UZH Magazin 2/25

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ausserdem:

Wurm und Dinosaurier — 10

Aufmüpfige Autorinnen — 16

Von Zwingli zur UZH — 48

UZH magazin

Die Zeitschrift für Wissenschaft & universitäres Leben

TIEFE EINBLICKE

Was Bilder erzählen — 26

Farbige Krebszellen, simulierte Galaxien, KI-generierte Helden

Bilder spielen in der Wissenschaft eine wichtige Rolle. Sie helfen Forschenden, die Welt besser zu verstehen und zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. An der UZH arbeiten Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Disziplinen mit bildgebenden Verfahren, Simulationen und Bildanalysen, etwa um biologische Prozesse, kosmische Ereignisse und kulturelle Entwick­

lungen zu untersuchen. Im Dossier dieses UZHMagazins zeigen wir, wie sie mit Bildern arbeiten und was sie dabei herausfinden.

In seinem Labor auf dem Campus Irchel analysiert der Systembiologe Lucas Pelkmans mit Hilfe modernster mikroskopischer Verfahren, wie sich Zellen und ganze Zellgruppen bei Krankheiten verändern. Seine Forschung trägt dazu bei, Krebstherapien zu verbessern und Patient:innen gezielter und individueller zu behandeln. Pelkmans ist Mitbegründer des Tumor Profiler Center, wo sich Forschende der UZH, der ETHZ und des Basler Universitätsspitals zusammengeschlossen haben, um die biologische Bildgebung für die personalisierte Krebstherapie nutzbar zu machen.

Bildgebende Verfahren sind auch für die Hirnforschung zentral. Sie helfen, unser Denkorgan besser zu verstehen. Der Neurowissenschaftler Fritjof Helmchen und sein Mitarbeiter Nikita Vladimirov haben ein spezielles Lichtscheibenmikroskop entwickelt, mit dem sich die Anatomie von Hirngewebeproben dreidimensional und bis auf die Ebene von einzelnen Nervenzellen und Synapsen betrachten lässt. Mit solchen immer präziseren Bildern steigt auch die Datenmenge, die ausgewertet werden kann. «Es ist schwierig geworden, die Fülle an Informationen aus den Bildern herauszuziehen»,

sagt Bioingenieurin Virginie Uhlmann, «von blossem Auge kommt man nirgends mehr hin». Deshalb nutzen Forschende immer öfter KI, um Strukturen in Bildern zu finden und zu analysieren. Uhlmann, die das im letzten Jahr an der UZH gegründete BioVisionCenter leitet, unterstützt sie dabei.

Während Forscher wie Lucas Pelkmans und Fritjof Helmchen sich mit biologischen Prozessen im Mikrobereich beschäftigen und diese sichtbar machen, blicken Ravit Helled und Lucio Meyer in die unendlichen Weiten des Weltalls. Mit Simulationen, die sie mit Hilfe von Supercomputern realisieren, zeichnen die beiden Astrophysiker:innnen die Entstehung und Entwicklung von Planeten, Sternen und Galaxien nach. Sie machen damit erklärbar, weshalb das Universum so aussieht, wie es sich durch Teleskope beobachten lässt. Aus dem Weltall lassen sich auch neue Erkenntnisse zur ökologischen Situation auf der Erde gewinnen. So kann der Fernerkundungsspezialist Alexander DammReiser aufgrund von Satellitenbildern ganze Ökosysteme analysieren und die Umweltsünden von Unternehmen sichtbar machen.

Auch Geistes­ und Kulturwissenschaftler:innen arbeiten in ihrer Forschung mit Bildern. So hat der Historiker Felix K. Maier zusammen mit dem Computerlinguisten Phillip Ströbel ein KI­Tool entwickelt, mit dem antike Szenen historisch fundiert erzeugt werden können. Mit den so generierten Bildern wollen die beiden Forscher realistische Rekonstruktionen der Vergangenheit ermöglichen, neue Forschungsfragen generieren und Geschichte interaktiv zugänglich machen. Auch der Bild­ und Medienwissenschaftler Roland Meyer beschäftigt sich mit digitalen Bildwelten. Er untersucht, wie sich unsere Wahrnehmung von Bildern in den sozialen Medien verändert hat und richtet einen kritischen Blick auf KI­generierte Bilder. «Die radikale Rechte liebt generative KI», sagt er. Wie er zu dieser These kommt, erklärt er in diesem Heft.

Wir wünschen Ihnen aufschlussreiche Einsichten, Ihre UZH-Magazin-Redaktion, Thomas Gull & Roger Nickl

Analysiert biologische Bilddaten mit KI: Virginie Uhlmann.

16

GERMANISTIK

Aufmüpfige Autorinnen — 16

In den 1970er-Jahren gründeten Frauen eigene Verlage und experimentierten mit neuen Schreibweisen. Zwei Germanistinnen haben den literarischen Aufbruch erforscht.

EVOLUTIONSBIOLOGIE

Wurm und

Dinosaurier

— 10

Jordi Bascompte kann erklären, wie die ersten komplexen Zellen entstanden sind, aus denen sich Pilze, Pflanzen, Tiere und Menschen entwickelt haben.

ONE HEALTH

Weltkarte der Krankheiten — 20

Thomas Van Boeckel sucht nach globalen Mustern von Infektionskrankheiten und Antibiotikaresistenzen, um sie einzudämmen.

IM FELD — 25

Urzeitliche Riesendelfine

TIEFE EINBLICKE

Was Bilder erzählen — 26 bis 47

Bilder: Die Autorin Laure Wyss, Keystone; Marc Latzel Satellitenbild: Phytoplanktonblüte nahe Gotland, USGS/Unsplash

Sie machen Krebszellen sichtbar, simulieren die Entstehung von Galaxien und Planeten, schauen dem Gehirn beim Lernen zu, machen Umweltschäden sichtbar, analysieren, wie KI-generierte Bilder instrumentalisiert werden, und zeigen, wie die Römer gelebt haben. Forschende der UZH arbeiten mit Bildern, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.

PORTRÄT — José Oberholzer Mit dem Roboter im OP — 54

Der Transplantationschirurg erforscht Zelltherapien für Diabetes und war weltweit einer der Ersten, die mit Hilfe eines Roboters Organe verpflanzten.

UZH LIFE — 500 Jahre «Prophezey»

Zwinglis Bibelschule

— 48

Vor 500 Jahren legten die Zürcher Reformatoren in der «Prophezey» die Bibel aus. Sie war die Keimzelle der heutigen Universität Zürich.

INTERVIEW — Polina Lukicheva/Philippe Tobler Aus der Balance — 58

Unsicherheit kann belastend sein, aber auch eine Chance, um Neues zu lernen, sagen die Sinologin und der Ökonom.

RÜCKSPIEGEL — 6

BUCH FÜRS LEBEN — 7

DAS UNIDING — 7

DREISPRUNG — 8

ERFUNDEN AN DER UZH — 9

IMPRESSUM — 65

NOYEAU — 66

Durchgestrichener Teil im Jahresbericht der UZH 1856.

Streichungen der Erziehungsdirektion eingereicht. 1855 startete das damalige

Polytechnikum seinen Betrieb. Die räumlichen Verhältnisse für die junge Hochschule waren prekär und Teile davon in Gebäuden der nur wenig älteren UZH untergebracht.

Offenbar entfaltete das Zusammenkommen der jungen Männer im Wintersemester 1855/56 eine gewisse Dynamik. Es wird von mehreren «angeblich vollzogenen» Duellen berichtet, aber auch von nächtlicher Ruhestörung, bei der «ein Bediensteter der Stadtpolizei erheblich verletzt wurde». Das Polytechnikum monierte via Presse, dass «die Verbindung mit den Studirenden der Hochschule ungünstig auf die Disciplin der Polytechniker einwirke». Der akademische Senat meinte dazu: «In wie fern dieß gegründet ist, lassen wir dahingestellt, da der Beweis bei der uns mangelnden Erfahrung mit einem ganz reinen Polytechnikum ebenso schwer zu führen ist als

die Widerlegung.» Tatsache aber sei, dass die Zahl der Vorfälle zugenommen habe.

Im durchgestrichenen Teil des Jahresberichts heisst es weiter: «Ferner steht nach den Aussagen der Pedellen fest, daß, seitdem die Polytechniker in unsern bescheidenen Raum eingezogen sind, kindische Streiche, wie sie Schulknaben, nicht Studenten eigen zu sein pflegen» vorgekommen seien. Unter anderem «Schneeballenwerfen, Fensterzerbrechen und andere muthwillige Beschädigungen des Hochschulgebäudes». Ein Jahr später waren die Vorfälle immer noch Thema, aber die Lage hatte sich sichtlich beruhigt. Kein Student der UZH wurde vom Bezirksgericht verurteilt. Vermerkt wurde aber noch, dass die «groben nächtlichen Exzesse» von Studenten des Polytechnikums begangen worden seien. Zwar mussten einige Studenten «zur Friedfertigkeit und Verträglichkeit» ermahnt werden. Weitere Schritte blieben aber aus. Auch, weil «die Schuld auf beiden Seiten» lag. Übrigens: Die Jahresberichte aus diesen Jahren sind mittlerweile auch als Digitalisate online auf der Website des Staatsarchivs zu finden. Martin Akeret, UZH Archiv

CAS IN THEORY AND HISTORY OF PHOTOGRAPHY

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«Schwarze Haut, weisse Masken»

Bücher zu lesen und zu vermitteln, insbesondere literarische, ist zentraler Teil meiner Arbeit – ein grosses Privileg, denn ich bin überzeugt, dass Literatur uns formt, indem sie uns mit neuen Arten der Welterschliessung konfrontiert. Eine der für mich prägendsten Lektüren war «Peau noire, masques blancs» (1952; dt. «Schwarze Haut, weisse Masken») von Frantz Fanon. Die poetische und intellektuelle Kraft, mit der der damals 27-Jährige die Berufung des Menschen beschreibt, ist für mich schlicht grandios.

Fanon waren nur 36, jedoch sehr intensive Lebensjahre vergönnt. Geboren 1925 auf Martinique, schloss er sich 1943 den «Forces Françaises Libres» unter de Gaulle an. Der dort erlebte Rassismus schärfte seinen Blick für die sozialpsychologischen Mechanismen der kolonialen Gesellschaftsordnung. Nach dem Medizinstudium in Lyon war er ab 1953 Co-Leiter der psychiatrischen Klinik Blida-Joinville in Algerien, wo er bald auch verwundete Unabhängigkeitskämpfer behandelte. 1956 zog er nach Marokko und unterstützte von dort aus den algerischen Freiheitskrieg. 1961 starb er an Leukämie.

Bei François Tosquelles, Psychiater im französischen Saint-Alban, hatte Fanon Anfang der 1950er-Jahre

eine neue Therapieform kennengelernt: Die Kranken wurden nicht wie damals üblich ausgegrenzt, sondern in die Gemeinschaft integriert. Dieser auf menschlicher Würde basierende Ansatz zeichnet auch «Peau noire, masques blancs» aus, eine «klinische Studie», deren Inhalt untrennbar an die poetische Ausdruckskraft des Autors gebunden ist.

Fanon diagnostiziert der kolonialen Gesellschaft eine tiefgreifende «aliénation». Unterdrückte und Unterdrückende definieren sich in gegenseitiger Abhängigkeit, bald aufwertend, bald abwertend, nie aber urteilsfrei und auf Augenhöhe. Beide sind historisch bedingt in einem zerstörerischen Kreis gefangen. Im Dialog mit Philosophie und Literatur liefert Fanon eine Anamnese und ermutigt zur Heilung. Nur wo es keine Form der Festschreibung mehr gibt, ob durch Hautfarbe oder Vergangenheit, ist «désaliénation» und damit Selbstbestimmung möglich: «Il ne faut pas essayer de fixer l’homme, puisque son destin est d’être lâché … c’est en dépassant la donnée historique, instrumentale que j’introduis le cycle de ma liberté.» – «Man soll den Menschen nicht zu fixieren suchen, denn seine Bestimmung ist es, losgelassen zu werden … indem ich die historische, instrumentale Gegebenheit überwinde, eröffne ich den Zyklus meiner Freiheit.» Geschichte wird damit nicht verneint, sondern dorthin gerückt, von wo aus sie Bewegungsfreiheit erlaubt.

Fanons Feder ist scharf – «trop d’imbéciles» bevölkern die Welt – und zutiefst poetisch. Nur wo das dichterische Wort mitredet, ist man, stets fragend, dem Menschsein auf der Spur: «Ô mon corps, fais de moi toujours un homme qui interroge!» Fanons Stimme scheint mir aktueller denn je.

Ursula Bähler ist Professorin für Französische Literaturwissenschaft und Geschichte der Romanischen Philologie an der UZH.

DAS UNIDING

Der Monstervogel

Eine Kreatur wie aus «Jurassic Park» oder doch eher ein gewaltiger Vogel? Mit einem Schnabel so lang wie ein menschlicher Arm ragt das Skelett über die Köpfe der Besucher:innen hinweg und könnte nachts im Naturhistorischen Museum der UZH für so manchen Schreck sorgen. Der Monstervogel erinnert mit seiner Grösse an einen kleinen Helikopter und wirkt doch irgendwie vertraut. Auf Nachfrage stellt sich heraus: Er ist ein Fake! In der Vitrine nebenan hockt das Original –18-mal kleiner, eine kommune Elster! Das Riesenskelett wurde von der Star-Anatomin aus England Katrina van Grouw gebaut. Das war gar nicht so einfach, denn das CT-gescannte Elsterskelett musste an die Hüfthöhe und den Brustkorbumfang des Allosaurus angepasst werden, der gleich vis-à-vis steht. Die Idee war, zu vermitteln, dass die herkömmliche Elster auf Augenhöhe mit den Dinosauriern ist.

Das Mirakel der Vögel, über deren Existenz sich die Darwinisten den Kopf zerbrachen, wurde erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gelöst, als nachgewiesen werden konnte, dass die Vögel die letzten lebenden Dinosaurier sind. Der berühmteste Urvogel Archaeopteryx ist zwar nicht der direkte Vorfahre aller Vögel, aber deren enger Cousin, und vermittelt so einen guten Eindruck davon, wie die frühen vogelähnlichen Dinosaurier aussahen.

«Vögel sind Dinosaurier, genau wie Fledermäuse Säugetiere sind», erklärt Dennis Hansen vom Naturhistorischen Museum. So auch die Elster, die im Naturhistorischen Museum an Metalldrähten hängt und sich über menschlichen Besuch freut, um ihre imaginäre Federpracht aufzuplustern und ihre Geschichte zu erzählen. Mia Catarina Gull

Wann sind wir im Gleichgewicht?

Dynamisches

Spiel

Im strengen Sinn sind wir nur im Gleichgewicht, wenn wir uns nicht bewegen. Jede Bewegung bringt eine kleine Störung mit sich, die das Gehirn blitzschnell und unbewusst ausgleicht. Dabei verliert der Körper für wenige Millisekunden die Balance – so kurz, dass wir es kaum merken. Möglich wird das durch präzise Reflexe, die vom Gleichgewichtsorgan im Innenohr zu den Augen- und Körpermuskeln führen.

Gleichgewicht ist also kein stabiler Zustand, sondern ein dynamisches Spiel ständiger Korrekturen. Dass wir im Liegen, Sitzen oder Stehen scheinbar stabil sind, heisst allerdings nicht, dass unser Gleichgewichtssystem gesund ist. Die häufigste Störung, der gutartige Lagerungsschwindel, entsteht durch lose Kristalle im Innenohr und zeigt sich nur, wenn wir den Kopf bewegen. Dann verliert das System durch abnormale Stimulation teilweise die Kontrolle, und Schwindel entsteht als spürbares Signal eines gestörten Gleichgewichts.

Dominik Straumann ist Professor für Neurologie an der UZH und Leiter des Zentrums für Schwindel und neurologische Sehstörungen am Universitätsspital Zürich.

Glück und Sinn erleben

Gesundheitswissenschaftlich betrachtet sind wir im Gleichgewicht, wenn Belastungen im Leben genügend Ressourcen gegenüberstehen. Diese stärkenden, positiv bewerteten Faktoren helfen uns, Belastungen zu bewältigen und darüber hinaus Glück und Sinn zu erleben. Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht sind wir im Gleichgewicht, wenn wir unseren verschiedenen Lebensbereichen so viel Aufmerksamkeit und Energie zuwenden, wie es ihrer Bedeutung für uns entspricht. Bei Erwerbstätigen sprechen wir dann von einer Balance von Berufsund Privatleben. Diese verschiebt sich je nach Lebensphase. So stehen etwa zu Karrierebeginn, bei Familiengründung oder beim Übergang ins Pensionsalter andere Dinge im Vordergrund. Gleichgewicht wird hier zunächst selbst definiert. Als soziale Wesen leben wir aber auch im Kontext und in Beziehung mit anderen, die ebenfalls Erwartungen an unsere Aufmerksamkeit und Zuwendung haben. Dieses soziale Umfeld ist gleichzeitig unsere wichtigste Gesundheitsressource. «Im Gleichgewicht sein» ist damit ein dynamischer Prozess, den man bewusst im engen Austausch mit anderen gestalten, erleben und geniessen kann.

Gewinnen und verlieren

Ein zentrales Bild für Veränderungen im Lauf des Lebens ist das der Gewinn-Verlust-Balance. Gleichgewicht bedeutet hier, dass sowohl Gewinne als auch Verluste kennzeichnend für die Entwicklung sind. Allerdings ist diese Balance absolut gesehen dynamisch: Wo zunächst Gewinne überwiegen, verschiebt sich die Waage im Lebensverlauf stärker in Richtung von Verlusten. Zentral für ein vollständiges Bild menschlicher Entwicklung bis ins Alter ist jedoch zusätzlich die enorme Vielfalt von individuellen Entwicklungs- und Alternsverläufen.

Ein als gut empfundenes Altern braucht eine individuell erlebte Ausgeglichenheit zwischen persönlichen Zielen und deren Umsetzbarkeit – durch eigene Ressourcen, aber auch durch eine ermöglichende Lebensumwelt. Das tun zu können, was einem persönlich wichtig ist, jenseits objektiver Gesundheitsmarker, geht in der Regel mit intaktem Wohlbefinden einher. Und dieses Wohlbefinden ist im Lebensalltag älterer Menschen typischerweise in deutlich grösserem Gleichgewicht als in jungen Jahren.

Christina Röcke ist Psychologin und Co-Leiterin des UZH Healthy Longevity Centers.

ERFUNDEN AN DER UZH

Ein Labor auf einem Mikrochip

Wasser wird in der Landwirtschaft vielseitig eingesetzt und sauberes und sicheres Trinkwasser ist weltweit eine wichtige Ressource. Das UZH Startup AiQUOS hat eine neue Technologie entwickelt, um Wasser und wässrige Lösungen überall und jederzeit zu analysieren und zu kontrollieren: ein millimetergenaues, autonomes und vielseitig einsetzbares Labor, das auf einen Chip passt. Die neue Technologie ermöglicht es, Hunderte von chemischen Sensoren mit Messinstrumenten und KI in einem einzigen Mikrogerät zu integrieren. Das Minilabor kann vielseitig eingesetzt werden, etwa in der Fischzucht, beim Hors-sol-Anbau von Pflanzen, in der Viehzucht oder bei der Kontrolle von Trinkwasser. Entwickelt wurde die AiQUOS-Technologie in Zusammenarbeit von Josep Maria Margarit-Taulé vom Institut für Mikroelektronik Barcelona und UZH-Professorin Shih-Chii Liu vom Institut für Neuroinformatik der UZH. EU-Experten haben die Technologie als Innovation mit hohem Potenzial ausgezeichnet und es gibt bereits drei internationale Patente in über 40 Ländern. AiQUOS testet die Technologie derzeit im Rahmen von Pilotprojekten in Zusammenarbeit mit Unternehmen in der Wasserqualitätsüberwachung, Agrar- und Ernährungswirtschaft. Text: Thomas Gull; Bild: Frank Brüderli

Wie komplexes Leben entstanden ist

Pilze, Pflanzen, Tiere und Menschen bestehen aus eukaryotischen Zellen. Diese haben sich in der Entwicklung des Lebens erst spät gebildet. Das Team des Evolutionsbiologen Jordi Bascompte hat herausgefunden, wie die ersten komplexen Lebewesen entstehen und sich weiterentwickeln konnten.

