der Planung und des laufenden Geschäftsganges sowie die Sicherstellung des permanenten Erfolges arbeitet eine erweiterte Geschäftsleitung. Sie besteht aus dem Leiter der Tierproduktion, dem Betriebsleiter sowie dem Leiter Marketing und Verkauf, welcher in der Person von Andreas Schmal das Team präsidiert.

Im Jahre 2005 wurde aus der «Bodenmann Metzgerei AG», Märwil, zur Spezialisierung und Verarbeitung von Produkten ohne Schweinefleisch, die Firma Carna Gallo AG gegründet. Diese Firma ist mittlerweile zur federführenden Unternehmung in diesem Bereich geworden.

75 – 80 % des Rohmaterials ist Geflügelfleisch; der Rest teilt sich auf in Kalb- und Rindfleisch; es wird kein Schweinefleisch verarbeitet. Die Produktpalette umfasst u.a. verschiedene Arten von Wurstwaren, Schinken etc. und Balkanspezialitäten. Dabei ist nicht ganz unwesentlich, dass diese Produkte teilweise bis zu 20 % weniger Fett beinhalten als konventionelle Fleischwaren. Die Produktion begann in Märwil; seit dem Jahr 2007 betreibt die Carna Gallo AG ihr Geschäft in einem Neubau im Steinacker in Affeltrangen. Derzeit beschäftigt die Firma rund 48 Mitarbeiter. Aktuell verarbeitet dieses Unternehmen rund 2 250 Tonnen Endprodukte im Jahr. Die Kundschaft setzt sich zusammen aus Lebensmittelgrossverteilern, Metzgereien und Gastrobetrieben. Die Carna Gallo AG und die Bodenmann Metzgerei AG gehören ebenso zur «Carna Holding AG» wie die «Carna Center AG» und die «Carnapartner AG», welch letztere in der Region fünf Metzgerei-Shops für Privatkunden betreibt. Die Carna Gallo AG ist IFS zertifiziert (International Food Standards); ihr Qualitätssicherungssystem zielt auf höchste Qualität ihrer Produkte unter hygienisch einwandfreien Bedingungen sowie auf Einhaltung lebensmittelrechtlicher Vorgaben bis und mit der Verpackung. Rohfleisch wird grundsätzlich in der Schweiz eingekauft; Pouletfleisch z.B. von der frifag märwil ag. Dabei achtet die Carna Gallo auf Einhaltung klar überprüfbarer Qualitäts-Kriterien. Die Geschäftsleitung der Carna Gallo AG besteht aktuell aus den Herren Fritz Häuser, Peter Buff und Christoph Caspar; sie wird von Fritz Häuser präsidiert.


Die Gemeinden · Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten

Prematic AG. 1961 gründeten Karl Frefel, Walter Keller und Edelbert Steiert die Prematic AG in Lommis. Ihr Geschäftszweck war von Anfang an klar: Herstellung und Verkauf von Druckluftelementen und Kompressoranlagen von bester Qualität. Zur Sicherstellung der Qualität hat die Firma u.a. ein QS-System nach den ISO-Richtlinien 9001 installiert. Zum Produktprogramm gehören umfassende Service- und Beratungsleistungen. Hauptabnehmergruppen sind das Gewerbe und die Industrie. 1967 erfolgte der Umzug in einen Neubau in Affeltrangen. 1989 wurde die Produktionsfläche verfünffacht. Im Jahre 2003 übernahm die zweite Generation, Daniel Frefel und Magnus Steiert das Zepter. Der Umsatz konnte kontinuierlich gesteigert werden. Ein weiterer Meilenstein in der Firmengeschichte wurde durch die Eröffnung eines Servicecenters in der Westschweiz (Domdidier FR) im Jahre 2011 gesetzt. Die Prematic AG beschäftigt derzeit rund 50 Mitarbeiter und konnte im Jahre 2011 bereits ihr 50-jähriges Jubiläum feiern. Die Verkäufe gehen zu rund 98 % an Schweizer Kunden; rund 2 % werden exportiert. Einen besonderen Auftrag erhielt die Firma im Jahre 2012 von einem grossen Fleischverarbeiter im Fürstentum Lichtenstein. Es handelte sich um vier ölfreie Grosskompressoren mit Druckluftaufbereitung. Die Funktionsüberwachung geschieht mittels Telemonitoring direkt von Affeltrangen aus.

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Lommis Auch in dieser Gemeinde zeigt die Internetplattform die Vielfalt der lokalen gewerblichen Tätigkeiten. Lommis hat sich zu einem Zentrum der Bauwirtschaft im Lauchetal entwickelt.

Die grösste Firma in der Gemeinde ist die Bauunternehmung Ed. Vetter AG. Sie ist – und das ist ein besonderes Qualitätsmerkmal – bereits in dritter Generation erfolgreich tätig. Die Leistungspalette dieser Firma umfasst Hochbau, Tiefbau, Generalunternehmung und Immobilienverwaltung. Die Bausparten, Hoch- und Tiefbau sind umsatzmässig je etwa gleich gross.

Bild Nr. 173 Ed. Vetter AG, Lommis


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Die Gemeinden · Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten

Die Ed. Vetter AG verfolgt – gemäss eigenem Leitbild – einen umsichtigen Umgang mit Mensch und Natur; sie schenkt daher der Arbeitssicherheit und dem Umweltschutz volle Aufmerksamkeit. Zudem ist Vertrauen ein Kernmotiv ihres geschäftlichen Handelns; Vertrauen zwischen ihren Kunden und der Unternehmung und auch Vertrauen zwischen Geschäftsleitung und Mitarbeiterschaft. Derzeit beschäftigt sie rund 120 Mitarbeiter am Standort Lommis und rund 25 weitere in Wil. Die Firma achtet auf motivierte und gut ausgebildete Mitarbeiter und bildet jährlich mehrere Lehrlinge aus; damit sorgt sie selbst auch für qualifizierten beruflichen Nachwuchs. Das geografische Tätigkeitsfeld ist die nähere Ostschweiz, schwergewichtig der Raum Frauenfeld – Wil – Hinterthurgau. Ein besonderes äusseres Merkmal ist der grüne, weiss beschriftete Fahrzeugpark.

Wo Baufirmen tätig sind, braucht es Baumaschinen. Derzeit errichtet die Firma Kuhn AG (Baumaschinen und Ladetechnik), Alleinvertreterin der japanischen Baumaschinenfirma Komatsu für die Schweiz, einen Neubau für Komatsu-Produkte und den Service. Auch die Ed. Vetter AG setzt Produkte dieser Weltfirma ein.

Die Holzbau Fuchs AG, beschäftigt sich mit Holzkonstruktionen für verschiedene Arten von Gebäuden und baut auch fertige Holzhäuser. Mit rund 10 – 12

Mitarbeitern arbeitet sie im Raum Thurgau und angrenzenden Gebieten.

Die Motorfluggruppe Thurgau betreibt auf dem Flugplatz in dieser Gemeinde eine Flugschule. Hier hat sich auch eine Firma angesiedelt, die im Bereich Avionik*) tätig ist, die Kuerzi Avionics AG. Wer den Flugplatz Lommis besucht und vielleicht im Flugplatzbeizli einkehrt oder dem Flugfeld entlang nach Affeltrangen spaziert, sieht am Westende der Flugplatzgebäulichkeiten das Firmenschild «Kuerzi Avionics». *) Avionik ist eine moderne Wortschöpfung, welche aus den zwei Begriffen Aviatik und Elektronik entstanden ist. In einer Firma mit dieser Bezeichnung wird demnach Flugzeug-Elektronik produziert und verkauft. Die Tätigkeitsfelder der Avionik umfassen: Flugkontroll- und Managementsysteme, Kommunikation, Navigation, Anzeigen, Radar, Missions-Systeme, jeweils Hard- und Software.

