Grenzüberschreitung (SoSe 2020)

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Editorial Dieses Jahr war vieles anders. Das Coronavirus hat Menschen auf der ganzen Welt gezwungen, Grenzen zu überschreiten. Ganz egal ob das Einschränkungen im Alltag, eine neue Art der Liebesbekundung oder Umstellungen auf der Arbeit waren. Für uns alle hat sich eine neue Realität eingestellt. Auch bei der VielSeitig mussten wir alle über uns hinauswachsen und neue Wege finden, um in einem Lockdown und mit Social Distancing ein Magazin zu produzieren. Das Ergebnis: Grenzüberschreitung. Und das war auch das Motto in der Produktion des Magazins. Auf einmal mussten wir uns digital organisieren und uns ständig neu aufeinander abstimmen. Trotzdem ist ein ganz besonderes Magazin entstanden, nicht nur was die Arbeit, sondern auch den Themenmix betrifft. Wie weit darf Fotojournalismus gehen? Warum sind Nippelblitzer bei Männern normal und bei Frauen eine Grenzüberschreitung? Ab wann ist man Gaffer? Mit diesen und anderen Fragen haben sich unsere Redakteure in dieser Ausgabe beschäftigt. Auch das Virus haben wir thematisiert, und einige Artikel sind unmittelbar im Lockdown entstanden. Das werdet ihr den entsprechenden Texten auch anmerken, denn mittlerweile sind Grenzen wieder geöffnet und Kontaktbeschränkungen weitgehend aufgehoben – ein Luxus, den wir viel mehr zu schätzen wissen sollten. Ein Luxus, der schon bald wieder weg sein könnte. Wir freuen uns, dass ihr endlich dieses Magazin in den Händen haltet und wünschen euch viel Spaß beim Lesen!

Angelina Neuwirth

Ricarda Müterthies

Lorena Boss

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Inhaltsverzeichnis Denkanstoß ...................................................................................................... Ein Nippelblitzer der Freiheit von Selina Hellfritsch Seite 8 Wie weit geht Social Media: Verlust der Privatsphäre am Beispiel WeChat in China von Sophia Suckel Seite10 Die Quarantäne Falle von Ricarda Müterthies Seite 15 Von Ängsten und Grenzen im Kopf von Janina Hofmann Seite 18 Gemeinschaft ohne Grenzen von Jessica Morlock Seite 20 An der Klippe zum Tod von Alina Braun Seite 22 Begrenzte Liebe statt Zusammenhalt von Lucinda Kirchhoff Seite 24 Der Sprung ins kalte Wasser von Carla Benzing Seite 27

Politik.................................................................................................................................... Sea Watch: „Wir retten Leben, wo andere es nicht tun“ von Jessica Morlock Seite 32 Wen interessiert das schon? von Lorena Boss Seite 34

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Inhaltsverzeichnis 3144 Kilometer von Jessica Morlock Seite 36 Theranos - Ein Unternehmen ohne Grenzen? von Elena Grunow Seite 39 Das brüchige Wort auf Papier von Tom Beyer Seite 41 Zu spät um wegzuschauen von Janina Hofmann Seite 43 Spanien Grundeinkommen von Denise Ott Seite 45

Graphische Grenzen.......................................................... Die stille Invasion von Josephine Hennen Seite 50 Fotostrecke von Fabi Schackert Seite 54 Entzweites Europa von Elena Grunow Seite 62 30 Jahre Wiedervereinigung: Sind wir ein Volk? von Franziska Roth Seite 64

Gewissensfrage................................................................... Fotojournalismus Zwischen Mitgefühl und Mitteilungswert von Annegret Leichte Seite 70

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Inhaltsverzeichnis Beschimpft, bedroht geschlagen: Der Alltag der Rettungskräfte von Josephine Hennen Seite 75 #IchBinKeinVirus von Selina Hellfritsch Seite 80 Muh, mäh, Missionierung von Angelina Neuwirth Seite 83 Und die Moral von dem Gericht: Stiehlt die Lebensmittel nicht von Alina Braun Seite 87

Ich habe kein eigenes Auto, aber immer das Richtige. 4

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Nippelblitzer der Freiheit

Über Jahrhunderte hinweg bis heute wird das Thema immer wieder diskutiert: Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wir Frauen wollen die Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen. Keine Einschränkungen, die uns nur wegen unseres Geschlechts benachteiligen. Angefangen bei der gerechten Bezahlung im Job bis hin zur Familienplanung. Aber was haben unsere Nippel damit zu tun? Während der Dreharbeiten des gleichnamigen Films entstand im Jahr 2012 die Kampagne „Free the Nipple“. Die Dokumentation ist ein Werk der Schauspielerin und Regisseurin Lina Esco, welche sich auch heute noch für die Kampagne und Frauenrechte einsetzt. Bis zur Veröffentlichung des Filmes im Dezember 2014 postete sie immer wieder kleine Clips mit dem Hashtag #FreeTheNipple. Damit erregte sie vor allem in den sozialen Medien viel Aufmerksamkeit. Daraufhin unterstützten auch Stars wie Miley Cyrus, Lena Dunham und Rihanna die Kampagne. Aber was genau hat es damit auf sich? „Der Film erregt allein schon durch seinen Titel viel Aufmerksamkeit und soll damit bewusst provozieren“, erklärt Regisseurin Lina Esco in einem Interview mit StyleLikeU. Dahinter steckt aber viel mehr als einfach nur ein cooler Hashtag. Der Film und die Kampagne „Free the Nipple“ setzen sich für die Gleichberechtigung von Frauen ein. Wieso soll es Männern erlaubt sein, an heißen Sommertagen im Park oben ohne herumzulaufen und Frauen nicht?​

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„Free the Nipple“ kämpft genau dafür – für die Legalisierung sowie die kulturelle Akzeptanz von nackten Frauenbrüsten in der Öffentlichkeit. Und was dann? Wollen Frauen etwa mit entblößten Brüsten einkaufen gehen, zum Friseur oder gar zur Arbeit? Wohl kaum. Es geht hier um ein allgemeines gesellschaftliches Umdenken. Es geht um die Gleichstellung und die Möglichkeit, als Frau genau die gleichen Freiheiten wie Männer zu haben. Dass allerdings immer noch eine große Diskrepanz zwischen nackten Frauen- und Männeroberkörpern herrscht, zeigt ein Urteil des obersten Gerichtshofs in den USA. Drei Frauen wurden verurteilt, da sie sich 2016 oberkörperfrei an einem Strand in Laconia, New Hampshire aufgehalten hatten. In New York ist es schon seit Anfang der 90er Jahre erlaubt, sich als Frau oben ohne frei zu bewegen. Während der Dreharbeiten für den Film „Free the Nipple“ wurden die Darsteller allerdings des Öfteren verhaftet. Wer sich jetzt denkt, ach in Deutschland ist das ja anders, liegt falsch. Es ist zwar nicht verboten, sich als Frau obenrum frei zu machen, allerdings gibt es zahlreiche Beispiele, in denen Frauen von der Polizei oder dem Ordnungsamt dazu aufgefordert werden, sich bitte wieder anzuziehen. Hier reicht es anscheinend immer noch nicht, dass in unserem Grundgesetz steht „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“. Auch in den sozialen Medien wie Instagram und Facebook verbieten Community Richtlinien, Frauennippel zu zeigen. Dies wird besonders von Künstlern kritisiert, da der weibliche, nackte Körper schon immer eine Inspirationsquelle und ästhetische Ausdrucksform darstellte. Denken wir an Skulpturen der griechischen Antike oder nackte Frauen in der französischen Malerei. Der menschliche Körper war schon immer Teil der Kunstszene. Heute können Künstler allerdings ihre Werke nur zen-

Bilder: ©entwederoderbeides siert auf den sozialen Plattformen teilen. Besonders Instagram ist für viele Fotografen ein Vermarktungskanal geworden. Jetzt müssen sie sich anpassen und mit der Einschränkung ihrer kreativen Freiheit leben. Aus einem Meeting im Herbst 2019 geht hervor, dass eine Änderung so schnell auch nicht in Sicht ist. Dort setzten sich Manager von Instagram mit Künstlern und Aktivisten zusammen, um das Thema zu diskutieren. Die Künstlerin Amanda Charchian arbeitet in ihren Fotografien oft mit einer Kombination von nackten Frauen und Architektur. In einem Interview mit der New York Times äußert sie ihre Bedenken zu den Beschränkungen auf Instagram und meint, dass die Zensur der Nippel sich bereits in den Prozess ihrer künstlerischen Arbeit einschleiche. Mittlerweile wurde der bekannte Hashtag #FreeTheNipple über vier Millionen Mal geteilt. Der Wunsch nach Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und künstlerischer Freiheit wird wohl auch in Zukunft nicht so schnell vergehen.

Ein Text von Selina Hellfritsch

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Wie weit darf Social Media gehen? Sie ist grün, sieht aus wie WhatsApp, kann aber viel mehr: Die App WeChat, die vom chinesischen Konzern Tencent entwickelt wurde, bündelt Funktionen, für die wir normalerweise mehrere Anwendungen brauchen. Klingt wie Stoff aus einem Science Fiction Roman, ist aber in China schon lange Realität. Doch zu welchem Preis?

Auf dem Wochenmarkt Einkäufe bezahlen: WeChat. Mit Professoren kommunizieren: WeChat. Im Restaurant bezahlen: WeChat. „Wenn ich in einen Laden gegangen bin und mit Bargeld bezahlen wollte, musste der Verkäufer erst einmal im Hinterzimmer nach Wechselgeld suchen“, erzählt Simon. Er hat im Wintersemester 2019 sein Auslandssemester in Suzhou, China, verbracht und dort sechs Monate lang gelebt. Und auch WeChat benutzt. Die App ist seit 2011 auf dem Markt und hat inzwischen weltweit über eine Milliarde Nutzer*innen, der Großteil davon in China. Ein Leben ohne WeChat ist dort kaum möglich, denn es werden Stromrechnungen damit bezahlt, mit Freund*innen kommuniziert und Taxis gerufen. Die erste Frage, die Simon gestellt bekommt, wenn er neue Leute kennenlernt: „May I scan your WeChat?“

Es klingt, als wäre ein Leben ohne WeChat nicht möglich. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die gängigen westlichen Apps wie WhatsApp, Facebook, Twitter und Co. in China gesperrt sind. Es gibt schlichtweg keine Alternative. „Ich habe mich in Deutschland schon mit WeChat beschäftigt und es heruntergeladen. So wirklich Nutzen konnte ich es aber erst in China, nachdem ich ein Bankkonto eingerichtet und es mit WeChat Pay verknüpft habe. Um mit meinen Freund*innen und meiner Familie zu kommunizieren, habe ich trotzdem WhatsApp benutzt. Über ein VPN, das ich in Deutschland heruntergeladen habe.“ Simon hat sich angepasst, irgendwann mit seinen deutschen Kommiliton*innen, die auch in China waren, auf WeChat kommuniziert. Und bald komplett aufs Bargeld verzichtet.

„Wenn ich mit Bargeld bezahlen wollte, musste der Verkäufer erst im Hinterzimmer nach Wechselgeld suchen.“

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„Du vergisst, dass du in einem autoritär regierten Land bist.“

Hauptsache praktisch – ist es das wert?

Die Chines*innen lieben alles, was „convenient“ (dt.: praktisch, bequem) ist und WeChat ist hier keine Ausnahme. Neben WeChat Pay gibt es DiDi, die chinesische Variante von Uber, WeChat Moments, die an Instagram Stories erinnern und noch viel mehr – alles in einer App. Aber es ist nicht alles Gold, was glänzt. Denn die Kommunistische Partei Chinas regiert das Land. Es gibt ein Social Credit System, mit dem versucht wird, komplette Kontrolle herzustellen: Die Chines*innen erhalten Punkte für wünschenswertes Verhalten und bekommen diese wieder abgezogen bei unerwünschtem oder kriminellen Verhalten. Sobald man unter einen bestimmten Punktestand fällt, muss man mit Einschränkungen im alltäglichen Leben rechnen. Der Politikwissenschaftler Sebastian Heilmann von der Universität Trier ist dem gegenüber in einem Interview mit der ARD kritisch: „Wir sehen, dass es bei dem Social Credit System, diesem neuartigen datengestützten Ratingsystem, wirklich um die Steuerung von Verhalten geht, dass auf eine sehr feine Weise, bis auf Details des Unternehmensverhaltens, des Konsumentenverhaltens zugreift […]. Und das ist natürlich was freiheitliche Gesellschaften, was freiheitliche Märkte erfordern, nicht vereinbar.“ Hierfür müssen Daten über die

Menschen zur Verfügung stehen, die unter anderem über WeChat gesammelt werden können. Der Begriff der gläsernen Bürger*innen erhält in China also eine ganz andere Bedeutung.

Überwachung und Zensur

„Ich war mir natürlich vor meinem Aufenthalt in China der Überwachung bewusst und habe es vermieden, auf WeChat mit chinesischen oder europäischen Freund*innen über Politik zu reden. Trotzdem empfand ich die mögliche Überwachung, als ich dann in China war, nicht mehr als übermäßig schlimm. Du vergisst, dass du in einem autoritär regierten Land bist, weil alle Menschen um dich herum hundert Prozent hinter dem chinesischen Staat und dessen Entscheidungen stehen“, sagt Simon. Um dennoch über das politische Zeitgeschehen, auch in China, informiert zu bleiben, tauschte er sich regelmäßig über WhatsApp mit seiner Familie aus. Wie wichtig dies ist, zeigt sich im November 2019. Investigative Journalist*innen enthüllen weltweit die systematische Verfolgung und Internierung der Uiguren, einer muslimischen Minderheit in China. Und im Land selbst? „Ich habe mit der Suchmaschine Bing versucht, in Suzhou dazu zu recherchieren, aber es war gar

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nichts zu finden. Und ich bin mir sicher, dass auch meine chinesischen Freund*innen nichts davon mitbekommen haben. Das hinterlässt schon ein mulmiges Gefühl.“ Zensur erlebte der britische Journalist Stephen McDonell am eigenen Leib, wie er 2019 auf BBC.com berichtet. Er war 2019 in Hongkong, als eine Trauerfeier für die Toten des Tian’anmen Massakers von 1989 stattfand, bei der eine Protestbewegung gewaltsam niedergeschlagen wurde. Er teilte Bilder der Trauerfeier in WeChat, wohlwissend, dass das Massaker aus der Geschichte der Chines*innen gelöscht worden war. Anschließend wurde sein Account wegen der Verbreitung von bösartigen Gerüchten blockiert und er musste sich neu mit Hilfe seines Gesichts und seiner Stimme für die App identifizieren.

Ist WeChat böse?

Obwohl Simon wieder in Europa ist, nutzt er weiter WeChat, um vor allem mit chinesischen Freund*innen zu kommunizieren. Die Frage, wie weit Social Media gehen darf, ist schwierig zu beantworten: „Ich bin hin- und hergerissen. In China war ich geblendet von den vielen Nutzungsmöglichkeiten und ich glaube, ohne WeChat wäre ich nicht weit gekommen. Allerdings hat sich mein Social-Media-Verhalten während dieser Zeit auf jeden Fall geändert, weil ich immer vorsichtig war, was ich über welches Medium kommuniziere.“ Der Nutzen von WeChat ist sehr groß, aber kommt in einem Gesamtpaket: „Man kann sich nicht entscheiden, einzelne Teile der App zu deinstallieren, nur weil man sie nicht benutzt. Das ist hier in Europa anders, wo ich tatsächlich nur die Apps installiere, die ich auch brauche und mit deren Datenschutzeinstellungen ich zufrieden bin.“ Für uns Europäer*innen geht WeChat vermutlich zu weit. In China jedoch ist das Leben mit der App allgegenwärtig.

Ein Text von Sophia Suckel

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Quarantäne-Falle

Kein ausweg aus häuslicher Gewalt? Wochen am Stück zuhause bleiben – für viele Menschen in der Corona-Zeit eine große Herausforderung. Doch wo für die meisten die Langeweile und der fehlende soziale Kontakt die einzigen Probleme in der Quarantäne sind, haben viele Frauen in Deutschland ganz andere Sorgen.

Sorgen um ihre Kinder sowie ihr mentales und körperliches Wohlbefinden. Denn im Alter von 16 bis 85 Jahren war laut der Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ jede vierte Frau körperlicher oder sexueller Gewalt durch den eigenen Partner ausgesetzt. Und die Corona-Pandemie bietet diesem generellen Problem während des Lockdowns eine noch größere Angriffsfläche, wenn die Gefahr in den eigenen vier Wänden gefangen wird. Nach dem Einkaufen nicht die Hände waschen und die Frau extra anhusten, um sie damit bedrohen zu können, sie eventuell mit dem Virus anzustecken. Das ist nur ein Szenario, das an Beratungsstellen herangetragen wird, wenn wieder eine Frau den Mut auf bringt, nach Hilfe zu suchen.

Kinder in Notsituationen aufnimmt. Denn das Problem der häuslichen Gewalt ist keineswegs ein neues oder durch Corona provoziertes Phänomen. „Auch vor der Corona-Krise waren die eigenen vier Wände für Frauen der gefährlichste Ort, Gewalt zu erfahren“, sagt Fischer. Dabei kann die ausgeübte Gewalt verschiedene Ausmaße annehmen:

Heike Fischer ist Diplom-Sozialarbeiterin und Mitarbeiterin des autonomen Frauenhauses in Stuttgart, das Frauen und ihre

Bei all diesen Taten scheint die Geschlechterhierarchie eine klassische Rolle zu spielen. 80 Prozent der Opfer von

Psychische Schäden wie ̵ ̵ ̵

Drohungen Stalken oder Kontrolle

Physische Schäden durch ̵ ̵ ̵

Schläge Würgen oder Vergewaltigung

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körperlicher Verletzung durch den Partner sind laut polizeilicher Kriminalstatistik von 2016 weiblichen Geschlechts. Im gleichen Jahr wurden in Deutschland 1.600 Frauen im Vergleich zu 21 Männern Opfer von Vergewaltigung. Der Partner – jemand, der anderen in dieser Zeit als einzige Person zur Seite steht und Halt gibt – wird für viele Frauen zum gefürchteten Gegenüber im alltäglichen Leben. Manche Frauen sind häuslicher Gewalt schon länger ausgesetzt. Bei einigen ist es ein Phänomen, das sich über Jahre anbahnt und durch Corona den berühmten Tropfen erhält, der das Fass zum Überlaufen bringt. Und gerade in dieser Situation haben sie es ohne Rückzugsort schwerer als sonst: Kein Café hat geöffnet, keine Freundin darf besucht werden, um sich spontan an ihrer Schulter auszuweinen. „Wir vermuten, dass es für Frauen momentan aufgrund der Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen schwieriger ist, Hilfe aufzusuchen“, so Fischer. Umso mehr Mut braucht eine Frau, sich trotzdem an Beratungsstellen zu wenden, auch wenn der Partner in jeden Moment zuhause sein könnte. Es gibt gute Unterstützungssysteme, die anonym beraten und helfen. Die städtische Beratungsstelle FrauenFanal in Stuttgart verzeichnet bereits einen Anstieg an Anrufen. Gesetzliche Regelungen wie das Gewaltschutzgesetz ermöglichen es der Polizei, den Partner der Wohnung zu verweisen. Denn diese wird zum Ballungszentrum der Emotionen während der CoronaKrise: Die Kinder können nicht zur Schule, viele nicht zur Arbeit, Ängste um Job und finanzielle Zukunft bestimmen den Alltag. Neue Umstände häufen sich auf engstem Raum, ohne Möglichkeit zur Flucht. Faktoren genug, die die Situation belasten und das Gewaltpotential erhöhen.

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„Wir vermuten, dass es für Frauen momentan aufgrund der Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen schwieriger ist, Hilfe aufzusuchen.“ Ein solches Problem zu lösen erfordert Empathie und Nähe in einer Zeit der Distanz. „Es ist ein täglicher Spagat zwischen der Einhaltung des Infektionsschutzgesetzes sowie den notwendigen Hilfen, die in unserer Arbeit auch persönlichen Kontakt zu Frauen und Kindern voraussetzen“, sagt Heike Fischer über die neue Art der Arbeit im Frauenhaus. Kontakt mit anderen in Schule, KiTa und Arbeitsumfeld ist zudem auch in der Öffentlichkeit ein wichtiges Kontroll-Medium, wenn es um Gewalt geht. „Taten können nun noch leichter im ‚Verborgenen‘ stattfinden“, sagt Katharina Vorwald-Karle von Wildwasser Stuttgart, einem Verein für Beratung und Traumatherapie rund um das Thema sexueller Missbrauch. Angesichts der Corona-Situation melden sich viele ehemalige Klienten, die durch die aktuelle Situation retraumatisiert wurden. Die Dunkelziffer von sexuellem Missbrauch ist besonders hoch. Doch auch die 11.000 jährlichen bei der Polizei gemeldeten Miss-

Nummern von Hilfetelefonen

Bundesweites Hilfetelefon: kostenfrei, 24/7 erreichbar unter 08000 116 06. Beratungen in 17 Sprachen. OnlineSofortchat unter www.hilfetelefon.de Autonomes Frauenhaus Stuttgart: 0711 - 54 20 21 (Mo-Fr 10-15 Uhr)

brauchsfälle von Kindern sind eine Hausnummer, bei der man erstmal schlucken muss. Kinder, Jugendliche, erwachsene Frauen: Alle sitzen sie fest in einer Quarantäne-Falle, die den Tätern durch Isolation das Handeln erleichtert. Denn die Bedrohung kommt aus der eigenen Mitte und nicht von außen. Vorwald-Karle sagt, zwei Drittel aller Vergewaltigungen fänden, entgegen der öffentlichen Wahrnehmung, zuhause, im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz statt. Organisationen und Beratungsstellen können helfen. Doch der erste Schritt erfordert immer eine Portion Mut – bei Frauen, die nun unter ständiger Beobachtung stehen. Genauso wie bei Kindern, für die in solchen Situationen Sätze wie „Stell dich mal nicht so an, das hat der gar nicht so gemeint“ Standard sind. Im Allgemeinen gilt: Hilfe darf sich suchen, wer Bedürfnis nach Hilfe hat. Denn wo die eigene Grenze überschritten wird, liegt im subjektiven Ermessen der Betroffenen.

