5 minute read

Einleitung

Kommen Sie mit auf eine Reise durch die Zeit, die bei den Ursprüngen der Naturheilkunde in Appenzell Ausserrhoden beginnt. Hier hat die Lands gemeinde 1871 gegen den Willen der Regierung den Grundsatz der freien Heiltätigkeit in der Kantonsverfassung verankert. Machen Sie sich vertraut mit Menschen, die sich mit aller Kraft dafür eingesetzt haben, dass die so genannte Kurierfreiheit auch danach erhalten blieb, dass nebst patentierten Ärzten auch Natur- und Laienärzte Patientinnen und Patienten behandeln, ihre Gebresten heilen und ihre Gesundheit stärken durften.

Es waren anfänglich vor allem Männer mit Ecken und Kanten, die sich immer wieder Anfeindungen von etablierten Ärzten und Professoren sowie seitens der Presse ausgesetzt sahen. Unter ihnen war aber auch eine Frau, eine der bekanntesten Schriftstellerinnen der damaligen Zeit, die in einem Roman ein ganz anderes Licht auf den Nutzen natürlicher Heilmethoden warf, als es in weiten Teilen der Schweiz üblich und verbreitet war.

Entdecken Sie die turbulente Vereinsgeschichte rund um den Grün dungspräsidenten, der dreimal als Präsident amtete und als «Vereinsvater» bezeichnet wurde, später aber seine Urkunde als Ehrenmitglied zurückge ben musste. Nehmen Sie sich die Musse, in eine Welt einzutauchen, in der die Appenzeller in Ausserrhoden versuchten, der Kurierfreiheit auch in an deren Kantonen zum Durchbruch zu verhelfen und sie gegen Angriffe seitens der etablierten Medizin, aber auch gegen Missbräuche und Diffamierungen aus den eigenen Reihen zu verteidigen.

Versetzen Sie sich zurück in eine Zeit, in der Patientinnen und Patien ten, die auf die Naturheilkunde vertrauten, in Scharen im Appenzellerland Hilfe suchten. Aus der ganzen Schweiz, aber auch von weit her, aus Deutschland, Europa und der übrigen Welt, strömten sie in vollen Auto bussen oder mit privaten und öffentlichen Verkehrsmitteln während Jahrzehnten nach Appenzell Ausserrhoden mit seinen vielen Naturärzten und Kurhäusern. Denn andernorts stand ihnen meist nur die etablierte Medi zin zur Verfügung, die ihnen oft nicht helfen konnte oder sie mit Mitteln und Methoden behandelte, die nicht selten erhebliche Nebenwirkungen zur Folge hatten.

Kein Wunder, war die freie Heiltätigkeit der Ärzteschaft – im Verbund mit der immer stärker aufkommenden Pharmaindustrie und ihren synthe tisch hergestellten Arzneimitteln – ein Dorn im Auge. Mit Hilfe der Politik und der Medien versuchte sie, die unliebsame Konkurrenz zurückzudrän gen, wo sie nur konnte – ausser in Appenzell Ausserrhoden auch in Baselland, wo die freie Heiltätigkeit nicht zuletzt dank der NVS ebenfalls Fuss gefasst hatte. Willkommene Schützenhilfe boten den Kritikern jene zuwei len auch dubiosen Laienpraktiker, die vor allem in der Wirtschaftskrise der Dreissigerjahre und in den Nachkriegsjahren ohne hinreichende therapeu -

tische Kenntnisse oder mit viel Geschäftssinn ausgestattet ihr Glück im Appenzellerland versuchten.

In der Folge wurden damals sämtliche Naturärztinnen und Naturärzte seitens der Ärzteschaft in einen Topf geworfen und samt und sonders als Kurpfuscher und Scharlatane gebrandmarkt und lächerlich gemacht. Das führte dazu, dass die NVS vorerst selbst versuchte, auf der Grundlage einer fachlichen Prüfung der eigenen Mitglieder die Spreu vom Weizen zu tren nen. Diese frühe Form einer Verbandsprüfung setzte sich aber nie richtig durch, und auch das Vorhaben einer kantonalen Prüfung scheiterte in Ap penzell Ausserrhoden mehrfach, zum Teil unter sehr kontroversen Umständen. Und in Baselland, wo eine kantonale Prüfung 1947 eingeführt worden war, diente sie vorerst nur dazu, die Naturärzte auf höchst unzimperliche Weise grösstenteils aus dem Weg zu räumen.