1978 gründeten Paul und Ruth Kürzi diese international tätige Firma in Bronschhofen. 1983 erwarben sie am Flugplatz Lommis das Geschäftsgebäude, welches sie später um den Hangar und zusätzliche Büroräumlichkeiten erweiterten. Seit 2001 führt Sohn Ralf Kürzi dieses mittlerweile auf rund 20 Mitarbeiter – sie alle tragen blaue Shirts oder Hemden – gewachsene Unternehmen. Die Firma Kuerzi ist in allen oben erwähnten Tätigkeitsfeldern der Avionik tätig. Die Leistungspalette dieser Firma umfasst folgende Elemente:


Die Gemeinden · Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten

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· Entwicklung von anwendungsspezifischer Hardund Software · Stromversorgung für medizinische Systeme in Helikoptern und Flugzeugen · Cockpit Umbauten · Zertifizierungsarbeiten für die Herstellung und den Einbau von Elektronikgeräten · Wartungs- und Reparaturarbeiten an Luftfahrzeugen Diese Produkte und Dienstleistungen werden für alle Arten von Luftfahrzeugen angeboten, hergestellt, geliefert und montiert. Ein- und Umbauten, sowie Wartungsarbeiten an Helikoptern, Kleinflugzeugen und Segelfliegern werden in Lommis ausgeführt; diese Flugzeugtypen können hier landen. Arbeiten an Grossflugzeugen werden auf den jeweiligen Flughäfen vorgenommen. Die Firma Kuerzi arbeitet nach technisch höchsten Ansprüchen, weil die Sicherheit im Flugverkehr höchste Priorität geniesst. Das Absatzgebiet umfasst neben der Schweiz und dem europäischen Umfeld auch die USA und Afrika.

rund 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und im Winter rund die Hälfte. Nähere Informationen zu dieser Firma – einer der grossen Gemüseproduzenten in der Ostschweiz – finden sich im Kapitel «Landwirtschaft», Abschnitt «Portraits von Landwirtschaftsbetrieben».

Stettfurt Auch hier verweisen wir zunächst auf die Internetplattform der Gemeinde, wo alle Gewerbetreibenden aufgelistet sind. Diese Gemeinde hat sich zu einem Lebensmittelzentrum entwickelt.

Die Hefefabrik Stettfurt, (im Volksmund meist Hefe oder «Hepf» genannt) besteht nunmehr seit über 110 Jahren. 1993 erfolgte der Zusammenschluss der ehemaligen Hefefabriken AG, Hindelbank mit der Presshefefabrik Stettfurt AG. Seither firmiert die Stettfurter Firma als «Hefe Schweiz AG». Der Produktionsstandort Hindelbank wurde stillgelegt.

Der grösste Arbeitgeber im Dorf ist die Gemüsekulturen Erwin Gamper; die Firma beschäftigt im Sommer

Sie verbindet Tradition mit Innovationskraft; das zeigt sich u.a. am Produkt «Bio Hefe» und «Hefe Plus» (eine

Bild Nr. 174 Hefe Schweiz AG, Stettfurt


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Bild Nr. 175 Nussbaum Matzingen AG, Matzingen

Die Gemeinden · Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten

Hefe, die auch bei Kühlung die Triebkraft nicht verliert) sowie an der Lizenzproduktion von «Panatura» (ein Fertigvorteig). Die Hefe Schweiz AG ist die einzige Produzentin von Backhefe in der Schweiz und versorgt unser Land mit rund 60 % des Bedarfs an diesem Produkt; derzeit beschäftigt die Firma rund 34 Mitarbeiter.

Sohn Andreas. Zur Erweiterung des Tätigkeitsfeldes gründete Werner Huber die Firma «Forest AG». Im Rahmen dieses Unternehmens werden mechanisierte Holz­ ernten, Holzvermarktung sowie Holztransporte realisiert. Die beiden Firmen beschäftigen zusammen derzeit rund 16 Mitarbeiter.

Mit diesen beiden Firmen, Gemüsekulturen Erwin Gamper und Hefe Schweiz AG, ist Stettfurt zu einem Lebensmittelzentrum im Tal geworden.

Matzingen Neben der Raiffeisenbank, einer Poststelle, mehreren Lebensmittel- und Gastro-Betrieben gibt es in Matzingen eine ansehnliche Zahl von erfolgreichen KMU-Betrieben; mehrere davon sind in der Aluminium- und Metallbearbeitung tätig. Die drei grössten Betriebe dieser Branche möchten wir hier kurz vorstellen.

Seit bereits über 40 Jahren existiert das Forstunternehmen «Forsta», seinerzeit gegründet von Werner Huber, heute in zweiter Generation geführt von seinem

Nussbaum Matzingen AG. Sie ist die grösste Arbeitgeberein in der Gemeinde mit einer Tochterfirma in Kesswil (Übernahme der früheren Tubenfabrik «Pressta») sowie zwei Tochterfirmen in Deutschland, Frankenberg und Rielasingen. Auch die beiden Tochterfirmen in Deutschland entstanden durch Übernahmen vorher bestehender Werke in der Branche der Firma Nussbaum. Die Firmengruppe beschäftigt insgesamt rund 400 Mitarbeiter davon 120 im Werk Matzingen. 1963 vom Pionier Eugen Nussbaum zusammen mit Hans Guhl gegründet, kann die Firma 2013 ihr 50-jähriges Jubiläum feiern. Bereits im Folgejahr führten die geschäftstüchtigen und zukunftsorientierten Unternehmer eine vollautomatische Herstellung von Aluminiumdosen ein. Damit sind wir auch bereits beim Geschäftszweck der Firmengruppe, welche derzeit in zweiter Generation von


Die Gemeinden · Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten

Herrn Florian J. Nussbaum als Eigentümer und Delegierter des Verwaltungsrates geleitet wird. Die Unternehmensgruppe konzentriert sich auf Herstellung und Vertrieb von Dosen und Tuben, in Farben und Beschriftung nach den Wünschen der Kunden. Das Grundmaterial für Dosen und Tuben ist Aluminium. Der sinnige Firmenslogan lautet: We Can.

Die Herstellung der Teile und der Endprodukte basiert auf Kleinserien und unterliegt einer strengen Qualitätskontrolle, was hohe Investitionen erforderte und erfordert. «In diesem Sinne ist die GEHRING CUT AG» – so der Geschäftsführer, Christian Gerlach – «mit rund 70 Mitarbeitern klein genug, um schnell und flexibel sein zu können und gross genug, um Termintreue und hohe Qualität garantieren zu können.»

Besonders bekannte Einsatzgebiete dieser Produkte sind: · Für Dosen: Deospray, Rasiergel, Hairspray, Hair Mousse · Für Tuben: Senf, Mayo, Pharma-Crèmes

Das Unternehmen verkauft ihre Produkte zu rund 70 % an Kunden in der Schweiz und zu rund 30 % an Abnehmer im übrigen Europa. Ein Grossteil der Produkte kommt durch die Erstabnehmer im US-amerikanischen Raum zum Einsatz.

Der Verkauf erfolgt mit rund 30 % an Kunden in der Schweiz, mit rund 50 % ins restliche Europa und mit rund 20 % in den Rest der Welt.