BIF - Beratung und Information für Frauen: 0711 – 6494550 oder Online-Chatberatung per Mail: BIF@fhf-stuttgart.de FrauenFanal (städt. Beratungsstelle): 0711 – 4800212 oder Online-Chatberatung per Mail: frauenberatung@stuttgart.de

Städtisches Frauenhaus Stuttgart: 0711 – 414 24 30 (Mo-Fr 9–13 Uhr; 14–16 Uhr)

Ein Text von Ricarda Müterthies

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Von Ängsten und Grenzen im Kopf Unser*e Schiedsrichter*in im Gehirn: Ein Mandelkern. So wird zumindest unser Angstzentrum bezeichnet, da es eine Mandel-ähnliche Form hat. Doch was genau passiert eigentlich in diesem Kern? Und wie entwickeln wir Angst? Wir kennen sie alle: Sie schaut immer wieder als unerwünschter Gast vorbei, hält uns von Dingen ab, die wir eigentlich gerne machen möchten, und kann einen großen Einfluss auf unser Verhalten haben – Angst. Sicherlich hat jeder von uns schon mal Angst verspürt, die einen mehr, die anderen weniger. Sie geht von Prüfungsangst, einer Spinnenphobie oder Höhenangst bis zu einer Angststörung oder Panikattacken. Wenn wir Angst vor der Reaktion eines Menschen haben, trauen wir uns oft nicht, etwas anzusprechen, eine Tat auszuführen oder voll und ganz zu unserer Meinung zu stehen. Angst steht uns oft im Weg. Auch wenn sie in bestimmten Situationen notwendig ist, könnte man manchmal wirklich gerne auf sie verzichten. Was passiert eigentlich in unserem Gehirn, wenn wir Angst verspüren? Und wie können wir die Angst auch mal austricksen und Grenzen in unserem Kopf überschreiten? Es folgt ein kleiner biologischer Exkurs der auf dem Video „Wie entsteht eigentlich Angst?“ des YouTube-Kanals napse. de basiert: Gedanken und Erinnerungen können Panik in uns auslösen. Unser Körper reagiert aber vor allem auf verschiedene Reize, etwa wenn wir etwas hören oder sehen. Wenn ein Reiz ins Gehirn gelangt, geht’s für ihn weiter in den Thalamus, der Treffpunkt aller Meldungen unserer Sinnesorgane. Da hat er aber noch keine Zeit, um sich auszuruhen, der Reiz wird weiter an die Großhirnrinde gegeben und anhand

von Erfahrungen interpretiert, woraus Bilder zusammengesetzt werden. Wenn wir in der Vergangenheit in einer ähnlichen Situation Angst hatten, denkt unser Gehirn automatisch: Achtung, Gefahr! Da wird dann ein Brief an die Amygdala, auch Mandelkern genannt, gesendet. Und jetzt wird’s spannend: Die Amygdala ist das Angstzentrum unseres Gehirns. Das haben wir übrigens gleich zweimal, in jeder Gehirnhälfte einen Mandelkern. Hier werden emotional aufgeladene Erlebnisse abgespeichert und können schnell wieder aufgerufen werden. Unsere Amygdala entscheidet, wie wir auf eine Situation reagieren. Wenn sie sich für Angst entscheidet, lässt sie das den Hypothalamus wissen, welcher dann körperliche Vorgänge aktiviert. Der Hypothalamus ist das Steuerungszentrum aller vegetativen und hormonellen Prozesse. Er sendet elektrische Impulse über die Nervenbahnen zu den Nebennieren, die dann sofort Botenstoffe ausschütten, wie zum Beispiel Adrenalin.

„Maeckes von den Orsons singt: „Die Welt ist eine Tür, keine Angst ist der Schlüssel.““ So, genug Biologie. Kurz gesagt: Wir haben da in unserem Gehirn eine*n Schiedsrich-

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ter*in, der*die sich mal für die Angst entscheidet und ihr mal aus dem Weg geht. Wenn wir uns an Situationen zurückerinnern, in denen wir Angst hatten und eine Sache trotzdem durchgezogen haben, verspüren wir im Nachhinein nicht mehr nur ein Gefühl von Angst, sondern auch Stolz und Selbstbewusstsein. Denn wir haben etwas gewagt, was uns nicht leicht fiel – und sind dafür umso stärker aus der Situation gegangen. Um Angst loszuwerden, lohnt es, sich den Dingen zu stellen, die man fürchtet. Nicht jede Angst kann behoben werden und jede Angst ist unterschiedlich, aber man kann versuchen, ihr entgegenzukommen und sich schrittweise etwas von ihr zu lösen. Genauso ist das auch mit den Grenzen in unserem Kopf. Denn erfreulicherweise kann sich unser Gehirn lebenslang umstrukturieren. Wir haben also die Möglichkeit, Gewohnheiten auf den Haufen zu werfen, wenn wir merken, dass sie uns einschränken und uns das nicht gefällt. Denn Grenzen im Kopf entstehen meistens, weil wir Angst haben. Was haben wir also zu verlieren?

Maeckes von den Orsons singt: „Die Welt ist eine Tür, keine Angst ist der Schlüssel.“ Auch wenn das erst mal etwas cheesy klingt – es ist wahr. Jenseits der Angst fühlen wir uns immer besser und vor allem freier. Vielleicht kannst du dir ja nun eine Angst von dir vorknöpfen und überlegen, was du tun kannst, um sie leiser werden zu lassen.

Ein Text von Janina Hofmann

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Gemeinschaft ohne Grenzen Drehen wir die Zeit in das 18. Jahrhundert zurück. Dort bildeten sich die ersten Burschenschaften: Verbindungen aus Studenten. Burschenschaften waren ein Stück der Revolution, ein Auflehnen gegen die herrschende politische Struktur. Ein Streben nach Freiheit, Ehre und Einheit. Die erste Verbindung entstand 1815 in Jena. Mit Stolz zeigten sich die Mitglieder in schwarz- rot-gold, was ihre Verbundenheit und Gemeinschaft zum Vorschein brachte. Das Ziel einer Burschenschaft war es nicht nur, sich über politische Strukturen auszutauschen, sondern vor allem unterstützte sie ihre Mitglieder im Studium, wie auch bei persönlichen Problemen. Die Anhänger einer Verbindung sollten ihre Persönlichkeit entwickeln und stärken. So beschrieb der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche das Leben in der Burschenschaft wie folgt:

sich diese Verbindungen oft über das Studium hinaus. Eine Burschenschaft hilft ihren Mitgliedern auch nach dem Abschluss in Notlagen, bei der Arbeitssuche oder um notwendige Kontakte aufzubauen. All diese solidarischen Eigenschaften finden sich auch heutzutage immer noch in den Idealen einiger Burschenschaften. Leider existieren aber auch noch weitere Werte der damaligen Zeit, in den Regeln gegenwärtigen Burschenschaften. Früher noch ein Zeichen von Widerstand und Revolution, so sind sie heute zum Symbol der Konservativität mutiert.

„Das Leben in der Verbindung ist ein durchaus straffes und lebendiges. Parlamentarischer Ton wird streng gehandhabt; es sind sehr tüchtige Elemente darin. [...] Indessen kommt noch etwas Wichtiges hinzu. Wer als Studierender seine Zeit und sein Volk kennen lernen will, muß Farbenstudent werden; die Verbindungen [...] stellen meist den Typus der nächsten Generation von Männern möglichst scharf dar.“

„Früher noch ein Zeichen von Widerstand und Revolution, so sind sie heute zum Symbol der Konservativität mutiert.“

Nicht nur Nietzsche war Mitglied einer Burschenschaft. Vom Politiker Willy Brandt, über den Ökonom und Gesellschaftstheoretiker Karl Marx, bis hin zu Darsteller und Moderatoren wie Thomas Gottschalk - sie alle waren Teil einer solchen Gemeinschaft. Ehemalige Burschenschaftler prägen und bestimmen die Geschichte und die Gesellschaft. Auch halten

Obwohl es heute mehr Studentinnen als Studenten gibt, so sind die meisten Burschenschaften noch immer den Männern vorbehalten. Zudem wird es ausländischen und homosexuellen Studenten erschwert oder verweigert in eine Burschenschaft einzutreten. Freiheit, Ehre und Einheit sind wohl lange nicht mehr die Werte, an denen sich derzeitige Burschenschaften

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Friedrich Nietzsche

Thomas Gottschalk orientieren. Dennoch lassen sich nicht alle Burschenschaften über einen Kamm scheren und vor allem nicht alle ihre Mitglieder. So gibt es inzwischen auch Organisationen, die nur Frauen als Mitglieder akzeptieren. Sie werden als Damenverbindungen bezeichnet. Wobei auch hier sowohl die Aufnahmebedingungen, als auch die Regeln eher fragwürdig sind. Eine Studentin, die Mitglied in der Verbindung ist, darf auf Veranstaltungen keine Miniröcke tragen. Das soll eine gewisse Souveränität garantieren. Also auch in weiblichen Verbindungen geht das Weltbild kaum über Werte des Kaiserreiches hinaus. Die Strukturen in den Burschenschaften sind stark hierarchisch. Mitglieder müssen Aufnahmebestimmungen und Regeln befolgen und können sich in ihrer Studienzeit hocharbeiten. Diese Regeln werden als Comment bezeichnet. Darin ist geregelt, wie die Mitglieder auftreten sollen. Es bestimmt also das Verhalten der Mitglieder in der Öffentlichkeit, wie auch geschriebene und ungeschriebene Gesetze innerhalb der studentischen Verbindung. Heutzutage gibt es je nach Verbindung unterschiedliche Comment-Regelungen, die sich vom Kneipen-Comment bis hin zu Straff-Comments erstrecken. Eines dieser Comments besagt beispielsweise, dass es den Mitgliedern während einer Veranstaltung nicht gestattet ist, auf die Toilette zu gehen. So werden häufig leere Bierkrüge zweckentfremdet. Dennoch haben Burschenschaften bis heute Tradition und treue Mitglieder, denn

sie geben den Studenten das, was sich alle Menschen wünschen: Zusammenhalt und Gemeinschaft. In Deutschland existieren heutzutage 120 Burschenschaften. Die Be deutung nimmt stetig ab. So sind gegenwärtig nur noch 1,5 % aller Studenten Mit glieder in einer Burschenschaft. Es bräuchte einen neuen Ansatz. Einen ganz neuen, nicht auf Autoritäten und Hierarchien, sondern auf Transaktion basierenden Zusammenhalt. Traditionen könnten teilweise bestehen bleiben, während die Entstehung von neuen Bräuchen gefördert wird. Aus der Konservativität könnten Freiheit, Ehre und Einheit wieder aufsprießen. Dieses Mal noch viel aufrichtiger und erstrebenswerter als jemals zuvor. Denn die Angst vor Ausländern, Frauen und Miniröcken wäre besiegt und die enorme Konservativität könnte einer neuen Revolution weichen.

Ein Text von Jessica Morlock

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An der Klippe zum Tod Stille. Alles ist schwarz. Oder ist ein helles Licht zu sehen? Was nach dem Tod auf uns zukommt, das weiß keine*r so genau. Es gibt unterschiedliche Theorien dazu, was uns im „Jenseits“ erwartet. Aber Christine Brekenfeld war ziemlich nah dran. 2004 hatte sie eine Nahtoderfahrung, die ihr Leben von Grund auf verändern sollte. Sie schenkt uns einen Einblick in ihr grenzüberschreitendes Erlebnis, unabhängig von medizinischen Erklärungsversuchen oder neurologischen Analysen. Vom Leben, dem Tod und was dazwischen liegt.

„Passiert das gerade wirklich mir? Sowas kommt doch nur in Filmen vor“, muss Christine Brekenfeld blutüberströmt feststellen. Dabei steht sie doch fest im Leben, überzeugt davon, dass sie nichts aus der Bahn werfen kann. „Ich glaubte, ich kann alles beeinflussen und hinkriegen, wenn ich mich nur genug anstrenge.“ Dennoch sagt sie an diesem Tag eine Verabredung ab und bleibt zu Hause, als hätte sie eine Vorahnung. Und dann plötzlich: Unmengen von Blut und absolute Todesangst. Ihre Plazenta hat sich vorzeitig gelöst und kann ihr ungeborenes Kind nicht mehr mit Sauerstoff versorgen. Ihre Zähne beginnen zu klappern. Der ganze Körper zittert. Schweißausbrüche. Es fühlt sich an wie wenn man an einer Klippe steht und der Boden bröckelt. Man schaut in die Tiefe und weiß, dass man gleich stürzt. „Ich habe mir beim eigenen Verbluten zugesehen.“ Ihr ist bewusst, dass sie sterben wird, wenn jetzt keine Hilfe kommt und wählt die 110. „Ich wollte nicht sterben und habe mich mit meinem gan-

zen Körper dagegen gewehrt.“ Doch dann kommt der Wendepunkt. „Eine unbändige Kraft hat mich gepackt“, beschreibt sie den alles verändernden Moment. Als würde man die Hände über den Kopf halten und sich ergeben. „Mit dem Loslassen ist mein Bewusstsein aus dem Körper rausgeschossen“. Christine Brekenfeld kann die ganze Umgebung sehen, hören und riechen, merkt aber, dass sie nicht mehr im eigenen Körper steckt. „Ich kann auch ohne diesen Körper existieren“, ist ihre Erkenntnis in diesem Moment. Aus unbändiger Angst und Hilflosigkeit wird Stille und Frieden. Die Sanitäter*innen bringen sie in ein Krankenhaus, wo sie notoperiert wird. „Die Herztöne des Kindes sind nicht mehr da“, hört sie eine Krankenschwester rufen. Obwohl Christine Brekenfeld die Panik der Umgebung wahrnehmen kann, bleibt sie ruhig. „Es hat mich durch eine orange, goldene Enge gezogen. Am Ende war Licht“, beschreibt sie ihre Gedanken während ihr Körper auf dem OP-Tisch gelegen ist. Sie

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„Wenn man sich mit dem Tod beschäftigt, weiß man, was das Wesentliche im Leben ist.“

wird von dieser Helligkeit angezogen. „Als ich mit dem Licht verschmolz, hatte ich das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein. Ich verspürte tiefe Liebe.“ Dieses Erlebnis beschreibt sie als das Schönste, das sie bisher in ihrem Leben erfahren hat. Als sie im Krankenhausbett aufwacht, fühlt sich ihr Körper eng und kalt an. Der erste Gedanke ist „Wie komme ich aus dieser Hülle wieder raus?“ Eine tiefe Sehnsucht macht sich breit. Fragen schweben ihr vor: Was habe ich erlebt? Was ist die Wirklichkeit? Ihr Kind hat nicht überlebt. „Mein Körper war sehr traumatisiert“, erzählt sie. Nicht einmal mit ihrem Mann kann sie anfangs über das Geschehene sprechen. Deshalb ist sie regelmäßig zu Psychotherapien und Trauma-Heilarbeit gegangen. Durch die grenzüberschreitende Erfahrung hat sich für sie aber ein Tor zu einer neuen Bewusstseinsebene geöffnet. „Ich bin mit diesem Erlebnis immer noch im Kontakt, das hat sich nie ganz aufgelöst.“ Vieles hat sich also seit der Nahtoderfahrung vor 16 Jahren geändert. Sowohl im beruflichen Sinne, als auch bei grundlegenden Lebenseinstellungen. „Ich habe eine ganz besondere Beziehung zu dem Göttlichen. Das hat nichts mit Glaube oder Religion zu tun, denn ich muss nichts glauben. Ich weiß es, ich habe es selbst erlebt.“ Mit den vielen Veränderungen kommt ihr Umfeld jedoch nicht klar. „Wie sollte ich den Menschen um mir mitteilen, dass ich in dem Moment, in dem ich mein Kind verloren habe, gleichzeitig das schönste Erlebnis in meinem bisherigen Leben hatte?“ Die Meisten wollen von all dem nichts hören, missverstehen die Situation und denken sogar, sie wolle sich umbringen. „Dabei

wurde mein Leben doch jetzt erst richtig spannend“, lacht sie. Viele Menschen haben sich distanziert, „das war ihnen zu viel Tod“, erklärt Christine Brekenfeld. Jedoch sei sie durch die Nahtoderfahrung erst richtig lebendig geworden. Heute unterstützt sie andere Menschen durch Therapien auf ihrem Lebensweg, gibt Seminare zum Tod und hat sogar ein Buch geschrieben. „Durch die Nahtoderfahrung bekam ich Mut, die Dinge zu tun, die mir wichtig sind. Wenn man sich mit dem Tod beschäftigt, weiß man, was das Wesentliche für das Leben ist.“

Ein Text von Alina Braun

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Begrenzte Liebe In Zeiten der weltweiten Corona-Pandemie scheint der soziale Zusammenhalt wichtiger denn je, nur gemeinsam kommt man stark aus der Krise. Doch führt die Kontaktbegrenzung, gerade an den Ländergrenzen durch die geschlossenen Grenzen, nicht vielmehr zu einer Entzweiung? Ein Beispiel von der Deutsch-Schweizer Grenze in Corona-Zeiten.

„Ein frisch vermähltes Paar trauert um seine Ehe, die nach nur 25 Tagen dieser Grenze zum Opfer fiel“. Dieser Satz hängt nicht am Grenzzaun der DDR in den 70er Jahren, nein, er wurde im Jahr 2020 an dem provisorisch aufgestellten Zaun auf deutscher Seite in Konstanz angebracht. Provisorisch, weil es hier sonst keinen Zaun, keine Grenzabsperrung gibt, einzig das Schild „Landesgrenze“ und ein paar Skulpturen erinnern einen sonst an die Deutsch-Schweizerische Grenze.

Doppelte Trennung

Mit dem Beschluss am 16. März 2020, die deutschen Grenzen zu schließen, heißt es von nun an nur noch Skypen oder Telefonieren. Der Grenzzaun ist ein Sehnsuchtsort aller geworden, der einzige Ort, an dem man sich noch nah sein kann, so nah, wie die Grenzwächter zumindest erlauben. Schließlich kam auf Schweizer Seite ein zweiter Zaun mit zwei Meter Abstand dazu. Zwei Meter, welche alle nun voneinander trennt. Es ist ein komisches, beklemmendes Gefühl, den Zaun entlangzulaufen. Die Menschen sind einander zum Greifen nah und doch so weit weg. Ich denke an Freund*innen, die in der Schweiz wohnen. Bisher hatte man keinen Gedanken daran verschwendet, woher man kam oder wo man wohnte. Nun ist das der Grund, wieso wir uns nur noch durch den Zaun hindurch unterhalten dürfen, neben dutzend anderen.

„Gerade in einer solchen Krise, welche die ganze Welt betrifft, sollten alle zusammenhalten.“

Schon oft habe ich diese Grenze passiert, so oft, dass sie schon aus dem Bewusstsein verschwunden ist. Es ist zwar ein anderes Land, dessen war ich mir bewusst, doch diese paar Meter weiter ist doch alles genau gleich: Der gleiche Rasen, die gleiche Luft, die gleichen Menschen. Und doch geht es nun nicht mehr weiter.

Eine 300 Meter lange Drahtbarriere trennt nun Schweizer*innen und Deutsche. Darunter auch viele Liebespaare, denn Liebe allein ist kein triftiger Grund in CoronaZeiten, die Grenze passieren zu dürfen. Einzig eine Arbeitsbescheinigung erlaubt das Übertreten.

Wo ist der Zusammenhalt hin?

Das alles scheint mir so absurd und doch ist es in Zeiten von Corona, in Zeiten von einer Pandemie, traurige Realität. Man hört überall von einem stärkeren Zusammen-

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halt, die Menschen wachsen in der harten Zeit zusammen. Doch entzweit eine Grenzschließung wie diese nicht? Wir alle kennen Europa mit offenen Grenzen, als Europäer gab es nie Probleme, eine Grenze zu überschreiten. „Freiheit, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit ohne Binnengrenzen“, das war und ist eines der Ziele der EU. Gefährdet die aktuelle Krise dieses Zusammenleben? Denn von einem europäischen Zusammenleben kann zurzeit wirklich nicht die Rede sein. Jedes Land hat seine Grenzen geschlossen und ist damit „freiwillig“ auf sich allein gestellt. Plötzlich gelten wieder eigene Regeln und Gesetze, weg ist der Gedanke einer Europäischen Union. Gerade in einer solchen Krise, welche die ganze Welt betrifft, sollten alle zusammenhalten. Die Länder genauso wie die Menschen, „gemeinsam stark“ sollte das Credo sein.