«Der Übergang von den simplen prokaryotischen zu den eukaryotischen Zellen war wohl der wichtigste Schritt in der Geschichte des Lebens auf der Erde.»
Jordi Bascompte, Evolutionsbiologe

Text: Santina Russo

Illustration: Cornelia Gann

Auf der Erde gibt es seit rund 3,8 Milliarden Jahren Leben – allerdings waren die Lebewesen lange Zeit sehr simpel: Während 1,8 Milliarden Jahren, also fast der Hälfte der Zeit, in der es Leben gibt, existierten ausschliesslich Bakterien und Archebakterien. Diese sind verglichen mit anderen Einzellern wie Pantoffeltierchen oder Amöben oder gar mehrzelligen Organismen wie Pilzen, Pflanzen und Tieren äusserst einfach aufgebaut. Ihre Zellen bestehen lediglich aus einer Zellmembran, die einen schlanken Survival-Kit umschliesst: die Erbinformation sowie die Proteine, die für Wachstum und Zellteilung, für eine simple Sensorik und für die Genregulation nötig sind. Einfacher geht Leben nicht. Doch durch diesen simplen Bauplan waren die Bakterien und Archeen, die zusammengefasst als Prokaryoten bezeichnet werden, auch in ihrer Evolution limitiert.

Der grosse Sprung

Dann, fast plötzlich, entstanden die ersten eukaryotischen Zellen, die einen Kern besassen, der die Erbinformation umschloss. Und ab da ging es in der Evolution rund: Die Zellen wurden zunehmend komplexer, bildeten neue intrazelluläre Maschinerien, schlossen sich zu Kolonien zusammen und spezialisierten sich. Und es entwickelte sich eine Vielfalt unterschiedlichster Lebewesen – von Fadenwürmern über Dinosaurier, Millionen Arten Insekten und riesigen Urwäldern bis zu den heutigen Säugetieren.

«Der Übergang von den simplen prokaryotischen zu den eukaryotischen Zellen war wohl der wichtigste Schritt in der Geschichte des Lebens auf der Erde», sagt Jordi Bascompte, Professor für

Ökologie am Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der Universität Zürich. Einzig dadurch konnten mehrzellige Organismen wie Pflanzen und Tiere, einschliesslich uns Menschen, überhaupt entstehen. Nur: Wie kam dieser evolutionäre Sprung von der bakteriellen zur eukaryotischen Zelle zustande und was war dazu nötig?

Schwarzes Loch in der Biologie

Das ist gar nicht so einfach festzumachen. Für fast alle anderen evolutionären Entwicklungen finden sich in der Fülle der Lebewesen Zwischenschritte, mit denen Forschende nachvollziehen können, was passiert ist. Doch für die Entwicklung zur eukaryotischen Zelle, der Basis allen komplexen Lebens, findet sich kein Zwischenschritt. Der bekannte britische Biochemiker Nick Lane vom University College London schrieb in seinem Buch «Der Funke des Lebens: Energie und Evolution» gar von «einem schwarzen Loch im Herzen der Biologie». In dieses schwarze Loch haben Jordi Bascompte und sein Team nun ordentlich Licht gebracht, indem sie die Länge der Gene und Proteine von Tausenden Organismen aus dem gesamten Stammbaum des Lebens analysiert haben.

Denn neben der Frage, wie die ersten eukaryotischen Zellen entstanden sind (siehe Box), stellte sich auch die Frage, wie die Regulation der neuen, deutlich komplexeren Zellen zustande kam. So enthalten eukaryotische Zellen eben nicht mehr nur lose herumschwimmende DNA und Proteine, sondern Organellen wie den Zellkern oder die Mitochondrien sowie weitere «Maschinerien», die dafür sorgen, dass eukaryotische Zellen spezialisierte Aufgaben übernehmen können.

Hinzu kommt: Eine Zelle, die viel mehr und noch dazu so ausgeklügelte Komponenten enthält,

muss diese auch steuern können. Dazu sind bakterielle Zellen nicht in der Lage. Deshalb musste eine ganz neue Methode der Regulierung «erfunden» werden, damit sich das Leben weiterentwickeln konnte. Das konnten Bascompte, der Bioinformatiker Enrique Muro von der Johannes Gutenberg­Universität Mainz sowie die Physiker Fernando Ballesteros von der Universität Valencia und Bartolo Luque von der Polytechnischen Universität Madrid in einer interdisziplinären Zusammenarbeit zeigen.

Dazu analysierten die Forschenden im Computer die Länge sowie die Variation der Länge von Genen und Proteinen, die in spezialisierten öffentlichen Datenbanken zu finden sind. Zunächst nahmen sie sich die Gene vor: Sie untersuchten über 33000 Genome von Bakterien, Archeen, Pilzen, Pflanzen, Wirbellosen und Wirbeltieren – gesamthaft fast 150 Millionen Gene. In einem zweiten Schritt analysierten sie das Proteom – also die Gesamtheit aller Proteine – von mehr als 9900 Organismen, insgesamt rund 55 Millionen Proteine.

Die evolutionäre Wand

Der Vergleich dieser beiden Analysen mit der zeitlichen Evolutionsgeschichte der Lebewesen trennte dann die Spreu vom Weizen. Er machte sichtbar, dass Prokaryoten in ihrer Evolution komplexer wurden, indem die Gene länger wurden, und parallel mit ihnen auch die Proteine, die aus diesen DNA­Vorlagen hervorgehen. Ein guter Teil dieser Proteine ist für die genetische Regulation zuständig, also für die die synchronisierte Aktivierung und Deaktivierung von Genen, je nachdem, was für die Zelle gerade nötig ist.

Der Grund für das Längenwachstum ist einfach nachzuvollziehen: Je länger die Gene und Proteine, desto mehr Möglichkeiten für Änderun­

Folgenreiche Symbiose

Es war einmal ein Archebakterium, das auf ein kleineres Bakterium traf. Die beiden mochten sich. So sehr, dass das Archebakterium als Wirtszelle das kleinere Bakterium in sich aufnahm. Wobei, womöglich war es auch kein Archebakterium und das kleinere, weit weniger romantisch, einfach ein Parasit des grösseren. Auf jeden Fall gingen die beiden Prokaryoten eine Symbiose ein. Und aus der geschluckten Zelle entstand im Lauf der Zeit ein Mitochondrium, quasi die erste Organelle. So etwa stellt man sich gemäss der Endosymbiontentheorie die Entstehung der ersten eukaryotischen Zellen vor.

Mitochondrien spielen in Eukaryoten eine entscheidende Rolle im Stoffwechsel und im Energiehaushalt. So regenerieren sie unter anderem das Molekül Adenosintriphosphat (ATP), die universelle zelluläre Energiewährung. Und – dies stützt die Symbiontentheorie – sie besitzen eine eigene DNA und eine eigene Proteinsynthese, ähnlich wie Bakterien.

Auch für weitere Organellen gibt es Hinweise darauf, dass sie einst aus aufgenommenen lebenden Zellen hervorgegangen sind, etwa die Plastide, die in Pflanzen und Algen für die Photosynthese gebraucht werden. Doch dies war erst der Anfang. Damit sich diese Zellen weiterentwickeln konnten, brauchte es ein komplexeres regulierendes Netzwerk als bisher, und damit ein neues System für die Regulierung der Gene. Das hat das Team von Jordi Bascompte, Professor für Ökologie an der Universität Zürich, nun in einer umfassenden Analyse aufgezeigt.

gen entstehen und desto mehr Entwicklungspotenzial bekommt eine Zelle. Die Forschenden zeigten auch, dass dieser Prozess mathematisch multiplikativ war und unter anderem durch Genduplikation passierte, also durch die Verdoppelung von Genen oder Genabschnitten.

«Mit diesem System konnten die Prokaryoten sich jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt weiterentwickeln», erklärt Bascompte. Nämlich ziemlich genau bis zu einer durchschnittlichen Proteinlänge von 500 Aminosäuren, wie die Analysen gezeigt haben. «Danach funktioniert das Längenwachstum von Proteinen nicht mehr, um mehr evolutionäre Möglichkeiten zu erzeugen.» Denn je länger die Proteine, desto energieaufwendiger und komplizierter ist ihre Faltung, und diese ist nötig,

«Das Zufällige der Evolution mit dem Allgemeingültigen der Physik in Einklang zu bringen, hat eine ganz eigene Magie.»
Jordi

Bascompte, Evolutionsbiologe

damit sie ihre Funktion erfüllen können. So wurde es unmöglich, mit grösseren Proteinen neue Lösungen zu finden. «Mit diesem System lief das Leben schlicht gegen eine Wand», sagt Bascompte.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren ausschliesslich Proteine für die genetische Regulation zuständig –wie dies auch bei den heutigen Prokaryoten noch der Fall ist. Anders bei den Eukaryoten. Auch hier bleiben die Proteine bei einer durchschnittlichen Länge von rund 500 Aminosäuren stehen. Dagegen wuchs die DNA weiter, wie die Analyse von Bascomptes Team veranschaulicht. Es entstanden sogenannte Introns, also Genabschnitte, die nicht als Vorlage für Proteine dienten, sondern eine neue Aufgabe übernahmen: eben die Genregulation. Die Introns, die früher, als man ihre Funktion noch nicht kannte, als «Junk­DNA» bezeichnet wurden, können Gene an­ oder abschalten. Und: Die aus ihnen transkribierte mRNA lässt sich im Zellkern schneiden und unterschiedlich miteinander kombinieren, im sogenannten Splicing. Das bot plötzlich viel mehr Lösungsmöglichkeiten und damit auch mehr Entwicklungspotenzial.

Neuer Aggregatszustand für Lebewesen

Das Spannende und für den Ästheten Bascompte auch Schöne an diesem Systemübergang ist, dass er mathematisch genau gleich aussieht wie ein Phasenübergang in der Physik. Wie etwa der Übergang von Wasser zu Eis – von einem Aggregatszustand in einen anderen. Solche Phasenübergänge gehören zu den allgemeingültigen physikalischen Prozessen in der Natur. Will heissen, sie können nur auf eine bestimmte Weise ablaufen. So war es auch in der Evolution, wie die mathematischen Beziehungen aus seinen Analysen zeigen, sagt Bascompte: «Um komplexer zu werden, gab es für das Leben keinen anderen Weg als diesen direkten Sprung von einer Phase in die nächste.»

Mehr noch: Die mathematischen Beziehungen zur Länge und Längenvariation der Gene und Pro­

teine konnten die Forschenden nutzen, um diese Eigenschaften für sämtliche Lebewesen abzubilden und vorherzusagen. So zeigen sie, dass das Wachstum der Genabschnitte über die gesamte Evolutionsgeschichte hinweg mathematisch mit der Komplexität der Lebewesen korreliert: Komplexere Lebewesen wie Wirbeltiere haben längere und mehr unterschiedlich lange Genabschnitte als einfachere Lebewesen wie Pilze. Und diese Beziehung führt wiederum schnurgerade zurück zu den Bakterien. «Es ist fast verrückt, wie sich diese simple mathematische Beziehung in der Evolution vom ursprünglichen Leben bis hin zum Menschen gehalten hat», sagt Bascompte.

Für ihn sind diese allgemeingültigen Beziehungen das eigentliche Highlight der Arbeit. «Dass der Übergang von Prokaryoten und Eukaryoten und die weitere Entwicklung mathematisch so einfach sind und in die Prinzipien der Physik passen, hilft, das Zufällige der Evolution mit dem Allgemeingültigen der Physik in Einklang zu bringen. Das hat eine ganz eigene Magie.»

Prof. Jordi Bascompte, jordi.bascompte@uzh.ch

LITERATURWISSENSCHAFT

Aufmüpfig und übermütig

In den 1970er-Jahren gründen Frauen eigene Verlage, erproben Schriftstellerinnen neue Schreibweisen und wagen den Aufstand gegen das Patriarchat. Zwei Germanistinnen haben diesen literarischen Aufbruch erforscht und ein Buch gegen das Vergessen geschrieben.

Text: Simona Ryser

Bücher von Adelheid Duvanel und Fleur Jaeggy liegen zurzeit in den Buchhandlungen auf. Die inzwischen über 80-jährige Fleur Jaeggy erhält den diesjährigen Grand Prix Literatur. Auch Adelheid Duvanel, sie starb 1996 60-jährig, wurde mehrfach ausgezeichnet. Die beiden Schweizer Schriftstellerinnen wurden erst in jüngerer Zeit wiederentdeckt. Zum Glück geben der Limmat Verlag und der Suhrkamp Verlag deren Werke neu heraus. Doch weshalb sind sie zuvor in Vergessenheit geraten? Warum gehör(t)en sie nicht zum Kanon der Schweizer Literatur? Und was ist mit all den anderen älteren Schweizer Autorinnen? Warum sind beispielsweise Maja Beutler, Claudia Storz, Gertrud Wilker oder Anna Felder so wenig bekannt? Warum werden an den Gymnasien und in den Seminaren der Hochschulen Max Frischs «Homo Faber» und Dürrenmatts «Physiker» gelesen, nicht aber Verena Stefans «Häutungen» und Gertrud Leuteneggers «Vorabend»? Oder Texte von Duvanel und Jaeggy?

Eigene Schreibweisen entwickeln

Solchen Fragen sind die beiden Germanistinnen Valerie-Katharina Meyer und Nadia Brügger in ihrem Forschungsprojekt zu schreibenden Frauen nachgegangen, aus dem das Buch «Widerstand und Übermut. Schweizer Schriftstellerinnen der 1970er-Jahre» entstanden ist. Die beiden sprechen von «verschütteten Genealogien», von Traditions-

Wiederentdeckt: das Werk der Schweizer Schriftstellerin

linien schreibender Frauen, die vorhanden, aber kaum sichtbar sind. Um diese Linien, Vernetzungen, Verbindungen, informellen Strukturen aufzuspüren, haben die beiden Germanistinnen untersucht, wie in den 70ern die Frauenbewegung begann, sich gegen die patriarchal geprägte Gesellschaft zu wehren, und wie sich Autorinnen organisierten, eigene Schreibweisen entwickelten und gegen den patriarchalen Filz anschrieben.

Die beiden Forscherinnen setzen damit die Arbeit der älteren Generation Germanistinnen wie Elsbeth Pulver oder Beatrice von Matt fort, die sich

Fleur Jaeggy. (Bild: die

in ihrem Büro, Mailand 1989)

um die Aufarbeitung und Sichtbarmachung der Literatur von Frauen bemühten. «Wir wollen Lücken in der Schweizer Literaturgeschichte schliessen, wo Frauen immer wieder marginalisiert, verdrängt oder ausgeschlossen wurden», erklärt Nadia Brügger. Hartnäckige Rollenbilder

Für schreibende Frauen war es sehr schwierig, sich in der patriarchal geprägten Gesellschaft zu etablieren. «Der öffentliche Intellektuelle war männlich, so war die gängige Vorstellung», sagt Brügger. «Dass eine Mutter gleichzeitig auch eine Intellektuelle

sein könnte, die sich gesellschaftspolitisch äussert, war damals kaum denkbar.» Tatsächlich wurde Frauen erst mit dem 1971 eingeführten Frauenstimmrecht zumindest eine gewisse Teilhabe am politisch-gesellschaftlichen Diskurs zugestanden, wenn auch die tradierten Rollenbilder hartnäckig in den Köpfen stecken blieben. Adelheid Duvanel bringt es auf den Punkt, wenn sie in einem Brief an Maja Beutler schreibt: « … kannst Du Dir Friedrich Dürrenmatt vorstellen, wie er staubsaugt? Oder Max Frisch? Ich will mich nicht mit diesen Grössen vergleichen, aber ehrlich: Maja Beutler und Adelheid

Autorin

Duvanel kann man sich vorstellen, wie sie die Wohnung staubsaugen … Das ist einfach erstaunlich.»

Eigene Schreiborte schaffen

Der Ruf nach weiblicher Selbstbestimmung bewegte oder vielmehr erschütterte schon vor den 1970er-Jahren das Land. Das 1958 erschienene Buch

Gosteli-Archiv

Anna Kobel und Elisabeth Kopp

Die Berner Frauenrechtlerin Marthe Gosteli (1917–2017) gründete 1982 das Archiv zur Geschichte der Schweizer Frauen. Weil die Bestände von Frauenorganisationen und Nachlässe von engagierten Frauen nicht in die staatlichen Archive aufgenommen wurden, nahm sie sich selbst der Sache an. Ihr Ziel war, Dokumente der Frauenbewegung seit dem späten 19. Jahrhundert zu sichern und für die Nachwelt aufzubewahren. Ihr Motto: «Ohne Geschichte keine Zukunft». Zunächst finanziert allein durch Privatgelder und Stiftungen, engagierte sich Gosteli unermüdlich für die Tradierung und Dokumentation der Frauengeschichte. Von Anfang an sammelte sie thematisch breit gefächert, um die politische, soziale, chronologische und geografische Dimension der Bewegung abzubilden.

Unterdessen ist das Archiv öffentlich finanziert und seit 2020 eine Forschungseinrichtung von nationaler Bedeutung. Es beherbergt eine umfangreiche Sammlung an vielfältigem Quellenmaterial. Das Gosteli-Archiv bewahrt sowohl Einzelnachlässe unterschiedlichster Frauen wie auch Bestände von Frauenorganisationen und Pressematerial auf. Darunter findet sich manche Trouvaille, etwa Fotobestände der Pflegerinnenschule und des Frauenspitals Zürich, des Verbands Soldatenwohl/ Volksdienst oder Schachteln mit Dokumenten zu «Hauswirtschaft Schweiz», «GrossmütterRevolution», «Schriftwechsel. Frauen und Literatur», «Netzwerk schreibender Frauen» oder des Vereins der Äbtissin Katharina von Zimmern.

Im Personenarchiv gibt es Bestände von bekannten und unbekannten Damen, zum Beispiel von der ehemaligen Bundesrätin Elisabeth Kopp-Iklé genauso wie von einer Primarlehrerin namens Anna Kobel, die aufschlussreiche Schul- und Handarbeitshefte hinterlassen hat, oder Dokumente von einer Kindergartenlehrerin, die sich im Bernbiet für die Weiterentwicklung der Kindergärten einsetzte. Valerie Meyer und Nadia Brügger konnten im Gosteli-Archiv, das sie auch mit einem Stipendium unterstützt hat, dank dem archivierten Nachlass der Verlegerin Ruth Mayer die Geschichte der Edition R + F aufarbeiten. In den Kartonschachteln gibt es bestimmt noch viel zu entdecken.

«Frauen im Laufgitter» von Iris von Roten war gewissermassen Feminismus avant la lettre. Die Autorin hatte schon damals die Gleichstellung der Geschlechter gefordert und damit einen landesweiten Skandal ausgelöst. Darauf wurde sie als Autorin gecancelt und sie zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Der Frauenbewegung der 70er-Jahre gelang es dann dank aktivistischer Selbstorganisation und Solidarität, die patriarchalen Strukturen teilweise zu untergraben, Widerstand zu leisten und eigene (Schreib-)Orte zu schaffen, wo auch feministische Anliegen Raum bekamen. Meyer und Brügger zeigen auf, wie die damalige Literaturlandschaft mit Netzwerken und Verlagsarbeit für Frauen allmählich neue Zugänge und Teilhabe ermöglichte. «Für die Literatur spielte die Edition R + F eine wichtige Rolle», erklärt Valerie Meyer. Im Gosteli-Archiv haben die beiden Germanistinnen die Verlagsgeschichte der Edition R + F anhand des Nachlasses der Verlegerin Ruth Mayer aufgearbeitet. Dank der Arbeit der engagierten Verlegerin sei es vielen Schriftstellerinnen möglich geworden, zu publizieren. Die Verlagsleiterin fragte Autorinnen direkt an und legte Wert auf bisher unveröffentlichte Texte. Heute knüpft der Verlag «sechsundzwanzig» der Verlegerin Jil Erdmann an die damalige Verlagsausrichtung an und setzt sich für feministische Literatur und künstlerische Solidarität und Sichtbarkeit ein.