«Der Erfolg der GEHRING CUT AG» – so nochmals der Geschäftsführer – «steht und fällt mit der Qualifikation und Motivation der Mitarbeiter und deren Verantwortung für eine tadellose Ausführung der jeweiligen Arbeiten.» Die Firma bildet selbst jährlich 2 – 4 Lehrlinge aus.

Aus der einstigen Dorfschmiede von Fritz Gehring entstand 1987 durch Besitzerwechsel und bedeutende Investitionen ein mechanischer Fertigungsbetrieb für Präzisionsprodukte, die GEHRING CUT AG. 1998 führte die Firma ein PPS (Produktionsplanungssystem) ein mit gleichzeitiger Vernetzung aller Produktionsanlagen. Damit wurde die Basis für die Herstellung von hochpräzisen Produkten für die Medizinaltechnik in Matzingen geschaffen. Heute ist die GEHRING CUT AG ein weltweit anerkannter Produzent von funktionalen orthopädischen Instrumenten und Implantaten, welche das Operationsergebnis für Chirurgen und Patienten nachhaltig verbessern.

Ein weiterer KMU-Betrieb in der Sparte Metallindustrie in Matzingen ist die unima ag. Die Firma wurde Ende der 1950er-Jahre als Einzelfirma gegründet und 1989 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Sie ist in den Bereichen Blechbe- und -verarbeitung unterschiedlichster Metalle tätig. Neben Laserschneiden, Stanzen, Abkanten, Biegen und Schweissen ist die Firma führend in der Veredelung von Metallen durch Pulverbeschichtung. Die unima ag ist zudem einer der kompetenten Hersteller von Einrichtungssystemen, teilweise nach dem

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Die Gemeinden · Wirtschaft und Arbeitsmöglichkeiten

Baukastenprinzip, für Lager, Archive, Schulen, Bibliotheken, Verwaltungen, Wohnen und Büros. Aktueller Geschäftsführer der unima ag ist Johann Boog. Die Firma beschäftigt derzeit rund 50 Mitarbeiter. Das geografische Absatzgebiet ist mit rund 90 % die Schweiz und die restlichen rund 10 % werden im übrigen Europa verkauft.

Neben diesen drei grösseren Betrieben arbeiten im Metallbereich auch die Firmen «MeKoTech GmbH», «Signer Maschinen- und Fahrzeugtechnik» sowie «Waser Auto­ spenglerei». Man kann deshalb von Matzingen als einem Aluminiumverarbeitungs- sowie Metallbe- und -verarbeitungszentrum im Lauchetal sprechen.


Die Gemeinden · Schul- und Bildungswesen

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Schul- und Bildungswesen Einleitung In der Regenerationsverfassung des Kantons Thurgau von 1831 wurde das Erziehungswesen zur Staatsaufgabe erklärt. Am 13. März 1833 trat das erste kantonale Schulgesetz in Kraft; dieses bildet den Grundstein für die Volksschule in unserem Kanton und bestimmt, dass der Schulbesuch obligatorisch ist. In diesem Gesetz ist neben dem Lehrplan auch die Führung eines Lehrerseminars stipuliert; letzteres wurde im November 1833 in Kreuzlingen eröffnet und es besteht noch heute. Der Kanton überträgt das Schulwesen den Gemeinden; er unterstützt und überwacht diese in der Ausführung. Für die Führung des Schulwesens haben die Politischen Gemeinden drei Möglichkeiten: · Rechtlich selbständige Körperschaft – Schulgemeinde – mit separater Behörde. · Integration in die Politische Gemeinde, geführt von einem Mitglied des Gemeinderates – Einheitsgemeinde · Volksschulgemeinde als Verbund mit Nachbargemeinden mit separater Behörde, die sich aus Vertreterinnen und Vertretern der angeschlossenen Gemeinden zusammensetzt. Die zuständigen kantonalen Behörden sind bestrebt, die Qualität unserer Schulen laufend zu verbessern. Diesem Ziel dient u.a. der Regierungsratsbeschluss aus dem Jahre 2001, mit welchem das Problem von geleiteten Schulen (GLS) angegangen wurde. Nach mehrjährigen

Beratungen im Grossen Rat wurde 2005 das Thurgauer Volksschulgesetz entsprechend angepasst. Hernach wurden die Schulgemeinden beauftragt, bis zum Beginn des Schuljahres 2009/10 die geleiteten Schulen zu realisieren. Der Kanton führt zudem periodische Schulevaluationen durch mit dem Ziel, allfällige Mängel aufzuzeigen und konkrete Verbesserungen vorzuschlagen.

Bild Nr. 181 Sekundarschule Affeltrangen


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Die Gemeinden · Schul- und Bildungswesen

Körperschaften

Dörfer und zugehörige Weiler

Anlagen

Tobel-Tägerschen

Schulhaus Tobel

Affeltrangen, Buch, Zezikon

Schulhaus Affeltrangen

Affeltrangen, Buch, Zezikon

Kindergarten Zezikon

Wetzikon

Schulhaus Wolfikon

Wetzikon

Kindergarten Zezikon

Lommis

Schulhaus Lommis

Weingarten

Schulhaus Lommis

Kalthäusern

Schulhaus Lommis

Märwil

Schulhaus Märwil

Lanterswil, Stehrenberg

Schulhaus Lanterswil

Primarschulen Politische Gemeinde Tobel-Tägerschen

Primarschulgemeinde Lauchetal

Primarschulgemeinde Lommis

Primarschulgemeinde Regio Märwil

Friltschen

Schulhaus Friltschen

Primarschulgemeinde Stettfurt

Stettfurt

Schulhaus Stettfurt

Primarschulgemeinde Matzingen

Matzingen

Schulhaus Mühli Rotes Schulhaus Schulhaus Chatzebuggel Sekundarschulen

Sekundarschulgemeinde Affeltrangen

Sekundarschulgemeinde Halingen Tabelle Nr. 182 · Übersicht der Schulen im Lauchetal

Affeltrangen

Schulhaus Affeltrangen

Tobel

Schulhaus Tobel

Lommis

Schulhaus Affeltrangen/Tobel

Weingarten

Schulhaus Affeltrangen

Kalthäusern

Schulhaus Affeltrangen

Wetzikon, Zezikon

Schulhaus Affeltrangen

Märwil, Lanterswil, Friltschen

Schulhaus Affeltrangen

Stehrenberg

Schulhaus Affeltrangen

Stettfurt

Schulhaus Tannhalde Halingen

Matzingen

Schulhaus Tannhalde Halingen


Die Gemeinden · Schul- und Bildungswesen

Schulwesen im Lauchetal Im Lauchetal gibt es Primar- und Senkundarschulen. Die Primarschulen sind – wie nebenstehend aufgezeichnet – zumeist in den einzelnen Dörfern angesiedelt, während die Sekundarschulen administrativ in allen Fällen für mehrere Dörfer zusammengelegt sind. Dabei sind sowohl die Schulwege der Kinder als auch die Grösse der Gemeinden zweckmässig berücksichtigt. Die Tabelle Nr. 182 auf Seite 200 zeigt die derzeitige Organisation und Aufteilung der Grundschulen im Lauchetal. Sie enthält nur die Schulen der Dörfer gemäss geografischer Definition des Lauchetals Seiten 85/86. An gewissen Schulgemeinden sind auch Gemeinden ausserhalb des Lauchetals beteiligt. Berufs-, Mittel- und Hochschulen Berufsschulen existieren im Lauchetal nicht. Die jungen Menschen aus unserer Region haben folgende Berufsausbildungsmöglichkeiten: Berufsschulen · Frauenfeld für technische Berufe · Weinfelden für gewerbliche und kaufmännische Berufe sowie für Gesundheits- und Sozialberufe · Arenenberg für landwirtschaftliche Berufe und Musikinstrumentenbauer · Kreuzlingen für Bau- und Modeberufe · Arbon für Technik und Detailhandel · Romanshorn für Mediamatiker