Früher gehasst, heute vermisst

Das Leben hier an der Grenze hat sich auch mehrere Meter vom Zaun sehr verändert. Was sofort auffällt: Die Straßen und selbst die Supermärkte sind hier durch die Corona-Krise deutlich leerer als früher. Neben fehlendem Klopapier mangelt es in der Innenstadt nun auch an Menschen auf der deutschen Grenzseite. Wo sich sonst Hunderte Schweizer*innen dicht an dicht an den Kassen des Einzelhandels drängen, findet man heute nur noch Einheimische. Ein komischer Anblick, denn gerade Konstanz und auch viele andere Grenzstädte leben von den Schweizer Kunden. Durch den günstigen Kurs des Euros zum Schweizer Franken und die zurückerstattete Mehrwertsteuer ist Deutschland für Schweizer Bürger sonst ein Einkaufsparadies. Dieser stetige Einkaufsboom stößt selbstverständlich den Konstanzern sauer auf, welche nun deutlich länger in der Einkaufsschlange stehen müssen. Auch ich habe mich des Öfteren beim Meckern darüber erwischt, wenn ich nur schnell etwas besorgen wollte und mich dafür ewig durch volle Supermärkte oder Drogerien schlängeln musste. Eine Grenzschließung hätten sicher einige aus dem Moment heraus herbeigesehnt. Und nun wünscht man sich nichts mehr als endlich wieder Normalität

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„Freiheit, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit ohne Binnengrenzen“, das war und ist eines der Ziele der EU. und offene Grenzen. Gerade als Einzelhandel, aber auch als Bürger.

Erfolg auch ohne Zaun

Dem Corona-Virus wurde der Kampf angesagt. Freund*innen treffen oder sich umarmen ist verboten, wir sollen alle auf Abstand gehen, das ist mittlerweile jedem bewusst. So weit so gut, doch es stellt sich die Frage: Muss dafür eine Grenze geschlossen werden? Würden die Menschen nicht auch ohne Grenzschließung auf Abstand bleiben? In Deutschland und der Schweiz haben die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus Erfolg gezeigt, doch zu diesem Erfolg haben die Grenzschließungen sicherlich keinen Beitrag geleistet. Überall blieben die Menschen auf 1,5 Meter Abstand, auch ohne inländische Grenzen. Hätte das nicht auch für ganz Europa ohne Grenzschließung funktioniert? Der Gedanke, dass ein Virus, welcher gerade einmal 160 Nanometer groß ist, sich durch einen luftdurchlässigen dünnen Drahtzaun aufhalten lässt, ist sehr fragwürdig. Zumal Kraftfahrzeuge oder Pendler noch immer die Grenze problemlos passieren können.

Neu gelernte Einschränkungen

Das beklemmende Gefühl verstärkt sich, je länger ich über das Ganze nachdenke. In meinem bisherigen Leben war ich noch nie eingeschränkt, ich konnte mich überall frei bewegen, zu jeder Zeit. Ein Ausflug an den Gardasee oder ein Sommerurlaub nach Mallorca. Vor ein paar Monaten noch Alltag, nun unvorstellbar. Jetzt endet bereits ein Spaziergang ein paar Meter vor meinem Haus abrupt. Es geht in diese eine Richtung, über die Grenze, nicht mehr weiter. Und das, obwohl es dahinter weitergehen würde, der Weg hat kein Ende. Man ist es gewohnt, ohne Einschränkungen einfach immer weiter zu laufen, über Grenzen hin-

weg. Man ist es gewohnt, die Welt zu bereisen, selber zu entscheiden, wo man lang geht. Wir mussten das Zepter nun abgeben und uns einschränken.

Freiheiten wertschätzen

Es ist seltsam, manche sprechen von Freiheitsberaubung und ein bisschen fühlt es sich auch so an. Es ist ein neues, fremdes Gefühl, welches in der aktuellen CoronaKrise nun mal dazu gehört. Jeder muss in gewisser Weise einstecken. Doch die Menschen verstehen und akzeptieren die außergewöhnliche Situation. Irgendwie. Es bleibt ja auch gar nichts anderes übrig. Was aber auf jeden Fall klar ist: Sobald die Grenzen wieder auf sind, werden wir die wiedergewonnene Freiheit, das tolerante, offene Leben, welches wir hier in Europa leben dürfen, noch viel mehr wertschätzen. Und ich werde mich nie wieder über die Schweizer*innen beim Einkaufen beschweren, versprochen. *Anm. d. Red.: Dieser Artikel wurde im April verfasst, als die Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz noch geschlossen war.

Ein Text von Lucinda Kirchhoff

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Der Sprung ins kalte Wasser Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Tag ein Tag aus erlebt man diese Situation und besonders häufig in der Heimat des*der Bauern*in - auf dem Dorf. Ob in der Zeit zurückgeblieben oder christlich geprägt, etwas Neuem wird kritisch begegnet. Angefangen mit Avocados „Was isch jetzt au des?“, über Bluetoothkopfhörer „Gibt’s da koi Kabel?“ bis hin zur Homosexualität „Warum isch der Bub net mit einem Mädle zusammen, wie es sich g’hört?” Aber was „gehört“ sich denn und was nicht?

Wo fangen Grenzen an und wo hören sie auf? In den Köpfen der Gesellschaft. Was die breite Masse vorgibt, ist Gesetz. Diese ungeschriebenen Regeln, Normen und Grenzen verfügen über eine ungeheuer starke Macht. Verstoße ich dagegen, erwartet mich keine Geldbuße, keine Haftstrafe. Mich erwartet gesellschaftliche Ächtung, Respektverlust und ein niedriges Selbstwertgefühl. Ein Gefühl des Anderssein. Was ist, wenn ich mich aber entscheide, Avocados zu essen, mir meine Haare als Mann lang wachsen zu lassen, und als Frau kurz abzuschneiden? Was ist, wenn ich mich als homosexuell oute oder kundgebe, mich als Frau im Körper eines Mannes zu fühlen, oder umgekehrt? Ich möchte meine subjektive Beobachtung von einer Person erzählen, die mein Dorf, meine Dorf bauern und meine Wahrnehmung ein Stückchen offener gemacht hat. Aus der Ferne betrachtet und ohne private Verbindung zu ihr war sie für mich immer ein Mädchen. Sie ist mit mir Bus gefahren, sie ging in dieselbe Schule und sie wohnte nur ein paar Straßen weiter. Sie hatte lockige lange Haare und als sie die-

se irgendwann nur noch hochgesteckt in einem Dutt trug, machte ich mir keine Gedanken über ihre Frisur. Soll sie ihre Haare doch tragen, wie sie möchte. Eines Tages rasierte sie den unteren Teil ihrer langen Locken ab und trug stolz einen „Undercut“. Es wurde getuschelt, es wurden verstohlene Blicke ausgetauscht. Es wurde eben alles so gehandhabt wie es typisch für das Dorf ist. Die unausgesprochene Frage „Wieso hat sie das getan, das trägt man doch nicht als Mädchen?“ lag in der Luft, wie sonst nur der Güllegeruch an einem regnerischen Tag. Aber nach einiger Zeit legte sich der Gedanke und die Aufregung war verschwunden. Man hatte sich daran gewöhnt. Langsam wurden aus Kleidern Hosen, aus Riemchensandalen Sportschuhe und aus taillierten T-Shirts oversized Pullover. „Wieso ziehst sie sich so an?“, war die Frage. „So läuft doch sonst kein Mädchen herum.“ Nach einer erneuten Gewöhnungsphase war auch dieser Gedanke hinter den Äckern verschwunden und die Änderung akzeptiert. Als aus dem hochgesteckten Dutt eine Männerfrisur und aus Johanna ein Phillipp wurde, war das Geschrei groß.

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Nicht, dass tatsächlich jemand geschrien hätte. Nicht auf dem Dorf. Da wird getuschelt und geglotzt, da wird hinter vorgehaltener Hand gelästert und es wird im Stillen bewundert. Auch wenn es wahrscheinlich kaum eine*r zugeben wird, aber Phillipps Mut, die vielen gesellschaftlichen Grenzen zu überschreiten, hat nicht jede*r. Den Meisten fehlt es an diesem Mut, Kopfschütteln, Seufzer und unverständliche Blicke auf der Straße zu ernten und trotzdem an seinem*ihrem Weg festzuhalten. Als Phillipp am Ziel seines Weges ankam, endete auch für mein Dorf der erste Teil einer Reise, in der die Bewohner mit jedem Abschnitt etwas aufgeklärter und emanzipierter wurden. Natürlich ist auch jetzt noch nicht jede*r Rentner*in auf seiner*ihrer Vorgartenbank in meiner Nachbarschaft automatisch weltoffen. Aber sich Phillipp als Vorbild nehmend, traut sich nun auch Lisa ihren Weg zu gehen und endlich der Welt zu verkünden, dass sie eigentlich auf Frauen steht. Und wegen Phillipp und Lisa wagt Benjamin es, sich auch in der Öffentlichkeit geschminkt zu zeigen. Mit Phillipp, Lisa und Benjamin,

mit weiteren unverständlichen „Wieso hat sie das getan?“-Fragen, mit viel Gezeter zu Beginn und Gewöhnung am Ende ist auch irgendwann der Rentner Gunter so weit, sein eingeschränktes Denken hinter sich zu lassen. Wir brauchen mehr Phillipps. Wir brauchen mehr Vorbilder, die sich überwinden und den Sprung in das kalte Wasser wagen. Mit jedem weiteren Sprung wird das Wasser wärmer und die Menschen weniger steif und eingefroren. Egal, ob du in kleinen Schritten die steile Klippe runterkletterst, oder im hohen Bogen mit einem Kopfsprung springst: Du machst jemanden glücklich, du verschiebst die Grenzen, du kannst ein Vorbild sein. Ich kann ein Vorbild sein. * Alle Namen sind von der Redaktion geändert.

Ein Text von Carla Benzing

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Politik

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Sea Watch Wir retten leben, wo andere es nicht tun Das ist der Leitspruch der Sea Watch. Die Sea Watch ist ein Verein, der es sich seit dem Jahr 2015 zur Aufgabe macht, Flüchtlinge zu retten, die bei der Überquerung des Mittelmeeres in Seenot geraten. Bei Aktionen der Sea Watch kam es schon oft zu kontroversen Auseinandersetzungen mit den nationalen Behörden. Für die einen sind die Sea Watch Helden, für die anderen nichts weiter als Beihilfen der Schlepper. Doch wie kommt es zu diesen extrem gegensätzlichen Beschreibungen? Der Verein Sea Watch ist religiös wie auch aus politischer Perspektive unabhängig. Er wird vollständig aus Spenden finanziert. Das Mittelmeer wird von den Sea Watch Mitglieder*innen häufig als das größte Massengrab Europas bezeichnet. Diese Aussage hört sich im ersten Moment wie eine Übertreibung an, doch die traurige Realität bestätigt, dass die meisten Personen, die auf der Flucht sind, bei der Überquerung des Meeres ertrinken. Nach Schätzungen sollen täglich 23 Menschen im Mittelmeer ertrinken. Im Monat sind das fast 700 Tote. Die Sea Watch hat sich aktiv dazu entschieden, diese unfassbaren Zahlen auszulöschen und den Menschen auf dem Meer Beistand und Hilfe zu leisten. Die große Kontroverse, die von vielen Kritikern geäußert wird, ist nicht die Rettungsaktion an sich, sondern das Danach. Wohin mit den Geretteten? Viele Geflüchtete gelangen bei ihrem Weg Richtung Europa nach Libyen. Dort gibt es für einige dann die Chance, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Viele der nationalen Behörden der Länder fordern, dass die Flüchtlinge nach Rettung zurück nach Libyen transportiert werden sollen. Jedoch ist Libyen eine schwere und unvorstellbar qualvolle Hürde für Personen, die auf der Flucht sind. Dort werden die Flüchtlinge

in Lager einquartiert, in denen KZ ähnlich Zustände herrschen. Ihre Menschenrechte sind dort kaum noch von Bedeutung. So berichten erfolgreich Entkommene von Folter und Versklavung. Keiner würde an so einem grausamen Ort leben wollen. Viele Gerettet geben an, dass sie lieber ertrunken wären, als zurück nach Libyen zu gehen. Diese Aussage unterstreicht die grausamen Erfahrungen, die viele Menschen dort durchleben mussten. Denke mal an deine letzte Fahrt in den Urlaub, vielleicht ging es nach Kroatien oder Italien. Nach so einer langen, mehrstündigen Autofahrt oder Flugreise ist die Erschöpfung und Müdigkeit groß. Da sind die besten Radio-Hits und die überteuerten Tankstellen-Snacks auch nur ein schwacher Trost, wenn man schließlich aus dem klimatisierten Wagen steigen kann. All dieser kleine Luxus mag uns gar nicht mehr auffallen und natürlich ist es anstrengend. Aber wie anstrengend muss es sein, mehrere Jahre auf der Flucht zu sein? Nicht nach zwei Stunden anzukommen, auch nicht nach zehn oder 30 Stunden. Nicht mal nach einem Monat. Dieses Gefühl nie anzukommen übersteigt wohl jegliche Vorstellungskraft. Dennoch schaffen es diese Menschen, sich jahrelang ihren Weg zu bahnen. Bis zu den Grenzen des

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„Niemand sollte strafrechtlich dafür verfolgt werden, Menschen in Not geholfen zu haben.“ Mittelmeeres. Für viel Geld bezahlen sie Schlepper, die Boote zur Verfügung stellen und die Flüchtlinge über das Meer bringen sollen. Diese Boote sind stets überfüllt, es gibt keine Verpflegung, keinen Schutz vor Wind, Regen und Wellen. So geschieht es, dass viele dieser Boote in Seenot geraten. Hier schreitet die Sea Watch ein. Keines der angrenzenden Länder an das Mittelmeer fühlt sich für die Aufnahme der Geflüchteten verantwortlich. Schuld daran ist die uneinheitliche Flüchtlingspolitik der einzelnen Länder. Somit finden die Sea Watch-Aktivist*innen nach der Rettung häufig erstmals keinen Hafen, den sie rechtmäßig ansteuern dürfen. Es wird oftmals tagelang mit der Küstenwache der am nahegelegensten Häfen diskutiert, bis eine Erlaubnis zur Überbringung der Geflüchteten vorliegt. Häufig kommt es vor, dass Mitglieder der Sea Watch rechtlich verfolgt werden. Die Aktivist*innen der Sea Watch beziehen sich auf das Seevölkerrecht, welches besagt, dass Schiff brüchige und Menschen in Seenot in den nächsten sicheren Hafen geholfen werden muss. Die Behörden der angrenzenden Länder interpretieren diesen Akt jedoch als Hilfe zur illegalen Einwanderung. So erging es der Kapitänin Carola Rackete, die 40 Flüchtlinge im Mittelmeer rettete und an die Küste Lampedusas transportierte. Da sie nach mehreren Tagen im Diskurs mit der italienischen Regierung die Sicherheit ihrer Passagier*innen im offenen Meer nicht mehr garantieren konnte, entschied sie sich ohne Genehmigung am Hafen von Lampedusa anzulegen. Daraufhin wurde sie von der italienischen Regierung angeklagt und unter Hausarrest gestellt. Diese

schwere Verurteilung erschweren die Arbeit der Sea Watch-Mitglieder erheblich. Die ehrenamtlichen Kapitän*innen, die sich innerhalb der Sea Watch engagieren, gefährden durch Rettungen der Flüchtlinge oft ihre eigene Freiheit. Letzten Endes gewann Carola Rackete ihren Kampf gegen die Justiz. Auf Twitter veröffentlicht sie: „Niemand sollte strafrechtlich dafür verfolgt werden, Menschen in Not geholfen zu haben.“ Damit will sie ein Zeichen für die Flüchtlingshilfe setzen und darin bestärken, trotz Risiken Hilfe anzubieten. Angesichts der humanitären Flüchtlingskatastrophe fordert Sea Watch legale Fluchtwege ein. Da die Forderungen der Sea Watch politisch nicht realisiert werden, gehen die Rettungsaktionen ohne politische Unterstützung weiter. Die Flüchtlingspolitik ist ein kompliziertes und kontroverses Thema, was Länder und Regierungen vor viele soziale und politische Fragen stellt. Oft heißt es, man könne nicht jeden über die Grenzen lassen. Fakt ist: Würde man selbst in einem überfüllten Schlauchboot auf dem Mittelmeer in Lebensgefahr umhertreiben, würden alle Diskussionen, Argumente und Ängste gegen und für die Sea Watch, wie auch gegen und für die Flüchtlingspolitik, keine Rolle mehr spielen. Denn jeder wäre dankbar für einen sicheren Platz in einem Sea Watch Boot.

Ein Text von Jessica Morlock

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Wen interessiert das schon? Wahlprogramme grenzen an die Verständlichkeit einer politikwissenschaftlichen Doktorarbeit. Wer weiß schon, was eine „Mindestlohndokumentationspflichtverordnung“ (FDP) ist? Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim hat sich die Programme mal angeschaut und ist dabei auf ernüchternde Ergebnisse gestoßen.

Politik. Und, wer hat jetzt schon abgeschaltet? Politische Unzufriedenheit und Desinteresse sind in unserer heutigen Gesellschaft ein großes Thema. Keine*r fühlt sich richtig verstanden oder repräsentiert. Noch nie waren Protestparteien wie „Die Partei“ rund um Titanic-Chef Martin Sonneborn so groß. Viele Menschen wählen wiederum die AfD aus Protest, um ein Zeichen zu setzen: So geht es nicht weiter! Die ehemaligen Volksparteien CDU und SPD sehnen sich ihre alten Wahlergebnisse herbei. Immer mehr Parteien im Bundestag, immer mehr Stimmen werden laut. Aber was tut das jetzt zur Sache? Die nächste große Wahl erwartet Deutschland erst wieder 2021. Erst dann beschäftigen wir uns wieder mit dem Bundestag. Erst dann informieren wir uns wieder. Doch die meisten Deutschen blicken mit Scheuklappen auf die Parteien. Wer sagt bei Wahlslogans wie „Mieten müssen bezahlbar sein“ (Die Linke) schon nein? „Bildung darf nichts kosten“ (SPD) stört wohl auch die wenigsten. Die Wahlplakate sollen möglichst viele Leute ansprechen, zeigen aber nur einen Bruchteil des gesamten Konzepts und

das nur über einen Zeitraum von ein paar Monaten hinweg. Das gibt wohl kaum ein repräsentatives Bild der Parteien ab. Und trotzdem richten wir uns fast ausschließlich danach. Das eigentlich Interessante sind doch die Schwächen der Parteien. Dass man sich von niedrigeren Mieten und einer guten Bezahlung angesprochen fühlt, ist klar. Das eigentlich Wichtige ist doch: Wo entfernt sich eine Partei vielleicht von meinen Werten und Vorstellungen? Gerade das ist aber meistens nicht so einfach herauszufinden. Die Wahlprogramme aller zur Wahl antretenden Parteien durchzulesen, würde uns etwa 17 Stunden Arbeit kosten und selbst dann hätten wir das Geschriebene noch nicht verstanden. Das ist nämlich gar nicht so einfach, wie der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider festgestellt hat.

Wahlprogramme – eine politikwissenschaftliche Doktorarbeit?

Seit zehn Jahren analysiert Frank Brettschneider an der Universität Hohenheim Wahlprogramme auf ihre Verständlichkeit. Mit einer Software werden Texte auf einer Skala von 0 (gar nicht verständlich) bis 20 (sehr verständlich) geordnet. Und

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„Für gute Arbeit und gute Löhne. Für ein Deutschland in dem wir gerne leben.“ CDU

„Bildung darf nichts kosten. Außer etwas Anstrengung.“ SPD

„Die Sicherheit muss besser organisiert sein als das Verbrechen.“ FDP seit zehn Jahren ändert sich in deutschen Wahlprogrammen fast nichts. Abgesehen von der Verkürzung von ungefähr 46.000 auf durchschnittlich 37.000 Wörter pro Programm glänzen die Parteien weiterhin mit Bandwurmsätzen und unnötig langen Wörtern. Der längste Satz fand sich 2017 im Wahlprogramm der FDP mit 90 Wörtern. Aber auch Sätze mit 30 bis 40 Wörtern sind keine Seltenheit. Fremd- und Sachwörter wie „Small Banking Box“ (FDP), „Braindrain“ (Grüne) oder auch „Failed States“ (AfD) erleichtern einem Laien das Verständnis nicht wirklich. Unnötig oft werden Wörter aneinandergereiht und es entstehennNeologismen wie „Erwerbsminderungsrentnerinnen“ (Linke, SPD) und „Mindestlohndokumentationspflichtverordnung“ (FDP). Die AfD hatte 2017 das unverständlichste Wahlprogramm, kam auf eine Punktzahl von 7,3 von 20 und schrammte damit nur knapp an der Verständlichkeit einer politikwissenschaftlichen Doktorarbeit mit 4,3 Punkten vorbei. Kein Wunder also, dass sogar die Parteimitglieder um ihre eigenen Wahlprogramme einen großen Bogen machen. Immerhin 50 Prozent lasen 2017 nur die Kurzfassung, die Langfassung kam auf magere 16 Prozent. Ganze 12 Prozent gaben sogar an, nicht einmal kurze Ausschnitte gelesen zu haben. Sich über die immer gleichen Wahlslogans hinaus zu informieren, ist gar nicht mal so einfach. Die Wahlprogramme kommen aus obigen Gründen nicht in Frage, Interviews in den Medien sind von großen Teams vor-

bereitet und die Politiker*innen liefern uns auswendig gelernte Phrasen. Abgesehen davon zeigt so kurz vor den Wahlen sowieso nur jede*r ihre*seine Schokoladenseite. Was interessieren uns also jetzt die Wahlen 2021? Eine ganze Menge. Die einzige Möglichkeit, eine bewusste und gut informierte Wahlentscheidung treffen zu können, ist die ständige Beobachtung der Politik – auch, wenn das erstmal mühsam klingt. Nur dann kann man einschätzen, inwiefern die Wahlversprechen gehalten oder ob Ideen bei den ersten Schwierigkeiten schon wieder über Bord geworfen wurden. Wenn ich mir die aktuellen Entwicklungen in Deutschland so anschaue, kann ich nur hoffen, dass nächstes Jahr vielleicht ein paar mehr Menschen ein paar mehr Gedanken an ihre Wahlentscheidung verwenden.

