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Stellenweise geradezu gefährlich: Die Lüge Rudolf Bussmann als Liebesdienst Vladislav Jaros

Stellenweise geradezu gefährlich: Die Lüge als Liebesdienst

Zweimal falsch gespiegelt. Mola der Cuna-Indianer aus Panama.

Bild: © Susanne Mathies

Ein Alligator im Abteil

Ich blättere in einem Manuskript, das zu begutachten mich ein Bekannter gebeten hat. Der Text ist so trocken, dass mir die Blätter immer wieder aus der Hand zu rutschen drohen. Da plötzlich, irgendwo gegen die Mitte zu, nimmt mich ein Satz gefangen: «Der Arzt griff nach dem Alligator.» Das Manuskript beginnt mich auf der Stelle zu interessieren. Ich vertiefe mich in den Text, der gar nicht so übel ist, wie ich dachte. Einen Absatz später bemerke ich den Irrtum. Es heisst nicht Alligator, sondern Applikator. Ich habe mich verlesen, weil die junge Frau, die mir gegenüber sitzt, das Wort Alligator in ihr Handy sprach, als meine Augen beim Wort Applikator waren. Ich lehne mich zurück, schliesse die Augen und höre ihr zu. «Ja», sagt sie, «auch Krokodile und Kaimane, Boas, Leguane und ein Chamäleon. Nächsten Monat trete ich den Job an.» Mein Handtelefon klingelt. «Hast du meinen Text angesehen?», will der Bekannte wissen. «Wie findest du ihn?» «Packend», sage ich zerstreut. «Stellenweise geradezu gefährlich.»

Das Objekt

Der Assistenzarzt Dr. Haller bekam am Morgen des 15. April in der Klinik, in der er ein Praktikum absolvierte, einen Anruf. Eine Frau, die sich als Rosa Wendlinger vorstellte, bat ihn, in ihre Wohnung zu kommen, um sie von einer Chimäre zu befreien. Am Vorabend, als sie vom Besuch bei einer Freundin nach Hause zurückgekehrt sei, habe sie in ihrer Stube ein unbekanntes Objekt erblickt. Das Objekt befand sich ungefähr auf Augenhöhe über dem Tisch und hatte, wie Frau Wendlinger sagte, Form und Grösse einer Kirsche. Da sie bei ihrer Freundin dem Alkohol ein wenig zugesprochen hatte – nicht mehr als üblich, wie sie betonte, allerdings auch nicht weniger –, habe sie beschlossen, das Objekt, das auf keiner erkennbaren Unterlage ruhte und von kei-

nem Faden gehalten wurde, einer Sinnestrübung zuzuschreiben, und sich zu Bett gelegt. Jetzt aber zweifle sie an ihrem Verstand und brauche Hilfe. Noch vor Mittag betrat Dr. Haller Frau Wendlingers Wohnung im dritten Stock eines unauffälligen Mietshauses am Stadtrand. Die Frau, die ihm die Tür aufhielt, war bleich und machte einen verstörten Eindruck. Sie sei, sagte sie, noch nicht restlos davon überzeugt, dass es sich nicht um ein Produkt ihrer Fantasie handle und warte darauf, dass Doktor Haller sie von ihrem Hirngespinst erlöse. In ihrer Stimme nahm der Arzt ein leichtes Zittern wahr. Noch im Korridor fasste er nach ihrer Hand und mass ihren Puls. Er war nur leicht erhöht. Sie führte ihn direkt zur Stube und trat beiseite. Haller sah das Objekt sofort, es stand auf Augenhöhe über dem Tisch. Als er sich von der ersten Verblüffung erholt hatte, trat er näher und ging dann langsam um den Tisch, ohne es aus den Augen zu lassen. Rot war es und hatte, wie von Frau Wendlinger geschildert, Form und Grösse einer Kirsche. Er schirmte es mit den Händen auf alle Seiten ab, weil er den Verdacht hatte, es handle sich um eine Lichtprojektion, mit der ihn Frau Wendlinger, die er auf etwa siebzig schätzte, zum Narren halten könnte. Das Objekt blieb. Er stiess es mit dem ausgestreckten Zeigefinger an, ohne dass es sich bewegte, worauf er es in die Hand nahm und sie schloss. Er spürte nichts. Als er seine Faust öffnete, war es wieder da. Haller überlegte, was zu tun war. Seine Erfahrung lehrte ihn, dass es in den meisten Fällen besser war, ein Produkt der Einbildung stehen zu lassen, als es vorschnell wegzureden. «Und?», fragte Frau Wendlinger, «sehen Sie es auch?» «Ich sehe genau das, was Sie beschreiben», antwortete er, «oder ich bilde mir dasselbe ein.» Seine Antwort schien die Frau nur halb zu beruhigen. Immerhin war etwas Farbe in ihr Gesicht zurückgekehrt. Die Stube war geschmackvoll eingerichtet, auf Simsen und Gestellen standen Gegenstände aus anderen Kulturen, wahrscheinlich Erinnerungen an Reisen. An den Wänden hingen Bilder, keine Reproduktionen, wie er feststellte, sondern Originalgemälde, Landschaften, ein Stillleben, zwei Mädchen lesend auf einer Treppe. Vielleicht war Frau Wendlingers Mann Maler gewesen.

«Einbildung?», sagte sie. «Ich weiss, die Welt ist voll davon. Mit ihr lassen sich grosse Reden schwingen und Kriege führen. Mit ihr lässt sich Politik machen. Aber wenn Sie und ich dasselbe Objekt sehen, ist das keine Einbildung. Mag sein, es ist unerklärlich, aber doch eine Tatsache. Nehmen Sie einen Kaffee?» Noch während er seinen Kaffee trank und vom Kuchen, den ihm seine Gastgeberin hingeschoben hatte, ein Stück kostete, beschloss Haller, von Rosa Wendlinger keine Patientendatei anzulegen und über seinen Besuch keinen Rapport zu schreiben. Er wollte sich bei seinen Kollegen und Vorgesetzten nicht mit einem Bericht über einen Gegenstand lächerlich machen, dessen Existenz durch nichts, aber auch gar nichts zu beweisen war. Einige Tage später rief er die Frau an und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Mit frischer Stimme bedankte sich Rosa Wendlinger für seinen, wie sie sich ausdrückte, professionellen Liebesdienst. «Sie haben mir das Beste gegeben, was Sie mir geben konnten», sagte sie. «Sie haben bestätigt, dass ich sehe, was ich sehe.» Und da er nicht gleich eine Antwort bereit hatte, setzte sie hinzu: «Es hat in meiner Wohnung, wie Sie gewiss bemerkt haben, viele Gegenstände; sie sind mir gleichermassen ans Herz gewachsen. Wenn ich am Morgen erwache, gehe ich aber zuallererst in die Stube, um nachzusehen, ob das Objekt über dem Tisch noch da ist. Es ist mir von allem, was ich habe, weitaus das wertvollste.»

Der Zug

Von Genf nach Zürich verkehrt ein Zug. Der fährt fahrplanmässig um 9.15 Uhr von Genf ab und trifft im Verlauf des Spätsommers in Zürich Hauptbahnhof ein. Manchmal wird es auch Herbst. Auch dann sei es früh genug, um die Geschäfte zu erledigen, die zu erledigen seien. Das sagen, die ihn benutzen, und es sollen von Mal zu Mal mehr sein.

Die Eiscreme

Liebenswerte Lügen

Sommerhitze. Nach einer heissen Nacht stehe ich mit meiner Freundin am Bahnhof einer kleinen italienischen Ortschaft. Wir warten auf den Schnellzug. In umgekehrter Richtung fährt ein Regionalzug ein. «Ich gehe zum Kiosk Eiscreme kaufen», sage ich. «Okay», sagt sie. Als ich zurückkomme, in jeder Hand einen Pappbecher mit Eiscreme gefüllt, sehe ich die Liebste mit einem jungen gutaussehenden Italiener flirten. Dieser steht am Zugfenster und wirft ihr mit den Fingern der rechten Hand imaginäre Küsse zu. Entweder hat er nicht realisiert, dass ich zu ihr gehöre, oder er ignoriert mich einfach. Sie hat mich noch nicht bemerkt. Ich bleibe hinter ihr stehen. «Wie ich sehe, hast du schnell gute Gesellschaft gefunden», sage ich. «Es wäre eine Situation wie in einem Film von Fellini, wenn du zu ihm eingestiegen wärst, der Zug würde just im Moment meiner Rückkehr losfahren und ihr beiden würdet mir aus dem Fenster zum Abschied winken.» Sie dreht sich um, das Gesicht errötet, schwer zu sagen, ob von meinen Worten oder von der Sonne, während der Zug langsam anfährt und mitsamt dem Mann am Fenster verschwindet. «Das wäre auch eine Möglichkeit», sagt sie kühl mit dem Ausdruck ertappter Femme fatale. «Hättest du mir die Eiscreme trotzdem gegeben?» «Freilich. Ich wäre dem Zug nachgerannt und hätte euch die beiden Eiscremebecher durchs Fenster gereicht.» «Einfach so?», fragt sie verwundert. «Ja.» «Und was hättest du dann getan?» «Mir eine neue Eiscreme gekauft.»

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