Grundsätzlich könnten im Kanton Thurgau alle 250 reglementierten Berufe ausgebildet werden. Berufe, für welche weniger als 10 Lehrverhältnisse bestehen, werden jedoch an ausserkantonalen Berufsschulen beschult. Mittelschulen Solche bestehen in Frauenfeld, Kreuzlingen und Romanshorn; daneben gibt es die Pädagogische Maturitätsschule in Kreuzlingen. Schülerinnen und Schüler aus dem Hinterthurgau können auch die Kantonsschule Wil besuchen. Lehrer können an der Pädagogischen Hochschule in Kreuzlingen sowie an allen andern Pädagogischen Hochschulen in der Schweiz ausgebildet werden. Hochschulen Diese befinden sich in Zürich (ETH und Universität), in St. Gallen sowie in Konstanz. Zudem seien hier auch die Fachhochschulen ZHAW in Winterthur, die FH St. Gallen und die HTWG in Konstanz erwähnt. Ein wirklich umfassendes Ausbildungsangebot, das der Kanton Thurgau seinen jungen Menschen bereit stellt.

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Die Gemeinden · Kultur

Kultur Einleitung Das Lauchetal verfügt über ein reichhaltiges und vielfältiges kulturelles Leben; das schliesst ein breites Angebot an sportlichen Betätigungsmöglichkeiten ein. Eine Übersicht über Vereine und andere Institutionen, sowie auch Einzelheiten zu den einzelnen Körperschaften können den Internetplattformen der Gemeinden entnommen werden. Einige Besonderheiten in den Gemeinden wollen wir hier einzeln erwähnen.

Für die Regio Wil sowie für die Kulturämter der Kantone St. Gallen und Thurgau besteht unter der Bezeichnung «ThurKultur» ein Verein. Er bezweckt den wirkungsvollen Einsatz von Fördermitteln der öffentlichen Hand und die Stärkung der regionalen Kulturidentität. Dies erlaubt es den Gemeinden, auch am überregionalen Kulturangebot teilhaben zu können. Alle Gemeinden legen grossen Wert darauf, als Teil ihrer kulturellen Aufgabe ihre Bürgerinnen und Bürger transparent und umfassend zu informieren. Das geschieht an den Gemeindeversammlungen, via Internet, durch Zeitungspublikationen sowie durch gemeindeeigene Informationsblätter. Bild Nr. 191 zeigt eine Darstellung der Überschriften der Publikationsorgane der Gemeinden. Die Gemeinden Matzingen und Stettfurt sind Mitglieder des Kulturpools der Regio Frauenfeld. In diesem Pool werden lokale Projekte regional bekannt gemacht und gefördert. Durch diese Zusammenarbeit kann man in den Genuss von kantonalen Fördergeldern kommen.

Bild Nr. 191 · «Strauss» der Informationsorgane der Gemeinden

Tobel-Tägerschen Eine besondere Organisation in dieser Gemeinde ist der «Verein Komturei Tobel». Ziel dieses Vereins ist die Erhaltung, sinnvolle Nutzung und Weiterentwicklung dieser einzigartigen und einmaligen Kulturstätte; eine überaus anspruchsvolle Aufgabe.


Die Gemeinden · Kultur

Tanzfreunde finden hier im Verein «TanzSzene» von Ale­xandra und Ben Berger-Kimmich eine Freizeitgestaltungsmöglichkeit, die die Seele berührt aber auch körperlich anspruchsvoll ist. Dieser Verein offeriert Tanzkurse in verschiedenen Tanzarten und führt auch an diversen Anlässen Tanzshows durch.

Eine regionale Besonderheit ist der über 100 Mitglieder aus mehreren Gemeinden umfassende «Natur- und Vogelschutzverein» mit Sitz in Märwil. Das Tätigkeitsfeld ist hauptsächlich die Betreuung des Märwiler Rieds, aber auch die Pflege von Brutkästen in der weiteren Umgebung.

Eine besonders sympathische Organisation ist das «Partnerschaftsprojekt UKUNDA» (ein Dorf in Kenya). Ziel dieser Vereinigung ist die Hilfe und Unterstützung hilfsbedürftiger Menschen in Ukunda, sowie den Bau und Betrieb einer dortigen Primarschule mit dem Namen «SWIKUNDA» zu finanzieren.

In den 1960er-Jahren ist eine Gruppe von Italienern in die Schweiz eingewandert und in Affeltrangen sesshaft geworden. Sie stammen mehrheitlich aus der Stadt Avellino, östlich von Neapel, und verehren u.a. den heiligen Antonius aus Padua, welcher der Patron der katholischen Kapelle von Affeltrangen ist. Jährlich, um die Zeit des Antoniustages am 13. Juni, findet an einem Wochenende das durch die katholische Kirche organisierte Antoniusfest statt. Den Abschluss des zweitätigen Festes bildet im Dorf eine Prozession mit der Statue des heiligen Antonius'.

Für Lebensfreude und Wohlgefühl sorgt der Verein «Singing People Tobel», einer Gruppe von derzeit rund 30 Sängerinnen und Sängern aus dem Raum Hinterthurgau. Sie singen ein breites Spektrum von traditionellen und modernen Gospels über afrikanische Rhythmen bis zu jazzigen und poppigen Liedern. Affeltrangen Der Gemeindeammann zeigt sich besonders erfreut darüber, dass in seiner Gemeinde zwei Musikgesellschaften, je eine in Märwil und in Affeltrangen mit hohem Standard aktiv sind. In diesen beiden Dörfern besteht ebenfalls je ein Turnverein; demjenigen in Affeltrangen gehören fast ausschliesslich Frauen und Männer aus dem Dorf an, während derjenige von Märwil recht viele Mitglieder von ausserhalb des eigenen Dorfes hat. In Märwil arbeitet eine Trachtengruppe mit Mitgliedern mehrerer Gemeinden, welcher auch eine Kindertanzgruppe angegliedert ist.

Im Lauchetal gibt es zwei CEVI-Vereine für Jugendliche christlicher Ausrichtung, einer davon in Affeltrangen/ Märwil und einer in Stettfurt/Matzingen. Schliesslich sei auch das Steinhauer-Atelier von Bernhard Lüthi erwähnt. Lommis Katholisch-Lommis feiert ein Jahr lang den 800. Geburtstag der Jakobuskirche mit einem grossen Kirchenfest als Höhepunkt im Juni 2014. In diesem Zusammenhang erscheint dann auch eine Chronik über die abwechslungsreiche 800-jährige Geschichte dieses Gotteshauses. Weitere Einzelheiten zu dieser Kirche finden sich im Kapitel «Die Christianisierung», Abschnitt «Die Kirchen