Auch der Austausch und die Vernetzung waren für die erstarkenden weiblichen Stimmen wichtig und ermöglichten einen poetologischen Diskurs. Dies zeigen Brügger und Meyer exemplarisch am Briefwechsel zwischen Adelheid Duvanel und Maja Beutler sowie am Schaffen und am Engagement von Laure Wyss.

Der feministische Aufbruch in den 70ern hat vieles bewegt. «Es gab zahlreiche Debüts von schreibenden Frauen und es entstanden wegbereitende Werke», erklärt Nadia Brügger. Doch vieles ist wieder in Vergessenheit geraten. Literatur von Frauen wurde damals schnell als Tendenzliteratur oder Trivialliteratur abgetan. Weibliche literarische Stimmen wurden im öffentlichen Diskurs marginalisiert, Themen wie häusliche Gewalt, lesbische Liebe, Körperlichkeit, Zugehörigkeit, Familienleben als privat und emotional abgetan, ohne deren – bis heute andauernde – politische Dimension zu erfassen.

Feministische Befreiung

«Uns war wichtig, Traditionslinien sichtbar zu machen», sagen die Germanistinnen. Von woher schreiben wir heute, sei die Frage. Die Autorinnen der 1970er-Jahre haben vieles vorweggenommen, was heute ganz selbstverständlich Teil öffentlicher

«Wir wollen Lücken in der Schweizer Literaturgeschichte schliessen, wo Frauen immer wieder marginalisiert, verdrängt oder ausgeschlossen wurden.»

Nadia Brügger, Germanistin

Debatten ist. So ist beispielsweise Verena Stefans 1975 erschienenes Buch «Häutungen» ein wegweisendes Werk und wurde damals gleichermassen begeistert und kontrovers aufgenommen. Stefan brach mit sämtlichen Konventionen und schrieb radikal feministisch. In dem Buch, das aus losen autobiografischen Aufzeichnungen besteht, geht es um eine feministische Befreiung aus vorherrschenden patriarchalen Machtstrukturen. Diese beschreibt Stefan nicht nur anhand der Emanzipation und sexuellen Transformation der Protagonistin, sondern sie experimentiert auch mit einer Schreibweise, die eine patriarchal geprägte Sprache entlarvt und mit ihr bricht. Damit nahm Stefan literarisch die feministische Sprachkritik der Linguistin Luise F. Pusch vorweg.

Auf eine ganz andere Weise ist auch Gertrud Leuteneggers 1975 erschienener Erstling «Vorabend» ein epochales Werk, das – wie die Schriftstellerin schreibt – etwas aufnimmt, das in der Luft lag. In dem Roman vollzieht Leutenegger mit ihrer Figur einen Perspektivenwechsel. Sie lässt die Protagonistin die 1.-Mai-Demonstrationsroute durch Zürich am Abend davor gehen. Dabei geht der Blick der Flaneurin auf die Ränder, auf Nebenschauplätze und verknüpft sie mit eigenen Erinnerungen und Assoziationen. Leutenegger macht so Verdrängtes, Vergessenes, Unsichtbares zum Thema und stellt das Individuelle und das Kollektive in ein Spannungsverhältnis.

Damals Kultbücher, heute vergriffen

Diese Werke von Leutenegger und Stefan waren damals Kultbücher und erhielten viel Aufmerksamkeit, trotzdem gehören sie (noch) nicht zum Kanon der Schweizer Literatur.

Im Lauf ihres Forschungsprojekts haben Valerie Meyer und Nadia Brügger unzählige Seiten Papier im Schweizerischen Literaturarchiv durchforstet und dabei manchen Schatz gehoben. Für Valerie Meyer war die frühe Prosa von Erika Burkart, die eher als Lyrikerin bekannt ist, eine Ent-

deckung, etwa die Werke «Rufweite» oder «Moräne». «In Burkarts nicht linearer, fragmentarischer Schreibweise verknüpft sich im Lauf der Lektüre, was auf den ersten Blick zusammenhangslos erschien,» erklärt Meyer. «Das war ein spannendes Leseerlebnis.» Brügger ist vom Werk «Trocadero» von Hanna Johansen besonders angetan. Darin wird eine Figur in eine unerklärliche Situation versetzt, in ein palastartiges Labyrinth, wo sie rätselhaften Anweisungen ausgeliefert ist. «Die Grundsituation im Roman spiegelt eine existenzielle Erfahrung, der Frauen in der Gesellschaft ausgesetzt sind», erklärt Brügger.

Johansens «Trocadero» ist nur noch in einer französischen Übersetzung erhältlich, Erika Burkarts Prosawerk «Rufweite», aber auch Erica Pedrettis Erstling «Harmloses, bitte», «Liebe Livia» von Laure Wyss und weitere Werke, auch von weniger bekannten Autorinnen, sind vergriffen. In den Archiven schlummert Material von einer ganzen Schriftstellerinnen-Generation, das noch geborgen oder wiederentdeckt werden kann.

Im letzten Teil ihres Buchs stellen die Forscherinnen exemplarisch einige Werke von Schriftstellerinnen vor, die zur weiterführenden Lektüre anregen. Das Buch kann für Bildungsinstitute, Gymnasien und Universitäten, aber auch für Verlage und Kulturinstitutionen als Inspirationsquelle dienen und dazu anregen, die Erinnerung an die Schweizer Frauenliteratur lebendig zu halten.

Dr. Valerie-Katharina Meyer, valerie-katharina.meyer@uzh.ch

Dr. Nadia Brügger, nadia.bruegger@ds.uzh.ch

LITERATUR:

Nadia Brügger, Valerie-Katharina Meyer: Widerstand und Übermut. Schweizer Schriftstellerinnen der 1970er-Jahre, Hier + Jetzt Verlag, 2025

Weltkarte der Krankheiten

Antibiotikaresistenzen könnten künftig weltweit dramatisch zunehmen. Sie betreffen Menschen genauso wie Tiere. One-Health-Forscher Thomas Van Boeckel sucht nach Umweltfaktoren und globalen Mustern von Infektionskrankheiten und Resistenzen, um sie besser bekämpfen zu können.

Text: Adrian Ritter

Bild: Meinrad Schade

Manchmal enthält auch ein Missverständnis einen Funken Wahrheit. Wenn Thomas Van Boeckel gelegentlich gefragt wird, was er beruflich macht, erzählt er von seinem Fachgebiet der «Spatial Epidemiology». Sein Gegenüber wundert sich dann bisweilen, was es mit dieser Epidemiologie im Weltraum – Space – auf sich hat. Van Boeckel beschäftigt sich aber nicht mit Krankheiten von Astronautinnen und Astronauten. Mit «spatial» ist der räumliche Aspekt der Epidemiologie gemeint. Sein Fachgebiet wird auch mit «Gesundheitsgeografie» übersetzt. Van Boeckel interessiert, wie Krankheiten bei Mensch und Tier weltweit unterschiedlich auftreten – und in welchem Zusammenhang sie stehen. Es ist eine der klassischen Fragestellung von «One Health». Dieser noch junge Ansatz kombiniert insbesondere die Fachrichtungen Medizin, Veterinärmedizin und Umweltwissenschaften. Denn die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt ist eng verknüpft. Viele Infektionskrankheiten, die

Blick auf den Globus: Thomas Van Boeckel erforscht, wie Krankheiten weltweit

beim Menschen auftreten, haben ihren Ursprung in der Tierwelt. Das zeigt aktuell die Vogelgrippe, mit der sich in den USA bereits Mitarbeitende von Farmen bei Kühen angesteckt haben.

Satelliten machen es möglich

Die Universität Zürich hat 2023 ein eigenes One Health Institute gegründet (siehe Kasten). Thomas Van Boeckel ist seit August 2024 der erste Lehr­

bei Mensch und Tier auftreten.

stuhlinhaber. Mit dem Weltraum hat die Spatial Epidemology doch auch etwas zu tun. Weil Satelliten im All heute eines der wichtigsten Arbeitsinstrumente zur Datengewinnung sind. «Die Satellitentechnologie ist eine Revolution für unser Fach», sagt Van Boeckel. Damit lassen sich einfach und über Landesgrenzen hinweg Daten gewinnen, die für die Epidemiologie wichtig sind – etwa Temperatur, Luftqualität oder das Ausmass der Abholzung

von Wäldern. Auch die Zahl der Nutztiere lässt sich dank Satelliten anhand der Grösse landwirtschaftlicher Gebäude oder der Anbauflächen von Futterpflanzen für Tiere abschätzen.

Die räumliche Epidemiologie kann damit einen wichtigen Beitrag zur One-Health-Forschung leisten. Daneben sind beispielsweise genetische Untersuchungen ebenso wichtig wie Befragungen und die Analyse von Mobilfunkdaten, um etwa

«Indem ich mithelfe, Risikofaktoren und Verbreitungsmuster von Krankheiten aufzuklären, kann ich zur Prävention und Gesundheitsförderung beitragen.»

Thomas Van Boeckel, One-Health-Forscher

das Gesundheits- und Reiseverhalten von Menschen zu erfassen.

Raumdaten waren in der Epidemiologie seit ihren Anfängen zentral. So versuchte der Arzt John Snow 1845 herauszufinden, was den Ausbruch einer Choleraseuche in London auslöste. Auf einer Strassenkarte der Stadt markierte er jedes Haus mit einem Krankheitsfall. So konnte er das Muster der Verteilung der Krankheit erkennen: Das verseuchte Wasser einer bestimmten Wasserpumpe war die Ursache.

Solche geografischen Muster zu erkennen, ist die tägliche Arbeit von Thomas Van Boeckel. Zu seinen Schwerpunkten gehören Infektionskrankheiten und Antibiotikaresistenzen. Sein Interesse für Geografie kommt dabei nicht von ungefähr. Schon als Kind war er fasziniert von Karten. Seine Grosseltern schenkten ihm deshalb einen Globus. Van Boeckel studierte dann zwar nicht Geografie, sondern Bioingenieurwesen. Die Laborarbeit faszinierte ihn allerdings weniger als gedacht. Dafür fing er Feuer in einer Vorlesung zu Biostatistik und

Gemeinsam

für die Gesundheit

Am 2023 gegründeten One Health Institute (OHI) der UZH sind die Medizinische, die Mathematisch-Naturwissenschaftliche und die Vetsuisse-Fakultät angegliedert. Entsprechend interdisziplinär ist auch die Ausrichtung des Instituts. Nach der Berufung von Thomas Van Boeckel 2024 sollen im Lauf dieses Jahres zwei weitere Professuren besetzt werden – für Evolutionäre Medizin und Digital One Health. Derzeit liegt der Fokus auf der Forschung. Geplant ist zudem der Aufbau eines Minor-Studienprogramms. www.onehealth.uzh.ch

schrieb mehrere Arbeiten und seine Dissertation zur Verbreitung einer Variante der Vogelgrippe in Asien. Immer mehr erkannte er: «Indem ich mithelfe, Risikofaktoren und Verbreitungsmuster von Krankheiten aufzuklären, kann ich zur Prävention und Gesundheitsförderung beitragen.»

Krankheiten kartieren

Noch ist Thomas Van Boeckel allein in seinem Büro auf dem Gelände des Zürcher Tierspitals. Bald schon wird aber ein erster Doktorand seine Arbeit bei ihm aufnehmen. Auch zusätzliche Fördergelder hat er bereits eingeworben und wird bald weitere Mitarbeitende anstellen können. So unterstützt ihn die Digital Society Initiative der UZH bei einem Projekt. Dabei geht es darum, künstliche Intelligenz zu nutzen, um die Datengewinnung zu automatisieren. Denn nicht immer sind Satellitenbilder verfügbar. Bisher brauchte es oft aufwändige Sucharbeit, um im Internet und aus anderen Quellen Informationen zu gewinnen.

So arbeitet Van Boeckel gemeinsam mit anderen Forschenden daran, eine Weltkarte der Veterinärmedizin zu erstellen: Wo auf der Welt gibt es wie viele Tierärztinnen und Tierärzte? Dafür durchforstet er verschiedenste Quellen, von elektronischen Telefonbüchern bis bin zu Mitgliederverzeichnissen von tierärztlichen Fachgesellschaften. «Die Idee für das Projekt entstand an einer Konferenz. Wir verglichen Karten, die zeigen, wie verbreitet Malaria und Antibiotikaresistenz weltweit sind», erzählt Van Boeckel. Schnell war klar: Die Karten für Malaria sind viel präziser, weil die Risikofaktoren bekannt sind – Feuchtigkeit und Temperatur bestimmen hauptsächlich, wo malariaübertragende Mücken präsent sind. Bei Antibiotikaresistenzen sind die Risikofaktoren viel weniger bekannt. «Der Zugang zu Tierärztinnen und Tierärzten könnte eine Rolle spielen», sagt Van Boeckel. So wäre es möglich, dass in Regionen mit wenig

One Health Institute

Zugang zur Veterinärmedizin die Tierhalter:innen eher auf eigene Faust zu Antibiotika greifen. Mangelnde Impfungen und Hygieneberatungen können den Einsatz von Antibiotika auch erhöhen.

Wie oft Antibiotika bei Nutztieren eingesetzt werden, lässt sich nicht für jedes Land genau beantworten. Thomas Van Boeckel war der Erste, der die dazu vorhandenen Daten auf globaler Ebene sammelte. Für eine Studie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) hat er zudem mit anderen Forschenden in die Zukunft geblickt. Die Zahlen sind besorgniserregend: Ohne Massnahmen wird der Einsatz von Antibiotika bei Nutztieren bis 2040 im Vergleich zu 2019 um fast 30 Prozent steigen, insbesondere in Asien und Afrika. Dies aufgrund des Bevölkerungswachstums und steigender Einkommen. Denn damit steigt auch der Fleischkonsum und es gibt entsprechend mehr Nutztiere.

Beim Einsatz von Antibiotika beim Menschen sind die Aussichten nicht besser. In einer Studie, an der Van Boeckel beteiligt war, sagten die Forschenden für die Zeit zwischen 2023 und 2030 eine weltweite Zunahme um mehr als 52 Prozent voraus. Dies, falls es nicht gelinge, vor allem in sich schnell entwickelnden Ländern den Anstieg zu stoppen. Die Hotspots liegen vor allem in Asien und im südlichen Afrika. Das hat gemäss Van Boeckel einerseits mit tieferen Hygienestandards zu tun. Andererseits sei etwa in Indien und China der Zugang zu medizinischer Versorgung bisweilen erschwert, der Kauf von Antibiotika aber viel einfacher als in Europa. «Um dem steigenden Antibiotikagebrauch entgegenzuwirken, braucht es vor allem eine bessere Infrastruktur für Wasser und Abwasser und Zugang zu Impfungen», sagt er.

Ein Drittel der Antibiotika sind unnötig

Ein hoher Antibiotikakonsum an sich ist nicht das grösste Problem – die Frage ist, ob die Medikamente sinnvoll eingesetzt werden. Van Boeckel ist an einer laufenden Studie beteiligt, die abzuschätzen versucht, welcher Anteil der eingesetzten Antibiotika tatsächlich nötig ist. «Wir gehen davon aus, dass ungefähr ein Drittel unnötig ist», sagt er. Kein Wunder, breiten sich Resistenzen aus. Schon heute sterben deshalb schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen jährlich weltweit an Infektionskrankheiten, die nicht mehr behandelt werden können. Bis 2050 könnte diese Zahl gemäss Schätzungen fast doppelt so hoch sein.

«Der beste Weg, Resistenzen zu verhindern, ist, den Bedarf an Antibiotika verringern. Das geschieht vor allem, indem man Krankheiten verhindert», sagt Van Boeckel. In der Tierhaltung sei dies insbesondere mit einer besseren Hygiene möglich.

Konkret: Die Tiere sollen weniger mit der Aussenwelt und ihren Keimen in Kontakt kommen. Inwiefern sterilere Ställe auch tierfreundlich sind, steht dabei auf einem anderen Blatt. Klar ist: Die Niederlande und Dänemark haben gemäss Van Boeckel grosse Anstrengungen in diese Richtung unternommen. Dabei konnten sie nicht nur den Antibiotikaverbrauch senken, sondern auch zeigen, dass damit auch eine wirtschaftlich erfolgreiche Nutztierhaltung möglich ist.

Impfkampagnen für Mensch und Tier

Wie schätzt Thomas Van Boeckel die weitere Entwicklung von Antibiotikaresistenzen ein? «Bis vor wenigen Monaten war ich zuversichtlich», sagt er. Das habe sich aber aufgrund der aktuellen politischen Situation geändert. Vor allem die Kürzungen von Budgets zur Entwicklungszusammenarbeit, der Kahlschlag beim weltweit grössten Geldgeber für Gesundheitsprojekte USAID sowie der Austritt der USA und anderer Länder aus der WHO haben seinen Optimismus getrübt: «All dies wirkt sich negativ auf die Infrastruktur und die Gesundheitsperspektiven in besonders gefährdeten Ländern aus – etwa hinsichtlich des Zugangs zu sauberem Wasser oder medizinischer Versorgung.» Gleichzeitig werde auch die Forschung weniger Geld zur Verfügung haben für Projekte im Bereich Gesundheit.

Optimistischer ist Van Boeckel in Bezug auf den noch jungen One-Health-Ansatz. Dass man Mensch, Tier und Umwelt in ihren Zusammenhängen betrachte, werde hoffentlich schrittweise zum Standard in der Gesundheitsforschung. So stellt Van Boeckel grosses Interesse an einer interdisziplinären Zusammenarbeit an der UZH fest: «Die Chancen, die sich daraus ergeben, sind gross.» So lassen sich etwa gemeinsame Frühwarnsysteme für Krankheiten und kombinierte Impfkampagnen bei Mensch und Tier aufbauen. «Eine gemeinsame Prävention und Behandlung ist auch ökonomisch sinnvoll und ressourcenschonender», sagt Van Boeckel. Für weitere Fortschritte und Erfolge im Zusammenhang mit One Health ist er auf jeden Fall gewappnet. Auch heute steht in seinem Büro ein Globus. Er lässt sich öffnen und darin ist eine Flasche Scotch aufbewahrt – die Van Boeckel jeweils herausholt, um eine akzeptierte Publikation zu feiern.

BIODIVERSITÄT

Verheerender

Einfluss

Die biologische Vielfalt ist bedroht. Weltweit verschwinden mehr und mehr Pflanzen- und Tierarten. Verantwortlich dafür ist der Mensch. Bisher fehlte aber eine Synthese dazu, welche menschlichen Eingriffe in die Natur wie schwerwiegend sind und ob die Auswirkungen überall auf der Welt und bei allen Organismengruppen zu finden sind.

Um diese Forschungslücken zu schliessen, hat nun ein Team der Universität Zürich (UZH) und des Wasserforschungsinstituts Eawag eine

Synthesestudie durchgeführt, die ihresgleichen sucht. «Es ist eine der weltweit grössten je durchgeführten Synthesen zum Einfluss des Menschen auf die Biodiversität», sagt Florian Altermatt, UZH-Professor für Aquatische Ökologie und Leiter einer Forschungsgruppe an der Eawag.