Ein Text von Lorena Boss

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3144 Kilometer 3144 Kilometer, soweit verläuft eine der längsten Grenzen der Welt. Die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Das entspricht einer Strecke von Stuttgart bis in die türkische Hauptstadt Ankara. Auf der einen Seite die Vereinigten Staaten, das Land der Wolkenkratzer, der Burger und der unbegrenzten Möglichkeiten. Hinter der Grenze sind die Häuser plötzlich flach, klein und kunterbunt. Anstatt Burger werden hier rund um die Uhr Quesaddilas verzehrt und die Möglichkeiten sind eingeschränkt.

Die Menschen, die von Südamerika in die USA einwandern, flüchten vor Gewalt, Armut und fehlenden Lebensperspektiven, in dem Wissen, dass ihre eigene Regierung nichts an ihren Umständen verbessern wird. Viele Jugendliche sind zwar sehr gut ausgebildet, finden nach ihrem Abschluss jedoch keine Arbeit. Es fehlt an Zukunftsperspektiven. Die Schere zwischen Arm und Reich, ist in vielen südamerikanischen Ländern sehr groß. Neben riesigen Shopping-Centern, wie aus den USA, gibt es Elendsviertel, die Slums in so manch afrikanischen Ländern ähneln. Die drei Länder Honduras, El Salvador und Guatemala befinden sich entlang der Drogenschmuggelroute von Südamerika aus in die USA. Besonders hier ist die Kriminalitätsrate sehr hoch. Die Bevölkerung wird von den Maras erpresst. Maras sind kriminelle Bandenverbindungen, die länderübergreifend organisiert sind und mafiaähnliche Strukturen aufweisen. Bürger, die ihre Anweisungen nicht befolgen, werden bedroht, verfolgt und getötet. Die Banden verlangen regelmäßig „Schutzgeld“ von den Bewohnern. Jungen werden von den Banden zwangsrekrutiert und sogar Kleinkinder und Babys sind betroffen. Viele Mütter erkennen diese Gefahr und versuchen durch eine Flucht in die USA die Zukunft ihrer Kinder zu retten. Die Maras sind zwar einer der Gründe, weshalb vie-

le Menschen aus Südamerika fliehen, doch sie sind nicht die Ursache. Sie sind lediglich ein Produkt, das aus den perspektivlosen Lebensumständen, entstand. „Build the wall!“, das schrien Trumps Anhänger bei jeder Wahlveranstaltung, als 2016 die 58. Präsidentschaftswahl der USA stattfand. Der Wahlkampf zwischen Donald Trump und Hillary Clinton ging um die Welt. Genau wie Trumps utopische Pläne für einen Mauerbau an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Trumps Visionen zufolge sollte eine massive Betonmauer gebaut werden mit Stacheldrahtzaun und Grenzwachen - eine Mauer ohne Lücken: massiv, sicher und undurchdringbar. Sie sollte neun Meter in die Höhe ragen. Zum Vergleich: die Berliner Mauer umfasste eine Höhe von bis zu vier Metern. Außerdem versprach Trump seinen Anhänger*innen, dass er dafür sorgen werde, dass Mexiko für diese Mauer bezahlen würde. Er schätzte die Kosten für seinen Mauerbau auf 12 Milliarden Dollar, Expert*innen dagegen sogar auf das Doppelte. Laut Trump soll die Mauer die illegale Einwanderung stoppen und die USA vor Drogenschmuggler*innen, Vergewaltiger*innen und Verbrecher*innen schützen. Schon bevor Trump seine Mauerpläne in die Öffentlichkeit posaunte, war die Grenze durch einen Blechzaun abgesperrt.

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Dieser war an einigen Stellen kaputt oder schlichtweg nicht vorhanden, dennoch wurden die Löcher stark überwacht. Kleine fingergroße Löcher im Zaun erlauben es getrennten Familien sich einmal die Woche zu sehen und zumindest mit den Fingerspitzen zu berühren. Betroffene Familien berichten: „Früher waren die Löcher noch so groß, dass man sich zumindest die Hände habe reichen können.“ Spoiler. Trump gewann die Wahl zum USPräsidenten. Doch nun drei Jahre später, steht die Mauer noch immer nicht. Es gab viele strategische, politische wie auch finanzielle Probleme, die den Mauerbau verhinderten. Teile des Landes von bestimmten Abschnitten der Grenze, konnte nicht erworben werden. Da sich das Land im Privatbesitz befindet und die Besitzer*innen, wie zum Beispiel die Tohono O‘odham Indianer*innen, den Mauerbau nicht unterstützen. Aus der geplanten Mauer wurde eher eine Art Zaun. Dieser unterscheidet sich je nach Landesabschnitt der Grenze in seinen Ausmaßen. Während an vereinzelten Stellen, immer noch die instabilen Blechzäune stehen, stehen an anderen Stellen massive Fundamente mit mehreren Einheiten Stacheldraht umwickelt, die stark von der bewaffneten Grenzpatrouille überwacht werden. Diese Abschnitte erinnern an hochgesicherte Kriegsabsperrun-

gen, als befänden wir uns im dritten Weltkrieg. Von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wird das stark kritisiert, denn es handelte sich bei den illegalen Einwanderer*innen schließlich immer noch um Menschen. Auch Umweltschutzorganisationen, wie Defenders of Wildlife, betrachten das Bauunternehmen als äußerst kritisch. Der Mauerbau würde die Artenvielfalt der Chihuahua-Wüsten stark gefährden. Bedrohte Tierarten, wie Berglöwen oder Graufüchse, würden in ihren natürlichen Wanderungen unterbrochen werden. Auch die Kosten fallen um ein Vielfaches höher aus, als noch im Jahr 2016 angenommen wurde. Aus dem Wahlspruch der republikanischen Partei „build the wall!“, wurde „finish the wall!“. Die Fertigstellung der Mauer oder besser gesagt des Zaunes soll bis Dezember 2020 erfolgen. Das wäre genau ein Monat nach der nächsten Präsidentschaftswahl. So muss abgewartet werden, welche Folgen es für Trumps nächsten Wahlkampf hat, dass er seine Mauerpläne nicht einhalten konnte. Auch die tatsächliche Fertigstellung der Mauer, liegt noch in der ungewissen Zukunft. An den illegalen Einwanderungen von Südamerika in die USA haben die verstärkten Grenzzäune und die Diskussionen über

„Zeigen Sie mir eine 15 Meter hohe Mauer und ich zeige Ihnen eine 16 Meter hohe Leiter.“

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den Mauerbau nichts verändert. Noch immer flüchten tausende Menschen über die Grenze in die USA. Janet Napolitano, eine ehemalige Gouverneurin von Arizona und Heimatschutzministerin unter Präsident Barack Obama, erklärte dies, mit den Worten: „Zeigen Sie mir eine 15 Meter hohe Mauer und ich zeige Ihnen eine 16 Meter hohe Leiter.“ Und auch die Geschichte lässt darauf schließen, dass es Menschen seit jeher geschafft haben, Mauern und Grenzen zu überschreiten, die als unüberwindbar galten. Selbst die Berliner Mauer konnte trotz Schießposten und Gefangenschaften überwunden werden. Laut Angaben der Grenzschutzpolizei CBP schafften es im Oktober 2018 bis Mai 2019, sogar doppelt so viele Menschen über die Grenze als noch ein Jahr zuvor. Pro Monat sollen etwa 100.000 illegale Grenzübertritte stattfinden. Die Fluchtwege bis in die USA sind gefährlich, oft werden die Flüchtlinge überfallen und ausgeraubt oder sogar getötet. Laut der UN-Organisation für Migration sterben pro Jahr um die 500 Menschen, bei ihrem Versuch die Grenze zu überqueren. Bei diesen drastisch hohen Zahlen ist es schlichtweg unmöglich, dass es sich dabei ausschließlich um Drogendealer*innen,

Vergewaltiger*innen und Verbrecher*innen handelt, wie es Trump stets darstellte. Viele der illegalen Einwander*innen sind Familien, Kinder und gewöhnliche Arbeiter. Von den Anhängern Trumps werden sie dennoch als Verbrecher*innen beschimpft, da sie mit einer Einreise in die USA das Gesetz brechen. Aus der Sicht der Justiz ist eine illegale Einreise eine Straftat. Dennoch sollte man dabei nicht vergessen, dass diese Gesetze Menschen gemacht und moralisch wie auch ethisch durchaus diskutierbar sind. Genauso wie Grenzen und die Einteilung in Nationen und Länder. Somit sind auch diese sogenannten „Verbrecher*innen“ keine Täter*innen, mit böswilliger Absicht, sondern schlichtweg Opfer der sozialen, demographischen und politischen Strukturen unserer Weltordnung.

Ein Text von Jessica Morlock

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Theranos

ein Unternehmen ohne Grenzen? Das von Elizabeth Homes gegründete Silicon-Valley Start-Up wollte eine vielversprechende Idee umsetzen. Welche Umstände haben es dennoch zu Fall gebracht? Elizabeth Holmes hatte einen Traum – ein Gerät, das bei Patienten zu Hause steht, das mit einem kleinen Tropfen Blut auf verschiedene Krankheiten testet, aber auch regelmäßige Überprüfungen der wertvollen Flüssigkeit vornehmen kann. Alles ganz nach dem Motto - „one tiny drop changes everything“! Mit dieser Idee im Kopf gründete Elizabeth das Silicon-Valley Start-Up ‚Theranos‘. Damals, 2003, war sie genau 19 Jahre alt und hatte ihr Studium an der StandfordUniversity abgebrochen, um ihre Vision von einem medizinischen Universalgerät in die Realität umzusetzen. Aber dieser Traum sollte sich in den nächsten Jahren als Albtraum herausstellen. Im Moment droht der ehemaligen Milliardärin und ihrem Ex-Partner und höchstem Manager des Unternehmens Suresh „Sunny“ Balwani, ein Gerichtsverfahren. Wieso wurde eine eigentlich gute Idee zu so einem Desaster? Oder war der Traum an sich womöglich nur das – ein Traum, den man besser nicht in die Tat umgesetzt hätte? Ein Traum platzt immer aus zwei Gründen: Entweder weil er von vornherein von anderen überschätzt wurde oder weil der Traum an sich unrealistisch ist und sich einfach nicht in der Realität umsetzen lässt. Im Fall von Elizabeth Holmes und ihrem Unternehmen Theranos treffen beide Punkte zu. Lange Zeit überschätzten Investoren, Unternehmer und Politiker

die Innovationskraft des Theranos-Geräts „Edison“. Das Unternehmen wurde zeitweise sogar mit zehn Milliarden Dollar bewertet. Elizabeth Holmes und ihre Mitarbeiter mussten nun die hohen Erwartungen an ihr Produkt erfüllen und das stellte sich als schwere Mammut-Aufgabe heraus. Zudem war Elizabeth zu der Zeit als CEO von Theranos ein weibliches Unternehmerinnen-Idol. Auf sie hatte die Öffentlichkeit schon lange gewartet. Sie hatte es geschafft als weibliche Unternehmerin in einem medizinisch-technologischen Bereich einen Durchbruch zu erzielen. Andere Frauen wie Sheryl Sandberg (Facebook) und Marissa Mayer (Yahoo) waren in ihren Unternehmen schnell aufgestiegen. Aber keine hatte ihr eigenes Start-Up aufgebaut und war in kürzester Zeit so erfolgreich damit geworden. Damit langen große Hoffnungen auf Elizabeth Homes und der Druck der Öffentlichkeit war immens. Dies ist für ein Start-Up im Silicon Valley nicht unbedingt untypisch. Die Unternehmer versuchen, meist schnell viele Investoren für sich zu gewinnen und preisen ihre Innovation an, um an Geld für die kostenintensive Entwicklung zu kommen. Der Nachteil – es kommt zu unerreichbaren Erwartungen an das Produkt. Aber war Elizabeths Traum an sich überhaupt in die Tat umsetzbar? War ihre Idee sogar illusorisch? Denn das Edison-Gerät und auch der Nachfolger, das miniLab, entsprachen keineswegs den Vorstellungen,

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die Elizabeth Holmes bei der Gründung des Unternehmens hatte. In den meisten Fällen reichte ein Blutstropfen für Untersuchungen nicht aus und es musste doch noch ganz normal Blut mit einer Kanüle abgenommen werden. Zudem konnte nicht jeder Test mit der Vorrichtung durchgeführt werden. Darum wurden Untersuchungen auf andere Geräte ausgelagert oder doch klassisch in den Labors des Start-Ups durchgeführt. Außerdem waren die Überprüfungen, die man mit dem Edison durchführte, oft fehlerhaft oder sehr ungenau. Die Geräte leisteten also nicht das, was Theranos in der Öffentlichkeit vermitteln wollte. So viel zu dem Traum an sich. Die schleppende Weiterentwicklung des Produkts lässt sich teilweise auch auf die schlechte Personalpolitik im Unternehmen zurückführen. Innerhalb des Unternehmens wurden immer wieder neue Mitarbeiter eingestellt und kurze Zeit darauf wieder entlassen. Wenn Holmes oder Sunny die Einstellung der Angestellten nicht gefiel, wenn die Mitarbeiter Probleme an dem Gerät erkannten oder Missstände im Unternehmen aufzeigten, wurden sie sofort entlassen. Wichtig ist: Theranos war kein ausschließliches Technologie-Start-up, bei dem man dieselben Maßstäbe, wie zum Beispiel bei

Apple oder Tesla anlegen kann. Theranos war vor allem ein Hersteller eines medizinischen Produkts. Damit einher geht eine viel höhere Verantwortung, die das Unternehmen zu erfüllen hat. Deshalb müssen bei solchen Produkten andere Regeln gelten, denn die Konsequenzen einer falsch positiven oder negativen Blutprobe können verheerend sein – gerade, weil sich Patienten auf die Tests verlassen. Somit ist Elizabeth Holmes scheinbar innovativer Gedanke ein kompletter Albtraum geworden - für sie selbst aber auch vor allem für die Öffentlichkeit, die der jungen Unternehmerin vertraut hat. Was Holmes am Ende von ihrem Traum bleibt: ein gescheitertes Unternehmen, ein nicht funktionierendes Universal-Testgerät und eine Anklage wegen massivem Betrug, die mit einer 20-jährigen Haftstrafe enden könnte. So hatte sich das die 19-jährige Elizabeth bestimmt nicht vorgestellt.

Ein Text von Elena Grunow

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Das brüchige Wort auf Papier Men·schen·recht Substantiv, Neutrum [das] unabdingbares politisches Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in einem Staat Am 10.12.1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gegründet. Ein Recht, dass für alle Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität oder Rasse gilt. Heute leben wir seit 72 Jahren unter dem Schirm der Menschenrechte. Viele erfreuen sich der Freiheit und der Sonne dieses Rechtes. Doch die Kluft der Menschenrechte zwischen Forderungen und Realität ist tief. In Ländern wie China stehen Eingriffe in die Menschenrechte an der Tagesordnung. Die Presse- und Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Durch die aktuelle Corona-Situation merken wir, wie es ist in Deutschland eingeschränkt zu sein. Natürlich dienen diese Einschränkungen dazu, die Infektionsrate des Virus so gering wie möglich zu halten, dennoch gefällt das vielen Menschen nicht: Demonstrationen entstehen, kritische Beiträge werden gepostet und extreme Meinungen geteilt. Doch wie wäre es für uns, in einem Land zu leben, in dem weitaus mehr Grundrechte

eingeschränkt sind? In einem Land, in dem der Überwachungsstaat die Fäden in der Hand hält und die Bürger*innen wie Marionetten tanzen sollen.

Sommer 1989:

Der dritte und vierte Juni 1989 ist das Ende der studentischen Demokratiebewegung auf dem Tian’anmen-Platz in Peking. Auslöser der Demonstration war der plötzliche Tod Hu Yaobangs kurze Zeit vorher, ein Hoffnungsträger und Befürworter einer liberalen Politik. Der heutige inoffizielle Feier- und Gedenktag steht für das Massaker, an dem das chinesische Militär mit Gewalt und scharfer Munition mehrere tausend Demonstrant*innen ermordete.

40 Jahre später:

Wieder Sommer, anderes Jahr: Erneut entwickeln sich Massenproteste in Hongkong. Anlass ist das vorgeschlagenen Gesetz der Auslieferung von Häftlingen an die Volksrepublik China. Die zu Beginn friedlichen Demonstrationen entwickelten sich nach Drohungen der Regierungen erneut zu einem Pulverfass. Die Demonstrationen wurden gewalttätiger und angespannter. Die Situation spitzte sich immer mehr zu. Durch die aktuelle Covid-19 Pandemie unterbrachen die Proteste, jedoch wurden 14 führende Mitglieder der Demokratie-

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bewegung festgenommen. Wie es weiter gehen wird bleibt offen. Die Weltmacht China steht seit langem in der Kritik mit dem Umgang der Menschenrechte. Die kommunistische Partei hat durch Zensur und Kontrolle eine konstante Machtposition gesichert. Durch die wachsende globale wirtschaftliche Macht überschreitet China immer mehr Grenzen der Menschenrechtsverletzungen. Laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat sich die Menschenrechtslage unter der aktuellen Regierung verschlechtert. Durch die Covid-19 Pandemie finden wir die Bestätigung. Informationen werden zurückgehalten, das Recht auf Gesundheit wird missachtet, Nachrichten werden kontrolliert und zensiert. Nicholas Belequin, Regionaldirektor für Ostasien und Pazifik Regionen für Amnesty International, erklärt auf der Website: „Hätte die Regierung nicht versucht, die Gefahr zu verharmlosen, hätte die Welt zeitgerechter auf das sich ausbreitende Virus reagieren können.“ Es scheint, dass China nach seinen eigenen Regeln spielt. Obwohl China in viele Menschenrechte eingreift, boomt die Wirtschaft. Denn seit dem Jahr 2000 steigt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stetig. Laut Statista hat sich das BIP vergleichsweise in

zehn Jahren fast verdreifacht. Feststellbar ist, dass China trotz Menschenrechtsverletzungen, vergleichsweise wenig Einbußen durch die Taten erlitten hat. Sowohl Menschenrechtsorganisationen als auch Länder versuchen durch Maßnahmen und Strafzölle Chinas fragliche Politik gegen die Menschenrechte einzugrenzen. Zum Beispiel erließ Donald J. Trump Ende 2019 ein Gesetz zur Sanktionierung ranghoher chinesischer Regierungsvertreter*innen, welche eine große Rolle in der Unterdrückung der Uiguren spielen. Das Volk Chinas wird sich den Verletzungen der Rechte immer bewusster und die Zahl der Demonstrationen schießt in die Höhe. Ob die Regierung Chinas in Zukunft von menschenrechtsfeindlichen Aktivitäten absieht, ist schwer zu beantworten. Die zentrale Frage ist jedoch, ob auch wir ignorieren können, dass eine solche Weltmacht die Menschenrechte weiter mit Füßen tritt?