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Die Gemeinden · Kultur

im Lauchetal», sowie im Kapitel «Burgen und Schlösser im Lauchetal», Abschnitt «Schloss Lommis». Im Telefonbuch findet sich der Name Kremo Kristian. Einem Artikel in der Thurgauer Zeitung vom 29. Dezember 2012 entnehmen wir, dass es sich hier um einen der weltweit bekanntesten Jongleure handelt. Schon sein Vater, Béla Kremo (Schweizer Bürger) war Weltklasse in diesem Metier. Nach einem Auftritt vor der englischen Königin ging die Karriere von Sohn Kris steil aufwärts. Neben Auftritten im Pariser Lido erhielt er einen Auftrag aus Las Vegas; dort machte er einen Vertrag für 12 Wochen, blieb aber 11 Jahre «hängen». Einer wie er, der stets vor Publikum auftritt, braucht einen Ort der Ruhe und dafür wählte er Lommis. Eine kulturelle Besonderheit ist in Weingarten der Rebenbewirtschaftungsbetrieb von Herbert und Edith Roth, «Wygärtler Weine». Obwohl er längere Zeit ein Baugeschäft am Untersee betrieb, hat Herbert Roth die Liebe zum Rebstock nicht verloren. Und diese Leidenschaft steckt in ihm seit seiner Lehre als Winzer am Berufsbildungs- und Beratungszentrum Arenenberg. Das Ehepaar besitzt eigene Reben in Weingarten, Kalthäusern und in der Pfaffenegg (am Ostrand von Stettfurt). Daneben bewirtschaften sie den Rebberg der «Hefe Schweiz AG» am «Hummenberg» (nordwestlich des Dorfes Stettfurt). Die Arbeit der Winzer ist sehr vielfältig und beansprucht sie 10 – 11 Monate im Jahr. Am Schluss erfolgt die Ernte, genannt Wümmet. Das Ehepaar Roth beschäftigt fallweise externe Mitarbeiter, insbesondere während dem Wümmet. Danach folgt das Keltern – die eigentliche Herstellung des edlen Getränkes. Die hier mehrheitlich angepflanzten Traubensorten sind:

Pinot noir, Müller Thurgau, Sauvignon blanc und Chardonnay. Wie ein guter Wein entsteht, beantwortet das Winzer-Ehepaar wie folgt: «Geeignetes Wetter, das Laub, die laufende Pflege und schliesslich der Kelterer.» Einzelheiten zum Rebbau im Lauchetal finden sich im Kapitel «Landwirtschaft», Abschnitt «Rebbau». Stettfurt Stettfurt verfügt über einen «Kulturkeller» (Untergeschoss des aktuellen Gemeindehauses), worin jährlich zwischen September und April meist sechs kulturelle Veranstaltungen (Kleinkunst) von recht hohem Niveau durchgeführt werden. Organisatorisch ist der «Kulturkeller» eine Untergruppe des Gemeindevereins. Die Finanzierung der Anlässe geschieht durch Eintrittsgebühren, Sponsoren- und Gönnergelder sowie Beiträge aus dem Kulturpool. Wie schon unter Affeltrangen erwähnt, gibt es hier auch einen CEVI-Verein. Hier nehmen rund 50 Jugendliche beider Konfessionen aus Stettfurt und Matzingen teil. Wie bereits unter den Dorfcharakteristiken erwähnt, existiert in dieser Gemeinde das einzige öffentliche Schwimmbad im Tal; es wird von Besuchern aus dem ganzen Tal und auch angrenzenden Gemeinden frequentiert. Seit 1995 strömen Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung jährlich am Samstag vor dem ersten Adventstag nach Stettfurt, um den mittlerweile traditio­ nellen Weihnachtsmarkt mit Karussell zu erleben.


Die Gemeinden · Kultur

Kunstschaffen ist auch hier verbreitet; einer der Künstler, Othmar Eder, ausgebildet während fünf Jahren an der Akademie für bildende Künste in Wien, darf hier besonders erwähnt werden. Manchmal hört man hier und auch in Nachbardörfern an schönen frühen Sonntagmorgen im Frühherbst sympathische Musik besonderer Art. Sie stammt von der «Alphorngruppe Sonnenberg». Seit dem Jahre 2003 wird in Stettfurt jährlich ein über­ regionaler Triathlon- Wettbewerb in mehreren Leistungsklassen organisiert und durchgeführt. Triathlon beinhaltet die Sportarten Velofahren, Laufen und Schwimmen. Matzingen An erster Stelle wollen wir hier das umfangreiche Dorfmuseum – das einzige im Tal – erwähnen. Es zeigt viele Facetten der gewerblichen und kulturellen Entwicklung des Dorfes. Die Trägerschaft des Museums ist eine private Stiftung und geleitet wird sie derzeit vom ehemaligen Gemeindeammann Elmar Bissegger, assistiert von der geschichtsorientierten ehemaligen Lehrerin, Doris

Riedener, sowie von vielen freiwilligen Helfern und Gönnern. Seit 1994 gibt es in Matzingen zur Freizeitbetätigung eine Minigolfanlage gleich neben dem Tennisplatz, die für jedermann offen ist. Angeschlossen ist auch ein kleines Restaurant. Zudem befindet sich der Sitz der «Landfrauenvereinigung Matzingen, Stettfurt, Wängi und Umgebung» in Matzingen. Für ganz besonders sensible Vogelarten gibt es in Matzingen den Verein «Auffangstation für Papageien und Sittiche APS». Hier kann man alles notwendige Wissen für den korrekten Umgang mit diesen Vögeln aus fremden Ländern – auch medizinische Beratung – erfragen und erhalten; idealerweise bevor man solche Tiere anschafft. Dieser Verein ist im Gebäude der ehemaligen Weberei Matzingen einquartiert. Eine weitere Besonderheit in dieser Gemeinde ist ein Gospelchor, sowie ein geselliger Verein mit interessierten Mitgliedern – der Fotoclub. Der «Veloclub Sonnenberg», mit Mitgliedern aus Matzingen, Stettfurt und Umgebung hat seinen Vereinssitz in Matzingen.

Ein sportlicher Kulturanlass besonderer Art ist der seit 1934 stattfindende Frauenfelder Militärwettmarsch, im Volksmund «Frauenfelder» genannt. Er hat eine Länge von 42,195 km und führt durchs untere Lauchetal. Auf dem Hinweg Richtung Wil führt er durch Matzingen und auf dem Rückweg nach Frauenfeld tangiert er die Dörfer Lommis, Weingarten, Kalthäusern und Stettfurt. So gesehen könnte man diesen Militärwettmarsch auch «Lauchetaler» nennen.

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Die Gemeinden · Gesundheit und Soziales

Gesundheit und Soziales Allgemeines Grundsätzlich wollen wir hier zwischen Gesundheitsversorgung und Sozialversicherungen unterscheiden. Gemäss Kantonsverfassung und Gesundheitsgesetz ist die Gesundheitsförderung eine Verbundaufgabe zwischen Kanton und Gemeinden. Dabei enthebt die öffentliche Gesundheitspflege den Einzelnen nicht der Verantwortung für seine eigene Gesundheit. Spitäler und Aerzte Mit Standort Frauenfeld liegt ein Spital recht nahe am Lauchetal; das zweite Spital im Thurgau befindet sich in Münsterlingen. Die beiden Spitäler sind rechtlich und administrativ unter dem Namen «Spital Thurgau AG» verbunden. Die ärztliche Versorgung ist durch eine Praxis in Tobel, eine in Affeltrangen und zwei in Matzingen derzeit noch ordentlich gut. Spitex, Beratungsstellen und Dienste Die Nachbehandlung von Spitalaufenthalten wird oft durch die Spitex-Organisationen wahrgenommen. Diesbezüglich ist die regionale Zusammenarbeit im Lauchetal recht weit fortgeschritten. Im oberen Talteil gibt es die «Spitex Lauchetal»; dieser sind die Politischen Gemeinden Affeltrangen, Lommis und Tobel-Tägerschen, sowie Bettwiesen und Braunau mit den ihnen zugeordneten