Die Resultate der im Fachmagazin «Nature» publizierten Studie sind eindeutig – und lassen keinen Zweifel daran, wie verheerend der Mensch weltweit auf die Biodiversität einwirkt. «Wir haben die Effekte der fünf wichtigsten menschlichen Einflussfaktoren auf die Biodiversität untersucht: Lebensraumveränderungen, direkte Ausbeutung wie Jagd oder Fischerei, Klimawandel, Umweltverschmutzung und invasive Arten», sagt François Keck, Postdoktorand in Altermatts Forschungsgruppe und Erstautor der Studie. «Unsere Ergebnisse zeigen, dass alle fünf Faktoren starke negative Einflüsse auf die Biodiversität haben – und zwar weltweit, in allen Organismengruppen und sämtlichen Ökosystemen.»

Die Studie zeigt einerseits auch, dass Biodiversitätsveränderungen nicht allein auf reine

Änderungen der Artenzahlen abgestützt werden sollten. Andererseits sind die Resultate aufgrund ihrer Deutlichkeit und ihrer weltweiten Gültigkeit ein Alarmzeichen. Und sie können als Richtwerte für zukünftige Biodiversitätsforschung und Naturschutzbemühungen dienen. «Unsere Resultate geben klare Hinweise darauf, welche menschlichen Einflüsse die Biodiversität wie stark beeinträchtigen», sagt François Keck. «Daraus lässt sich auch ablesen, welche Ziele man sich setzen muss, wenn man diese Trends umkehren will.»

PRÄZISIONSMEDIZIN

Antikörper ködern

Interferone vom Typ I sind Proteine, die Zellen als Reaktion auf Virusinfektionen ausschütten. Sie sind zentrale Akteure der angeborenen Immunabwehr und alarmieren andere Zellen, um das Eindringen der Viren und deren Vermehrung einzudämmen. Etwa zwei bis vier Prozent der Menschen über 65 Jahre – weltweit rund 100 Millionen –haben Autoantikörper im Blut, die ihre eigenen Typ-I-Interferone neutralisieren. Betroffene mit solchen fehlgeleiteten Antikörpern können keine vollständige Immunabwehr aufbauen und sind besonders anfällig für schwere Virusinfektionen wie Grippe, Covid-19 oder Gürtelrose. Eine zielgerichtete Behandlung gibt es bisher nicht.

Ein Forschungsteam der Universität Zürich hat nun im Detail entschlüsselt, wie diese Autoantikörper die Typ-I-Interferone erkennen und blockieren. «Unsere Idee war es, basierend auf diesen Erkenntnissen Ködermoleküle zu entwickeln, die an die Autoantikörper binden und sie daran hindern, die körpereigenen Interferone zu hemmen», sagt Studienleiter Benjamin Hale, Professor am Institut für Medizinische Virologie der UZH. Gemäss Hale könnten die künstlichen Moleküle zu einer neuen Behandlungsstrategie führen, die den Immundefekt rückgängig macht und das Risiko für schwere Infektionen senkt.

Die Laborstudie liefert einen ersten Nachweis, dass die neu entwickelten Ködermoleküle die schädlichen Effekte von Autoantikörpern gegen Typ-I-Interferone wirksam neutralisieren. «Unsere Ergebnisse sind ein vielversprechender Schritt in Richtung einer neuen Behandlung, die die Anfälligkeit für Virusinfektionen und die Schwere der Erkrankung senken könnte», sagt Kevin Groen. Allerdings seien weitere Optimierungen nötig, bevor klinische Tests beginnen könnten, so Groen.

Ausführliche Berichte und weitere Themen: www.media.uzh.ch

Die Urbanisierung wirkt sich stark auf die Biodiversität aus. (im Bild: Glattpark in Zürich-Nord)

Urzeitliche Riesendelfine

Feldforschung unter harschen Bedingungen: Aldo Benites Palomino in der Ocucaje-Wüste in Peru.

Der UZH-Paläontologe Aldo Benites

Palomino gräbt in Südamerika die Skelette urzeitlicher Tiere wie Flussdelfine und Riesenwale aus.

Wir befinden uns im Amazonas. Unser Körper ist müde von der wochenlangen körperlichen Arbeit und den Strapazen des Dschungels. Und plötzlich: Heureka!», erzählt der UZH-Paläontologe Aldo Benites Palomino. Am letzten Arbeitstag einer Ausgrabung im Amazonas machte das Team von Rodolfo Salas-Gismondi der Universidad Nacional Mayor de San Marcos in Peru einen sensationellen Fund: Es förderte den Schädel eines Pebanista yacuruna zu Tage, des grössten Flussdelfins in der Geschichte der Erde.

Aldo Benites Palomino, der gerade seinen Doktortitel am Paläontologischen Institut der UZH gemacht hat, war zur Zeit des Fundes, 2018, in seinem letzten Bachelorjahr. So früh bereits einen solch wichtigen Fund zu machen, habe seine Begeisterung für die Paläontologie so richtig entfacht, erzählt er rückblickend.

Wenn Benites Palomino über sein Fach und seine Forschung in Peru spricht, beginnen seine Augen zu leuchten. Etwa wenn er erzählt, dass sie staunend feststellten, dass der Schädel des gefundenen Delfins anders war als die Schädel der anderen Flussdelfine. Er weist an der Seite einen unebenen Kamm auf, wie sonst nur der Gangesdelfin in Asien.

Wie sich zeigte, sind die beiden Arten verwandt. Das westliche Amazonasbecken war zur Zeit des Pebanista yacuruna ein ausgedehntes Netzwerk von Seen, Sümpfen und Flüssen, das sich über Teile des heutigen Peru, Brasilien, Kolumbien und Ecuador erstreckte. Es wird auch als «Pebas-System» bezeichnet. Benites Palomino nennt es «die Wiege der Biodiversität». «Durch unsere paläontologische Forschung können wir wichtige Dinge über die Biodiversität lernen, die uns helfen, die heutigen Systeme besser zu verstehen.» Die wichtigste Erkenntnis sei die Fragilität der Ökosysteme. Diese werden durch den Klimawandel sowie Veränderungen des Salzgehalts des Wassers stark beeinträchtigt. Eine andere wichtige Erkenntnis ist die Rolle, die einer Art im biologischen System spielt. Wenn sie verschwindet, hat dies erhebliche Folgen für das ganze Gefüge.

Anhand der Evolutionsgeschichte der jeweiligen Spezies können die Forscher auch voraussagen, an welche neuen Umstände diese sich anpassen können und welche Veränderungen der Umwelt sie in Gefahr bringen. Hier kommt die interdisziplinäre Forschung ins Spiel. Die sogenannte Conservation Paleobiology befasst sich mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die bestehenden Arten. Sie wendet das von der Paläontologie gewonnene Wissen an, um die Artenvielfalt zu schützen oder wiederherzustellen.

Benites Palomino selbst forscht nicht nur im Amazonas. Auch an den Ausgrabungen des Perucetus colossus, eines riesigen Wals, in der Wüste Ocucaje an der südlichen Küste Perus, ist er beteiligt. Die Skelette der ausgestorbenen Gattung, verwandt mit den heutigen Walen und Delfinen, sind monströs. Jede Rippe wiegt über 100 Kilogramm und hat eine Länge von 1,4 Metern. Diese auszugraben und abzutransportieren, ist eine Herausforderung. «Bei einem solchen Fund reicht es nicht mehr, nur mit dem Pinsel und dem Hammer zu graben. Hier braucht man einen Presslufthammer», sagt der Paläontologe.

Das Leben eines Paläontologen scheint ziemlich aufregend. «Ich liebe meinen Job! Ich betrachte mich als sehr privilegiert, oft eine der ersten Personen zu sein, die ein Tier zu sehen bekommen, das die Erde Millionen Jahre lang versteckt gehalten hat», sagt Benites Palomino begeistert. Er freut sich auf weitere «Heureka»-Momente. Mia Catarina Gull

IM FELD — Aldo Benites Palomino

TIEFE EINBLICKE

Was Bilder erzählen

Wie verändern sich Zellen bei einer Krankheit? Wie sind die Planeten, Sterne und Galaxien entstanden? Was geschieht im Gehirn, wenn wir lernen? Wie haben die Römer gelebt? Wie lässt sich Biodiversität aus der Luft messen? Und wie wird KI eingesetzt, um Bilder für politische Zwecke zu instrumentalisieren? Bilder helfen Forschenden, die Welt besser zu verstehen und zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. An der UZH arbeiten Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Disziplinen mit bildgebenden Verfahren, Simulationen und Bildanalysen. Im Dossier zeigen wir, wie sie Bilder nutzen und was sie dabei herausfinden.

EINBLICKE

KOLLISION EINES

HIMMELS KÖRPERS MIT JUPITER

Bild: Ravit Helled (aus Meier et al. 2025)

Die Bildfolge zeigt die Simulation eines mächtigen Einschlags auf dem Jupiter in verschiedenen Phasen. Durch den Einschlag wird der Jupiterkern teilweise zerrissen, aber die meisten schweren Elemente setzen sich schnell wieder zu einem kompakten Kern zusammen.

Hochaufgelöster Blick auf Krebszellen

Seit rund 400 Jahren können wir mit Mikroskopen immer kleinere Dinge erkennen. Heute können die modernsten Geräte tief in lebende Zellen hineinschauen und so helfen, Krankheiten wie Krebs zu untersuchen und Therapien zu verbessern. An diesem Ziel arbeiten an der UZH mehrere Forschungsgruppen.

Text: Santina Russo

Sara Félix sitzt neben einem grossen grauen Kasten vor einem Bildschirm. Auf dem Display erscheinen abstrakt aussehende Gebilde aus grünen Flecken. Eines ist jeweils kurz sichtbar, dann erscheint ein neues, ähnliches Bild. Mit einem Mausklick startet Postdoktorandin Félix die nächste Messung. Das wirkt alles nicht eben aufregend. Dabei geht es hier um Leben und Tod: Im grauen Kasten befindet sich ein vollautomatisiertes Fluoreszenzmikroskop, das in Tumorzellen Faktoren untersucht, die Krebserkrankungen aggressiver machen. Am selben Mikroskop lassen sich Tumorzellen auch darauf untersuchen, wie sie auf Medikamente reagieren. Dafür nutzen Sara Félix und ihre Kollegen aus der Gruppe von Lucas Pelkmans, Professor für Systembiologie, Tumorgewebe von Patientinnen und Patienten. Im Labor versetzen sie die Zellproben mit einer Reihe von FarbstoffMarkiermolekülen. Diese heften sich an bestimmte Proteine. Im Fluoreszenzmikroskop wird dann sichtbar, in welchen Tumorzellen und wo darin sich die markierten Proteine ansammeln. Diese sind entweder entscheidend fürs Tumorwachstum oder zeigen an, um welche Art von Tumorzellen es sich handelt. Auch Krebsmedikamente –rund 50 auf einmal – lassen sich testen. So können die Forschenden nachverfolgen, ob und wie die Tumorzellen auf die Wirkstoffe reagieren. «Diese Informationen können helfen, die Therapie der Patienten an ihren spezifischen Tumor anzupassen», sagt Lucas Pelkmans.

Ins Innere von Zellen schauen

Der Systembiologe hat sein Labor auf dem Campus Irchel und ist auf mikroskopische Verfahren spezialisiert. «Indem wir beobachten, wie sich Zellen und Zellgruppen bei Krankheiten verändern, erhalten wir Hinweise darauf, wo wirksamere Behandlungen ansetzen müssen», sagt

er. Krebs effizienter zu behandeln, ist auch das Ziel des Tumor Profiler Center, das Pelkmans mitbegründet hat. Im Center haben sich Forschungsgruppen der Universität Zürich, der ETH Zürich und des Universitätsspitals Basel zusammengeschlossen, um die biologische Bildgebung für die personalisierte Krebstherapie nutzbar zu machen. Schon seit dem Altertum haben Forschende Lebewesen beobachtet, um sie besser zu verstehen. «Über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg sind solche visuellen Beobachtungen sogar die wichtigste Quelle für Informationen über uns Menschen und unsere Umwelt», sagt Virginie Uhlmann, Leiterin des 2024 von der Universität Zürich und dem Basler Friedrich Miescher-Institut gegründeten BioVisionCenter auf dem Campus Irchel. Zu den ersten Bildern aus der Mikroskopie gehörten im frühen 17. Jahrhundert beispielsweise handgezeichnete Darstellungen von Insekten.

«Heute haben wir viel mehr Möglichkeiten», sagt Uhlmann. So erreichen moderne Lichtmikroskope eine Auflösung von Zehnteln Mikrometern, das sind Zehntausendstel Millimeter. Damit machen sie das Innere von lebenden Zellen sichtbar, etwa Organellen wie den Zellkern oder Mitochondrien oder Ansammlungen von Proteinen. Parallel zu den Geräten wurden auch die mikroskopischen Methoden immer ausgeklügelter. Mit der Lichtscheiben-Fluoreszenzmikroskopie etwa lässt sich die zeitliche Entwicklung grosser Gewebeproben verfolgen, indem dünne Schichten einzeln aufgezeichnet und dann zu einem detaillierten 3D-Bild rekonstruiert werden. «Gleichzeitig ist es schwieriger geworden, diese Fülle an Informationen aus den Bildern herauszuziehen», sagt Bioingenieurin Uhlmann. «Von blossem Auge kommt man nirgends mehr hin.»

Bildanalyse mittels KI

Darum nutzen Forschende Algorithmen, darunter auch immer häufiger KI, um Strukturen in den Bildern zu finden und auszuwerten. Die Expertinnen und Experten der biologischen Bildanalyse sprechen dabei von der «Computer Vision». Mit solchen Methoden lassen sich aus mikroskopischen Aufnahmen genaue Messungen gewinnen – etwa die Grösse von Zellen oder Zellorganellen oder Mengen bestimmter Proteine. Theoretisch können Forschende auf einem einzigen Bild Hunderte verschiedene Grössen messen, je nachdem, welche Frage sie beantworten möchten.

Doch weil verschiedene Methoden und Geräte zu unterschiedlich aussehenden Bildern führen, ist deren Auswertung selbst mittels KI alles andere als einfach.

EINGEFÄRBTE KREBSZELLEN

Bild: Pelkmans Lab

Das Bild zeigt Krebszellen, die mit der 4i-Technologie abgebildet wurden. Mit der Technologie kann gemessen und dargestellt werden, in welchem Zustand sich Proteine in einer Zelle befinden und wie sie sich organisieren. Die Einfärbung zeigt verschiedene Gruppen von Proteinen innerhalb einzelner Krebszellen, erkannt mittels KI.

Und schliesslich seien die meisten Biologen nicht Experten in KI-gestützter Bildanalyse, sagt Uhlmann. «Deshalb braucht es eine Brücke zwischen der biologischen Mikroskopie und der Computer Vision.» Eine solche baut sie mit ihrem Team am BioVisionCenter.

«Wir arbeiten darauf hin, dass die Forschungscommunity künftig nicht für jeden Bildtyp und für jede Forschungsfrage einen neuen Weg finden muss», sagt Uhlmann. «Stattdessen entwickeln wir Dateiformate und Verarbeitungstools, die für alle Bilder funktionieren.»

entstanden ist. Auf diese Weise lassen sich inzwischen etwa bei Hautkrebs, Brustkrebs oder Lungenkrebs rund zehn Tumor-Untergruppen unterscheiden und personalisiert behandeln.

Allerdings: Wie die Ergebnisse von Pelkmans’ Team und weiteren Forschenden aus der biologischen Bildgebung jüngst gezeigt haben, lässt sich der Therapieerfolg genauer vorhersagen, wenn bekannt und verstanden ist, wie der Zustand einer Zelle und deren molekulare Systeme auf Wirkstoffe reagieren. Ebendieser zelluläre Kontext lässt sich in den bildgebenden Methoden sichtbar machen. Und zwar über viele Grössenordnungen hinweg – von den Details im Inneren einer Zelle bis zum Blick auf viele miteinander interagierende Zellen eines Gewebes.

«Indem wir beobachten, wie sich Zellen und Zellgruppen bei Krankheiten verändern, erhalten wir Hinweise darauf, wo wirksamere Behandlungen ansetzen müssen.»
Lucas Pelkmans, Systembiologe

Auf ihrem Laptop öffnet sie eine Webplattform namens Fractal – an dieser arbeitet ihr Team auf Hochtouren. Über die Plattform will das Team des BioVisionCenter die computergestützte Biobildanalyse für alle zugänglich machen. Auf Fractal will es der Forschungscommunity Bausteine zur Verfügung stellen, die sich miteinander kombinieren lassen, um auf die jeweiligen Forschungsfragen angepasste Analysen durchzuführen. Mittels Programmierschnittstellen können zudem andere Entwickler ihre eigenen Analysetools in Fractal integrieren.

Eine noch präzisere Medizin

Die erste Version von Fractal stammt von Lucas Pelkmans, auch sein Team nutzt die nun weiterentwickelte Plattform, um Mikroskopiebilder zu analysieren. Die Forschenden haben entdeckt, dass Tumorzellen ganz unterschiedlich auf Krebsmedikamente reagieren: Abhängig vom Zustand der Zellen und den Verknüpfungen in ihrem komplexen Signalisierungsnetzwerk können bestimmte Wirkstoffe den Zellzyklus wie geplant blockieren – und die Tumorzellen so quasi auf Eis legen. Sind die Zellen aber in einem in anderen Signalisierungszustand, wirken wiederum andere Medikamente. «In bestimmten Zuständen kurbeln die Medikamente die Vermehrung der Zellen sogar an – das Gegenteil von dem, was man möchte», sagt Pelkmans. «Das hat direkte Auswirkungen auf die Therapie der Patienten.»

Bereits heute nutzt die personalisierte Medizin –oder genauer, Präzisionsmedizin – biologische Daten von Patientinnen und Patienten, um die Therapie möglichst individuell anzupassen. So zeigen in der Onkologie genetische Tests, durch welche Mutation der Krebs

Einzigartige Tumoren

«Wenn man sich die zelluläre Zusammensetzung anschaut, ist jeder Tumor einzigartig – deshalb ist es auch so schwierig, Tumoren zu bekämpfen», bestätigt Bernd Bodenmiller, Professor für Quantitative Biomedizin und Co-Leiter des Tumor Profiler Center. Sein Team nutzt wiederum eine andere Methode, um sichtbar zu machen, was in Zellen vor sich geht. Im Labor auf dem Campus Irchel vermisst Masterstudent Jay Chang gerade Gewebe aus der Biopsieprobe eines Krebspatienten. Auch er sitzt vor einem Bildschirm neben einem grossen grauen Kasten. Darin befindet sich aber kein Mikroskop, sondern ein bildgebendes Massenzytometer. Dieses nutzt Massenspektrometrie, um mit Isotopen markierte Antikörper zu erkennen, die wiederum an bestimmte Proteine gebunden sind.

Bildgebend wird die Methode durch die Verknüpfung mit einem Laser – eine Entwicklung, bei der das Team Bodenmiller federführend war. Die Methode nutzt einen feinen Laser, um die vorbereitete Probe – meist eine dünne Schicht Tumorgewebe – loszulösen und ins Massenspektrometer zu bringen, und zwar in einem vorbestimmten zweidimensionalen Raster. So gelangen die Isotope dem Raster entlang in bestimmten zeitlichen Abständen ins Massenspektrometer. Und so wissen die Forschenden genau, wo sich die Isotopen-markierten Proteine befanden – in welcher Zelle, an welcher Organelle in der Zelle, gemeinsam oder getrennt von anderen Proteinen.

Da den Forschenden 50 Isotope zur Verfügung stehen, lassen sich mit dieser Methode bis zu 50 ausgesuchte Proteine verfolgen. Diese zeigen, welche unterschiedlichen Zellen es in einem Tumor gibt, was in den Zellen passiert und wie sie miteinander kommunizieren. «So erfahren wir immer mehr darüber, welche Mechanismen dazu führen, dass die Zellen eines Tumors sich unkontrolliert teilen», sagt Bodenmiller. Wieder andere Proteine geben Aufschluss über die Immunzellen im Tumor. «Diese sollten eigentlich Tumorzellen angreifen,

werden von diesen aber manchmal mithilfe bestimmter Proteine abgeschaltet, was wir mit der bildgebenden Massenzytometrie erkennen.»