Ein Text von Tom Beyer

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Zu spät, um wegzuschauen #LeaveNoOneBehind: Von Tausenden Menschen, die aus ihrer Heimat geflohen sind und nun auf engstem Raum auf der griechischen Insel Lesbos leben. Was können wir dagegen tun? Und wer tut bereits etwas? Während wir uns an Videoanrufe mit unseren Liebsten, Vorlesungen im Bett und Bahnfahrten mit Maske gewöhnt haben, leben auf der griechischen Insel Lesbos 20.000 geflohene Menschen im Camp Moria auf engstem Raum beieinander. Das Camp wurde ursprünglich für 3.000 Menschen errichtet. Man kann sich also vorstellen, wie eng der Platz dort nun für jede*n Einzelne*n geworden ist. 1.300 Menschen müssen sich gemeinsam einen Wasserhahn teilen. Einen einzigen Wasserhahn, der auch nicht immer funktioniert. Menschen schlafen auf dem Boden oder in Zelten, Kinder können nicht zur Schule gehen, die Medikamentenversorgung ist knapp. Für uns nur schwer vorstellbar – eine unzumutbare Situation. Wenn man diese Nachrichten liest, sollte man meinen, dass jede*r diesen Menschen gerne helfen würde. Jedoch bekommt man in diesen Tagen oft das Gefühl, dass viele Politiker*innen die schwierige Lage der geflohenen Menschen nicht wahrhaben möchten, oder sich nicht im Stande sehen, etwas an diesen unmenschlichen Zuständen zu ändern. Doch es gibt auch Menschen in der Politik, die nicht schweigen: Bündnis 90/Die Grünen-Politiker und Mitglied des Europäischen Parlaments Erik Marquardt hat

die Kampagne „Leave no One behind“ mit den Aktivist*innen von #civilfleet ins Leben gerufen, um mehr Aufmerksamkeit auf die Lage in den griechischen Flüchtlingslagern zu lenken. Die Initiative ruft dazu auf, Solidarität zu zeigen – gerade gegenüber den Menschen, die diese besonders brauchen: Geflüchtete, aber auch Obdachlose und Kranke sowie alte Menschen. Dass die Zustände auf Lesbos prekär sind, ist offensichtlich. Wenn dann auch noch ein Virus, wie etwa der Corona-Virus, die griechischen Lager erreicht, wäre dieser schwer aufzuhalten. Daher fordert Marquardt die Evakuierung der Lager auf den griechischen Inseln, um die geflüchteten Menschen vor dem Virus schützen zu können. Sie sollen an sichere Orte auf dem Festland Griechenlands gebracht werden, weshalb das Land jetzt noch viel mehr auf die Unterstützung der EUKommission sowie der Mitgliedstaaten angewiesen ist. „Dafür braucht es auch finanzielle Hilfen, aber vor allem den politischen Willen, Probleme zu lösen, statt immer zu erzählen, was wir alles nicht tun können.“, so Erik Marquardt auf seinem Blog erikmarquardt.eu. Auch wenn man als Einzelperson, die nicht in der Politik oder anderweitig tätig ist,

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„Wir können nicht einfach wegschauen. Wir sind stärker.“ erst mal den Eindruck hat, machtlos in diesem Schauspiel zu sein, gibt es doch etwas, das man tun kann: Mit der Aufmerksamkeit für dieses Thema fängt es an. Wenn man über etwas nicht spricht, wird sich auch nichts ändern. Das wissen wir alle. Man kann beginnen, sich über die Lage zu informieren, mit der Familie und Freund*innen darüber sprechen und Artikel darüber zu lesen oder Videos dazu anschauen. Im nächsten Schritt kann man die #LeaveNoOneBehind-Kampagne unterstützen, indem man die Petition online auf change.org unterzeichnet. Auf der Homepage action.leavenoonebehind2020.org kann man zudem den Bundestagsabgeordneten aus dem eigenen Wahlkreis schreiben. Je mehr Leute schreiben, desto lauter wird die Stimme für Gerechtigkeit.

tet, allerdings eher oberflächlich. Auch wenn die Reaktion der Politikerin nicht so war, wie die Jungs es sich erhofft hatten – Aufmerksamkeit haben sie erzeugt. Sie ermutigen jede*n von uns dazu, Aufmerksamkeit zu erzeugen, auch wenn man nur eine kleine Reichweite hat. Wenn man erst mal die Hemmschwelle verliert, politische Statements und Ungerechtigkeiten beispielsweise auf seinen Social Media Profilen zu posten, fällt es einem nach und nach immer leichter und man setzt ein Zeichen. Das hat im besten Fall die Folge, dass andere sich dazu inspiriert fühlen, die Petition oder andere Aktionen ebenfalls zu teilen. Dadurch steigt die individuelle Reichweite

Wenn man gerade ein paar Euro über hat, weil feiern gehen, Konzerte sowie Festivals erst mal flachfallen, kann man auch für die Kampagne spenden. Das Geld geht an Projekte, die die geflüchteten Menschen vor Ort unterstützen. Es gilt also: Jeder kleine Schritt ist viel wert. Auch Personen des öffentlichen Lebens, wie etwa die Musiker der Band Annenmaykantereit, setzen sich für die Thematik ein. Sie haben unter anderem die Kölner Oberbürgermeistern Henriette Reeker in einem Video mit vielen anderen Künstler*innen und Prominenten zusammen dazu aufgefordert, Köln zum sicheren Hafen für geflüchtete Menschen zu machen. Reeker hat auf Instagram mit Kommentaren auf das Video geantwor-

weiter an, auch wenn sie anfangs noch so klein erschien.

Ein Text von Janina Hofmann

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Bedinungsloses grundeinkommen

diese Chancen bringt es mit sich

Die derzeitige Pandemie drängt die soziale Grundversorgung vieler Länder an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Spanien führt eine langfristige Lösung ein, die den am stärksten von der Pandemie Betroffenen helfen soll: Das bedingungslose Grundeinkommen.

Wo das Grundeinkommen momentan steht

Was in Deutschland bisher als ein Sozialexperiment läuft und der Regierung zeigen will, dass das bisherige System verbessert werden kann, ist in Spanien schon bald Realität. Zumindest laut der Wirtschaftsministerin Nadia Calviño. Sie sagt, dass das Sozialministerium dabei sei, „ein lebenslanges Grundeinkommen“ zu koordinieren. Außerdem ergänzt sie, dass das Grundeinkommen nicht nur für die Ausnahmesituation gedacht ist, sondern auch darüber hinaus erhalten bleiben soll. Auch der Vizeregierungschef spricht sich für ein Grundeinkommen aus: „Das Grundeinkommen ist eine demokratische Pflicht, um unsere Verfassung zu erfüllen. Wir können keinen Bürger zurücklassen.“ In den ersten Schritten solle sich das Grundeinkommen vor allem an Familien mit geringem oder gar keinem Einkommen mehr richten. Diese Form der finanziellen Unterstützung ist keine allzu neue Idee. In Deutschland

versucht der Verein „Mein Grundeinkommen“ seit 2014 mit einem Experiment zu zeigen, was für Möglichkeiten und Freiheiten entstehen, wenn Menschen neben ihren sonstigen Einnahmen ein Geldbetrag von rund 1.200 Euro frei zur Verfügung steht. Vor allem zeigt das Experiment, was viele Menschen nicht tun würden: Wider erwarten haben die Teilnehmer*innen des Testlaufs alles Mögliche mit dem Geld angestellt, anstatt ihren Job zu kündigen.

Spanien erkennt die Vorteile – was ist mit Deutschland? Wie das spanische Grundeinkommen sich entwickeln wird und wie es den Betroffenen hilft ist noch offen. Doch der Verein „Mein Grundeinkommen“ kann aus rund sechs Jahren Erfahrung bereits die ersten positiven Ergebnisse aufzeigen: Die Menschen werden selbstbewusster, weil sie mit der finanziellen Sicherheit in Bereichen wie Karriere oder Ausgaben auch mal

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etwas riskieren können, ohne gleich mit dem Rücken an der Wand zu stehen. Außerdem fühlen sich viele freier, weil sie weniger Gedanken an den bestbezahltesten Job verschwenden, sondern sich mehr überlegen, was sie wirklich machen wollen. Zu guter Letzt, bringt das Geld ein großes Gefühl der Sicherheit: Wenn die Einnahmen aus dem Job mal wegbleiben, wenn unvorhergesehene Ausgaben kommen oder wenn die Rente vor der Tür steht. Bringt man das Thema bedingungsloses Grundeinkommen im Bundestag zur Sprache, halten sich viele Parteien noch bedeckt – aber immerhin reden sie mittlerweile darüber und suchen nach einer Alternative zu Hartz IV. Sich deutlich gegen das neue Sozialsystem sprach sich zum Beispiel CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer aus, sie sagte 2018: „Ich halte das bedingungslose Grundeinkommen für das falsche Zeichen. Es muss einen Zusammenhang geben zwischen Leistung und dem, was man bekommt.“

Auch die Ex-Parteivorsitzende Andrea Nahles positioniert sich dagegen: „die SPD steht für ein Recht auf Arbeit – und nicht für bezahltes Nichtstun.“

Bedingungsloses Grundeinkommen bedeutet nicht „Nichtstun“

Die Kritik an dem bedingungslosen Grundeinkommen ist nichtig, wenn man sich das Konzept des Vereins und das tatsächliche Verhalten der Personen anschaut, die monatlich tausend Euro mehr zur Verfügung hatten. Bezahltes „Nichtstun“? Von wegen! Manuela, eine der Gewinnerinnen von 2017 erzählt, dass sie trotz der tausend Euro mehr im Monat nach wie vor mehr als einen Job hat. Immerhin: Vor dem Grundeinkommen arbeitete sie in einer Disko, in der Gastronomie und als Putzkraft, aber jetzt mit dem Bonuseinkommen konnte sie einen Job kündigen. Dadurch hat sie mehr Freiheiten, kann dem nachgehen, was ihr wirklich Spaß macht und trotzdem noch sich und ihre Tochter

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finanziell über Wasser halten. Manuela ist nur eine von vielen, die trotz mehr Geld auf dem Konto, unbeirrt weiterarbeiten. Die Annahme, dass alle sofort ihren Job kündigen und nichts tun, ist falsch. „Mein Grundeinkommen“ führte dazu eine Umfrage durch und 90 Prozent der Befragten gaben an, dass sie selbst mit einem Grundeinkommen weiterarbeiten würden. Manuelas Situation zeigt auch sehr gut, dass viele Menschen in unserem bisherigen System nicht fair bewertet werden: Ihre Leistung, die sie in zwei oder drei Jobs erbringt, klingt unglaublich hoch – wird aber anscheinend nicht annährend so vergütet, dass nur zwei oder ein Job reichen würde. Wenn diese Leistung Kramp-Karrenbauer nicht reicht und sie keinen Zusammenhang zwischen Manuelas Situation und ihrer (unfairen) Vergütung sieht – dann unterscheidet sich Kramp-Karrenbauers Definition von Leistung wohl sehr von der anderer. Gerade jetzt während der Pandemie erbringen Krankenpfleger*innen, Putzkräfte, LKW-Fahrer*innen und so viele mehr eine enorm große Leistung – ohne hier unbezahlte Berufe wie Hausfrauen oder Mütter miteinzuberechnen. Doch wie sieht hier die finanzielle Entlohnung aus? Die Berufe, die wir gerade am meisten brauchen und unsere Gesellschaft am Laufen halten, sind die im Schnitt am schlechtesten bezahlten.

Gleiche Chancen sind nichtig, wenn sich alles um Geld dreht

Das bedingungslose Grundeinkommen bringt nicht nur mehr Geld auf das Konto, sondern ganz einfach gesagt bringt es auch die gleichen Chancen – und zwar wirklich für alle. In der Theorie hat sie bereits jeder, doch in der Praxis kommt man ohne Geld dann eben doch nicht weit: Mit mehr Geld auf dem Konto lebt es sich sorgenfrei und unbeschwert. Man kann sich Dingen zuwenden, für die man sich wirklich interessiert oder sich davon lösen, dass sich im Leben alles um den bestbezahltesten

Job drehen muss. Doch wenn sich im Alltag einer Person alles um das Geldsparen oder Geldverdienen dreht, sind die vermeidlich gleichen Chancen für alle nichtig. Wer dankt ans Geldsparen, wenn bald die Monatsmiete ansteht und man sich gleichzeitig ein neues Fahrrad, das Magazin-Abo oder die Theaterkarten kaufen will? Oder wer stürzt sich intensiv in ein Uni-Projekt, wenn man sich nach einem Nebenjob umsehen muss? Wer sich diese Fragen nicht stellen muss, der geht es finanziell schon gut, diese Person kann alle ihre Möglichkeiten ausschöpfen. Doch andere mit weniger Geld haben eben andere, wenigere Möglichkeiten. Interessant ist im Moment vor allem die Chance der freien Berufswahl: Habe ich die denn wirklich? Entscheide ich mich, obwohl es einer meiner größten Interessen ist, wirklich für die Pflege, wenn ich die Bezahlungen und Arbeitsbedingungen kenne? Und zusätzlich sehe wie der Beruf gerade gebraucht wird, aber die Leistung in Applaus bezahlt wird? Wahrscheinlich nicht. Doch wenn ich wüsste, egal für welchen Beruf mit welcher Gehaltsklasse ich mich entscheide, dass mir die tausend Euro im Monat sicher sind – wie würde ich mich dann entscheiden? Vielleicht eben für genau die Berufe, die gerade so dringend gebraucht werden, aber in denen seit Jahren – nicht nur seit der Pandemie – ein Mangel an Personal, Wertschätzung und Geld herrscht.

Ein Text von Denise Ott

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Grafische Grenzen 49

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Die stille Invasion Wie invasive Arten die biologische Vielfalt gefährden können Es gehört zur Geschichte der Evolution, dass sich Tiere und Pflanzen neue Lebensräume erschließen. Unter natürlichen Bedingungen geschieht dies jedoch über mehrere Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg. Ein bereits vorherrschendes Ökosystem kann sich in der Regel an diese schleichende Veränderung anpassen. Durch den Faktor Mensch hat sich dieser Prozess seit der Entdeckung Amerikas immer weiter beschleunigt. Dank der Globalisierung findet ein täglicher Austausch von Waren auch über Grenzen hinweg statt, die für Tiere und Pflanzen früher nahezu unüberwindbar waren. Als blinde Passagiere gelangen sie durch den weltweiten Handel in fremde Gebiete, was verheerende Folgen haben kann.

Manche nicht-heimische Arten können sich entgegen aller Befürchtungen ohne dramatische Folgen in bestehende Ökosysteme intergieren. Allein in Deutschland gibt es über 600 gebietsfremde Pflanzenarten (Neophyten) und 260 Tierarten (Neozoen), von denen 168 als invasiv gelten und potenziell negative Auswirkungen haben können. Die bekannteste invasive Art in Deutschland ist der Waschbär. Ursprünglich in Nordamerika beheimatet, wurde er 1927 als Pelztier nach Deutschland gebracht und breitet sich seitdem in ganz Europa aus. Er ist ein begabter Kletterkünstler und kommt auch an Vögel heran, die in hohen Bäumen nisten und deshalb vorher kaum Fressfeinde hatten. Zudem räumt er gerne Mülltonnen aus und nistet sich in Dachböden ein. Der Waschbär gilt als „etabliert“, da er sich seit fast 100 Jahren in seinem neuen Lebensraum gehalten hat.

„Invasive Arten gelten weltweit als zweitgrößte Gefahr für die biologische Vielfalt, gleich nach der Zerstörung von Lebensräumen durch den Menschen.“ Gebietsfremd, etabliert oder invasiv?

Tiere und Pflanzen, die durch den Menschen von ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet in fremde Länder gelangen, nennt man „gebietsfremde“ oder „nichtheimische“ Arten. Wenn sie in dem neuen Lebensraum überleben, sich fortpflanzen und dadurch die heimische biologische Vielfalt, andere Tier- und Pflanzenarten oder sogar ganze Ökosysteme gefährden, spricht man von einer „invasiven“ Art. Nicht jede gebietsfremde Art ist invasiv.

Die Verbreitung der Arten

Der menschliche Handel und Verkehr spielen für die Einführung von Tier- und Pflanzenarten eine tragende Rolle. Die meisten Arten wurden absichtlich durch den Menschen eingeführt. Zum Beispiel als Zier- und Nutzpflanze oder als Jagdwild und Haustier. Der Mink (amerikanischer Nerz) wurde beispielsweise 1920 wegen seines Fells nach Deutschland gebracht, da sich der europäische Nerz nicht für die Pelzzucht eignete. Er lebt in der Nähe von Gewässern und ernährt sich hauptsächlich von Fischen, Amphibien und Kleinsäugern. Mittlerweile hat er die einheimische Nerzart stark zurückgedrängt, da sie den gleichen Lebensraum und die gleiche Beute benötigen.

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„Der menschliche Handel und Verkehr spielt für die Einführung von Tierund Pflanzenarten eine tragende Rolle.“ Die übrigen Arten werden unabsichtlich eingeschleppt. Zum Beispiel durch die Haftung von Pflanzensamen an Handelsgütern. Auch viele Meerestiere gehören zu den invasiven Arten. Die meisten gelangen mit dem Ballastwasser in den Tanks der großen Handelsschiffe in andere Gebiete. Dieses Wasser wird in Küstennähe abgelassen und die darin schwimmenden Tierarten gelangen in die Freiheit. Auf diese Weise werden laut des Natuschutzbunds Deutschland (NABU) täglich über 7000 Arten über den Globus transportiert. Die chinesische Wollhandkrabbe beispielsweise nutzte künstlich angelegte Kanäle, um von Ostasien nach Europa zu gelangen. Sie kommt heute in allen Flüssen vor, die in die Ost- und Nordsee münden. Sie passt sich leicht an Veränderungen des Salzgehalts und der Wassertemperatur an. Wollhandkrabben gelten als Schädlinge, da sie Dämme und andere Uferbefestigungen durch das Graben von Gängen zerstören.

Auswirkungen, Gefahren und der Klimawandel

Die meisten gebietsfremden Arten, stellen keine nachweisbare Gefahr für die heimische Natur oder unsere Gesundheit dar und haben keine negativen wirtschaftlichen Auswirkungen. Trotzdem gelten invasive Arten weltweit als zweitgrößten Gefahr für die biologische Vielfalt, gleich nach der Zerstörung von Lebensräumen durch den Menschen.

Mögliche Gefahren:

1. Sie treten in unmittelbare Konkurrenz mit einheimischen Arten und können im schlimmsten Fall einzelne Arten oder sogar ganze Artengemeinschaften verdrängen. Das stärkere Grauhörnchen verdrängt zum Beispiel das schmächtigere Eichhörnchen .

2. Auch als Fressfeinde können invasive Arten die biologische Vielfalt gefährden, da einheimische Arten nicht auf diese vorbereitet sind. Aber auch der umgekehrte Fall ist möglich. Die eingebürgerte Art findet keine natürlichen Fressfeinde vor und kann sich ungehindert ausbreiten, wie zum Beispiel das europäische Kaninchen in Australien. Die Tiere wurden von den Strafgefangenen, die auf dem Kontinent eine Kolonie gründeten, als Schlachttiere mitgebracht. Einige wurden als jagdbares Wild ausgesetzt und verbreiteten sich aufgrund der milden Winter und der wenigen Fressfeinde rasant über den ganzen Kontinent. Mittlerweile gelten sie als Plage, die große Schäden in der Landwirtschaft verursacht. 3. Es kann zu Kreuzungen zwischen gebietsfremden und einheimischen Arten kommen, was dazu führt, dass die einheimische Art sich verändert und nach und nach durch die gebietsfremde Art ersetzt wird. Diese schleichende genetische Veränderung kann jedoch nur im Labor nachgewiesen werden. 4. Gebietsfremde Arten können neue Krankheiten und übertragen. Als die ursprünglich in China und der Mongolei

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„Die Ausbreitung gebietsfremder Arten und der aktuelle Klimawandel sind zwei hochdynamische Prozesse mit unterschiedlichen Ursachen, aber sie laufen nicht völlig unabhängig voneinander ab.“

vorkommende Wanderratte sich durch die Kolonialisierung in der ganzen Welt verbreitete, brachte sie den Pestfloh mit, welcher für die Pestepidemie von 1350 verantwortlich war. Auch einige gebietsfremde Pflanzen können gesundheitliche Probleme verursachen. Der Riesen-Bärenklau, auch Herkulesstaude genannt, stammt aus dem Kaukasus, hat sich aber durch seine starke Samenproduktion auch schnell in Deutschland ausgebreitet. Sein Pflanzensaft kann schwere Verbrennungen auslösen, wenn er mit der Haut in Kontakt kommt und diese dem Sonnenlicht ausgesetzt wird. 5. Nicht-heimische Arten können negative Auswirkungen auf die Eigenschaften eines Ökosystems, wie die Vegetationsstruktur oder Prozesse, wie die Nährstoffdynamik haben und diesen Lebensraum dadurch grundlegend verändern. Die aus dem Südosten Nordamerikas stammende Robinie, ist eine beliebte Baumart zur Begrünung von Städten und Parks. Ihr invasives Potenzial entfaltet sich erst, wenn sie sich ungestört ausbreiten kann. Als Hülsenfrüchtler reichert sie den Boden mit Stickstoff an und verdrängt Arten, die nährstoffärmere Böden benötigen. Nährstoffarme Standorte wie Binnendünen und Magerrasen sind wertvoll, weil sie seltene Ökosysteme sind. Hat die Robinie einen Standort erobert, lässt er sich nicht mehr in seinen ursprünglichen Zustand versetzen.

6. Die Ausbreitung gebietsfremder Arten und der aktuelle Klimawandel sind zwei hochdynamische Prozesse mit unterschiedlichen Ursachen, aber sie laufen nicht völlig unabhängig voneinander ab. Klimaveränderungen wirken sich auf alle Arten einer Region aus. Gebietsfremde Arten kommen häufig besser mit veränderten Klimabedingungen klar, da sie über eine hohe Anpassungsfähigkeit und ein großes Ausbreitungspotenzial verfügen. Sie profitieren von Lebensraumveränderungen und haben dadurch einen Vorteil gegenüber vieler heimischer Arten. Zudem lieben die meisten in Deutschland vorkommenden Neophyten Wärme. So können sich bereits etablierte Arten durch die Klimaerwärmung noch stärker ausbreiten und unbeständige Arten können sich etablieren.