Dörfern angeschlossen. Im unteren Talteil gibt es den «Spitex-Verein Matzingen, Stettfurt und Thundorf». Die Gemeinden verfügen über einschlägige Beratungsstellen, wie z.B. Mütter- und Väterberatung, Pflegekinderaufsicht sowie Pro Juventute und Pro Senectute. In allen Gemeinden existiert ein Mahlzeitendienst für ältere Menschen, die nicht mehr selbst kochen können; oft sind die sozialen Kontakte mit diesen Menschen fast ebenso wichtig wie das Essen. Auch gibt es in allen Gemeinden einen Rotkreuz-Fahrdienst. Zudem führen die meisten Gemeinden durch ihre zuständigen Organe separate Altersnachmittage durch. Zur angemessenen Bewegung im Sinne eines Gesundheitsbeitrages organisieren viele Gemeinden auch altersangepasste Wandertage in den Frühlings- und Herbstmonaten. Auch Altersturnen wird in den meisten Gemeinden angeboten. In der Gemeinde Affeltrangen gibt es mit Sitz in Märwil einen regionalen Kodex-Verein. Zweck dieses Vereins ist die Suchtmittelprävention an den Sekundarschulen. Die Grundlage dieses Vereins ist die «Kodex-Stiftung» mit Sitz in Frauenfeld. Man arbeitet in dieser Institution nach einem definierten Dreistufen-Modell. Es belohnt den freiwilligen Verzicht auf Alkohol, Tabak, illegale Drogen sowie auf den Missbrauch von Medikamenten.


Die Gemeinden · Gesundheit und Soziales

Unter der Trägerschaft der Bachmann'schen Stiftung mit Sitz in Frauenfeld gibt es in Stettfurt eine Sozialpsychiatrische Wohngemeinschaft mit dem Namen Dialogos. Es werden eher jüngere Menschen mit Mindestalter 18 Jahre betreut, welche an Schizophrenie und wahnhaften Störungen leiden. Ziel dieser Institution ist es, durch Gespräche sowie Beschäftigungen in den Bereichen Unterhalt, Hauswirtschaft und Heimküche die betroffenen Menschen wieder in ein selbständiges Leben zurückzuführen. Lommis verfügt mit dem «Chraiehof» über eine Wohnund Werkstätte für psychisch kranke Erwachsene; diese Institution bietet Platz für 22 Bewohner. Ziel dieser Einrichtung ist die soziale und berufliche Rehabilitation sowie, wo erforderlich, eine Langzeitbetreuung. Das Betreuungsteam umfasst 16 Personen. Der Chraiehof ist ein zertifizierter Knospen-Bio-Hof mit Bio-Gemüseanbau und Hofladen. Die Betreuung der Bewohner zielt ab auf Wiedererreichung von Selbständigkeit, Selbstverantwortung, Beziehungs- und Konfliktfähigkeit sowie Bewältigung der Anforderungen der täglichen Arbeit. Neben der psychiatrischen Betreuung offeriert der Chraie­hof Beschäftigungsmöglichkeiten in den Bereichen Hausdienst, Verpflegung, Gemüse- und Obstbau, Landwirtschaft und Tierhaltung, sowie in einem Atelier in diversen Tätigkeiten, wie Textiles Werken, Ton-Werkstatt usw. In einigen dieser Beschäftigungsmöglichkeiten können Bewohner hier gar berufsqualifizierende Ausbildungen absolvieren. Trägerschaft für diese Institution ist die «Genossenschaft Chraiehof Lommis». Als Besonderheit befindet sich im Chraiehof auch der Sitz des WWF-Biberzentrums Ostschweiz.

In Matzingen war der Sitz einer bedeutenden Institution, der «Stiftung für Biomedizinische Forschung», seit 2010 «Institut für Klinische, Biomedizinische Forschung Thurgau» (IKBT). Ende 2013 wurde dieses Institut aufgelöst. Das IKBT betrieb, teils auch in Kooperation mit Universitäten oder Pharmafirmen, molekulare Grundlagenforschung mit medizinischer Anwendung. Unter anderem realisierte Frau Dr. sc.nat. Marianne Gamper, Tochter von Robert und Berta Gamper aus Stettfurt, ein Projekt, das vielen Frauen Hoffnung macht. Es geht um eine molekulare Diagnostik der interstitiellen Cystitis – auf Deutsch: Früherkennung einer chronischen, immer häufiger auftretenden schmerzhaften Blasenkrankheit. Frau Dr. Gamper ist jetzt am Kantonsspital Frauenfeld angestellt, wo sie ihre wertvolle Arbeit weiterführen kann. Geblieben ist in Matzingen das «Institute for Biopharmaceutical Research Inc.» (IBR), wo Frau Dr. Marianne Gamper Laborarbeit verrichtet. Alters- und Pflegeheime In Tobel steht das derzeit im Lauchetal grösste Altersund Pflegezentrum «Sunnewies» für die Politischen Gemeinden Tobel-Tägerschen, Affeltrangen und Lommis. Diese Region ist damit angemessen gut versorgt. Dieses Zentrum verfügt aktuell über 55 behagliche Einzelzimmer für pflegebedürftige Menschen sowie 11 unterschiedlich grosse Wohnungen für betreutes Wohnen. Es beinhaltet ein Restaurant mit Cafeteria, Räume für gesellschaftliche Aktivitäten sowie einen Gottesdienstraum. In diesen Gebäuden ist auch die Spitex-Organisation Lauchetal untergebracht.

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Die Gemeinden · Gesundheit und Soziales

Matzingen Stettfurt Thundorf benötigte zusätzlichen Raum und ist neu im Lauchefeld 21 domiziliert. Pflegebedürftige Menschen aus Stettfurt und Matzingen finden freundliche Aufnahme – soweit Platz vorhanden ist – entweder im «Wohn- und Pflegezentrum Neuhaus» in Wängi oder im «Wohn- und Pflegezentrum Tannzapfenland» in Münchwilen oder in einem der drei Altersund Pflegezentren in Frauenfeld, nämlich im «Alters- und Pflegeheim Stadtgarten», im «Alterszentrum Park» sowie in der «Perlavita AG Friedau».

Bild Nr. 201 · Alters- und Pflegezentrum «Sunnewies», Tobel

Lommis verfügt über ein privat geführtes Seniorenhaus mit vier Einzelbett- und zwei Zweibett-Zimmern. Auch hier hat es Verpflegungs- und Gesellschaftsräume. In Matzingen gibt es die Genossenschaft Alterswohnungen; diese besitzt eine Liegenschaft mit 12 Alterswohnungen (2½ und 3 Zimmer) – es ist jedoch kein Pflegeheim. Die Genossenschaft hat gemeinnützigen Charakter und ist konfessionell neutral. Alle Wohnungen sind Mietwohnungen; die Bewohner müssen nicht unbedingt Genossenschafter sein. Die zuvor dort einquartierte Spitex

Das Heim Neuhaus in Wängi bietet 80 pflegebedürftigen Menschen eine behagliche Atmosphäre und verfügt über einen Speisesaal sowie eine Cafeteria. Im kürzlich erstellten Erweiterungsbau wurde ein Vortrags- und Gesellschaftsraum sowie ein Gottesdienstraum eingebaut. Das Alterszentrum Tannzapfenland bietet Pflegeplätze für 55 Menschen und verfügt daneben über Alterswohnungen für rund 50 Menschen. Auch in Münchwilen wird auf eine behagliche Atmosphäre geachtet und dieses Heim verfügt ebenfalls über eine moderne Infrastruktur. Sozialversicherungen Hinsichtlich Sozialversicherungen sind die Gemeinden für ihre jeweiligen Einzugsgebiete auf Basis der einschlägigen Gesetze und Verordnungen zuständig und verantwortlich. Genaue Angaben finden sich auf den Internetplattformen der Gemeinden.