Hilfe für an Hautkrebs Erkrankte

Mit einer weiterentwickelten Methode, bei der die Antikörper nicht mit Isotopen, sondern mit bestimmten Peptiden markiert werden, hat Bodenmillers Team kürzlich gar über 120 Proteine auf einmal in Tumorgewebe sichtbar gemacht. «Bald werden wir noch mehr verfolgen können», sagt Bodenmiller. Denn je mehr Proteine man in Zellen sichtbar macht, desto klarer wird, was in Tumorzellen abläuft. Und desto genauer lassen sich daraus Therapievorschläge ableiten.

Im Tumor Profiler Center kommen all diese bildgebenden Ansätze für die Präzisionsmedizin zusammen. Und sie haben auch schon Menschen geholfen – in einer ersten klinischen Studie mit Hautkrebspatientinnen und -patienten, bei denen die Standarddiagnostik und -therapien nicht mehr funktionierten. Bei ihnen lieferte die biologische Bildgebung Informationen für weitere, zielgerichtete Therapien. Mit Erfolg: Laut den ersten Resultaten überlebten die so behandelten Patientinnen und Patienten länger, verglichen mit anderen, über die keine

Daten aus der Bildgebung verfügbar waren. Manche waren auch nach zwei Jahren noch am Leben, was sonst bei derart fortgeschrittenem Hautkrebs kaum vorkommt. «Wir wissen also, dass die biologische Bildgebung die Therapie tatsächlich verbessert», sagt Lucas Pelkmans. Noch braucht es aber umfangreichere klinische Studien, damit diese Ansätze künftig mehr Menschen zugutekommen. Zudem müssen einige der Methoden für die klinische Praxis noch etwas schneller und kostengünstiger werden. Bereits wurden aus den involvierten Forschungsgruppen Spin-off-Firmen gegründet, die sich dies zur Aufgabe gemacht haben. Klar ist, wie Pelkmans unterstreicht: «Mit der biologischen Bildgebung haben wir das Potenzial, die Medizin nochmals deutlich zielgerichteter und personalisierter zu machen.»

Prof. Bernd Bodenmiller, bernd.bodenmiller@uzh.ch

Prof. Lucas Pelkmans, lucas.pelkmans@mls.uzh.ch

Dr. Virginie Uhlmann, virginie.uhlmann@mls.uzh.ch

DOSSIER — Was Bilder erzählen

Zuschauen, wie Sterne entstehen

In der Astrophysik sind Bilder der Schlüssel zu neuen Erkenntnissen. Dazu gehören die Simulationen kosmischer Ereignisse, mit denen die Astrophysiker der UZH erforschen, wie Sterne, Planeten und Galaxien entstanden sind.

Text: Thomas Gull

Lucio Mayer ist enthusiastisch: «Die Astrophysik befindet sich heute an der Schwelle eines goldenen Zeitalters. Nie zuvor standen so grosse Datenmengen aus so vielen verschiedenen Bereichen des Universums zur Verfügung.» So erlaubt das James-Webb-Weltraumteleskop, weit entfernte Galaxien in einer Qualität zu sehen, wie es zuvor unmöglich war. «Das Teleskop liefert

beinahe wöchentlich neue, überraschende Entdeckungen», sagt der UZH-Professor für Astrophysik. Noch im Aufbau befindet sich das Square Kilometer Array Observatory (SKAO), das in Australien und Südafrika errichtet wird. Dieses riesige Teleskopcluster wird mehr Daten sammeln als jedes bisherige wissenschaftliche Projekt.

Das Universum verstehen

Die neuen Informationen bringen die Astrophysik dem grossen Ziel des Fachs näher: das Universum als Ganzes und im Detail zu verstehen – von der Entstehung der Sterne bis zur Struktur des Kosmos. Mittendrin in diesem Rausch neuer Erkenntnisse sind Astrophysiker der UZH wie Lucio Mayer und Ravit Helled. Mayer erforscht, wie Sterne und Galaxien entstehen, Helled, wie sich Planeten bilden. Beide arbeiten mit Computersimulationen, die es ermöglichen, zu modellieren und zu analysieren, wie sich Planeten, Sterne und ganze Galaxien gebildet und im Lauf der Zeit verändert haben.

DIE ERSTEN GALAXIEN

IM UNIVERSUM

Bild: Lucio Mayer

Diese Simulation zeigt, wie die ersten Galaxien des Universums entstanden sind. Sie wurden kürzlich vom James Webb Space Telescope entdeckt und jetzt von der Forschungsgruppe von Lucio Mayer nachgebildet. Die gebildet. dichten Knoten auf den Bildern sind Gaswolken, in denen die Sternhaufen geboren werden.

Für die Simulationen werden enorme Rechenleistungen benötigt. Mayers Team ist es gelungen, in einem internationalen Wettbewerb ein Zeitfenster für die Nutzung des LUMI-Rechners in Finnland zu ergattern. LUMI ist Europas leistungsstärkster Supercomputer. Der Schlüssel zu Mayers Erfolg ist ein neuer Code für die Berechnung kosmischer Ereignisse. Ihn zu entwickeln, habe fast sieben Jahre gedauert, erzählt der Forscher. Daran gearbeitet hat ein Team aus Zürich, Basel und dem Swiss National Supercomputing Center (CSCS) in Lugano, bestückt mit Fachleuten aus Informatik, computergestützten Wissenschaften, Astrophysik und Kosmologie.

«Mit Hilfe des Supercomputers können wir modellieren, wie die Planeten, Sterne, Galaxien, ja der ganze Kosmos entstanden ist», erzählt Mayer. Diese Simulationen sind so rechenintensiv, dass sie mit herkömmlichen Methoden und Rechenleistungen Jahre dauern würden. «Jetzt können wir sie in wenigen Tagen durchführen», freut sich Mayer. Möglich machen das neue Grafikprozessoren (GPUs, Graphics Processing Units). Darauf laufen die Simulationen bis zu 1000-mal schneller als auf herkömmlichen Computern mit «klassischen» Prozessoren.

Riesige Wolken voller Sterne

Dank der grösseren Leistungsfähigkeit können viel komplexere Prozesse modelliert werden, etwa riesige Molekülwolken, in denen sich Millionen von Sternen bilden. «Bisher war das nicht möglich», sagte Mayer, «mit dem neuen Code werden wir in der Lage sein, das zu tun. Im Moment arbeiten wir daran, den Massstab der Modelle zu vergrössern.»

Die Riesenmolekülwolken sind deshalb so wichtig, weil sie der Ort sind, wo die Sterne entstehen. «Wenn wir solche Wolken simulieren können, dann können wir nachvollziehen, wie die Sternbildung in der gesamten Galaxie abläuft», so Mayer. Die Sterne, die an bestimmten Orten in einer Galaxie entstehen und dort Sternhaufen bilden, spielen eine Schlüsselrolle im Leben einer Galaxie. Sie setzen Energie frei, die beeinflusst, wie sich die Galaxie weiterentwickelt.

Aktuell ist die Simulationsphase mit dem LUMI-Computer abgeschlossen. «Jetzt fangen wir an, uns die Eigenschaften der Wolken anzusehen, in denen sich die Sterne befinden», erklärt Mayer. Dank der Simulationen können sich die Astrophysiker die verschiedenen Stadien der Entstehung der Sterne anschauen und diese zeitlich genau einordnen. «Wir sehen, was wann passiert ist», sagt Mayer. Die Ergebnisse werden dann mit den Daten der grossen Teleskope verglichen –stimmt das Ergebnis der Simulationen überein mit dem, was im Universum zu sehen ist? Wenn nicht, müssen die Modelle und Berechnungen angepasst werden. Mayer bezeichnet das als «Dialog» mit dem Ziel, möglichst akkurat erklären zu können, wie Sterne und Galaxien ent-

standen sind und wie sie sich verändert haben. Eine spektakuläre Simulation von Mayers Forschungsgruppe (siehe Bild Seite 32) zeigt die ersten Galaxien, die sich im Universum gebildet haben, mit den ersten Sternhaufen. Die Simulation bildet nach, wie diese Galaxien entstanden sind, die erst kürzlich vom James Webb Space Telescope entdeckt wurden. Früher dauerten solche Simulationen Monate, manchmal Jahre. Doch sei es dann ziemlich einfach gewesen, diese Daten zu analysieren, erzählt Mayer, weil die Datensätze klein waren. «Das konnten wir auf unseren Laptops machen.» Heute ist das ganz anders: Die Simulationen laufen viel schneller ab und sie liefern Unmengen von Daten, die es zu analysieren gilt. Dafür wird KI eingesetzt und entsprechend trainiert. «Das Swiss Data Science Center hat die Expertise für KI und maschinelles Lernen und ist dabei, in Zusammenarbeit mit unserem Team neue Methoden zu entwickeln, um die Ergebnisse der Simulationen auszuwerten», so Mayer.

Solche Simulationen sind so etwas wie die Laborexperimente der Astrophysik, mit denen versucht wird, kosmische Prozesse nachzubilden und nachzuvollziehen. Denn wenn man ins Universum schaut, sieht man nur eine Momentaufnahme in der Zeit, aber man weiss nicht, wie es dazu kam. «Wir versuchen zurückzuarbeiten und zu verstehen, wie die Sternhaufen, die Galaxien, ja das ganze Universum entstanden ist und weshalb es jetzt so ist, wie es ist», erklärt Mayer. «Wenn ich meine Simulationen mit dem realen Universum vergleiche, würde ich gerne sagen können: Okay, die Galaxie, die ich erzeugen kann, sieht wirklich so aus.»

Lucio Mayer erforscht, wie Galaxien und Sterne entstanden sind. Die Energie der Sterne und der Sternhaufen beeinflusst die Entwicklung der Galaxie. Und

«Wenn ich meine Simulationen mit dem realen Universum vergleiche, würde ich gerne sagen können: Okay, die Galaxie sieht wirklich so aus.»
Lucio Mayer, Astrophysiker

um die Sterne bilden sich die Planeten. Ravit Helled erforscht, wie diese entstehen. Die UZH-Professorin für Astrophysik arbeitet auch mit Modellen und Simulationen. Diese dienen wie bei Mayers Forschung dazu, die «Wissenslücke» zu schliessen, die bei der Beobachtung durchs Teleskop offenbleibt: «Wir sehen die protoplanetaren Scheiben und wir sehen die heutigen Planeten. Aber was dazwischen passiert, sehen wir nicht.»

Manche der Simulationen der von ihr entwickelten Modelle seien optisch weniger spektakulär als die von Mayer, betont Helled. Doch sie eignen sich besonders, die grundlegenden physikalischen Prozesse aufzeigen, die dabei ablaufen. Und Helled ist nicht weniger begeistert als Mayer, wenn sie von ihrer Forschung erzählt. Sie will verstehen, wie sich Planeten bilden und weshalb sie sich unterscheiden. Die Planeten entstehen aus dem Gas und dem Staub in den protoplanetaren Scheiben, die um die

«Zu erklären, wie Uranus und Neptun in ihrer heutigen Form entstanden sind, war jahrelang eine Herausforderung für die Wissenschaft.»

schräger Einschlag zu dessen Neigung, zur Mondscheibe und zur inneren Struktur. Bei Neptun könnte ein frontaler Einschlag seine innere Struktur und sein Energieprofil beeinflusst haben.

jungen Sterne rotieren. Ihre Vielfalt lässt sich durch unterschiedliche Anfangskriterien in diesen Scheiben erklären wie die Temperatur, Dichte, Zusammensetzung und die Verteilung der Materie.

Kleine Veränderungen mit grosser Wirkung

Leicht veränderte Entstehungsbedingungen führen zu sehr unterschiedlichen Planeten, wie wir sie in unserem Sonnensystem beobachten können, wo es Gesteinsplaneten gibt, die vergleichsweise klein sind und eine feste Oberfläche haben wie die Erde, Merkur, Venus und Mars. Und es gibt die Gas- oder Eisriesen, die hauptsächlich aus Wasserstoff und Helium bestehen. Sie haben keine feste Oberfläche und sind viel grösser als die Gesteinsplaneten. Dazu gehören Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun. «Mit unseren Modellen können wir zeigen, wie schon kleinste Veränderungen die Entstehung von Planeten beeinflussen», erklärt Helled.

Die Astrophysikerin kommt bei ihrer Forschung zu bemerkenswerten Ergebnissen, die zum Teil bestehende Theorien in Frage stellen. So unterscheiden sich die Eisriesen Uranus und Neptun trotz vieler Ähnlichkeiten signifikant. Uranus ist stark geneigt, hat reguläre Monde, keine interne Wärmequelle und ist dichter, während Neptun über unregelmässige Monde und eine interne Wärmequelle verfügt. Zudem hat er eine andere Dichteverteilung. Wie sind diese Unterschiede entstanden? Helled hat durch Simulationen eine mögliche Erklärung gefunden: Sie hat modelliert, was passiert, wenn ein grosser Himmelskörper in einen noch jungen Planeten einschlägt. Solche disruptiven Ereignisse könnten erklären, weshalb die beiden Planeten heute so verschieden sind. Bei Uranus führt in der Simulation ein

Solche Rieseneinschläge wären auch eine Erklärung dafür, weshalb sich diese Planeten in dieser Form an diesem Ort im Sonnensystem gebildet haben, denn gemäss der klassischen Theorie ist es unwahrscheinlich, dass sie in dieser Form an der heutigen Position entstanden sind. «Das zeigt uns, wie bestimmte Ereignisse die Entwicklung von Planeten verändern und aus der erwartbaren Bahn werfen können», erklärt Helled. Und es zeigt, wie gewinnbringend Simulationen eingesetzt werden können. «Zu erklären, wie Uranus und Neptun in ihrer heutigen Form entstanden sind, war jahrelang ein Rätsel und eine Herausforderung für die Wissenschaft», so Helled. Das gilt auch für Jupiter. Dieser Planet hat ein sogenanntes «fuzzy core», einen Kern, der nicht scharf abgegrenzt ist. Wie Helleds Simulationen nahelegen (siehe Bild Seite 26/27), könnte auch hier eine gewaltige Kollision mit einem anderen Himmelskörper in der Frühzeit seiner Entstehung dieses Phänomen erklären. Der Einschlag zerreisst den Kern des Planeten teilweise, dieser setzt sich dann aber relativ rasch wieder zusammen. Solche Simulationen zu modellieren, sei herausfordernd, sagt Ravit Helled: «Die kosmischen Prozesse sind vielfältig und komplex und es gibt so viele Parameter, die berücksichtigt werden müssen.» Deshalb mache man viele Durchläufe mit verschiedenen Werten. «Dann sieht man das Ergebnis und manchmal ist man sehr überrascht», sagt sie und lächelt. Solche Überraschungen machen für sie den Reiz ihrer Arbeit aus.

Die Forschung von Ravit Helled und Lucio Mayer ist ein Beispiel dafür, wie mit Simulationen neue, spektakuläre Erkenntnisse gewonnen werden können. «Es ist wirklich eine aufregende Zeit», sagt Lucio Mayer, «besonders für die Studierenden. Ich sage ihnen: Ihr habt euch einen grossartigen Moment ausgesucht, um auf diesem Gebiet zu forschen.»

Prof. Ravit Helled, ravit.helled@uzh.ch
Prof. Lucio Mayer, lucio.mayer@uzh.ch
Ravit Helled, Astrophysikerin

DOSSIER — Was Bilder erzählen

Falsche Heroen und eine verschwundene Soldatin

KI-Bildgeneratoren sind eine Art Wunscherfüllungsmaschinen, sagt

Roland Meyer. Der Forscher untersucht, wie sich unsere Wahrnehmung von Bildern in der digitalen Welt verändert und weshalb die politische Rechte

KI-generierte Bilder liebt.

Text: Roger Nickl

Ein amerikanischer Präsident, der sich in Online-Posts als König, Kirchenoberhaupt oder muskelbepackter Footballspieler inszeniert. Ein Tech-Milliardär, der in einem Meme, das er Ende letzten Jahres auf seinem Social-Media-Kanal X veröffentlichte, zum römischen Gladiator mutiert. Die digitale Bilderwelt treibt zuweilen merkwürdige Blüten. Möglich machen dies KI-Bildgeneratoren wie Midjourney und Dall-E. «Sie sind eine Art Wunscherfüllungsmaschinen», sagt Roland Meyer, «man kann einen Prompt eingeben, der unmittelbar zum Bild wird.» Und so wird beispielsweise per Knopfdruck aus einem Amerikaner des 21. Jahrhunderts ein brustbepanzerter, heroisch dreinblickender Kämpfer aus dem alten Rom.

Oder zumindest, was sich künstliche Intelligenz unter einem solchen Krieger aus der Antike vorstellt. Wobei «vorstellen» eigentlich nicht das richtige Wort ist. Denn KI-Bildgeneratoren durchforsten und synthetisieren riesige Datenmengen. Dabei wirbeln sie ganz unterschiedliche Zeitschichten, Stile und Ästhetiken mehr oder weniger zufällig durcheinander. So wird aus Versatzstücken der Geschichte ein neues Bild einer fiktiven Vergangenheit produziert. «Im Meme von Elon Musk werden Elemente der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, die Ästhetik von Blockbuster-Filmen über das antike Rom und von Computerspielen zu einem zeitlos erscheinenden Bild der Hypermaskulinität fusioniert», sagt Roland Meyer, der in seine Analysen sowohl technische als auch bildgeschichtliche Aspekte einfliessen lässt.

Schwindender Realitätssinn

Roland Meyer ist Bild- und Medienwissenschaftler und seit letztem Sommer DIZH-Brückenprofessor für Digitale Kulturen und Künste. Als solcher arbeitet er am

Seminar für Filmwissenschaft der UZH und gleichzeitig an der Zürcher Hochschule der Künste.

Meyer hat sich in seiner Forschung mit den Herausforderungen der digitalen Gesichtserkennung und ihrer analogen Vorgeschichte auseinandergesetzt. Und damit, was es bedeutet, wenn die Bilder unseres Gesichts online algorithmisch ausgewertet und mit Datenprofilen verknüpft werden, um daraus Kapital zu schlagen oder uns zu überwachen.

Der Forscher interessiert sich auch dafür, wie sich unser Verständnis von Bildern in der Online-Welt – also vor dem Hintergrund von digitalen Plattformen, sozialen Netzwerken und generativer KI – verändert. Und tatsächlich wandelt sich die Art und Weise, wie wir Bilder wahrnehmen, wie wir sie lesen und was wir von ihnen in den digitalen Medien erwarten, enorm. Online beginnen die Grenzen zwischen Wünschen, Emotionen und der Realität zu verschwimmen.

Das hat unter anderem damit zu tun, wie Social Media funktionieren. Nutzer:innen von sozialen Netzwerken sind heute daran gewöhnt, unmittelbar auf Bildinhalte zu reagieren und diese etwa zu liken oder zu teilen. Entsprechend sind Bilder, die auf Instagram & Co. gepostet werden, darauf angelegt, möglichst solche Reaktionen auszulösen. «Bilder sollen online heute vor allem unmittelbar affektiv wirken und spontane Interaktionen provozieren», sagt Roland Meyer. Im Vordergrund steht nicht mehr so sehr die Frage, ob Fotos einen authentischen Ausschnitt der Welt zeigen oder nicht. «Oft ist es wichtiger, dass sie für die Betrachter:innen emotional wahr sind und ihrer gefühlten Weltsicht entsprechen», sagt der Bildwissenschaftler.