Mögliche Gegenmaßnahmen

2015 trat die Verordnung des Europäischen Parlaments über „die Prävention und das Management der Einbringung und Ausbringung invasiver gebietsfremder Arten“ in Kraft. Die Unionsliste ist ein wichtiger Bestandteil dieser Verordnung, denn sie enthält potenziell invasive Tier- und Pflanzenarten. Im Juli 2019 wurde die Liste auf 66 Arten erweitert. Die Einfuhr, Haltung und Züchtung dieser Arten ist in der EU verboten. Diese Liste wird unter Experten stark diskutiert, da sie nur einen Bruchteil der potenziell invasiven Arten auflistet. Bevor eine Tier- oder Pflanzenart als invasiv eingestuft wird, erfolgt eine Risikobewer

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tung anhand von zwei Bedingungen. Die Art muss das Fähigkeit für eine flächendeckende Ausbreitung besitzen und gleichzeitig das Potenzial erhebliche Schäden zu verursachen. Nur bei etwa 15 Prozent der nicht-heimischen Arten sind beide Bedingungen erfüllt. Einige Länder versuchen durch die Bejagung invasiver Arten eine Bestandsreduzierung zu erreichen. Auch die Nilgans darf in neun Bundesländern gejagt werden. Sie stammt, wie der Name schon sagt, ursprünglich aus Afrika. Bereits im 17. Jahrhundert wurde sie in Großbritannien und den Niederlanden wegen ihres auffälligen Gefieders als Ziervogel gehalten, von wo aus sie sich in ganz Europa ausbreitete. Mittlerweile ist sie an den meisten deutschen Gewässern anzutreffen. Wegen ihres starken Bestandsanstiegs wird sie als Plage bezeichnet, doch von ihr verursachte Schäden sind bisher nicht bekannt. Der Jagddruck hat kaum einen Effekt auf die Bestandsentwicklung von sich dynamisch ausbreitenden Neozoen, da sie die Verluste durch eine höhere Geburtenrate ausgleichen können. Die reguläre Jagd ist deshalb nicht für das überregionale Bestandsmanagement einer Art geeignet. Eine Jagd, die als einziges Ziel die Bestandsreduzierung einer Tierart hat, ist laut NABU sogar tierschutzwidrig. Eine effektivere Maßnahme könnte das

Wildtiermanagement darstellen. Dabei geht es primär um die Vermeidung von Schäden, die durch bestimmte Arten verursacht werden können. Diese kann je nach Bedarf durch jagdliche aber auch nicht-jagdliche Methoden durchgeführt werden. Es kann lokale Maßnahmen, aber auch flächendeckende Reduktion von Beständen enthalten und im Extremfall die komplette Beseitigung einer Art. Die Anforderung zur Planung und Genehmigung solcher Maßnahmen sind sehr hoch, um Missbrauch vorzubeugen. Sollte tatsächlich ein Vorgehen im Rahmen des Wildtiermanagements notwendig sein, sind diese Schritte nach dem Naturschutzrecht zu genehmigen und haben nichts mit der regulären Jagd zu tun. Egal welche Maßnahmen ergriffen werden, eine pauschale Lösung für alle gebietsfremden Arten kann es nicht geben, da sie sich durch Faktoren wie Klima, Umwelt und menschlichen Einfluss unterschiedlich entwickeln.

Ein Text von Joseohine Hennen

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Grenzüberschreitungen dieses Wort assoziieren wir oft negativ. Wir sprechen ihm direkt eine gewisse Größe zu. Ländergrenzen, sexuelle Belästigung, Mobbing, zum Beispiel. Dabei begegnen wir in unserem Alltag ständig Grenzen und deren Überschreitung. Das gesellschaftliche Zusammenleben loten wir durch stetige Grenzüberschreitungen immer wieder neu aus und definieren so, was von der breiten Masse als Norm akzeptiert wird. Das ist wichtig für eine dauerhafte Auseinandersetzung mit Grau- und Grenzbereichen. Weiterentwicklung statt verharren in gegebenen Rahmen. Die Fotostrecke nähert sich dem Thema ohne bekannte Grenzüberschreitungen vordergründig abzubilden und versucht so, die positive oder negative Besetzung des Begriffs dem*der Betrachter*in zu überlassen. Während Farb-Atmosphäre und Bildkomposition Wärme, Nähe und Positivität zeigen, wirkt der abgebildete Inhalt unangenehm oder unangebracht. Dabei werden uns bekannte Formen von Grenzen und Rahmen neu gedacht und durchbrochen.

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Entzweites Europa Eigentlich sind wir als Europäer frei darin, Grenzen innerhalb der EU zu überschreiten, aber wie sieht das in Zeiten aus, in denen ein gefährliches Virus um den Globus zieht?

Laut dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern haben Bürger*innen der EU das Recht, sich innerhalb der Europäischen Union frei zu bewegen. Dies konnten wir nutzen, um beispielsweise zu reisen, ein Auslandssemester mit dem Erasmus-Programm durchzuführen oder in einem anderen Land der EU zu arbeiten. Dann kam das SARS-CoV-2 Virus und vieles hat sich innerhalb weniger Tage verändert. Die Staatsgrenzen waren für die meisten Reisenden dicht, man stand sich an Zäunen gegenüber und es entstand Missmut, Ungewissheit und Frust über die Situation. Bis zum 10. Mai mussten EU-Bürger*innen für zwei Wochen in Quarantäne, wenn sie aus dem europäischen Ausland gekommen waren. Für Berufspendler*innen gilt immer noch jeden Tag von neuem die sonst ohne Kontrollen beschränkte, nun aber stark kontrollierte Grenze zu überqueren. Die EU hat in der Corona-Krise bisher keine gute Performance geleistet. Es wurden Grenzen hochgezogen - physisch aber auch in den Köpfen der Bürger*innen - und man hat sich von den anderen

Unionsbürger*innen abgeschottet. Dies ist zwar durch die schwierigen Umstände nachvollziehbar, aber es wird auch Schaden hinterlassen – nicht nur in wirtschaftlichem Sinne, sondern auch im sowieso schon vorbelasteten Selbstverständnis der Unionsbürger*innen. Wo sind das Vertrauen und die europäische Freundschaft geblieben, wenn schnell wieder Landesgrenzen reaktiviert werden? Was macht das mit den Europäer*innen? Werden sie in ihrem Glauben an die EU erschüttert? Laut den Ergebnissen des Eurobarometers von 27. April 2020 unterstützt ein Großteil der Europäer*innen die Maßnahmen, die unternommen wurden, um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen. In Italien ist jedoch bei 66% der Bevölkerung, also bei einer deutlichen Mehrheit, das Vertrauen in die EU erschüttert. Die Angst, arbeitslos zu werden, ist in Italien und Portugal am größten und in Deutschland am kleinsten. Wie wird die EU damit umgehen, dass EU-Staaten unterschiedlich hart von der

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„Am Wichtigsten ist aber, in dieser Krise aber zusammenzuhalten, wenn auch auf Distanz.“

Krise getroffen sind? Gerade wenn Infektions- und Todeszahlen so stark voneinander abweichen, dann wird es schwer, gemeinsame Maßnahmen für die Zukunft zu finden. Die Länder wurden wirtschaftlich auch in unterschiedlichem Maße getroffen. Deutschland beispielsweise hatte viel bessere wirtschaftliche Startbedingungen als zum Beispiel Spanien oder Frankreich. Wie geht man damit um, dass die Auswirkungen in den einzelnen Staaten so unterschiedlich groß sind? Wird es die Länder entzweien oder lässt sich durch viel Solidarität und Maßnahmen der EU wieder etwas mehr Einigkeit herstellen? Viele Fragen, auf die es künftig Antworten zu finden gilt.

Am Wichtigsten ist aber, in dieser Krise zusammenzuhalten, wenn auch auf Distanz. Es hilft, europäisch gesehen, aber auch international in Kontakt zu bleiben – egal ob mit dem*der Nachbar*in an der Grenze oder dem*der ehemalige*n Austauschschüler*in. Wir alle haben es in der Hand, ob nach dieser Krise europäische Kontakte und Freundschaften auch fernab der Politik und Wirtschaft weiter bestehen bleiben. Es gilt sich nun noch mehr miteinander zu vernetzen, damit man sich in dieser Krise zumindest gedanklich als Europäer*in nah ist. Das ist ein Teil des Schlüssels, der die Tür zu einer neuen EU öffnen kann – eine Europäische Union nach Corona.

Ein Text von Elena Grunow

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30 Jahre Wiedervereinigung:

Sind wir ein Volk? Am 3. Oktober diesen Jahres jährt sich die Wiedervereinigung Deutschlands zum dreißigsten Mal. Wie jedes Jahr wird ein Festakt veranstaltet, der jährlich in unterschiedlichen Städten stattfindet. Doch reicht das Symbol der Vereinigung aus, um das Land als eine Einheit zu sehen? Es ist der 2. Oktober 1990 in Berlin. Ein Jahr nach dem Fall der Mauer, versammelten sich hunderttausende Menschen vor dem Reichstagsgebäude – unter ihnen viele Politiker*innen der DDR und BRD. Nach 45 Jahren der Trennung soll Deutschland wieder als vereintes Land gelten. Schon am frühen Abend wurde das „Fest der Einheit“ mit der 9. Sinfonie Beethovens im Schauspielhaus zelebriert. Glücksgefühle lagen in der Luft. Die Menschen, die diesen historischen Tag im Oktober vor dreißig Jahren miterleben durften, erinnern sich daran zurück, sobald das Lied Wind of Change der Scorpions im Radio ertönt.

gung wird es uns gelingen, MecklenburgVorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu Arbeiten und Leben lohnt.“ Große Worte von einem bedeutenden Politiker. Die meisten von uns werden sich vermutlich nicht an diese Worte erinnern. Die Wende selbst ist etwas, das wir nur aus Geschichtsbüchern und Erzählungen unserer Eltern kennen. Wir sind zu jung, um die gesellschaftlichen Zusammenhänge live und in Farbe miterlebt zu haben. Das versetzt uns zum einen in die Position, dass wir dazu tendieren, diese Spaltung auf die leichte Schulter zu nehmen. Wenn wir an die DDR denken, dann ist das meist eine Mischung aus negativen Berichten im Geschichtsunterricht und nostalgischen Erinnerungen von Zeitzeugen. Auf der anderen Seite sind wir in der Lage, objektiv auf die Situation zu blicken – sofern wir uns mit ihr befassen. Wir wissen, was es bedeutet, in einem gespaltenen Land zu leben. Auch heute noch gibt es Themen, die die Menschen entzweien: Links- und Rechtsextremismus, Umwelt-

„Denn nur weil keine Mauer mehr zu sehen ist, werden die Grenzen im Kopf nicht automatisch durchbrochen.“

Endlich sind wir eins, endlich gehören wir zusammen

Inzwischen ist der Tag ein nationaler Feiertag und wird mit einem jährlichen Festakt zelebriert. Mit dabei sind die heutigen Spitzenpolitiker*innen Deutschlands, die Bürger*innen und die alljährliche Mahnung: Lasst uns nie wieder getrennte Wege gehen. Die Worte des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl hallen in den Ohren: „Durch eine gemeinsame Anstren-

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aktivisten und Klimasünder, Digital Natives und Digital Immigrants. Bei all diesen Aufspaltungen der Bürger*innen, denken wir viel zu selten an die Unterschiede zwischen Ost und West. Denn nur weil keine Mauer mehr zu sehen ist, werden die Grenzen im Kopf nicht automatisch durchbrochen.

0,9 plus 0,1 ergibt auch ein Ganzes

Schaut man sich Statistiken zu Ost- und Westdeutschland an, stechen die Unterschiede schnell ins Auge. Nicht nur, dass die Bevölkerungsdichte in Ostdeutschland immer geringer wird, auch die Menschen werden älter. Während man inzwischen selbst in Westdeutschland über die alternde Gesellschaft klagt – gibt es im Osten weit mehr Menschen, die das Alter von 65 Jahren überschreiten. Zu dem stärkeren demographischen Wandel kommt auch die geringere Wirtschaftskraft. Laut Statista haben ganze 93% der deutschen Unternehmen ihren Hauptsitz in Westdeutschland. Zu den übrigen 7% gehören vor allem regionale Energieunternehmen. Dies führt zu einem geringeren Bruttoinlandsprodukt und auch zu einer verringerten Lebensqualität im Osten. Unter anderem durch die daher sinkende Kaufkraft der Menschen, erscheint der Standort für Unternehmen

weniger attraktiv. Es zeichnet sich ein Kreislauf ab, der für die ostdeutschen Bürger*innen nicht zu zerbrechen zu sein scheint. So geht Deutschland allgemein zwar als Wirtschaftsnation hervor, den Erfolg selbst bekommt jedoch nicht jeder zu spüren. Doch wie sieht es abseits von finanziellen Möglichkeiten mit den Menschen selbst aus?

So wie wir, nur ein bisschen rechter?

Insbesondere seit dem Jahr 2014 rückte der Osten Deutschlands immer wieder in den Mittelpunkt medialer Berichterstattung. In diesem Jahr wurde in Dresden die Vereinigung „PEGIDA“ ins Leben gerufen. Diese vertritt rechtspopulistische und rassistische Werte, die vor allem im Zuge der Flüchtlingskrise zu zahlreichen Demonstrationen und Ausschreitungen geführt haben. Auch die später populär gewordene AfD gilt in den neuen Bundesländern als deutlich extremistischer als im Westen. So entstand, langsam aber sicher, das Bild des politisch rechten Ostdeutschen. Die mediale Dramatik hat ausgereicht, um eine komplette Region politisch zuordnen zu wollen. Was hierbei nicht gesehen wird sind vor allem die zahlreichen Gegendemonstrationen und Bemühungen der demokratischen Bürger, sich den vertre

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tenen rechten Wertvorstellungen entgegenzusetzen. Zwar sollte man die Augen vor rechter Gewalt niemals verschließen, man sollte sie aber nicht dazu nutzen, um hunderte von Menschen in eine Schublade zu stecken, in die sie vielleicht gar nicht hineingehören. Nur so können wir unterschiedliche Stigma bezüglich „Ossi“ und „Wessi“ umgehen, und gemeinsam gegen rechtspopulistische Paradigmen vorgehen.

Am Ende liegt es an uns

Die Wiedervereinigung steht heute als Zeichen des Zusammenhaltes und der Gleichheit der Bürger*innen. Gerade in unserer Generation scheinen die gemeinsamen Ziele weder an innerdeutschen noch an internationalen Grenzen Halt zu machen. Probleme wie Rechtsextremismus, politische Korruption, Klimawandel, Flüchtlingskrise und seit einigen Monaten auch eine weltweite Pandemie scheinen sich nahtlos aneinander zu reihen und gehören zu unserem Alltag. Wir sollten uns bewusst machen, dass wir diese Probleme langfristig nur gemeinsam bekämpfen

können. Gemeinsam bedeutet auch, dass wir Vorurteile überwinden und für eine soziale und wirtschaftliche Ausgeglichenheit zwischen den Bundesländern sorgen. Lasst uns ein nicht nur auf dem Papier vereintes Deutschland sein. So können wir uns nicht nur innerhalb des Landes für einen gesunden Planeten, die Wahrung der Menschenrechte und Gerechtigkeit für alle einsetzen, sondern auch über die Landesgrenzen hinaus positives bewirken. Lothar de Maiziére, ehemaliger Ministerpräsident der DDR, bezeichnete den Einigungsvertrag als „Erfolg für die Demokratie“. Nun haben wir die Chance, diesem Ausdruck alle Ehre zu machen.

Ein Text von Franziska Roth

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FoTojournalismus

Zwischen Mitgefühl und Mitteilungsbedürfnis

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„Ich habe mich gefragt, wer bin ich, dass ich Fotos von diesen Leuten mache, die in aussichtslosen Situationen sind und unter schrecklichen Bedingungen leben.“ Fotojournalist*innen die Krisen fotografieren, balancieren auf einem ethischen Drahtseil: Ist es richtig die Situation zu dokumentieren, wenn man eigentlich helfen könnte? Eine verlassene, heruntergekommene Lagerhalle in Belgrad, Serbien. Nur wenig Licht fällt durch die dreckigen Fenster. Einige Scheiben sind zerbrochen. Neben abgefallenen Kacheln liegt Schnee auf dem Boden. Eine tote Maus zwischen dem Kies. Eine Menschengruppe, die sich um ein Feuer geschart hat. Männer, nackt bis auf die Unterwäsche, waschen sich vor der Kulisse der Winterlandschaft.

dabei. Sie lernte Flüchtlinge kennen, baute Beziehungen auf, hörte sich ihre Geschichten an, machte Fotos. Mit einigen ist sie noch Jahre danach in Kontakt. Anfangs war sie zaghaft, was das Fotografieren betrifft, rückblickend erzählt sie: „Ich habe mich gefragt, wer bin ich, dass ich Fotos von diesen Leuten mache, die in aussichtslosen Situationen sind und unter schrecklichen Bedingungen leben.“

Diese Bilder hält 2017 die damals 23-jährige Engländerin Alice Aedy fest; es sind afghanische Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa. Sie schlafen auf Matratzen, die dicht auf dem Boden der Lagerhalle aufgereiht wurden. Es ist nicht das erste Mal, dass Alice die Not der Flüchtlinge sieht und fotografiert.

Der Fotojournalismus steht seit jeher unter kritischer Beobachtung, besonders, wenn es um ethische Aspekte in Krisensituationen geht. Die Schriftstellerin Susan Sontag schrieb in ihrem Buch Über Fotografie „[…] there is something predatory in the act of taking a picture. To photograph people is to violate them, by seeing them as they never see themselves, by having knowledge of them that they can never have; it turns people into objects that can be symbolically possessed.” Laut Freelens, dem Berufsverband der deutschen Fotojournalist*innen und Fotograf*innen, hat journalistische Fotografie den Anspruch, einen „gefundenen Moment“ festzuhalten. Dieser sollte ohne die Einflussnahme der Fotograf*innen abgelichtet werden. Porträts stellen dabei eine Ausnahme dar. Des Weiteren sollen schutzbedürftige Personen und Opfer von Katastrophen mit Respekt, Rücksicht und Mitgefühl behandelt werden. Fotograf*innen sollten abwägen, „ob die Öffentlichkeit ein überwiegendes und vertretbares Informationsbedürfnis hat.“

Alice war schon immer von Kriegsfotografie fasziniert. Heute weiß sie, dass sie ihren Traumberuf durch eine rosarote Brille sah. Ihre Aufmerksamkeit für die Flüchtlingskrise wurde geweckt, als sie das Bild von Alan Kurdi sah. Der drei Jahre alte syrische Junge, der tot an einen Strand der Türkei gespült wurde. Alice spricht von ihm mit seinem vollen Namen. Sie hat ihn sich gemerkt. 2016 beschloss sie, freiwillig in einem Flüchtlingslager in Calais mitzuhelfen, dann in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze. Dort half sie für mehrere Monate, kochte für die Flüchtlinge ungefähr siebentausend Mahlzeiten am Tag. Ihre Kamera hatte sie immer

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Auch der Deutschen Pressekodex legt fest, dass die Berichterstattung bei Unglücksfällen und Katastrophen besonders respektvoll gegenüber den Opfern sein sollte. „Die vom Unglück Betroffenen dürfen grundsätzlich durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden.“ An diesen Leitlinien sollten sich die Fotograf*innen orientieren. Dennoch ist es ihm*ihr überlassen, nach eigenem Gewissen und Intuition zu entscheiden. Als Fotojournalist*in scheint man vor einem Dilemma zu stehen: Man ist Beobachter*in und sieht den Mitteilungswert einer Situation, aber man ist auch Mensch. Man will helfen. Man muss. Die Devise scheint zu lauten: „Erst fotografieren, dann helfen“. Das Einschreiten würde den Moment verfälschen. Dennoch

bleibt dem Betrachter*in des Bildes verborgen, welche Rolle der Fotografierende vor und nach der Aufnahme spielte. Diese Information kann nur ein Augenzeuge preisgeben. 1972 schoss Fotograf Nick Út das Foto The Terror of War, das die nackte, weinende Phan Thị Kim Phúc zeigt, die nach einem Napalmangriff aus ihrem Dorf flüchtete. Út fuhr das Mädchen, das starke Verbrennungen erlitten hatte, ins Krankenhaus. Stanley Forman fotografierte 1975 wie eine Frau von einer Feuerleiter in den Tod stürzte. Auch wenn er ihr nicht helfen konnte, hat der Akt des Fotografierens doch etwas Gefühlloses an sich. Für das Foto erhielt er sowohl einen PulitzerPreis, als auch die Auszeichnung „Pressefoto des Jahres 1975”. Auch Nick Út erhielt

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mehrere Auszeichnungen für The Terror of War. Die Liste der Pulitzer-Preisträger für Fotoberichterstattung liest sich wie ein Krimi – Gewalt, Tod, jegliche Art von Elend. Es scheint, als erfolgreiche Fotojournalist*in, müsse man das Leid der Menschen festhalten und zur Schau stellen. Im Dokumentarfilm War Photographer über Kriegsfotograf James Nachtwey meinte dieser, das Schlimmste an seinem Beruf sei das Gefühl, man schlage einen eigenen Nutzen aus dem Leid eines anderen. 1992 gewann er seinen ersten World Press Photo Award. Das Foto zeigt eine somalische Frau, die den verhüllten Leichnamen ihres verhungerten Kindes in den Armen trägt. Aber es sind auch Bilder, die zu Auslösern wurden. Die bewegt haben. Fotos wie The Terror of War und Dorothea Langes Mig-

rant Mother hatten Auswirkungen auf den Verlauf von Kriegen und Krisen. Dorothea Lange fotografierte 1936 eine Mutter mit ihren Kindern, die Opfer der Great Depression geworden waren. Das Bild wurde zum Sinnbild der Krise. „Ich glaube, dass ich einen wichtigen sozialen Auftrag erfülle, im Dienst der Öffentlichkeit“, sagte Nachtwey in einem Interview mit dem Tagesspiegel. „Meine Aufgabe ist es, für eine Sensibilisierung zu sorgen.“ Es sind Bilder die kosten. Sie kosten Aufmerksamkeit, kosten Empathie. Sie sind ein Appell an unsere Menschlichkeit. Durch Fotos können die Betrachter*innen eine Wirklichkeit auf eine Weise erfahren, wie es bei einem Nachrichtentext nicht möglich gewesen wäre. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte – aber Bilder können auch abstumpfen.

