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Die NVS-Gründungsjahre
DIE NVS-
GRUNDUNGS- JAHRE

«Heilpflanzen und Hausmittel» von Vizepräsident Jacob Gyr-Niederer.

Gründungspräsident Hermann Ulrich Ottinger.
In dieser kreativ-spannungsgeladenen Zeit wurde am 4. Juni 1920 von einer kleinen Gruppe von Homöopathen und Naturheilkundigen die Naturärzte Vereinigung Schweiz NVS ins Leben gerufen, allerdings noch nicht unter diesem Namen. Das Gründungsprotokoll ist in den Akten der NVS nicht mehr vorhanden, aber im Protokoll der Versammlung vom 3. September 1922 ist eine aufschlussreiche kurze Orientierung durch den 1879 geborenen Gründungspräsidenten Hermann Ulrich Ottinger enthalten:
Er betont, wie unser Verband eigentlich nur wenig Mitglieder aufweise, und wie leider diese wenigen zumeist nicht an den jeweiligen Versammlungen erscheinen. Im kurzen Rückblick gedenkt er der Gründungs-Versammlung am 4. Juni 1920 und erwähnt dabei den alten Namen: Organisation für freie Heil-Praxis. Die verschiedenen Namensänderungen, die unser Verband in zwischen erfahren hat, tun nichts zu Sache; im Gegenteil verschleiern sie unsere kleine Zahl etwas. Der Kampf hat in seinen Vorbereitungen bereits begonnen. Bezügliche Artikel werden erwidert, wo wir angegriffen werden. Die Verteilung der Broschüre «Volksmedizin» durch die Kollegen Keller und Gyr ist gegenwärtig im Gange.
Hermann Ulrich Ottinger (manchmal schrieb er sich auch Ulrich Herrmann Ottinger) war Homöopath und Naturarzt in Watt-Riethüsli an der Grenze zur Stadt St.Gallen und mit seinem grossen Bart eine stattliche Erscheinung. In der Patentschrift Nr. 47326 vom 20. März 1909 des Eidge
7 Zit. in Jütte (Alter und neuer Pluralismus) 173
nössischen Amts für geistiges Eigentum, in der er einen odisch magnetischen Heilapparat zum Patent anmeldete, wird er als Yogi Hermann Ulrich Ottinger bezeichnet.
Vizepräsident des Verbands war zuerst Wilhelm Rath aus Niederteufen und ab 1922 der Naturarzt Jacob Gyr-Niederer aus Gais. Er hatte 1917 unter dem Titel «Heilpflanzen und Hausmittel» einen Nachtrag zu Kräuterpfarrer Künzles bekanntem Buch «Chrut und Uchrut» veröffentlicht. Von Gyrs Buch wurden bis 1930 475000 Exemplare verkauft. In der Ausgabe von 1926 wird sein Selbstverständnis als Kräuter- und Laienarzt deutlich, indem er schreibt: Wenn nun die Herren Ärzte ihr grosses Wissen dazu benützen würden, in Zukunft weniger giftige, für den Körper schädliche Mittel, dafür mehr gift freie, natürliche Anwendungen zu verordnen, sowie noch mehr für Krankheitsvorbeugung einzutreten, dann kann und wird der Laie seine Siebensachen zusammenpacken und den staatlichen Vertretern der medizinischen Wissenschaft das Arbeitsfeld der hehren Heilkunst kampflos überlassen. 7 Als Aktuar amtete im ersten Jahrzehnt des Verbands der deutsche Staatsbürger Hugo Nennewitz aus Walzenhausen, der dort 1909 eine Lie genschaft erworben und darin eine Pension samt Naturheilanstalt eingerichtet hatte, die während fast drei Jahrzehnten regen Zuspruch und Zulauf fand. Dank seiner relativ ausführlichen Protokolle wurden nebst Geschäft lichem auch viele pikante und amüsante Details zum Vereinsgeschehen und darüber hinaus für die Nachwelt festgehalten. Freie Heiltätigkeit als umstrittenes Spannungsfeld
Freie Heiltätigkeit als umstrittenes Spannungsfeld Wie der ursprüngliche Vereinsname «Organisation für freie Heil-Praxis» deutlich macht, bestand der Hauptzweck des Verbands darin, die freie Heil tätigkeit im Kanton und darüber hinaus zu schützen. Hierzu wollte er möglichst viele Naturärzte zusammenführen und andererseits gegen Scharlatane in den eigenen Reihen vorgehen, um den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Eine kleine Gruppe engagierter Männer brachte für damalige Verhält nisse beträchtliche finanzielle Mittel auf – für den 15. August 1921 wies der Revisorenbericht ein Vereinsvermögen von 4540 Franken aus, jener vom 4. Oktober 1922 bereits ein solches von fast genau 5000 Franken. Die Gruppe traf sich monatlich zu Versammlungen und Kommissionssitzungen im Res taurant Dufour in St.Gallen. Um böses Blut im Volk zu vermeiden, wurde beschlossen, die Zahl der Ausländer in der Kommission, wie der Vorstand damals genannt wurde, auf höchstens zwei zu begrenzen. Gleichzeitig wur de festgehalten, dass immer mindestens vier Kommissionsmitglieder Schweizer sein müssten.