Keine politisch neutralen Werkzeuge

So wurden beispielsweise viele Bilder, die zu den verheerenden Bränden in Los Angeles Anfang Jahr oder zur Flutkatastrophe in Florida im letzten Herbst online kursierten, von KI generiert. «Leute, die solche Bilder geteilt haben, sagten zum Teil ausdrücklich, es interessiere sie gar nicht, ob es sich um fotografische Aufnahmen handle oder nicht – die Katastrophe und das Leid der Menschen seien ja real», sagt Meyer. Wichtig war für sie, dass die Fotos ihre Gefühle und ihre Betroffenheit ausdrückten, die sie anderen mitteilen wollten, und nicht so sehr, dass sie konkrete Ereignisse eins zu eins dokumentierten.

Wenig mit der Realität zu tun haben auch die KI-generierten Bilder, die Elon Musk als Römer oder Donald

Trump als König oder Papst zeigen. Dass es diese Bilder gibt und es gerade Männer wie Musk und Trump sind, die solche Inszenierungen verbreiten, ist für Roland Meyer kein Zufall. «Die radikale Rechte liebt generative KI, und zwar international», schreibt er in einem Beitrag des Online-Blogs «Geschichte der Gegenwart». Auch die deutsche Rechtsaussenpartei AfD nutzt für ihre Propaganda KI-generierte Bilder von strammen jungen Män-

«Viele KI-Bildgeneratoren sind gut darin, Klischees, insbesondere der Geschlechter, zu verstärken.»

Gastbeitrag für die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» festhält. Zum Verschwinden gebracht werden sollen insbesondere Bilder von Menschen, die nicht dem Idealbild eines männlichen, weissen, heterosexuellen Soldaten entsprechen. So wurden etwa Fotos von schwarzen Armeeangehörigen im Zweiten Weltkrieg gelöscht. Aus dem Internet verschwunden sind aber beispielsweise auch Bilder der ersten US-Infanteriesoldatin Christina Fuentes Montenegro aus dem 21. Jahrhundert (siehe Bild Seite 37). «Damit wird versucht, die Geschichte den aktuellen politischen Interessen entsprechend zu glätten, zu säubern und zu vereindeutigen», sagt Meyer, «auf dem Spiel steht nichts Geringeres als das visuelle Kulturerbe.»

Roland Meyer, Bildwissenschaftler

nern, blond bezopften Frauen und fiktiven, nostalgisch anmutenden, meist ländlichen Familienidyllen.

Der Zusammenhang von solch klischierten, KI-generierten Wunschbildern und rechten politischen Positionen beruht für Meyer auf einer inneren Logik. Denn, so seine These, die kommerziellen KI-Tools zur Bildgenerierung sind keine politisch neutralen Werkzeuge, sondern drängen sich für den Entwurf rechter Weltbilder geradezu auf. «Viele kommerzielle Tools sind gut darin, Klischees, insbesondere der Geschlechter, zu verstärken und beispielsweise Bilder von hypermaskulinen Männern und superfemininen Frauen zu generieren», sagt er, «und sie nutzen Bildmuster aus der Vergangenheit, um diese in völlig ahistorischen künstlichen Bildwelten zu verdichten.» Auf diese Weise entstehen unter anderem historische Fiktionen, die ein idealisiertes Früher zeigen, das es so nie gegeben hat. «Deshalb», so Roland Meyer, «wird die KI-Bildgenerierung aktuell massiv von rechten Parteien für Propagandazwecke genutzt.»

Gesäuberte Bildarchive

Der Bildwissenschaftler sieht aber auch noch weitere Gründe dafür, dass die politische Rechte so gerne KI-Memes generiert und teilt: «Ihre Gegner regen sich darüber auf – KI-Bildwelten haben ein grosses Provokationspotenzial.» Und so sind sie Teil eines Kulturkampfs, der sich auch um den Umgang mit historischen Bildern und Vorstellungen von Geschichte dreht. In den USA zeigt sich dieser Konflikt noch in einem anderen Kontext. «Die amerikanische Regierung hat in diesem Frühling veranlasst, Online-Bildarchive nach politischen Massgaben zu säubern und Diversität unsichtbar zu machen», sagt Meyer. Hintergrund ist der von der Trump-Administration angeordnete Kampf gegen «Diversity, Equity and Inclusion» (DEI).

So wurde im März bekannt, dass das Pentagon 26000 Fotos auf den Websites des amerikanischen Militärs zur Löschung markiert hat, wie Meyer in einem

Verzerrte Trainingsdaten

Die Säuberung von Archiven hat auch Konsequenzen für die Bildgenerierung mit KI. Denn mit archivierten Bilddaten werden letztlich die KI-Modelle trainiert, mit denen sich neue Bilder generieren lassen. «Promptet man das Bild eines US-Soldaten, wird dieses vermutlich schon heute mehr oder weniger den trumpschen Idealvorstellungen entsprechen», sagt Roland Meyer, «wenn das Internet nun weiter nach White-Supremacy-Kategorien gesäubert wird, ist absehbar, dass damit rassistische und sexistische Vorurteile künftig noch weiter verstärkt werden.»

Mit seiner Forschung will Roland Meyer für solch problematische Zusammenhänge in der digitalen Bilderwelt sensibilisieren. Künftig möchte er weiter untersuchen, wie KI unseren Blick auf Archive und auf die Vergangenheit verändert. Eine wichtige Basis dafür ist der interdisziplinäre Austausch am 2024 neu gegründeten Zentrum für Künste und Kulturtheorie (ZKK), dem Forschende der UZH und der Zürcher Hochschule der Künste angehören.

Prof. Roland Meyer, roland.meyer@uzh.ch

GELÖSCHTES BILD

Bild: Alamy

Das Foto zeigt die erste amerikanische Infanteriesoldatin Christina Fuentes Montenegro. Die Aufnahme ist eines von 26000 Bildern, die das Pentagon auf den Websites des US-Militärs zur Löschung markiert hat, weil es nicht den Vorstellungen der Trump-Regierung lungen entspricht. «Damit wird versucht, die Geschichte den aktuellen politischen Interessen entsprechend zu säubern», sagt Bildwissenschaftler Roland Meyer.

WÜRFELNDE SOLDATEN

Bild: Re-Experiencing History

Das Bild von drei römischen Legionären beim Würfelspiel wurde mit KI im Rahmen von Re-Experiencing History gene- cing riert. Ziel des Projekts ist, mit visuellen Umsetzungen eine realistische Rekonstruktion der Vergangenheit zu ermöglichen und Geschichte interaktiv zugänglich zu machen.

Legionäre per Klick

Ein Zenturio mit Sneakers und Sonnenbrille? KI-Bildgeneratoren können Geschichte ganz schön verdrehen. Altertumswissenschaftler entwickeln ein Tool, das antike Szenen historisch fundiert visualisiert und damit neue Perspektiven eröffnet.

Text: Carole Scheidegger

Ein Klick, und da sind sie, die drei Soldaten beim Würfelspiel (siehe Bild Seite 38). Doch Moment –müssten die Würfel nicht anders aussehen und aus Knochen bestehen? Felix K. Maier, Professor für Alte Geschichte, wirft einen Blick zu Computerlinguist Phillip Ströbel. «Ich passe die LoRA-Scale an und ändere den Prompt», sagt Ströbel. LoRA-Scale? Prompt? Begriffe, die man in einem Geschichtsseminar eher nicht erwartet. Aber sie fallen dort jetzt häufiger.

Maier und Ströbel haben gemeinsam die Plattform Re-Experiencing History entwickelt, mit der sich Bilder aus der Welt der antiken Griechen und Römer generieren lassen, unterstützt von künstlicher Intelligenz. Drei KI-Modelle haben sie dafür miteinander kombiniert und mit Forschungsliteratur sowie antiken Quellen trainiert. Ziel ist es, wissenschaftlich fundierte Darstellungen zu schaffen. Denn gängige Bildgeneratoren der KI orientieren sich meist an modernen Vorlagen und Bildern mit Hochglanz-Ästhetik – das führt zu absurden Ergebnissen: Bei einem frühen Versuch zeigte das System zwar einen römischen Triumphzug, doch die Zuschauer hielten Handys in die Höhe.

Geschichte visuell erleben

schere und präzisere Bilder erstellt werden. Die Plattform erinnert in ihrer Bedienung an ChatGPT, bietet aber zusätzliche Optionen: Die Nutzer:innen können aus drei verschiedenen Modellen wählen, die jeweils unterschiedliche Vorteile haben. Der sogenannte Prompt, also die Texteingabe mit den Bildanweisungen, lässt sich darüber hinaus automatisch optimieren. Das Projekt hat laut Maier drei zentrale Einsatzbereiche: Forschung, Bildung und Museen. Für Historiker:innen biete es die Möglichkeit, neue Perspektiven zu entwickeln. «Wenn wir ein Bild eines Triumphzugs erzeugen, müssen wir uns plötzlich konkrete Fragen stellen: Wie gut erkannte man damals den Triumphator in der jubelnden Menge? Wie wurde der Sieg möglichst anschaulich inszeniert? Welche Route nahm die Prozession?», erläutert Maier. Schon die detailgetreue TV-Serie «Rome» hat vor rund zwanzig Jahren neue historische Fragestellungen über das Leben und den Alltag in den ärmeren Vierteln Roms angestossen. Maier zitiert den Historiker R. G. Collingwood, der die Meinung vertrat, dass historisches Verständnis ein «Nacherleben» – auf Englisch «re-enactment» – vergangener Erfahrungen erfordere. Daran knüpft das Projekt an. «Je intensiver wir uns mit KI-generierten Bildern auseinandersetzen, desto stärker wird unsere historische Vorstellungskraft stimuliert», sagt der Althistoriker. Eine Gefahr für die menschliche Ima-

«Je intensiver wir uns mit KI-generierten Bildern beschäftigen, desto stärker wird unsere historische Vorstellungskraft stimuliert.»
Felix K. Maier, Historiker

«Womöglich hat die KI auf Fotos moderner Papstprozessionen zurückgegriffen», vermutet Maier. Ausserdem sahen alle Menschen «wie fünfmal Fitnessstudio» aus und die Stadt Rom wirkte viel zu sauber. «Es war gar nicht so einfach, die Stadt dreckiger und die Menschen etwas durchschnittlicher zu machen», sagt Ströbel. Mit der neuen Plattform, bei der die KI mit präzisen Rekonstruktionen aus der Forschung gefüttert wird, könnten nun viel authenti-

gination sieht er hierbei nicht: «Im steuernden Umgang mit der KI werden wir stets neu herausgefordert, die möglichen Ergebnisse auf Plausibilität zu überprüfen. Die KI bietet visuelle Hypothesen, die der Mensch weiterdenkt.»

Die KI erzeugt keine definitive Visualisierung, sondern lädt dazu ein, verschiedene Szenarien spielerisch

auszuprobieren. Dies kann auch bei der Anwendung im schulischen Kontext von essenzieller Bedeutung sein: «Wenn Schülerinnen und Schüler ein Bild von der Krönung Karls des Grossen gestalten sollen, versetzt die Plattform sie als Bildgestalter:innen mitten ins Geschehen und löst wichtige Fragen aus: Wie inszenierte sich

«Mit unserer Methode entstehen neue Fragestellungen, auch wenn eine römische Sandale nicht ganz korrekt dargestellt ist.»

sammenarbeit ermögliche einen entscheidenden Schritt über die bisherigen Formen interdisziplinärer Kooperation hinaus. In ihrer Forschung erleben beide täglich, dass neue Erkenntnisse häufig dort entstehen, wo scheinbar unverbundene Wissensgebiete aufeinandertreffen. Im digitalen Zeitalter seien solche Grenzüberschreitungen unerlässlich, um komplexe historische Fragestellungen umfassend zu erforschen, sagt Maier.

Phillip Ströbel, Computerlinguist

beispielsweise der Papst, um grösser zu wirken als der Kaiser?», sagt Maier. Solche Auseinandersetzungen führten zu tieferem Verständnis für historische Prozesse – und für die Interessen, die ihnen zugrunde lagen. Die Schülerinnen und Schüler lernten so, eigene Vorstellungen zu entwickeln, Annahmen zu überprüfen und zu reflektieren. Natürlich müsse der Einsatz der Plattform didaktisch begleitet werden. Doch richtig genutzt, könne sie helfen zu erkennen, dass Geschichtsschreibung immer auch Interpretation und Deutung ist.

Genau hinsehen

Dass die KI beim Erstellen von Bildern aus einem historischen Kontext – trotz der nun verfeinerten Modelle –immer wieder Fehler begeht, sehen Maier und Ströbel nicht als Mangel, sondern als Ansporn zu lernen. Selbst wenn die erzeugten Bilder nicht in allen Details historisch präzise seien, könnten sie gerade durch ihre Unschärfen und Ungenauigkeiten wertvolle Lerneffekte bieten. «Mit unserer Methode entstehen neue Fragestellungen, auch wenn eine römische Sandale nicht ganz korrekt dargestellt ist», erklärt Ströbel.

Dass dies funktionieren könnte, zeigte sich bereits bei Studierenden der Alten Geschichte, die verschiedene KI-Modelle testeten. Der Triumphzug erscheine ihnen nun in einem ganz neuen Licht, war das Feedback. Einen vergleichbaren Effekt erhoffen sich Maier und Ströbel auch von einer geplanten Kooperation mit Museen: Besucherinnen und Besucher könnten mithilfe der neuen Plattform eigene Bilder zu ausgewählten Ausstellungsthemen erstellen und so, ganz im Sinne eines partizipativen Konzepts, sogar kleine «Ausstellungen innerhalb der Ausstellung» gestalten.

In Maier und Ströbels Forschungsprojekt treffen zwei sehr unterschiedliche Disziplinen aufeinander: Alte Geschichte und Computerlinguistik. «Natürlich braucht es viel Kommunikation», sagt Maier. «Manchmal muss mir Phillip zehnmal erklären, wie diese KI-Modelle funktionieren.» Doch genau die unkonventionelle Zu-

Die Plattform Re-Experiencing History, die allen Angehörigen der Universität Zürich offensteht, ist dabei nur eines von mehreren digitalen Projekten. Im Ancient Studies Lab am Lehrstuhl von Felix Maier arbeiten mehrere Mitarbeiter an einer KI-gestützten Datenbank zur Übersetzung klassischer Texte und produzieren einen KI-Podcast zu antiken Themen. Maier und Ströbel sind sich sicher: Die Geisteswissenschaften müssen sich aktiv mit KI auseinandersetzen – oder sie riskieren, von ihr überrollt zu werden. Mit Re-Experiencing History öffnen sie die Tür zu einer neuen, bildstarken Art und Weise, Geschichte zu denken und zu erleben.

Prof. Felix K. Maier, felix.maier@hist.uzh.ch

Dr. Phillip Ströbel, phillip.stroebel@uzh.ch reexperiencinghistory.hist.uzh.ch

Das Gehirn beim Lernen beobachten

Moderne Bildgebung trägt

massgeblich dazu bei, das Gehirn immer besser zu verstehen. Das wird langfristig auch helfen, Lernstörungen gezielter zu behandeln und neue Lernmethoden zu entwickeln. An der Universität Zürich werden Verfahren dazu entwickelt.

Text: Adrian Ritter

Was gibt es Schöneres, als wenn die eigene Idee ihren Weg in die Welt findet? Genau diese Erfahrung machen Fritjof Helmchen und sein Mitarbeiter Nikita Vladimirov gerade. Sie arbeiten am Institut für Hirnforschung der UZH an der Weiterentwicklung eines speziellen Mikroskops. Ihr «mesoSPIM» erlaubt es, Hirngewebe innert weniger Minuten dreidimensional abzubilden – etwa ganze Mäusehirne (siehe Bild Seite 42) oder Gewebeproben von Menschenhirnen. Laufend verbessern sie das Mikroskop weiter. Die Bauanleitung für die neueste Version stellen sie jeweils frei zugänglich im Internet zur Verfügung. Forschungseinrichtungen weltweit machen davon Gebrauch – bereits existieren mehr als dreissig Nachbauten.

Kein Wunder: «Ohne bildgebende Verfahren ist keine Hirnforschung möglich», sagt Esther Stoeckli, Professorin am Department of Molecular Life Sciences der UZH. Sie leitet gemeinsam mit Helmchen den Universitären Forschungsschwerpunkt «Plastische Hirnnetzwerke für Entwicklung und Lernen» (siehe Box). Zwei Fragestellungen stehen im Zentrum dieses Verbundes von insgesamt 23 Forschungsgruppen der UZH: Was passiert im Gehirn, wenn es sich entwickelt, und wie verändert es sich, wenn wir lernen? Was sind die Ursachen von Lernstörungen und wie lassen sie sich in Zukunft besser behandeln?

Neuartige Mikroskope

Bildgebende Verfahren sind für die Forschenden zentral. «Die moderne Hirnforschung hat vor rund 150 Jahren mit der Mikroskopie begonnen. Und heute stehen wir vor allem dank verbesserter Verfahren der Bildgebung vor einer neuen Ära, um das Gehirn immer besser zu

verstehen», sagt Helmchen. Dank neu entwickelter Techniken, um einzelne Zellen anzufärben, konnten im 19. Jahrhundert erstmals spezifische Hirnteile mittels Lichtmikroskopie sichtbar gemacht werden. Damals schaute man sich flache Scheiben von präparierten Gehirnen an. Seither ist viel passiert. So entstand etwa das Elektronenmikroskop mit sehr hoher Auflösung. Hinzu kamen neuartige Mikroskope, die Gewebe mit Laserlicht schichtweise abtasten, was 3D­Ansichten ermöglicht, statt nur Scheibenpräparate betrachten zu können.

Biologie und KI inspirieren sich

Heute werden in der Hirnforschung eine Vielzahl von unterschiedlichen Mikroskopen verwendet. Dazu gehören Multi­Photonen­F luoreszenzmikroskope und Lichtscheibenmikroskope – zu letzterer Kategorie zählt das mesoSPIM der Forschungsgruppe Helmchen. Beide Arten von Mikroskopen machen es möglich, die Anatomie der Gehirne von Versuchstieren hochauflösend bis auf die Ebene einzelner Nervenzellen und Synapsen zu betrachten. Die Multi­Photonen­Mikroskopie erlaubt es zudem, die Aktivitätsmuster in den Netzwerken der Nerven zellen zu messen. Wenn es darum geht, dem menschlichen Gehirn bei der Arbeit zuzuschauen, kommt auch die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRI) zur Anwendung. Diese misst Veränderungen des Blutflusses im Gehirn und erlaubt so Rückschlüsse darauf, welche Hirnareale bei bestimmten Aufgaben besonders aktiv sind.

Neuartige Mikroskope waren nicht allein ausschlaggebend für die wachsende Bedeutung der Bildgebung in der Hirnforschung. Weitere Entwicklungen kamen hinzu: So wurde es möglich, Hirnpräparate chemisch so zu verändern, dass sie durchsichtig werden. Dadurch können auch grössere Gewebeblöcke bildlich dargestellt werden, ohne sie zerschneiden zu müssen. Und nicht zuletzt erlauben es Fortschritte in der Informatik, die immer grösseren Datenmengen der Bildgebung zu verarbeiten. Dabei findet heute auch eine gegenseitige Inspiration zwischen Biologie und KI statt: Neue Erkenntnisse aus dem biologischen Hirn machen es möglich, Methoden des maschinellen Lernens daran anzupassen und Gehirnfunktionen zu simulieren. Umgekehrt erlaubt die KI, neuronale Netzwerke zu konstruieren, wie man sie vielleicht auch im Hirn findet, wenn man gezielt danach suchen kann.