Die Jugend – unsere Zukunft Sekundarschule Affeltrangen Schuljahr 2012/13 Erster Schultag der neuen Sekundarschßler mit ihren Lehrpersonen Foto: Hans Martin Keller



Die Jugend – unsere Zukunft · Eine Vision

Eine Vision Einleitung Nach der kurzen Beschreibung der Gemeinden im Lauchetal in den vorangegangenen Kapiteln wollen wir einige Gedanken zu möglichen Entwicklungen in der Organisation unserer Talschaft in der Zukunft wagen. Die nachfolgenden Äusserungen sind weder Rezepte noch konkrete, bis ins Detail durchdachte Vorschläge; es sind Denkanstösse. Sie basieren auf Kontakten zu zwei Amtsstellen im Kanton sowie je einem Gespräch mit dem ehemaligen Gemeindeammann von Lommis, Fritz Haas, und dem derzeitigen Gemeindeammann von Kemmental, Walter Marty. Zudem basieren wir auf gewissen Erkenntnissen des Verfassers aus seinen langjährigen Tätigkeiten als Revisor der Gemeinderechnungen von Stettfurt sowie der beiden Schulgemeinden Stettfurt und Halingen und der gleichen Funktion in der RVM Süd (Wasserversorgung) und ARA Lauchetal-Murgtal (Abwasserentsorgung). Bisher realisierte Zusammenarbeit unter den hiesigen Gemeinden Die beiden grossen Projekte mit Vorbildcharakter, welchen auch viele Gemeinden ausserhalb des Lauchetals angeschlossen sind, sind die Wasserversorgung (RVMSüd) und die Abwasserentsorgung (ARA LauchetalMurgtal); beide sind im Kapitel «Wasserwirtschaft» beschrieben. Enge lokale Zusammenarbeiten wurden in den Bereichen «Stromeinkauf», «Feuerwehr» sowie im Gesundheitswesen (Krankenpflege, Spitex und teilweise

in der Altersversorgung) realisiert; dazu verweisen wir auf die vorangegangenen Kapitel der Beschreibung der Gemeinden im Tal. Grundideen für zukunftsgerichtete Denkanstösse Auf Grund des kantonalen Gemeindegesetzes vom 5.5.1999 haben sämtliche Politischen Gemeinden grundsätzlich die gleichen Aufgaben zu erfüllen. Diese umfassen stichwortartig die Organisation der Gemeinden, das Führen der Einwohnerregister, den Einzug der Steuern für Bund, Kanton, Gemeinde und Kirchen, die Versorgung der Gemeinden mit den lebensnotwendigen Energien, das Schulwesen, den Strassenbau und -Unterhalt, das Hochbauwesen, sowie Verantwortung für Entsorgung, Sicherheit und Sozialfürsorge. In etlichen Gemeinden hat man zunehmend Schwierigkeiten, für solche Aufgabenbereiche die nötige Anzahl an genügend qualifizierten Leuten zu finden. Das gilt sowohl für Gemeindeammänner wie auch für Steuerbeamte oder Strassenkehrer. Dazu kommt noch das Problem der Stellvertretung, da man ja in einer Gemeinde nicht für jede Funktion zwei oder mehr Leute anstellen kann. In unserer zunehmend komplexeren Umwelt werden auch juristische sowie technische Kenntnisse und die entsprechende Infrastruktur immer wichtiger und sprengen bald einmal das Budget einer Gemeinde. Wenn man sich dieser Situation und der noch zu erwartenden Entwicklung bewusst ist, stellt man sich

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Die Jugend – unsere Zukunft · Eine Vision

zwangsläufig die Frage: In welchen Aufgabenbereichen kann man durch Zusammenarbeit Steuergelder sparen; wo könnte man damit die Effizienz steigern? Dazu einige Beispiele. · Ist es bei Gesetzesänderungen, welche administrative Anpassungen bedingen (Steuern, Einwohnerkontrolle, Energieabgaben oder -vergütungen usw.) sinnvoll, dass jede Gemeinde die dafür nötigen Anpassungen «ihrer» Verarbeitung bezahlt, anstatt diese nur einmal zu berappen, da die Änderung ja für alle gilt? · Ist es sinnvoll, wenn jede Gemeinde für den Unterhalt ihrer Strassen eigene Fachleute zur Hand haben muss. · Macht es Sinn, dass jede Gemeinde ihr eigenes Alters- und Pflegeheim unterhält oder finanziell unterstützt und dann über Belegungspriotitäten und Tarife mit den «auswärtigen» Anwärtern feilscht? Möglichkeiten der Konzentration von Gemeindeaufgaben Grundsätzlich meinen wir, dass sämtliche Aufgaben einer Gemeinde in einer grösseren politischen Einheit zusammengefasst werden könnten. Besonders wichtige Teilgebiete sind: · Das Steuerwesen (könnte sogar kantonal gelöst werden) · Ein einheitliches Baureglement für den Strassenbau, mit speziellen Teilregelungen im Hochbau, wo Dörfer besonderen Wert auf ihr Erscheinungsbild legen (Vorteil für die Bauwirtschaft) · Die Energieversorgung im Rahmen eines einheitlichen Versorgungsreglements

· E inheitliche Abfallentsorgung · Z ivilschutz und Feuerwehr · Gesundheits- und Altersvorsorge auch für Pflegebedürftige, insbesondere im unteren Lauchetal · Jagd- und Fischereiadministration Die Führung dieser grösseren politischen Einheit müsste durch einen vom Volk gewählten Gemeinderat mit Vertretern aus allen bisherigen Gemeinden erfolgen. Dafür wären aber nicht, wie es jetzt der Fall ist, 25 Gemeinderäte erforderlich. Der neue Gemeinderat wiederum beauftragt Fachleute für die einzelnen Aufgabenbereiche mit entsprechender Stellvertretung. Mit heutigen Kommunikationsmitteln wäre es durchaus denkbar, dass die Aufgabenbereiche dezentral in verschiedenen Gemeinden angesiedelt werden könnten. Besonders zu beachten ist in diesem Rahmen die Führung und Regelung des Schul- und Bildungswesens. Eine vielleicht mutige Vision Unter Beachtung der vorerwähnten Gedankengänge schwebt uns eine Politische Gemeinde Lauchetal als Verwaltungseinheit vor, bei gleichzeitiger Erhaltung der vielschichtigen kulturellen Eigenständigkeit der einzelnen Dörfer dieser Gemeinde. Das im Kapitel «Der Bach, der dem Tal den Namen gab» umschriebene Gebiet des Lauchetals könnte für die gedachte zukünftig vergrösserte Gemeinde gleichzeitig etwas erweitert werden. Es wäre denkbar, im Südosten die Dörfer Bettwiesen und Braunau und im Nordwesten die Dörfer Kirchberg, Thundorf und Lustdorf der neuen Gemeinde anzugliedern.