Markanter Briefkopf mit dem Strahlenauge als Signet.
Es stellte sich jedoch bald heraus, dass es nicht einfach werden würde, die gesetzten Ziele zu erreichen. Das lag zuerst einmal an Formalitäten, al lein schon, was den Verbandsnamen anbelangte. Während etlicher Sitzungen wurde darum gerungen, wie er genau lauten solle. Im oben erwähnten Protokoll vom 3. September 1922 mit dem Briefkopf «Verband der Homöo pathen und Naturheilkundigen der Schweiz» ist die Rede davon, dass der Verband nun schon vier Namen gehabt habe. Gleichzeitig wurde beschlos sen, ihn in «Schweizerischer Verband der Homöopathen & Naturärzte» zu ändern.
An der nächsten Sitzung vom 8. Oktober 1922 wurde der Name jedoch erneut geändert – in «Schweizerischer Naturärzte- und Homöopathen-Ver band» – und blieb in der Folge für längere Zeit bestehen. Als Signet wurde das Auge, vorerst mit dem Schriftzug «Freiheit – Volksheilkunde» einge führt, das fortan den Briefkopf zierte und während Jahrzehnten Bestand hatte.
Das Protokoll derselben Sitzung verdeutlicht auch, wie sehr ein pro duktives Verbandsleben dadurch erschwert wurde, dass verschiedene Mitglieder bis hinauf ins Präsidium über Ecken und Kanten verfügten, die eine konstruktive Zusammenarbeit nicht immer einfach machten. Diese Sitzung wurde nun vom Vizepräsidenten Gyr geleitet, mit der Begründung, Präsi dent Ottinger habe «seinen Rücktritt und gleichzeitig seinen Austritt aus dem Verband erklärt». Er sei entschlossen, «sich den Dr. Oriental-Titel zu kaufen. Da das gegen unsere Statuten gehe und Ottinger nicht nachzugeben gedenke, so habe er seinen Austritt mitgeteilt». Zwar setzten sich einige Vorstandskollegen dafür ein, Kollege Ottinger solle doch wenigstens Mit glied bleiben, wählten aber daraufhin Jacob Gyr einstimmig zum neuen Präsidenten. Die Mitgliederliste umfasste nun 21 Namen, darunter Fräulein Güdel aus Wolfhalden als einziges weibliches Mitglied, sowie drei ausser kantonale Mitglieder.
Im Protokoll der nächsten Monatssitzung ist vermerkt, Kollege Ot tinger habe auf den Erwerb des amerikanischen Doktortitels verzichtet und dazu bewogen werden können, im Verband zu bleiben. Gleichzeitig wurde