«Heute ist fast alles möglich: Wir können tiefer ins Gehirn blicken, Abläufe statt nur Momentaufnahmen

DURCHLEUCHTETES MÄUSEHIRN

Bild: Fabian Voigt/Nicolas Renier/ Thomas Topilko, mesospim.org

Mit dem «mesoSPIM», einem Lichtscheibenmikroskop, das Forschende an der UZH laufend weiterentwickeln, lässt sich ein ganzes Mäusehirn (im Bild das vollständig angefärbte Blutgefässsystem) in kurzer Zeit dreidimensional abbilden, aber auch Gewebeproben von Menschenhirnen. So können die Anatomie und das Funktionieren von Gehirnen bis auf die Ebene von einzelnen Nervenzellen und Synapsen untersucht werden.

beobachten und zudem kleinere Strukturen in immer höherer Auflösung betrachten», sagt Stoeckli. Zudem sind die Abläufe schneller, denn aufwändige Gewebepräparationen, wie sie für die Elektronenmikroskopie nötig sind, fallen bei modernen Mikroskopen oft weg. Allerdings lassen sich viele Verfahren nur im Tiermodell anwenden. So ist es beim Menschen aus ethischen Gründen beispielsweise nicht möglich, Zellen anzufärben oder genetische Veränderungen vorzunehmen. Die Bildgebung allein reicht allerdings nicht, um die Fortschritte in der Hirnforschung zu erklären. Zunehmend wichtig wurden auch genetische und molekularbiologische Ansätze sowie Methoden wie die Elektrophysiologie, die elektrische Impulse im Gehirn aufzeichnet.

Tiefer, schärfer, schneller

Dabei möchte man die Vorgänge bis auf die Ebene der einzelnen Synapsen beobachten, die nur etwa ein Tausendstel Millimeter gross sind. Um möglichst beides zu erreichen, gehen die Forschenden bisweilen ungewöhnliche Wege. Statt allein die Auflösung der Mikroskope

«Die moderne Hirnforschung hat vor rund 150 Jahren mit der Mikroskopie begonnen. Heute stehen wir dank verbesserter
Verfahren der Bildgebung vor einer neuen Ära, um das Gehirn immer besser zu verstehen.»

Die Gruppe um Helmchen gehört zu den weltweit führenden Forschungsgruppen bei der Weiterentwicklung von bildgebenden Technologien. Sie baut neuartige Objektive und Detektoren für Mikroskope und programmiert die entsprechende Software für die Datenverarbeitung. Vor allem aber suchen Helmchen, sein mesoSPIM-Spezialist Nikita Vladimirov und das Team ständig nach weiteren Möglichkeiten, ihr Mikroskop weiterzuentwickeln.

«Mit jedem technologischen Fortschritt können auch neue Erkenntnisse über das Gehirn gewonnen werden», sagt Esther Stoeckli. So kennt man heute viele verschiedene Typen von Nervenzellen im Gehirn. Auch ist es gelungen, das Fliegenhirn als Gesamtnetzwerk aller Neuronen mit all ihren Verbindungen – das sogenannte Konnektom – zu rekonstruieren. Demnächst soll das auch beim Modellorganismus der Zebrafisch-Larve und bis in fünf bis zehn Jahren bei der Maus gelingen, schätzt Helmchen: «Beim Menschen ist man davon aber noch weit entfernt.» Esther Stoeckli und Fritjof Helmchen fokussieren auf unterschiedliche Fragestellungen. Stoeckli untersucht vor allem die Entwicklung des Gehirns vom Embryo bis zum erwachsenen Tier oder Menschen. Dabei interessiert sie speziell, wie die Axone – die Fortsätze von Nervenzellen – ihren Weg finden zu ihren Zielzellen, denen sie Informationen übertragen sollen. Dieser Prozess ist entscheidend für die Bildung neuronaler Netzwerke. Helmchen forscht primär zu den Abläufen im bereits entwickelten Gehirn. Seine Gruppe untersucht unter anderem, wie sich bei Lernprozessen die Signalausbreitung, also die zeitliche Abfolge der Aktivität von Nervenzellen in verschiedenen Hirnregionen, verändert.

Die Herausforderung ist, immer grössere Hirnteile in immer höherer Auflösung darzustellen. Grössere Präparate sind darum interessant, weil bei vielen Prozessen verschiedene Hirnteile gleichzeitig oder zeitlich koordiniert aktiv sind und betrachtet werden sollten.

Fritjof

Helmchen, Hirnforscher

weiter zu verbessern, vergrössern sie neuerdings auch die Präparate mit speziellen biotechnologischen Verfahren. Dabei werden die Zellen sozusagen «aufgeblasen».

Ein Modell der Hirnfunktion

Das Ziel des Universitären Forschungsschwerpunkts bleibt: das gesunde Gehirn verstehen, um anschliessend auch Lernstörungen besser zu verstehen. Auch hier sind noch viele Fragen offen. Die Vision ist, dank neuen Erkenntnissen in Zukunft wirksamere Therapien bei Lernstörungen sowie neue Lernmethoden zu entwickeln. «Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir es schaffen, ein übergeordnetes theoretisches Modell der Hirnfunktion zu kreieren», sagt Helmchen. Es ist der Versuch,

Universitärer

Forschungsschwerpunkt

Biologie des Lernens

Der Universitäre Forschungsschwerpunkt «Plastische Hirnnetzwerke für Entwicklung und Lernen» dauert von 2021 bis 2028. Daran beteiligt sind Forschungsgruppen der Universität Zürich, unter anderem aus Biologie, Medizin, Psychologie, Neuroinformatik und Neuroökonomie. Ziel ist es, die genetischen, molekularen und zellulären Vorgänge zu erforschen, die bei der Entstehung neuronaler Netzwerke mitspielen, und deren Bedeutung für das Verhalten im Tiermodell und beim Menschen zu untersuchen. www.adabd.uzh.ch/de.html

unser Denkorgan in mathematische Formeln zu fassen. Bis es so weit ist, wird es noch Jahre dauern, sind sich Helmchen und Stoeckli einig. Dem Gehirn nur bildgebend passiv zuzuschauen, wird dafür nicht genügen. «So sehen wir nur Korrelationen, aber keine ursächlichen Zusammenhänge», sagt Stoeckli. Wenn etwa die Magnetresonanztomografie zeigt, dass gewisse Hirnareale verstärkt durchblutet sind, was bedeutet das genau?

Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, theoretische Annahmen überprüfen zu können. Dazu braucht es mehr als Bildgebung. «Heute verfügen wir zunehmend über experimentelle Methoden, um aus Modellen abgeleitete Hypothesen auch zu testen», sagt Helmchen. Konkret: Man will mit kleinen Manipulationen ins Hirn eingreifen und beobachten, was sich dabei verändert. Das kann beim Menschen etwa mittels transkranieller Magnetstimulation über den Kopf oder bei Mäusen mit genetischen Veränderungen geschehen.

Zudem gibt es Verfahren, um die Aktivität in den Zellen gezielt zu manipulieren. Dies soll Antworten geben auf Fragen wie: Löst eine Maus eine Aufgabe anders, wenn ein bestimmtes Gen deaktiviert ist? Können Menschen sich Begriffe besser merken, wenn gewisse Hirnareale stimuliert werden? Auch wenn der Weg noch weit ist zu einem umfassenden Verständnis des Gehirns, klar ist für Stoeckli und Helmchen: «In den nächsten Jahrzehnten werden wir viel Neues lernen – vor allem auch dank immer besserer Bildgebung.»

Prof. Fritjof Helmchen, helmchen@hifo.uzh.ch

Prof. Esther Stoeckli, esther.stoeckli@mls.uzh.ch

DOSSIER — Was Bilder erzählen

Verwundeter Regenwald

Mit Satellitendaten kann Alexander Damm-Reiser Biodiversität, Ökosysteme und Umweltschäden analysieren und in Bilder fassen. Damit lässt sich unter anderem objektiv und unabhängig der ökologische Fussabdruck von Unternehmen bewerten.

Text: Theo von Däniken

Zuoberst auf dem Berg klafft eine riesige Wunde: ein Krater, rund zwei Kilometer im Durchmesser und mehrere hundert Meter tief. Die GrasbergMine ist eine der grössten und höchstgelegenen Minen der Welt. Dort, in den abgelegenen Bergen der indonesischen Provinz Papua Tengah, werden Gold, Kupfer und Silber abgebaut. Bis 2019 geschah dies im Tagbau, seither werden die Erze unter Tag abgebaut.

Papua Tengah auf der Insel Papua­Neuguinea ist eine der feuchtesten Regionen der Welt, tropischer Regenwald bedeckt die Hänge bis in die rund 100 Kilometer entfernte Arasura­See des Pazifischen Ozeans. Auf dem Satellitenbild (siehe Bild Seite 45) ist der Krater der

Mine gut zu sehen. Die Gegend südlich der Mine an den Abhängen der Maoke­Berge leuchtet in mal mehr, mal weniger sattem Orange. Das Bild ist eine so genannte Falschfarben­Aufnahme. Sie zeigt den Spektralbereich des nahen Infrarots, den unser Auge nicht erfassen kann, wie Alexander Damm­Reiser, Professor für die Fernerkundung von Wassersystemen, erklärt.

Die Farbe steht dabei für die Vegetationsdichte. Je satter das Orange, desto dichter ist die Vegetation am Boden. Doch mitten durch dieses Meer aus Orange zieht sich eine dunkle breite Narbe: Rund 50 Kilometer unterhalb der Mine bis hin zum Mündungsdelta des Flusses Aikwa windet sich ein breiter Streifen von dunklen Grünund Brauntönen: Es ist der mit Giftstoffen belastete Abraum aus der Mine. « Das ist wie eine Betonfläche», sagt Damm­Reiser, «hier wächst nicht mehr viel, die natürlichen ökologischen Prozesse sind stark beeinträchtigt.»

Die Bilder zeigen eindrücklich: Der Erzabbau in der Mine wirkt sich dramatisch auf die Vegetation und den Wasserhaushalt weit abseits der Mine aus. Die Folgen sind über Dutzende von Kilometern spürbar. Mit dem Blick aus dem All scheint der Zusammenhang zwischen der Mine und der Ödnis weiter unten im Flusstal offensichtlich. «Dank der Bilder», so Damm­Reiser, «können wir einen räumlichen Kontext herstellen und uns zum Beispiel die Dimensionen der Umweltschäden

BRAUNE NARBE IM REGENWALD

Bild: Modifizierte Copernicus-Sentinel-2-Daten / Cloud Score+ / Google Earth Engine

Eine Satellitenaufnahme im nahen Infrarotbereich: Sie zeigt die Umgebung der Grasberg-Mine in Papua-Neuguinea. Der Krater der Neuguinea. Mine ist im oberen türkisen Bereich zu entdecken. Der dichte Regenwald ist orange dargestellt. Durchzogen wird er von einer braunen Narbe (untere Bildhälfte) – sie zeigt den Abraum der Mine. Die Aufnahme macht die ökologischen Probleme deutlich, die die Mine verursacht.

anschauen.» Wie gross ist der Effekt? Wie verändert er sich in Abhängigkeit von Höhenunterschieden, von der Entfernung zum Ozean?

Fehlende Daten zur Biodiversität

Das Beispiel der Grasberg-Mine veranschaulicht, worum es im Projekt «Spatial Sustainable Finance» geht. Zusammen mit dem Finanzwissenschaftler Peter Schwendner und dem Geoinformatiker Patrick Laube von der ZHAW sowie Maria J. Santos und Leon Hauser vom Geografischen Institut der UZH will Damm-Reiser Methoden etablieren, um mit Hilfe von Satellitendaten den Zustand von Ökosystemen im Umkreis von Industrieanlagen oder Rohstoffförderungen zu dokumentieren. Ziel ist es, Anlegern eine wissenschaftlich fundierte und unabhängige Möglichkeit zu geben, den Fussabdruck von Unternehmen auf Wassersysteme und Biodiversität zu evaluieren und in ihre Anlageentscheidungen einzubeziehen.

Das Projekt wurde soeben von der Organisation Geospatial World mit dem Zertifikat für «Excellence in Environmental and Societal Impact» ausgezeichnet. Denn während sich für den Klimawandel etabliert hat, dass Unternehmen ihre Treibhausgasemissionen und weitere klimarelevante Faktoren offenlegen, fehlen entsprechende Daten für die Biodiversität oder die Wasserqualität noch weitgehend. Bilder aus dem All können eine Möglichkeit sein, diesen Mangel auszugleichen. «Die Fern-

«Die Fernerkundung erlaubt
Einblicke in Ökosysteme, die von blossem Auge nicht möglich sind.»
Alexander Damm-Reiser, Remote-Sensing-Forscher

erkundung erlaubt einen Einblick in Ökosysteme, der von blossem Auge nicht möglich ist», sagt Damm-Reiser. Mit optischen Sensoren, Thermalsensoren und Radaroder Mikrowellensensoren können unterschiedliche Bereiche des elektromagnetischen Spektrums gemessen werden. «Diese verschiedenen Wellenlängen interagieren jeweils unterschiedlich mit der Atmosphäre und der Oberfläche und enthalten entsprechende komplementäre Informationen», so Damm-Reiser. Je nach Wellenlänge kann Damm-Reiser aus solchen Messungen Informationen zur Oberflächenbeschaffenheit, Feuchtigkeit, Temperatur, Farbe oder zu weiteren Faktoren ablesen. Sie alle dienen als Indikatoren für Zustände oder Prozesse, die an den beobachteten Stellen ablaufen. Die Infrarotaufnahme ist beispielsweise besonders geeignet, die Dichte und Feuchtigkeit der Vegetation anzuzeigen sowie Wasserflächen zu identifizieren. Pflan-

zenblätter streuen die Infrarotstrahlen stärker als andere Oberflächen. Im Falschfarbenbild wird diese höhere Streuung orange dargestellt. In den Abraum-Ablagerungen wirken die meisten Bereiche grün-grau und zeigen nur ein sehr schwaches Orange. «Das heisst, die Vegetation ist dort weniger dicht und trockener als in der Umgebung», so Damm-Reiser.

Deutlich sind in den Falschfarben-Aufnahmen auch die Wasserläufe zu sehen. Während sedimenthaltige Gewässer auf Fotos oft nicht vom sandigen oder kieshaltigen Flussbett unterschieden werden können, zeichnen sie sich in der Infrarotaufnahme als deutliche schwarze Linien ab. Denn Wasser absorbiert die ganze Strahlung in diesem Wellenlängenbereich. Die Bilder helfen also, ein klareres Bild vom Zustand der Vegetation und des Wassersystems zu erhalten.

Um zu verstehen, wie genau die Mine und ihr Abraum das Ökosystem beeinflussen, reichen diese Daten allein aber nicht aus. «Biodiversität», gibt Damm-Reiser zu bedenken, «ist sehr multidimensional und umfasst beispielsweise die Artenvielfalt und die genetische und funktionelle Diversität.» So könnten thermale Messungen das Bild ergänzen, weil sie indirekt Aufschluss darüber geben, wie viel Wasser die Pflanzen dem Boden entziehen und über den Transpirationsprozess an die Luft abgeben. Dabei wird nämlich die Umgebung abgekühlt. Geht die Transpiration zurück, weil weniger Pflanzen da sind, wird die Umgebung wärmer. «Um die komplexen ökologischen Prozesse zu verstehen, müssen wir in der Regel verschiedene Wellenbereiche und Geodaten miteinander kombinieren.»

Verschmutztes Grundwasser

Damm-Reisers Fachgebiet ist die Fernerkundung von Wassersystemen. Eine besondere Herausforderung dabei ist, dass viele Prozesse in diesen Systemen nicht sichtbar sind und nur indirekt aufgezeigt werden können. Auch hier helfen Modelle und Visualisierungen, um räumliche und zeitliche Zusammenhänge deutlich zu machen. Im Projekt «DeltAs» mit Geochemiker:innen der Eawag/ETH und Hydrolog:innen der Universität Neuchâtel untersucht Damm-Reiser, wie sich die Nutzung des Grundwassers in den Deltas des Roten Flusses und des Mekong in Vietnam verändert. Das ist relevant, weil dadurch vermehrt natürlich vorkommendes Arsen aus dem Himalaya das Grundwasser kontaminiert und somit die Trinkwasserversorgung der Region negativ beeinflusst.

«Grundwasserverschmutzung kann man mit Fernerkundung nicht messen», sagt Damm-Reiser, «aber wir können verschiedene Daten bereitstellen, mit deren Hilfe die Spezialisten Prozesse modellieren können.» Daraus wiederum kann man Rückschlüsse auf mögliche Verschmutzungen ziehen. Konkret werten Damm-Reiser und sein Team verschiedene Messungen von optischen und Radarsatelliten aus und erstellen daraus Karten, die zeigen, wo sich auf der Erdoberfläche Wasser befindet.

Denn Wasser – eine glatte Oberfläche – absorbiert fast alle einfallende Sonnenstrahlung und streut Radarstrahlen im Gegensatz zu anderen Oberflächen nicht zurück.

Auch diese Visualisierung ist eindrücklich: Im Verlauf der Zeit werden immer grössere Flächen der Deltaregionen auf der Karte blau dargestellt. Das Blau ist dabei ebenfalls eine Falschfarben-Darstellung, welche die von Auge weniger gut sichtbare Entwicklung verdeutlicht: Immer mehr Flächen sind immer häufiger mit Wasser bedeckt – wahrscheinlich wegen des zunehmenden Reisanbaus in der Region. Daraus lässt sich schliessen, dass dort immer mehr Grundwasser an die Oberfläche gepumpt wird.

Aufgrund dieser Daten können Hydrologen und Geochemiker modellieren, wie dies die Grundwasserströme beeinflusst. Je nachdem, durch welche geologischen Schichten das Wasser dabei fliesst, kann es sein, dass normalerweise an Eisen gebundenes giftiges Arsen freigesetzt wird. Dadurch wird es zu einer gesundheitlichen Gefahr für die Trinkwasserversorgung. Die bildliche Darstellung der Wasserverwendung an der Oberfläche zeigt dabei, wo Prozesse im Untergrund ablaufen. Sie führt so zu einem besseren Verständnis der direkt nicht sichtbaren Vorgänge.

gemessen werden. Damm-Reiser ist aktuell an der Entwicklung des Fluorescence-Explorer-Satelliten (FLEX) der Europäischen Raumorganisation ESA beteiligt, der genau diese Strahlung messen soll. Das Wissen aus der Pflanzenphysiologie hilft dabei, die Messdaten in einen Zusammenhang mit dem Umweltstress für die Pflanzen zu bringen.

Dieser interdisziplinäre Ansatz gilt auch für das Projekt «Spatial Sustainable Finance». «Wenn wir Karten

«Um die komplexen ökologischen Prozesse zu verstehen, müssen wir verschiedene Geodaten kombinieren.»

Alexander Damm-Reiser, Remote-Sensing-Forscher

Zusammenarbeit mit Pflanzenphysiologen

Nicht nur für das Vietnam-Projekt ist Damm-Reiser, dessen Arbeitsgruppe an der UZH und der Eawag angesiedelt ist, stets im Austausch mit Spezialistinnen und Spezialisten aus anderen Disziplinen. Das ist notwendig, um zu verstehen, wie die Satellitendaten etwa im Hinblick auf biologische Prozesse interpretiert werden können: «Wenn wir auf die Dürren in den Wäldern schauen, dann müssen wir Pflanzenphysiologen beiziehen, um zu verstehen, wie sich Pflanzen unter Wasserstress verhalten», so Damm-Reiser.

Hat eine Pflanze zu wenig Wasser, dann schliessen sich die Stomata, die Poren in den Blättern, was sich auf die Photosynthese auswirkt. Weil bei der Photosynthese das Chlorophyll in den Blättern ein schwaches Fluoreszenzlicht ausstrahlt, kann diese Aktivität optisch

bereitstellen, die das Risiko von Wasserverschmutzung oder Biodiversitätsrisiken aufzeigen, dann ist das eine Sache», so Damm-Reiser, «um zu bewerten, welchen finanziellen Effekt das für die Anleger hat, müssen wir aber mit Finanzexperten zusammenarbeiten. Das schafft einen viel grösseren Mehrwert.» Damm-Reisers Bilder veranschaulichen aber auch für Laien: Die intensive Nutzung durch den Menschen hinterlässt Spuren in den Ökosystemen – und nicht immer sind sie als Wunden und Narben sichtbar.