Die Jugend – unsere Zukunft · Eine Vision

Die Vision von einer Gemeinde Lauchetal ist im übrigen gar nicht neu. Fritz Haas, der frühere Gemeindeammann von Lommis, erläuterte uns, dass im Zuge der Neugliederung der Thurgauer Gemeinden in den 1990er-Jahren diese Thematik bereits konkret erörtert wurde. Es waren damals allerdings nur die Gemeinden des oberen Lauchetals, also Lommis, Affeltrangen, Buch, Märwil und Zezikon im Gespräch. Die Stimmberechtigten der damaligen Zeit lehnten dieses Projekt in der Mehrheit ab. Rechtliche Aspekte Die Kantonsverfassung regelt in Art. 58 den Bestand der Gemeinden und hält in Abs. 2 fest, dass Änderungen der Zustimmung des Grossen Rates unterliegen. Der Wunsch für einen Zusammenschluss der bestehenden Politischen Gemeinden zu einer grösseren Einheit muss von den Bewohnern kommen; jede Gemeinde müsste diesem Wunsch in einer formellen Abstimmung zustimmen. Das braucht Information und viel Zeit. Allerdings gäbe es im Lauchetal, wie uns von einer Stelle der Kantonsverwaltung mitgeteilt wurde, einen zusätzlichen Stolperstein. Es handelt sich dabei um die Tatsache, dass unser Tal in Teilen drei Bezirken zugeordnet ist und die neue Bezirksregelung erst 2008 in Kraft trat; wir verweisen auf das Kapitel «Politische Gliederung des Lauchetals». Aber auch dieses Problem ist nicht unlösbar. Und dass es sich sehr wohl – vor allem finanziell – lohnen kann, zeigt das Beispiel der Gemeinde Kemmental.

Das Beispiel Kemmental Auf Grund eines Gespräches mit dem derzeitigen Gemeindeammann der Gemeinde Kemmental, Walter Marty, durften wir ein praktisches Beispiel erfahren, wie ein grösseres Gemeindegebilde für alle Bewohner zum Erfolg geführt werden kann. Im Rahmen der Neuordnung der Gemeinden im Thurgau in den 1990er-Jahren wurde per 1.1.1996 die «Gemeinde Kemmental» gebildet. Es war der Zusammenschluss der beiden Munizipalgemeinden Hugelshofen und Alterswilen denen insgesamt 8 (früher gar 9) Dörfer angehörten. Das neue Gebilde hat eine Gesamtfläche von rund 25 km2. Analog zur Situation im Lauchetal hinsichtlich administrativer oder wirtschaftlicher Ausrichtung der Gemeinden, war die Munizipale Hugelshofen vorwiegend nach Weinfelden ausgerichtet, während diejenige von Alterswilen sich mehrheitlich nach Kreuzlingen orientierte. Die Steuerfüsse in den beiden Munizipalen waren recht unterschiedlich; zudem wichen in mehreren Bereichen die Kosten und Gebühren für diverse Dienstleistungen der Gemeinden voneinander ab. Natürlich hegten auch viele Bewohner die Befürchtung, dass eine Zentrale ihre jeweiligen Bedürfnisse nicht gleich ernst nehmen würde. Trotzdem wurde der Versuch gewagt. Zu Beginn bestand der neue Gemeinderat aus neun Mitgliedern; jede ehemalige Ortsgemeinde stellte ein Mitglied. Heute umfasst dieser Rat gerade noch fünf Personen.

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Beim Start hatte die neue Gemeinde Kemmental eine Schuldenlast von gegen 7 Millionen Franken. Heute, nach rund 18 Jahren, weist sie ein Eigenkapital in nahezu gleicher Höhe auf. Der gemeinsame Steuerfuss für die Gemeindesteuern betrug in den ersten Jahren 90 %; dieser konnte mittlerweile auf 58 % gesenkt werden. Das ist nicht nur die Folge des Zusammenschlusses, sondern auch eine Folge der sehr guten Arbeit aller Behörden während dieser Zeitspanne. Die Frage, ob es noch immer Bürgerinnen und Bürger gibt, die gerne wieder die alte Ordnung hätten, konnte Herr Marty aus konkretem Wissen verneinen. Das Schulwesen ist zweckmässig organisiert. Primarschulen und Kindergärten gibt es in den Gemeinden Alterswilen, Hugelshofen, Illighausen und Neuwilen. Die Oberstufe ist in Alterswilen konzentriert. Die Schulverwaltung und die Rechnungsführung sind zusammengefasst in der Schulgemeinde Kemmental. Im Bereich Soziales gibt es die Spitex Mittelthurgau; sie umfasst acht Gemeinden und ist in Weinfelden ansässig; sie verfügt über Stützpunkte in Berg und Bürglen. Für das Wohnen im Alter existiert eine Genossenschaft in Alterswilen; pflegebedürftige Menschen finden angenehme Unterkünfte und Betreuung in Berg, Kreuzlingen, Tägerwilen und Bussnang. Wie weiter? Es geht hier um eine mittel- bis langfristige Angelegenheit. Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn sich

Gemeindeammänner der fünf Gemeinden im Lauchetal einmal zusammensetzten, um dieses Thema ganz grundsätzlich zu besprechen. Dabei ginge es darum, im Interesse der Bewohnerschaft Möglichkeiten und Grenzen der Realisierung eines solchen Projektes zu erörtern. Eventuell wäre es sogar sinnvoll, zumindest zu Beginn auch den Gemeindeammann von Kemmental an den Sitzungen dabei zu haben. Zu einem späteren Zeitpunkt sollten alle Bewohner der Gemeinden im Tal einbezogen und informiert werden. Das kann anlässlich von Gemeindeversammlungen und durch die Gemeindeinformationsblätter geschehen. Falls sich daraus nach und nach eine positive Grundstimmung ergibt, müsste ein Projektteam mit Vertretern aus allen Gemeinden gebildet werden. Dieses Team hätte alle rechtlichen und praktischen Aspekte zu klären und die Bewohner periodisch über den Fortschritt der Arbeiten zu informieren. Zu guter Letzt müssten in allen Gemeinden Abstimmungen durchgeführt werden. Das Projekt kann aber nur unter drei Bedingungen gelingen: 1. Es muss für die überwiegende Mehrheit der Bewohner mehr Vor- als Nachteile bringen 2. Die verschiedenen Gemeindeaktivitäten müssen zweckmässig auf die einzelnen Gemeinden aufgeteilt, und nur, was sinnvoll ist, in einer Gemeinde zentralisiert werden. 3. Die kulturelle Eigenständigkeit der Dörfer im Lauchetal muss gewährleistet bleiben. Die Gemeinde Kemmental darf dabei durchaus als Beispiel herangezogen werden.


Bildstöckli Lommis

Lommis · Katholische Kirche

Affeltrangen · Evangelische Kirche

Stettfurt Ehemaliges Pfarr- und Messmerhaus · im Hintergrund Schulhaus

Matzingen Ehemaliger Kehlhof · heute Arzthaus

Zezikon/Affeltrangen · Haus zum Bollsteg

Tobel · Primarschulhaus

Lommis · Restaurant Krone


Dank Dieses Werk wäre ohne finanzielle Unterstützungen von Dritten nicht zu Stande gekommen. Wir danken den nachfolgend aufgeführten Firmen, Institutionen, Körperschaften, Gemeinden und Privatpersonen herzlich. · frifag märwil ag, Märwil · Politische Gemeinde Affeltragen · Politische Gemeinde Lommis · Politische Gemeinde Matzingen · Politische Gemeinde Stettfurt · Politische Gemeinde Tobel · Jubiläumsstiftung der Thurgauer Kantonalbank, Weinfelden · Kulturpool der Regio Frauenfeld · Kulturstiftung Ottoberg, Ottoberg · Lotteriefonds des Kantons Thurgau · Raiffeisenbank Wängi-Matzingen, Wängi · RVM-Süd, Regionalwasserversorgung MittelthurgauSüd, Wil · Vetter Ed. AG, Lommis · Vetter Josef, Lommis

Bunte «Monet»-Seerose,vor 1963 im Grütried angesidelt, heute praktisch verschwunden. Foto: Ruedi Götz, Wängi



Heinz Roggenbauch

Lebens- und Kulturraum

Lauchetal


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