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„Hier bleibt der Mensch ein Mensch, nicht die Illustration eines Elends, dass es zu bemitleiden gilt.“

Professor Hansjörg Znoj von der Universität Bern beschreibt in einem Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung das Phänomen der Abstumpfung gegenüber Bildern von Katastrophen. Diese würden bei ständiger Bildberichterstattung dazu führen, dass sie für Zuschauer*innen die Relevanz verlieren würden. Gerade visuelle Reize würden oft direkt eine emotionale Reaktion auslösen und dabei das Bewusstsein übergehen. Doch anstatt emotional zu reagieren, hätten sich die Zuschauer*innen schon daran gewöhnt. Es sei eine Schutzfunktion, dennoch – laut Znoj – nicht von Dauer: „Bei der nächsten Katastrophe und den Bildern eines schlimmen Einzelschicksals empfinden wir sehr wohl wieder Trauer und Mitleid.“ Dabei steht Fotojournalismus im Zwiespalt einerseits, ein Sprachrohr für das Unaussprechliche zu sein und andererseits, nicht ein weiteres Bild zu sein, das zur Desensibilisierung der Betrachter*innen beiträgt. Nicht ein weiteres Bild, das im Angesicht von Leid nur durch die Kameralinse hinsieht. In einem Interview mit dem Guardian reflektiert Alice Aedy ihre Zeit als freiwillige Helferin im Flüchtlingslager. Ihr sei vor Augen geführt worden, wie einfach es ist, wegzuschauen und zu ignorieren, dass diese Menschen Opfer einer Krise sind und wir helfen können. Erst als der Guardian einige ihrer Fotos veröffentlichen, nannte sich Alice selbst Fotojournalistin. Sie erkannte, dass sie durch ihre Arbeit als Freiwillige eine viel engere Beziehung zu den Flüchtlingen auf bauen konnte als andere Fotojournalist*innen. Viele ihrer Fotos sind Porträts, ein Versuch die Ab-

stumpfung zu verhindern, die durch die Vielzahl der Fotos von Flüchtlingsbooten im Mittelmeer entsteht. Sie wollte auf die Individuen hinweisen und die Beobachter*innen einladen, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Unter jedem Bild erzählt Alice etwas über die Porträtierten. Von Reem, einer syrischen Englischlehrerin und Mutter. Von der neunjährigen Zayneb, die sich gerne verkleidet und die nachts Albträume plagen. Es sind nicht mehr Fremde, die mich durch den Bildschirm ansehen, es sind Menschen, zu denen Alice eine Beziehung hat. Sie haben eine Geschichte – und einer Zukunft. Ihre Fotografie lädt zum Hinsehen ein, weil sie nicht schockiert. Sie fordert kein Mitleid ein. Sie scheint nicht auszunutzen. Stattdessen vermenschlicht sie eine Statistik. Macht Zahlen zu Müttern, Vätern, Kindern, Schwestern und Brüdern. Hier bleibt der Mensch ein Mensch, nicht die Illustration eines Elends, dass es zu bemitleiden gilt.

Ein Text von Annegret Leichte

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Beschimpft, Bedroht, Geschlagen

Der alltag der Rettungskräfte „Notarzt mit Bierflasche geschlagen, während er Patientin versorgt.“ „Sanitäter warten im Rettungswagen auf Polizeischutz, weil Passanten mit Steinen werfen.“ „Rettungskräfte in der Silvesternacht mit Schusswaffen bedroht.“ Solche und ähnliche Meldungen liest man mittlerweile wöchentlich. Wie gehen Rettungskräfte mit solchen Situationen um? Welche Konsequenzen warten auf die Täter*innen? Die Rettungssanitäterin Julia Zwerschke beantwortet diese und weitere Fragen und gewährt einen Einblick in ihre Arbeit.

Julia, wie kam es dazu, dass du dich für die Mitarbeit im Rettungsdienst entschieden hast? Ich wollte schon immer mit Menschen arbeiten. Eine Zeit lang wollte ich sogar Medizin studieren. Als Medizinstudent*in muss man sich aber irgendwann für eine Fachrichtung entscheiden, während die Notfallmedizin interdisziplinär ist. Deshalb hat es mich schließlich dort hingezogen. Außerdem kann ich als Rettungssanitäterin Menschen im entscheidenden Moment helfen und nicht erst im Krankenhaus, wenn es vielleicht schon zu spät ist. Das Mindestalter für die Mitarbeit im Ehrenamt des DRK liegt bei 16 Jahren und kurz vor meinem 16. Geburtstag dachte ich mir, ich gehe einfach mal hin und probiere es aus. Und irgendwie bin ich hängengeblieben.

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Was sind deine Aufgaben beim Rettungsdienst? Die Aufgaben sind sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite gibt es den Sanitätsdienst. Wir betreuen verschiedene Veranstaltungen wie das Lichterfest, den Wasen und auch Blutspenden. Eine Extra-Betreuung vor Ort ist wichtig, denn falls etwas passiert, wäre das eine zu große zusätzliche Belastung für den Regelrettungsdienst. Außerdem gehöre ich zur Mitgliedervertretung des DRK. Zu meinen Aufgaben gehört unter anderem die Leitung unserer Jugendgruppen des Jugendrotkreuz. Ich gebe Erste-Hilfe-Kurse und beteilige mich an der Ausbildung und Fortbildung unserer eigenen Kräfte. Im Rettungsdienst arbeite ich sowohl im Krankenwagen als auch im Rettungswagen. Ich vergleiche das gerne so: Ein Krankenwagen ist eine reguläre Krankenstation auf Rädern und der Rettungswagen ist eine fahrende Mini-Intensivstation. Bei jeder Fahrt ist man immer zu zweit unterwegs. Krankenwägen machen primär geplante Fahrten, beispielsweise Dialysepatienten zu transportieren. (Anm. d. Red.: Dialyse ist eine Blutreinigung mittels eines Geräts im Krankenhaus, wenn die Nieren diese Aufgabe nicht mehr übernehmen können.) Rettungswägen sind die Fahrzeuge, die primär die Notfallrettung abdecken und auf die akuten Notfälle reagieren.

Immer wieder finden sich Schaulustige am Einsatzort ein und verfolgen das Geschehen. Manche nutzen dafür auch ihre Handys. Wie gehen du und deine Kolleg*innnen mit diesen sogenannten Gaffern um? Wir setzen uns nicht weiter mit ihnen auseinander. Klar, wenn sie im Weg stehen, müssen wir natürlich etwas sagen. Aber das Wichtigste in solchen Momenten ist, die Würde und Privatsphäre des Patienten zu wahren und ihn so schnell wie möglich in den Rettungswagen zu bringen. Denn die Zeit, die ich aufwende, um mit den Gaffern zu diskutieren, ist die Zeit, die mir fehlt, um am Patienten zu arbeiten.

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Durch welches Verhalten stellen Gaffer eine Gefahr dar oder können den Einsatz stören?

Wenn sie im Weg stehen, behindern sie uns darin, zu den Patient*innen zu kommen. Manche versuchen auch uns in Gespräche zu verwickeln. Wenn jemand ein Foto machen will, stört diese Person unsere Arbeit, denn sie muss ja nahe genug dran sein, um etwas zu sehen und dringt dabei meistens in den Raum ein, den wir zum Arbeiten brauchen. Durch die Fotound Videoaufnahmen verletzen diese Menschen außerdem die Privatsphäre des Patient*innen. Oft fahren Autofahrer*innen im Schritttempo an einem Unfallort vorbei oder halten sogar mitten auf der Fahrbahn an. Damit behindern sie den Verkehr und wir kommen mit unserem Wagen nicht mehr weg.

Immer wieder berichten Rettungskräfte von aggressivem Verhalten, wenn sie Schaulustige zurechtweisen. Welche Erfahrungen hast du damit gemacht? Ja, das kann durchaus unschön enden. Von Beleidigungen bis zu Handgreiflichkeiten kann da einiges auf einen zukommen. Auch schlagen, treten und spucken kommt vor. Deshalb versuche ich mich bewusst aus solchen Situationen raus zu halten. Man kann nie genau sagen, wie Menschen reagieren werden. Ich habe in so einer Situation auch schon mal von einem Schaulustigen eine Ohrfeige bekommen. Das macht dann wirklich keinen Spaß mehr.

Was ging dir in dieser Situation durch den Kopf? Fassungslosigkeit. (Pause) Er hat sich wohl in seinem Recht, die Situation zu beobachten, eingeschränkt gefühlt. Das ist im

„Wenn du so etwas erlebst, ist das natürlich immer eine psychische Belastung und irgendwann gehst du vielleicht mit Angst in den Dienst und kannst deinen Beruf nicht mehr ausüben.“ 02.11.2020 18:53:07


Prinzip dasselbe, wie wenn sich Menschen beschweren, dass wir während eines Einsatzes den Motor des Autos laufen lassen oder nachts um zwei mit Martinshorn durch die Straße fahren. Mein persönliches Negativ-Highlight war, dass sich ein Bürger getraut hat, einen Notarztwagen umzuparken, da dieser vor einer Einfahrt stand, aus der er mit seinem Mercedes herausfahren wollte. Das hat sicher etwas mit fehlendem Respekt und Verständnis für die Situation zu tun. Irgendwann muss man einfach… (Pause) sowas abschütteln und sich nicht davon beeinflussen lassen. Sonst kommt man nicht weiter.

Wie bereiten sich du und deine Kolleg*innen auf potenziell gefährliche Situationen vor? Ich denke, das macht jeder auf seine eigene Art und Weise. Du musst dir über die Zeit eine dicke Haut wachsen lassen und das alles nicht zu sehr an dich rankommen lassen. Sonst machst du diese Arbeit nicht sonderlich lang. Viele Kolleg*innen ziehen sich zurück, wenn es zu einer Gefahrensituation kommt. Wenn wir selbst verletzt oder in eine Prügelei verwickelt werden, können wir niemandem mehr helfen. Wir können immer die Polizei dazu rufen, wenn wir uns in einer Situation unwohl fühlen. Was bleibt uns dann anderes übrig, als uns im Auto einzuschließen und zu warten, bis die Beamten die Lage unter Kontrolle bringen?

Wenn schon bei der Meldung gesagt wird, dass der Einsatzort in einem sozialen Brennpunkt ist, schickt die Leitstelle direkt jemanden mit.

Gewalt zu erfahren ist ein belastendes Erlebnis. Welche Auswirkungen haben solche Erfahrungen auf dich und deine Kolleg*innen? Sie machen den Beruf auf jeden Fall schwieriger. Ich selbst hatte bisher das Glück, noch keine Gewalt in einem Ausmaß erfahren zu müssen, mit dem ich nicht mehr klarkomme. Wenn du so etwas erlebst, ist das natürlich immer eine psychische Belastung und irgendwann gehst du vielleicht mit Angst in den Dienst und kannst deinen Beruf nicht mehr ausüben, weil dir immer dieser Schrecken im Nacken sitzt. Wir erhalten psychologische Betreuung, um mit so etwas besser umgehen zu können.

„Als Rettungssanitäter kann ich Menschen im entscheidenden Moment helfen und nicht erst im Krankenhaus, wenn es vielleicht schon zu spät ist.“

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Werden Gaffer und Angreifer*innen von euch angezeigt und die Fälle weiter verfolgt? Auch in diesem Jahr stieg die Gewalt gegenüber Polizist*innen, Feuerwehrleuten und Rettungskräften in Baden Württemberg weiter an. Die Zahl der Straftaten gegen Rettungskräfte und Feuerwehrleute stieg auf 190 Fälle. Das ist eine Zunahme um 37 Prozent. Insgesamt wurden dabei 365 Menschen Opfer von körperlichen Angriffen, davon waren 243 Angehörige des Rettungsdienstes. Die Zahl der Angriffe liegt höher als die Anzahl der Straftaten, da in einigen Fällen mehrere Menschen bei demselben Zwischenfall verletzt wurden. Dies geht aus der diesjährigen Polizeilichen Kriminalstatistik hervor.

Hat sich dein Blick auf deine Arbeit durch die gewalttätigen Erfahrungen verändert? Ich rege mich darüber auf, was die Leute zu uns sagen und kann nicht nachvollziehen, wie sie sich uns gegenüber verhalten. Aber am Ende des Tages ist es unsere Aufgabe, Menschen zu helfen. Ich bin schon seit Jahren in dieser Blaulichtszene und ich finde es schade, dass es so wenig Anerkennung und Wertschätzung in jeglicher Richtung gibt. Meine Bewunderung für Menschen in diesem Beruf ist gewachsen. Sie haben das Durchhaltevermögen, 12 Stunden am Tag unter Strom zu stehen und halten extreme körperliche Belastungen aus. Wir haben mal die Ausrüstung gewogen. Durchschnittlich tragen wir 43 Kilogramm Materialien zu einem Einsatz. Auch psychisch müssen diese Menschen viel aushalten. Nicht nur, weil sie traumatische Ereignisse miterleben, sondern weil sie für ihre Mühen oft Ablehnung erfahren.

Es ist nicht unsere Aufgabe, uns mit Gaffern auseinander zu setzen. Wir müssen uns um unsere Patient*innen kümmern, sie versorgen und ins Krankenhaus bringen. Aber wenn jemand uns aktiv behindert, beleidigt oder angreift, kann es durchaus zu Anzeigen kommen. Wie fruchtbar das ist, ist natürlich eine andere Sache. Die Anwält*innen können immer argumentieren, dass ihr*e Klient*innen sich während des Einsatzes in einem emotionalen Ausnahmezustand befunden hat, weil sie nicht mit dem Gesehenen umgehen konnten. Und dafür darf man sie nicht verurteilen.

Es gibt auch Menschen, die in einer Notsituation helfen wollen, aber nicht wissen, wie man sich richtig verhält. Welche Tipps hast du? Schon bevor es zu einem Unfall kommt, empfehle ich jedem, regelmäßig einen Erste-Hilfe-Kurs zu machen, um up-todate zu bleiben. Wenn man als Erste*r zu einem Unfallort gelangt, hält man an und fragt, ob Hilfe benötigt wird. Man wählt den Notruf, wenn das noch niemand getan hat. Auf jeden Fall sollte niemand einfach weiterfahren und sich darauf verlassen, dass jemand anderes helfen wird.

„[…] die Zeit, die ich aufwende, um mit Gaffern zu diskutieren, ist die Zeit, die mir fehlt, um an Patient*innen zu arbeiten.“+ Wie sollte sich deiner Meinung nach die Situation der Rettungskräfte verändern? Mehr Rechtssicherheit für Rettungskräfte. Es gibt viele Grauzonen, die uns rechtlich in die Bredouille bringen können. Bessere Arbeitsbedingungen und mehr Gehalt. (lacht) Wenn jemand fragt, was das Schlimmste ist, das ich in meinem Dienst je gesehen habe, sage ich immer, mein

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Verstoß

Bußgeld (€)

Befahren des Seitenstreifens auf der Autobahn und dadurch die Rettungskräfte behindern

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Parken auf dem Seitenstreifen auf der Autobahn und dadurch die Rettungskräfte behindern

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Keine Rettungsgasse bilden

200 und 2 Punkte in Flensburg

Durch Rettungsgasse fahren

240 und 2 Punkte in Flensburg und 1 Monat Fahrverbot

„Gaffen“ als Ordnungswidrigkeit

20 bis 1.000

Unterlassene Hilfeleistung

Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr (Straftat)

Fotografieren oder Filmen eines Unfalls

Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren (Straftat)

Gehaltsscheck am Ende des Monats. Mehr Schutz und Anerkennung in der Gesellschaft würde ich mir auch wünschen. Ich denke, wenn man an diesen Dingen schraubt, wäre die Arbeit im Rettungsdienst auch für viele Berufseinsteiger*innen attraktiver.

Ein Text von Josephine Hennen

Die Fragen stellte: Josephine Hennen

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#ichbinkeinvirus „Ich traue mich ehrlich gesagt kaum noch einkaufen zu gehen, abgesehen von der Ansteckungsgefahr.“ „Sie haben auf mich gezeigt, ‚Corona‘ gerufen und gelacht.“ „Ich saß im Warteraum und habe mich gar nicht getraut, zu husten“. Drei Aussagen von Frauen, die mit mir ihre Erfahrungen zu Rassismus und Diskriminierung während der Corona-Pandemie geteilt haben. Jede*r spricht über das Virus, aber wer spricht über die rassistischen Vorfälle, die diese Krise mit sich gebracht hat? Die Corona-Krise ist für uns allgegenwärtig und schränkt viele Menschen in ihrer Arbeits- und Lebensweise enorm ein. Im Dezember 2019 brach das Coronavirus SARS-CoV-2 in der chinesischen Stadt Wuhan aus und hat sich seitdem über den ganzen Globus ausgebreitet. Mit dieser Ausbreitung haben auch Unbehagen und Vorurteile gegenüber Asiat*innen zugenommen. Dazu kommt, dass Medien wie beispielsweise die heute-show den Begriff „Kung flu“, eine Mischung aus dem Titel des Kinderfilms Kung Fu Panda und der englischen Bezeichnung für Grippe verwendeten, um damit das Coronavirus als eine chinesische Krankheit darzustellen. Das Unbehagen der Leute schlug schnell in Abneigung um, und so sahen sich viele Menschen asiatischer Abstammung plötzlich mit Rassismus konfrontiert, da mal wieder alle Asiat*innen in einen Topf geworfen wurden, und so für viele folgendes Bild entstand: Das Virus stammt aus China, alle Asiat*innen sind Chines*innen und somit sind alle ansteckend. Eine Französin asiatischer Herkunft hat mit dem Hashtag #jenesuispasunvirus (#ichbinkeinvirus) angefangen, sich im Netz dagegen zu wehren. Sie rief anonym auch andere dazu auf, ihre Erfahrungen mit Rassismus im Hinblick auf das Coronavirus zu teilen. „Die Gesundheitskrise des Coronavirus hat rassistische Parolen in den Medien und den sozialen Netzwerken hervorgerufen“, schreibt sie zu ihrem Post.

Mit der Bewegung #ichbinkeinvirus sollen Menschen ein Zeichen gegen Ausgrenzung und offenen Rassismus setzen. Innerhalb weniger Wochen wurde der Hashtag auf Instagram in unterschiedlichen Sprachen tausendfach geteilt. Ich hörte mich in meinem Studiengang um und war schockiert, als mir auch in meinem Umfeld gleich drei Personen von solchen Erfahrungen berichten konnten. Eileens Mutter kommt aus Taiwan, ihr Vater ist Deutscher. Sie selbst ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Mit dem Hashtag #ichbinkeinvirus kann sie sich identifizieren. Als die Ausbreitung des Virus in Deutschland noch nicht so prekär war, musste Eileen wegen einer normalen Grippe zum Arzt. Die anderen Patient*innen im Warteraum musterten sie bereits beim Betreten des Raumes argwöhnisch, allen voran eine ältere Frau. „Ich habe mich gar nicht getraut, zu husten und als ich es nicht mehr unterdrücken konnte, hat sich die ältere Dame sofort weggesetzt. Das hat mich traurig gemacht“, erzählt sie. Einige würden behaupten, dass das doch gerechtfertigt sei und die ältere Dame sich nur zum Schutz weggesetzt haben könnte. Aber hätte sie sich wirklich auch bei jedem*jeder anderen Hustenden weggesetzt, oder hat Eileens Herkunft sie in ihrer Entscheidung nicht doch bestärkt? Sobald ein Mensch aufgrund seiner „Rasse“ kategorisiert und verurteilt wird, spricht man von Rassismus. Und wenn die Reduzierung eines Menschen auf seine

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„Sie haben auf mich gezeigt, ‚Corona‘ gerufen und gelacht.“

Herkunft nicht als rassistische Diskriminierung gilt, dann frage ich mich, wo Rassismus denn sonst anfängt? Noch offensichtlichere Erfahrungen haben meine Kommilitoninnen Patchara und Lisa erleben müssen. Patchara ist in Thailand geboren, schon mit fünf Jahren nach Deutschland gezogen und hier aufgewachsen. Auch Lisa ist Deutsche, ihre Eltern stammen aus Vietnam. Beide haben keine engere Verbindung zu China als jede*r andere in Deutschland. Trotzdem wurden sie allein anhand ihres Aussehens als Asiatinnen abgestempelt und mussten offenen Rassismus am eigenen Leib erfahren. Lisa war auf dem Weg nach Hause, als sie an drei Männern am Stuttgarter Hauptbahnhof vorbeilief. Einer der drei Männer zeigte auf sie und rief: „Corona!“ Alle drei lachten. „In dem Moment war ich schockiert, wie sich die Leute daraus einen Spaß machen können“, berichtet sie über ihre Erfahrung mit rassistischer Diskriminierung auf offener Straße. „In solchen Situationen ist es wichtig, den Menschen zu zeigen, dass sie etwas Rassistisches gesagt haben“, meint Lisa. Kurzerhand ging sie zu den drei Männern und vermittelte ihnen eine klare Botschaft: „Bitte halt dein Maul, du Rassist!“ Das ist zwar eine etwas unkonventionelle Weise, es auszudrücken, aber oftmals ist es Leuten nicht bewusst, dass sie sich rassistisch geäußert haben. Deshalb ist es noch wichtiger, sie darauf hinzuweisen und ihnen mitzuteilen, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung war.