Ein Hauptproblem in der Auseinandersetzung zwischen der westli chen, von der Naturwissenschaft geprägten Schulmedizin und der tatsächlich von der Natur und natürlichen Zusammenhängen und Vernetzungen inspirierten Naturheilkunde waren und sind die völlig unterschiedlichen Behandlungsphilosophien. Das hoben die Exponenten der NVS schon früh immer wieder hervor.

Der Schulmedizin liegt ein materialistisches Weltbild zugrunde, sie legt ihren Fokus zur Hauptsache auf den physischen Körper und seine Or gane sowie auf die jeweilige Krankheit. Für die Naturärztinnen und -ärzte stellte demgegenüber der Mensch seit jeher eine Einheit von Körper, Seele und Geist dar. Entsprechend waren und sind Krankheit und Gesundheit für sie vielschichtige Phänomene und Prozesse, die nicht allein den physischen Körper umfassen.

Aus Sicht der Naturheilkunde ist jemand krank, weil sein Organismus aus dem Gleichgewicht geraten ist. Entsprechend besteht das Hauptziel da rin, ihn mit unterstützenden, möglichst sanften Methoden wieder in die Balance zu bringen und die körpereigenen Selbstheilungskräfte zu stärken. Invasive, im wahrsten Sinn einschneidende Mittel und Methoden sind aus ihrer Sicht nur dann am Platz, wenn die Selbstheilungskräfte zu schwach sind oder eine Notfallsituation vorliegt.

Im Zuge des wachsenden Umweltbewusstseins, des «Zurück zur Na tur» und einer kritischen Sicht auf die Technik gewann diese ganzheitliche Sichtweise zunehmend an Gewicht. Damit stieg auch das Interesse für die Naturheilkunde. Vorerst eher zögerlich – gebrannte Kinder scheuen das Feuer – begann die NVS, sich auch den Medien gegenüber zu öffnen, die nun vermehrt auch positiv über ihre Heilverfahren und Heilerfolge berichteten. Dank eines engagierten Naturarztes aus den eigenen Reihen, der wich tige Kontakte zu den Krankenversicherern möglich machte, etablierten die- Einleitung

se Zusatzversicherungen für naturheilkundliche Verfahren. Dabei kam der NVS sehr zugute, dass sie, auch in Zusammenarbeit mit dem Kanton Ap penzell Ausserrhoden, schon vor langem Prüfungsgrundlagen erarbeitet hatte, um die Qualität dieser neuen Angebote zu garantieren. Das war denn auch die Zeit, in der die NVS von einem kleinen, vor allem von den örtli chen Ausserrhoder Naturärzten und Heilpraktikerinnen getragenen Verein binnen kurzem zu einem Grossverband mit rund 3500 Mitgliedern und ei ner eigenen Schule für Naturheilkunde wurde.

Allerdings wurde dieses rasche Wachstum der NVS abrupt gestoppt. Den Grund dafür können Sie ebenfalls diesem Buch entnehmen. Mit den vereinten Kräften aller in der Schweiz im Bereich der Naturheilkunde akti ven Organisationen gelang es jedoch im Mai 2009, die Komplementärmedizin, wie sie nun offiziell genannt wurde, in der schweizerischen Bundesverfassung zu verankern. Gestützt darauf wurden die Naturheilkunde und die Komplementärtherapie 2015 zu eidgenössisch anerkannten Berufen.

Ohne die NVS mit ihrem unbeirrten 100-jährigen Einsatz für die Na turheilkunde und ohne die liberale Gesetzgebung in Appenzell Ausserrhoden, der «Wiege» der natürlichen Heilverfahren in der Schweiz, wäre dies wohl nicht möglich gewesen. Auch in Zukunft wird die Naturärzte Vereini gung Schweiz aktiv dazu beitragen, dem wertvollen Schatz der Naturheilkunde Sorge zu tragen und ihn weiter zu mehren.

Dieses Buch basiert vor allem auf den – auch historisch wichtigen – Unterlagen, die ich im Archiv der NVS vorgefunden habe, sowie einigen zusätzlichen, im Internet leicht zugänglichen Dokumenten. Ich bedanke mich beim Vorstand und beim Co-Präsidium der NVS, dass ich in einer intensiven Zeit «Mehr als Medizin» erarbeiten durfte, und hoffe, dass das Buch viele interessierte Leserinnen und Leser finden wird. Herzlich danken möchte ich auch all jenen, die mir wertvolle Hinweise und Tipps gegeben haben – ohne sie hier alle namentlich zu nennen –, sowie den Mitarbeiten den des Verlagshauses Schwellbrunn für die kritische Durchsicht und schöne Gestaltung des Buches. Ich hoffe, es wird viele interessierte Leserinnen und Leser finden.

Speicherschwendi, den 5. Januar 2020 Hans-Peter Studer

This article is from: