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Editorial
from orte 212
Liebe Leserinnen und Leser
Hand aufs Herz, mal ganz ehrlich – wann haben Sie das letzte Mal gelogen? Oder fragt man das nicht so geradeheraus? Sieht man uns das Lügen an der Nasenspitze an, wenn wir es tun, bis sich die Balken biegen oder wir das Blaue vom Himmel heruntergelogen haben? Eigentlich müsste einer, der lügt, kurze Beine, eine lange Holznase und keine Kleider haben. Denn so habe ich es mir in meiner Kindheit vorgestellt, als Osterhase, Weihnachtsmann und der Mann im Mond für mich noch ganz real waren. Mein Lieblingsmärchen war Des Kaisers neue Kleider – alle logen mit, und keiner wollte die Wahrheit zugeben, bis auf ein Kind. Kindermund tut Wahrheit kund! So wären wir bei den Volksweisheiten, die auch besagen, wer flüstert, der lügt oder wer einmal lügt, dem glaubt man nicht mehr. Was hat es mit der Lüge auf sich? Darum soll es auf den nächsten Seiten gehen – ungelogen. Brigitte Fuchs’ Gedicht ist hinreissend schön, wenn das Licht Fenster in den Tag brennt oder wenn Walle Sayer in seinem Aus dem Repertoire des Schwindlers das flüchtende Kommazeichen mit der Fliege einfangen lässt. Das Garn der Lüge dieser orte-Ausgabe wird von Notlügen, über verlogene Beziehungen bis hin zu knallharten Lügen gesponnen, und dabei werden so einige Lügengeschichten und Lügenmärchen aufgetischt – ein «Tischlein deck dich der Lügenkunst» – überzeugen Sie sich selbst. Der Thementeil wurde von Susanne Mathies, Erwin Messmer und Monique Obertin kuratiert. Im hörorte begrüssen wir ab dieser Nummer, jeweils im Wechsel mit Redaktionsmitglied Peter K. Wehrli, die Mitglieder des Hörbuchstudios der Schweizerischen Bibliothek für Blinde-, Seh- und Lesebehinderte (SBS) Zürich mit Beiträgen aus ihrer «Hörbuchküche». Ein Zwischenruf ist dem ehemaligen orte-Redaktionsmitglied Claus Bremer und seinem Schaffen als Lyriker und bildender Künstler gewidmet. Am Ende, auf unserem marktplatz, wird diesmal geflüstert, was gerade in Sachen Hutmode und Essigdichtung angesagt ist.
Schreiben Sie mit. Lügen Sie, flüstern Sie und erzählen Sie, bis sich die Balken biegen oder Sie das Blaue vom Himmel geholt haben.
Viel Vergnügen. Annekatrin Ranft-Rehfeldt