Auch Patchara hat Diskriminierung aufgrund ihrer Abstammung beim Einkaufen erlebt. Es wurde auf sie gezeigt, über sie wurde gelacht und ihr wurden Beleidigungen hinterhergerufen. „Ich traue mich ehrlich gesagt kaum noch, einkaufen zu gehen, abgesehen von der Ansteckungsgefahr“, verrät sie. Besonders wenn Leute sich einen Spaß daraus machen, andere aufgrund ihres Aussehens bloßzustellen, macht sie das traurig und wütend zugleich. „Ist das Spaß? Ich finde, in einem öffentlichen Raum rassistische Äußerungen zu machen, ist nicht in Ordnung“, betont sie. Diese Erfahrungsberichte sind nur drei von vielen. Allein, dass der Hashtag #ichbinkeinvirus so oft geteilt wurde, zeigt uns, wie viele Menschen schon aufgrund der Corona-Pandemie diskriminiert wurden. Es ist ein Thema, über das geredet werden sollte. Auch dieser Beitrag zeigt nur einen kleinen Ausschnitt des großen Ganzen. Viele Menschen erfahren immer wieder rassistische Diskriminierung in ihrem Alltag. Da sollte man sich selbst mal fragen: Wo fängt Rassismus eigentlich an? War diese Aussage gerade rassistisch? Und egal ob es unbeabsichtigt war oder nicht, sag‘ etwas dagegen.

Ein Text von Selina Hellfritsch

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Muh, Mäh, Missionierung Vegetarische und vegane Ernährung werden oft als Trend wahrgenommen und nicht als Lebenseinstellung, die auf dem Wunsch nach mehr Umweltbewusstsein und Respekt vor Lebewesen basiert. Für viele Fleischesser*innen ist es aber schwer, ganz auf Fleisch zu verzichten; der Kompromiss sind meist Bioprodukte und ein Augenmerk auf Haltung und Schlachtung. Ist das genug? James Beard, ein amerikanischer Koch, sagte einst „Food is our common ground, a universal experience” – und für den Großteil der Menschen stimmt das auch. Unser Essverhalten ist abhängig von dem Land und der Kultur, in der wir aufwachsen, doch innerhalb unserer sozialen Gruppen sind wir uns beim Essen so einig wie selten. Diese Klischees fangen bei Schwaben an, bei denen eher Spätzle und Maultaschen auf den Tisch kommen, und hören bei Asiaten auf, deren Gerichte vor allem auf Reis basieren. Seit alternative Ernährungsformen auf dem Vormarsch sind, hat sich jedoch diese Einigkeit in Bezug auf Essen stark verändert. Der Esstisch, seit jeher ein Ort der Zusammenkunft, wird in ein neues Licht gerückt: Plötzlich ist er Schauplatz für Diskussionen und fördert den Meinungsaustausch. An so einen Esstisch setzen wir eine Veganerin und einen überzeugten Fleischesser und lassen sie darüber diskutieren, wie weit Missionierung in Essensangelegenheiten gehen darf. Adriana ist 21 Jahre alt, studiert Lehramt in Karlsruhe und ist seit knapp vier Jahren überzeugte Veganerin. Ihr Gegenüber heißt Markus; der 25-Jährige studiert Luft- und Raumfahrttechnik in Stuttgart.

Nächster Stopp: Realität

In der westlichen Gesellschaft wachsen die meisten Kinder mit einer sehr romantisierten Darstellung von Nutztierhaltung

„Man darf diesen Opfern eine Stimme geben, auch am Esstisch.” auf – vor allem jene, die nicht zufällig in einer sehr ländlichen Gegend oder auf einem Bauernhof wohnen. Glücklich grasende Kühe, die dem*der Bauer*in Milch geben, weil sie zu viel davon haben; gackernde Hühner, die links und rechts Eier legen und ihre Küken aufwachsen sehen dürfen; Schweine, die sich vor Vergnügen grunzend im Dreck suhlen. Allerspätestens seit Filmen wie „Cowspiracy” oder „Dominion” ist dem Großteil der Menschen klar, dass die Realität viel düsterer ist. Das kann für Kinder in Bezug auf tierische Produkte zum Problem werden. „Bei Kindern sollte das Thema Tierhaltung von Anfang an thematisiert werden”, findet Adriana, „oder zumindest Bemühungen angestellt werden, dass keine falschen Illusionen vermittelt werden.” Kinderbücher, die Geschichten von glücklichen Kühen auf einer saftigen Weide erzählen, sind für sie nicht in Ordnung. „Den Kindern so etwas als wahr oder real zu vermitteln, trägt zu einem falschen Bild der Realität bei”, sagt die 21-Jährige aus Karlsruhe, die sich seit 2016 vegan ernährt. Sie ist der Meinung, dass dieses Vermitteln von Wissen auch ganz ohne verstörende Bilder geht, die man beispielsweise

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von der Tierrechtsorganisation PETA kennt. „Ich würde die Fakten nennen und Kernpunkte wie Umweltverschmutzung, die eigene Gesundheit, Tierhaltung und die Moral dieser Industrie thematisieren.”

Dass diese Fakten unbequem sein können – vor allem am Esstisch – weiß die Lehramtsstudentin. Darüber zu sprechen findet sie aber „absolut in Ordnung”: „Auch wenn nicht danach gefragt wurde – ich meine, die tote Kuh oder das tote Schwein wurden sicherlich auch nicht um ihre

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Meinung gebeten, als es um ihr Schlachten ging”, sagt Adriana. „Man darf diesen Opfern eine Stimme geben, auch am Esstisch.” Fleischesser Markus sieht das anders: „Als Gast ist die Missionierung am Esstisch definitiv nicht okay. Nach dem Essen kann man aber durchaus über das Thema reden.” Jemanden „auf Teufel komm raus” zu missionieren halte er aber für eine schlechte Idee – „insbesondere, wenn man weiter mit der Person befreundet sein will.” In diesem Punkt stimmt Adriana in gewisser Weise auch zu. Sie betont, dass sie niemanden krampfhaft belehren möchte, sondern allerhöchstens aufklären, wofür ein gemeinsames Essen mit Freund*innen aber nicht die richtige Kulisse ist, „sondern dann, wenn man sich in Ruhe darüber unterhalten und austauschen kann.”

Alles nur Gewöhnungssache

Dieser Austausch zwischen Veganer*innen und Fleischesser*innen verläuft nicht immer ganz friedlich. Viele Menschen reagieren auf gut gemeinte Ratschläge sehr defensiv, egal, auf welche Seite der Ernährungsideologien sie sich stellen. Für den Gegenüber ist das oft frustrierend: „Ich für meinen Teil suche die Diskussion unmittelbar beim Essen selten. Meiner Erfahrung nach macht die Person durch die erhobene Kritik sofort dicht”, erklärt Adriana. So erfolgversprechend wie durch eine Wand zu tunneln – so beschreibt Markus es. „Veganer*innen und Vegetarier*innen sind meistens nette Leute, mit denen man gut über die unterschiedlichen Lebensstile reden kann”, sagt er. Zwei seiner Mitbewohnerinnen seien Vegetarierinnen, mit ihnen versteht er sich gut. Aber: „Wenn man versucht, mich zu bekehren, bin ich schnell genervt.” Ob das an der Herangehensweise liegt? Ein Vorwurf, mit dem Vegetarier*innen und Veganer*innen oft kämpfen, ist die Missionierung. Auf Adriana trifft das nicht zu: „Bekehren geht schon mal gar nicht, das finde ich auch andersherum blöd. Dabei begegnet man

sich nicht mehr auf einer Ebene.” Das Endziel bleibe aber, dass sich möglichst viele Menschen vegan ernähren. Für Omnivoren – also jene, die alles essen – und auch Vegetarier*innen ist das anfangs aber oft schwer. Zu groß ist die Angst vor Verzicht und Einschränkung. In manchen Fällen kommen eine knappe Haushaltskasse, Essstörungen oder gesundheitliche Probleme erschwerend hinzu. Reicht es denn schon, sich aus Tierliebe und für den Schutz der Umwelt bewusster zu ernähren, aber nicht sofort auf jegliche tierische Produkte zu verzichten? „Für mich ist es absolut in Ordnung, nicht von jetzt auf gleich vegan zu leben. Man muss sich an einiges gewöhnen und viel ausprobieren, um herauszufinden, was schmeckt und was nicht”, findet Adriana. Viele Ersatzprodukte machen es Neu-Vegetarier*innen und Neu-Veganer*innen vor allem in den ersten Wochen und Monaten leichter, auf bestimmte tierische Lebensmittel zu verzichten. Auch Markus hat solche Produkte schon probiert und findet, dass ein großer Unterschied zu Tierfleisch besteht: „Das bedeutet nicht, dass es schlecht schmeckt, aber es ist nun mal kein Fleisch und hat weder den Geschmack, noch die Konsistenz davon.” Eine vegetarische oder vegane Ernährung steht für ihn trotzdem außer Frage, erzählt er. „Dafür schmeckt mir Fleisch zu gut. Ich denke aber, dass ich einen soliden Kompromiss gefunden habe.” Welchen Kompromiss er meint? „Vor ungefähr acht Monaten habe ich meinen wöchentlichen Fleischkonsum von ungefähr 1500 Gramm primär Wurst auf ungefähr 500 Gramm primär Fleisch reduziert”, erklärt der 25-Jährige. Geflügel esse er fast gar nicht mehr, Schwein nur noch selten, dafür versuche er aber, den Anteil an Wild zu erhöhen. Bei Fisch achtet er darauf, ob die Art überfischt ist und meidet Aquakulturen.

„Wenn man versucht, mich zu bekehren, bin ich schnell genervt.” 85

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3,99 € – der Preis für ein Leben?

Die moralische Vertretbarkeit beim Konsum von Tierprodukten, insbesondere von Fleisch, bleibt weiterhin ein konfliktgeladenes Thema. In einem Punkt stimmen sich aber Fleischesser*innen, Vegetarier*innen und Veganer*innen zu: Billigfleisch hat nichts mit artgerechter Haltung und Schlachtung zu tun. Beim Preis von knapp 4 Euro für marinierte Hähnchensteaks in der 500-Gramm-Packung, die es beim deutschen Discounter mit dem großen A zu kaufen gibt, bleibt nicht viel Geld für Mindestabstand oder gar Auslauf. „Meiner Meinung nach ist es moralisch nicht vertretbar, Discounterfleisch zu essen, denn Fleisch aus nicht artgerechter Tierhaltung gehört für mich verboten. Fleischkonsum im Allgemeinen kann ich aber mit meinem Gewissen vereinbaren”, erklärt Markus. Für Adriana ist das kein Argument: „Fleisch zu essen ist nie moralisch vertretbar, egal woher es kommt.” Die Illusion einer glücklichen Kuh, die beim*bei der Biobauern*Biobäuerin nicht

eingepfercht im Stall steht, sondern auf einer Almwiese weidet, hielten wir nur für unser eigenes Gewissen aufrecht. „Am Ende wird sie genauso tragisch ermordet wie die Kuh aus konventioneller Haltung.” Markus hält dagegen: „Kühe, die auf Almwiesen grasen, gibt es durchaus noch, aber es ist leider sehr selten geworden. Da sollte man wieder hin, am besten mit einem Verbot zur Massentierhaltung.” Eine Kuh, die von einem*r fähigen Schlachter*in geschlachtet würde, oder ein Reh, das von einem*r fähigen Jäger*in geschossen würde, leide weniger, als wenn ein Wolf es reißt, meint der 25-Jährige. „Ich rede hier nicht von riesigen Schlachtbetrieben, denn von denen habe ich auch schon krasse Sachen gehört.”

Ein Text von Angelina Neuwirth

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UNd die Moral von Dem Gericht: Stiehl die Lebensmittel nicht

Wenn ich an Gesetzesbrecher*innen denke, dann stelle ich mir einen Mörder oder Vergewaltiger vor. Menschen, die weggeschmissene Lebensmittel mitnehmen, kamen mir bisher nicht in den Sinn. Dennoch ist das sogenannte „Containern“ in Deutschland illegal. Caro und Franzi wurden dabei erwischt, Alex kam bisher ohne Polizei davon. Fakt ist: Sie haben eine Straftat begangen. Doch für welche Seite würdest du dich entscheiden: Das moralisch Gute oder das Gesetz? Drei Millionen Tonnen Lebensmittel werden laut WWF jedes Jahr von Supermärkten weggeschmissen. Wie kann man das zulassen? Genau das haben sich die beiden Studentinnen Caro und Franzi gefragt. Die Mitbewohnerinnen sind zusammen Containern gegangen, sie haben sich also an den Lebensmitteln der SupermarktMülltonnen bedient. Das überschreitet in Deutschland eine gesetzliche Grenze. „Wir waren anfangs relativ naiv und hatten nicht im Kopf, dass wir etwas Schlimmes tun könnten“, gestehen sich die beiden mittlerweile ein. Auch Online-Aktivist Alex Cio macht kein Geheimnis daraus, dass er regelmäßig die Mülltonnen von Edeka, Aldi und Co aufsucht: „Als ich das erste Mal containert habe, bin ich krass erschrocken, wie viel gutes Essen in Mülltonnen liegt.“ Dieser „Müll-Klau“ ist bei ihm bereits acht Jahre her. Seitdem haben sich seine Grundsätze allerdings nicht geändert: Er will auf die Problematik der Lebensmittelverschwendung hinweisen. Mittlerweile nutzt er dafür seine Reichweite im Internet. Seine

Videos und Bilder von den vollen Mülltonnen sorgen regelmäßig für Aufmerksamkeit in den Kommentarboxen. „Unter meinen YouTube-Videos bekomm ich Kritik, dass ich Illegales mach, indem ich klaue. Natürlich ist das Containern laut Gesetz verboten, aber ich versuche ja etwas am Problem zu ändern.“ Auch in seinem Umfeld stößt er nicht selten auf Negatives. „Die meisten Menschen empfinden Ekel. Ich muss damit leben, dass viele meiner Freunde mein Essen nicht wollen.“ Bei seiner ehemaligen Arbeitsstelle kamen immer wieder Bemerkungen der Kolleg*innen. „Ich wurde ausgelacht, weil ich Essen aus Mülltonnen nehme“, blickt er auf seine Zeit als Programmierer zurück. Viel mediale Aufmerksamkeit haben auch die Studentinnen Caro und Franzi erhalten. Anders als Alex wurden die beiden nämlich bei einem nächtlichen Streifzug erwischt. „Plötzlich standen vor uns zwei Polizisten in Uniform. Wir waren vorher noch nie in so einer Situation, es war angsteinflößend“, erinnern sie sich an die Nacht vor zwei Jahren zurück.

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Das Resultat: Acht Sozialstunden und 225 Euro Geldstrafe auf Bewährung. „Sollten wir uns schuldig fühlen, dafür, dass wir Müll einen Sinn geben?“ Mit dieser Frage sind sie nicht nur in die Öffentlichkeit getreten, sondern auch vor Gericht. „Wir sind nicht Containern gegangen, um es zu legalisieren, wir wollten einfach Lebensmittel retten. Aber durch den Prozess ist es zu unserer Passion geworden, den gesellschaftlichen Diskurs anzustoßen, indem man eine gesetzliche Antwort auf eine moralische Fragestellung findet.“ Als nächstes werden sich Caro und Franzi dem Bundesverfassungsgericht stellen. Wer ein solches Verfahren nicht riskieren will und kein Gesetz „für das Gute“ brechen möchte, der hat trotzdem viele andere Möglichkeiten, aktiv gegen die Lebensmittelverschwendung zu werden.

Auch Alex ist das Risiko bewusst: „Es ist Diebstahl, Hausfriedensbruch und versuchte Sachbeschädigung.“ Dennoch ist er überzeugt, dass er alles richtig macht, solange nichts kaputt geht oder dreckig gemacht wird. Sollte auch er erwischt werden, weiß er, wie er reagieren würde: „Wenn ein Polizist einen bittet, etwas zurückzulegen, dann sollte man nach den Regeln handeln und auf ihn hören. Offiziell ist er ja im Recht.“ Damit war es aber für Caro und Franzi nicht getan. Mit einem Strafantrag des Supermarktes am Hals wurde gegen die jungen Frauen wegen „besonders schweren Falls des Diebstahls“ vorgegangen.

Alex rät dazu, bei dem nächsten Supermarktbesuch das Gespräch mit dem Filialleiter zu suchen. „Konfrontiert ihn aber nicht mit bloßen Vorwürfen, fragt stattdessen lieber nach, wie viele Lebensmittel weggeschmissen werden“, schlägt er vor. Wenn jeden Tag 30 Menschen Fragen stellen würden, dann müsse sich etwas ändern. „Denn wir wollen, dass Lebensmittel gar nicht erst in der Mülltonne landen“, fordert Caro. „Die Legalisierung von Containern ist nämlich auch nicht die Lösung des Gesamtproblems“, bekräftigt Franzi. Die Lebensmittel seien global gesehen immer noch unfair verteilt. Daran wird auch Containern nichts ändern. „Wir müssen aber diese Teilschritte leisten, um das ganze System zu ändern“, ist sich Alex sicher. Erst wenn wir unseren privilegierten Lebensstandard runtersetzten – also keine Bananen im Januar kaufen oder den halben Inhalt des Kühlschrankes wegwerfen, weil ein Produkt abgelaufen ist – dann könnte sich unsere Welt tatsächlich ein Stück verändern.

Ein Text von Alina Braun

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Das team Initiativleitung

Angelina Neuwirth, Ricarda MĂźterthies, Lorena Boss

Akquise

Jennifer Dypka, Josephine Hennen, Sophie Kliesa

BLog

Denise Ott, Sophie Kliesa, Sophia Suckel, Carla Benzing, Selina Hellfritsch, Franziska Roth, Elena Grunow

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Layout

Madeline Helmreich, Franziska Roth, Mona Steininger, Josephine Hennen, Bianca List, Evelyn Krix, Katrin Wahl

Lektorat

Denise Ott, Sophia Suckel, Julia Herschberger, Alina Braun, Janina Hofmann, Elena Grunow

Social Media - PR

Fabienne Schackert, Annegret Leichte, Selina Hellfritsch, Carla Benzing, Sophie Kliesa

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Redaktion

Alina Braun, Annegret Leichte, Carla Benzing, Denise Ott

Elena Grunow, Fabienne Schackert, Franziska Roth, Janina Hofmann

Jessica Morlock, Josephine Hennen, Lucinda Kirchhoff,

Selina Hellfritsch, Sophia Suckel, Tom Beyer

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Impressum Danksagung Wir danken zuallererst allen VielSeitigMitgliedern, die von der Redaktion bis zum Druck engagiert mitgearbeitet haben. Besonders bedanken wir uns natürlich bei unseren Hauptverantwortlichen, die mit Begeisterung unsere vielen Ressorts geleitet haben. Unser besonderer Dank gilt auch Markus Meider, Heiko Gatawis, Sebastian Paul und Bernhard Michl, die uns beim Druck der VielSeitig stets mit Rat und Tat unterstützt haben. Weiter danken wir der Verfassten Studierendenschaft, ohne die unsere VielSeitig so nicht möglich gewesen wäre. Herzlichen Dank auch an all unseren Sponsoren für die finanzielle Unterstützung. VielSeitig - Die Studierendenzeitschrift an der Hochschule der Medien

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Verfasste Studierendenschaft Logo Eine Initiative der VS der Hochschule der Medien Nobelstraße 10, 70569 Stuttgart Tel.: 0711/8923-2631 E-Mail: vs@hdm-stuttgart.de Druck und Weiterverarbeitung Hochschule der Medien Auflage: 700 Exemplare Bildquellen: Seite 8: ©entwederoderbeides, Seite 10: Simon Mössler, Seite 15: unsplah, Seite 18:, Seite 20: Pixabay, Seite 22: , Seite 27,32: unsplash, Seite 36: Pixabay, unsplah, Seite 41: PRIO, Seite 45: unsplash, Seite 50: americanmink, Seite 54: Fabi Schackert, Seite 64: unsplash, Seite 70: Bastian Walthierer, flickr, Seite 80: Eileen Wagner, Seite 83: unsplash

Blog: vielseitig.vs.hdm-stuttgart.de

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