Prof. Alexander Damm-Reiser, alexander.damm@geo.uzh.ch www.spatial-sustainable-finance.ch www.deltas.ethz.ch www.esa.int/flex

UZH LIFE — Jubiläum 500 Jahre «Prophezey»

Zwingli, Gott und UZH

Vor 500 Jahren hielt Reformator Huldrych Zwingli im Grossmünster Bibelstunden ab. Jahrhunderte später entstand daraus die Universität Zürich. Damals prägte die Kirche die Welt, heute schwindet ihre Bedeutung. Was hat die Theologie der Gesellschaft noch zu sagen? Im Herzen der Zürcher Reformation: Theologin Judith Engler und Theologe Konrad Schmid auf einem der Türme des Zürcher Grossmünsters.

Text: Andres Eberhard

Bilder: Ursula Meisser

Montag, 19. Juni 1525, um 8 Uhr morgens: Eine Gruppe von Pfarrern, Chorherren und Schülern versammelt sich im Zürcher Grossmünster. Die Männer setzen sich auf die Holzbänke zuhinterst im Chor und beten zu Gott, er möge sie leiten, die Heilige Schrift richtig zu verstehen. Dann schlagen sie die Bibel auf, lesen und übersetzen –in Latein, Hebräisch und Griechisch. Sie beginnen ganz zuvorderst bei Genesis 1 – «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde». In der Folge arbeiten sie sich vor, Vers für Vers, Tag für Tag, ausser Freitag, dem Markttag, und Sonntag. Es sind dies die ersten «Vorlesungen» in Zürich überhaupt. Vielleicht wäre «Seminare» das bessere Wort, da der Austausch ausdrücklich erwünscht ist. Die Bibelstunden, die als «Prophezey» bekannt sind, sollten zum Vorläufer der höheren Bildung in Zürich werden. Nur wenige Jahre später kommt mit Conrad Gessner ein erster Naturwissenschaftler an das Grossmünsterstift. Später werden dort auch Handwerkskunst,

Geografie und Französisch gelehrt. Doch das alles braucht viel Zeit: Erst 1833, also drei Jahrhunderte nach der «Prophezey», wird die Universität Zürich offiziell gegründet. Von alledem wissen die Herren, die sich 1525 erstmals treffen, nichts. Die Reformation ist gerade in vollem Gang. Der Zürcher Rat hat Huldrych Zwingli, Leutpriester am Grossmünster, grünes Licht gegeben für die «Prophezey». Damit sollen Hebräisch, Griechisch und Latein gelehrt werden – die drei Sprachen, die «zuo rechtem verstand der göttlichen gschriften ganz notwendig sind». Die Lektionen sollen gemäss dem Auftrag von «gelert, kunstrich, sittig männer» gehalten werden – also Männern wie Zwingli, der in Wien die «sieben freien Künste» sowie in Basel Theologie studiert hatte. Als Resultat der täglichen Seminare sollte Jahre später die Zürcher Bibelübersetzung entstehen.

Altgläubige Pfarrer «umerziehen»

500 Jahre nach den Urvätern der Universität steht Judith Engeler vor dem Grossmünster-Chor und erklärt, warum es falsch wäre, Zwingli als Gründervater der Forschung im

Das Alte Testament auslegen: Die Reformatoren Huldrych Zwingli und Konrad Pellikan im Kreis von Gelehrten. (Undatierter Stich)
Die meisten Hochschulen Europas gehen auf Institutionen zurück, in denen ursprünglich Pfarrer ausgebildet wurden.

heutigen Sinn zu bezeichnen. «Er wollte in erster Linie die altgläubigen Pfarrer ‹umerziehen›», sagt sie. So wurde die «Prophezey» für die Geistlichen der Stadt auch zur Pflichtveranstaltung gemacht.

Engeler ist Postdoktorandin und Habilitandin an der UZH und hat im Rahmen ihrer Doktorarbeit zur Reformation geforscht. Konkret untersuchte sie die Vorgänge rund um das Erste Helvetische Glaubensbekenntnis von 1536. Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 500-Jahr-Jubiläum der «Prophezey» erarbeitet sie gemeinsam mit Studierenden eine kurze Führung zu den Ereignissen von damals (siehe Kasten unten). Das Beispiel der «Prophezey» zeige, dass die Reformation keineswegs von unten stattgefunden hat, führt Engeler aus. «Die schöne Idee der Reformation, wonach jeder die Bibel selber lesen und verstehen sollte, war damals einfach nicht praktikabel.» Einerseits, weil längst nicht jeder lesen konnte. Andererseits, weil eine Bibel für die allermeisten viel zu teuer war. «Sie kostete einen Handwerkermeister einen halben Monatslohn.»

Dass es vielmehr eine «Reformation von oben» war, zeigte sich auch bei Zwingli selbst. Er persönlich habe, nachdem die Bibelstellen in verschiedenen Sprachen vorgetragen und miteinander verglichen worden waren, die Gesamtdeutung des Textes übernommen. «Nach den Übersetzungen und Diskussionen sagte er mehr oder weniger, was gilt», so Engeler. Historischen Quellen ist zu entnehmen, dass im Anschluss an die Seminare jeweils um 9 Uhr ein Gottesdienst für das Normalvolk stattfand. Ein Pfarrer übersetzte das zuvor in verschiedenen Sprachen Gelernte «in guot Tütsch». Verstehen, wer wir sind

Dass es Theologen waren, die am Ursprung der Gründung der Universität Zürich standen, ist nicht aussergewöhnlich. Auch die meisten anderen Hochschulen Europas gehen auf Institutionen zurück, in denen ursprünglich Pfarrer ausgebildet wurden. Das Schulwesen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war Aufgabe der Kirche. Staatliche Schulen gab es damals noch nicht. Wer es sich leisten konnte, besuchte wie Zwingli eine private Lateinschule und studierte danach an einer der wenigen Universitäten in Europa, Basel, Heidelberg, Wien, Paris, Mailand, Bologna oder Pisa. Ziel von höherer Bildung war es oft, das Volk religiös zu erziehen. Die «Prophezey», zwischen Lateinschule und Universität angesiedelt, bildete dabei keine Ausnahme.

Als Pfarrerin und Theologin an der Universität Zürich ist Judith Engeler eine Nachfolgerin der Gelehrten der «Pro-

phezey». Sie repräsentiert aber auch die heutige Generation von Theologinnen, die mit den «gelert, kunstrich, sittig männer» von damals praktisch nichts zu tun haben: jünger, diverser, moderner. Und was die Studieninhalte betrifft: wissenschaftlich frei statt an ein Bekenntnis gebunden.

Dafür hat die heutige Generation von Theologen mit anderen Problemen zu kämpfen, die den Theologen von damals fremd waren. Die reformierte wie auch die katholische Kirche verlieren seit Jahrzehnten dramatisch an Mitgliedern. Entsprechend schwindet die Bedeutung von Kirche und Theologie. Was verlieren wir dabei? Wo kann sich die Theologie heute noch einbringen? Um diese Fragen zu beantworten, bittet Engeler in ihr wenige Schritte entferntes Büro im Theologischen Seminar. Dieses befindet sich in den Räumlichkeiten des ehemaligen Chorherrenstifts.

Dorthin verlegten die Gelehrten ihre Bibelstunden nach einiger Zeit. Denn die «Prophezey» koppelte sich immer mehr vom anschliessenden Gottesdienst ab. Ausserdem war es im Chor des Grossmünsters im Winter richtig kalt – da kam den Gelehrten die «Chorherrenstube», der einzige beheizbare Raum weit und breit, gerade recht. Noch heute gibt es im Stift einen Kreuzgang, doch der Bau ist mehrheitlich nicht mehr original. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Grossmünsterstift abgebrochen und durch den Neubau einer Mädchenschule ersetzt.

Jubiläum 500 Jahre «Prophezey»

Übersetzen, verstehen, vermitteln

An der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät (TRF) der UZH forschen und lehren heute Wissenschaftler:innen mit neusten Methoden zu aktuellen Themen rund um Theologie, Religion und Spiritualität. Die Wurzeln der TRF reichen weit zurück, bis ins Jahr 1525. Damals wurde in Zürich die «Prophezey», eine Arbeitsgemeinschaft zur Übersetzung und Auslegung der Bibel, gegründet. Seit einem halben Jahrtausend wird an der Kirchgasse im Herzen von Zürich übersetzt, diskutiert, verstanden und vermittelt. Das 500-JahrJubiläum wird an der UZH mit zahlreichen Veranstaltungen auch für ein breites Publikum begangen.

Informationen zum Anlass und zu Veranstaltungen: www.1525.uzh.ch

In ebendiesem Kreuzgang bleibt Engeler kurz vor einem Druck an der Wand stehen, der Zürich im Jahr 1576 zeigt. «Wie klein die Stadt damals war», sagt sie und zeigt auf den Ort, wo sich heute das Hauptgebäude der Universität Zürich befindet –ausserhalb der Stadtmauer. Der Standort des heutigen Hauptbahnhofs befindet sich am äussersten Rand der Karte.

Als sie schliesslich auf ihrem Bürostuhl sitzt, sagt Engeler: «Die Bedeutung von Religionen nimmt nicht ab.» Sie denkt kurz nach, erwähnt die Entwicklungen in den USA und andernorts auf der Welt, wo Fundamentale mehr denn je das Sagen haben, und präzisiert: «Vielleicht kann man sagen: Die Bedeutung reflektierter Religion nimmt ab.» Sie sieht viele Themen, wo sich Theologinnen einbringen könnten. «Denn den Glauben an irgendwas wird es immer geben.» In ihrer Rolle als Kirchenhistorikerin könne sie dazu beitragen, zu verstehen, warum wir sind, wer wir sind. «Unsere Gesellschaft ist massgeblich

vom Christentum geprägt. Und das Bedürfnis nach Sinndeutung ist heute genauso sehr vorhanden wie früher.»

Eine wichtige Aufgabe von Theologie für die Gesellschaft sieht Engeler darin, ideologiekritisch zu sein. «Wir müssen uns bewusst sein, dass wir immer falschliegen können. Auch wenn wir heute noch so sicher sind, dass beispielsweise Aufrüstung das Richtige ist. In 100 Jahren wird man vieles, was wir heute tun und was wir ehrlich und redlich für das Beste halten, ganz anders beurteilen.»

Götter als moralische Instanzen

Zur Frage, was die Theologie der Gesellschaft heute noch zu sagen hat, hat auch Konrad Schmid einiges zu sagen. Der UZH­Professor ist Vorsteher des Theologischen Seminars und einer der renommiertesten Theologen der Schweiz. Schmid beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie der Glaube an eine höhere Macht zu einem zentralen Faktor für die Ordnung der Gesellschaft wurde. Ein von ihm initiiertes und von der EU gefördertes Forschungsprojekt trägt den Titel «How God became a lawgiver». Schmid sagt: «Wir fragen uns, wie es überhaupt dazu kam, dass Menschen nicht nur an Götter glaubten, die Blitze vom Himmel schickten oder die Erde beben liessen, sondern auch an Götter als moralische und rechtliche Instanzen.»

So gibt es im Alten Testament auch zahlreiche juristische Passagen, die als Gottesrecht präsentiert werden. Zum Beispiel wird im zweiten Buch Mose die Todesstrafe erwähnt: «Wer einen Menschen schlägt, so dass er stirbt, muss getötet werden.» Aber auch ganz banale Vergehen werden geschildert und Strafen vorgeschlagen: «Wenn jemand eine Zisterne offen lässt (...) und es fällt ein Rind oder ein Esel hinein, muss der Besitzer der Zisterne Ersatz leisten. Er muss dem Besitzer des Tieres Geld erstatten, das tote Tier aber gehört ihm.»

«Die Bibel ist ein altes Buch», sagt Schmid, «das sollte man nie vergessen. In Teilen ist sie patriarchal, xenophob, sexistisch. Auf jeden Fall nicht politisch korrekt.» Ihre Schriften müssen deshalb historisch und kritisch gelesen werden, da sie in eine vergangene, nicht in unsere Zeit hineinsprechen. Warum sollten wir uns heute noch mit der Bibel und der Religion beschäftigen? Zum einen gehe vergessen, dass schweizweit nach wie vor mehr Menschen am Sonntag in Gottesdienste gehen als zu manchem Vereinsanlass, so Schmid. Zum anderen sagt er: «Alle Menschen sind im weiteren Sinne religiös.» Er begründet dies damit, dass «niemand darum herumkommt, sich mit zwei fundamentalen geistigen Her­

«Unsere Gesellschaft ist massgeblich vom Christentum geprägt. Das Bedürfnis nach Sinndeutung ist heute genauso vorhanden wie früher.» Judith Engeler, Theologin
«Wir Menschen sind viel stärker von dem geprägt, was wir nicht kontrollieren können, als von dem, was in unserer Macht steht.»
Konrad Schmid, Theologe

ausforderungen zu beschäftigen.» Erstens: unsere Endlichkeit. Zweitens: die Zufälligkeit unserer Existenz. «Alle werden sterben. Und niemand kann sich aussuchen, ob er im dritten Jahrhundert in Afrika oder im 20. Jahrhundert in der Schweiz auf die Welt kommt.» Mit diesen beiden Fragen, die unsere Kultur massgeblich geprägt hätten, beschäftige sich die Theologie. «Und wer über diese Fragen nachdenkt, denkt im Grunde religiös», so Schmid.

«Geistige Verwahrlosung»

Auch Schmids Büro befindet sich im ehemaligen Grossmünsterstift, auf der diagonal gegenüberliegenden Seite des Kreuzgangs. Zur Frage, was die Theologie zu aktuellen politischen Debatten beitragen kann, sagt der UZH-Professor: «Ein Auftrag von Theologen ist es, Schindludereien zu entlarven, die mit Religion getrieben werden.» Als solche bezeichnet er beispiels-

weise das unter amerikanischen Evangelikalen verbreitete «Prosperity Gospel», das sogenannte Wohlstandsevangelium, wonach Reichtum ein Zeichen für Gottes Erwählung sei. «Während sich die Debatten um ökonomische Fragen drehen, sehe ich vor allem geistige Verwahrlosung in einem Land, das nur mehr das Recht des Stärkeren durchsetzen will», sagt Schmid. Konrad Schmid ist keiner, der sich im Kleinklein von theologischem Fachwissen verliert. Wenn er spricht, zeichnet er immer auch das ganz grosse Bild mit. Als der emeritierte UZH-Professor Carel van Schaik und Kai Michel vor einigen Jahren mit ihrem Buch «Das Tagebuch der Menschheit: Was die Bibel über unsere Evolution verrät» durch die Schweiz tourten, war er es, der die Debatte mit dem Anthropologen und dem Historiker um das Erbe der Bibel aufnahm.

Wie Engeler sieht Schmid eine Funktion der Theologie auch in der Ideologiekritik. Er beschreibt sie mit der «Ethik des Vorletzten», die der Theologe und Nazi-Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer geprägt hatte. Unsere Welt sei nur das Vorletzte, so die Idee. Das Letzte hingegen sei eine Wahrheit, die nicht in unseren Händen liegt – was Religionen als gottgemacht bezeichnen. «Wir Menschen sind viel stärker von dem geprägt, was wir nicht kontrollieren können, als von dem, was in unserer Macht steht», so Schmid. Entsprechend könne niemand sagen, was das Letztgültige ist. «Wir wissen es nicht besser.»

Nirgends sonst als in diesem Punkt werde die Theologie derart missverstanden, fährt er fort. Er erwähnt als Beispiel die Präambel der Bundesverfassung. Diese beginnt mit den Worten: «Im Namen Gottes des Allmächtigen». Immer wieder komme der Vorschlag, die Präambel sei zu streichen, weil sie in der heutigen, säkularen Gesellschaft nicht mehr zeitgemäss sei – Gott habe in der Verfassung nichts zu suchen. «Dabei weist der Satz darauf hin, dass die Verfassung von Menschen und eben nicht von Göttern geschrieben ist. Dass wir eben nicht über die letzte Wahrheit verfügen.»

Dass die Bundesverfassung mit Gott beginnt, zeigt nicht nur, wie stark unsere Gesellschaft vom Christentum geprägt ist. Es bringt Konrad Schmid auch auf einen weiteren Gedanken: Sind die Kirchen hierzulande vielleicht auch darum auf dem Rückmarsch, weil ihre Funktion für die Gesellschaft längst erfüllt ist? «In der Bundesverfassung stehen Sätze wie ‹Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen›. Wenn es so ist, dass die Werte des Christentums im Staat aufgegangen sind, ja dann ist der Rückgang der Kirche für sich genommen keine Katastrophe.»

PORTRÄT — José Oberholzer

Mit dem Roboter operieren

José Oberholzer gehört weltweit zu den Ersten, die mit dem Roboter Organe transplantierten. Heute forscht er zu Zelltherapien für Diabetes, verpflanzt Nieren und Bauchspeicheldrüsen und fördert den Nachwuchs.

«Die ersten Operationsroboter waren wie ein Fiat 500, heute arbeiten wir dagegen mit einem Ferrari.»
José Oberholzer,

Text: Simona Ryser

Bilder: Marc Latzel

Er sei ein wilder Junge gewesen, lacht José Oberholzer. Schon als kleiner Bub hat er einen Teddybären aufgeschnitten und war enttäuscht, dass da nur Stroh drin war. Heute operiert er nicht mehr Spielzeug, sondern Menschen und verhilft ihnen zu einem neuen Leben. Der Professor an der Medizinischen Fakultät der UZH und Chefarzt und Vorsitzende des Departements für Viszeral- und Transplantationschirurgie am Universitätsspital Zürich (USZ) gehörte vor 20 Jahren mit seinem Team in Chicago zu den weltweit Ersten, die Transplantationen mit Robotertechnik durchführten. Mittlerweile hat er schon mehr als 500 solcher Operationen gemacht und zahlreiche Chirurgen und Chirurginnen darin ausgebildet. Routiniert transplantiert er Nieren und Bauchspeicheldrüsen und entfernt Tumoren von Leber und Bauchspeicheldrüse. Inzwischen assistiert er viel, um seine Erfahrung an die nächste Generation weiterzugeben.

Diese Woche hat er Leberdienst. Es ist ruhig heute, vorläufig keine OP. Wir sitzen in Oberholzers Büro, der gerade von einer Forschungssitzung kommt. Dort ging es um die Organperfusion, die Versorgung des Transplantats, wenn es ausserhalb des Körpers aufbewahrt wird. Dies ist bei einer Lebertransplantation besonders heikel. Im Gegensatz zur Niere, die sechsunddreissig Stunden konserviert werden kann, kann die Leber nur etwa zehn Stunden aufbewahrt werden, danach gibt es irreversible Schäden. «Weil es keine Überbrückungstherapie gibt wie die Dialyse bei der Nierentransplantation, kann der Patient oder die Patientin sterben, wenn die Leber nicht schnell funktioniert», erklärt Oberholzer. Mit der neuen Methode, die er und sein Team entwickelt haben, lässt sich die Qualität der Leber in Echtzeit messen, um bestmögliche Gewissheit zu bekommen, dass das Organ nach der Transplantation auch funktionieren wird.

Forscher und Chirurg

José Oberholzer sitzt im weissen Kittel da und erzählt mit ruhiger, warmer Stimme. Dezent hinter dem Schreibtisch steht ein schlichtes Bett, wo er sich nach langen Nächten im Operationssaal ausruhen kann, bevor es

Berg oder Strand?

Patente Zellen und digitale Kugelschreiber

Welches ist die grösste Entdeckung Ihres Fachs?

Die Entdeckung, dass isolierte Zellen die Funktion eines ganzen Organs übernehmen können. Dies wurde erfolgreich bei Typ-1-Diabetes angewandt. Wir haben Patienten, die schon seit 20 Jahren kein Insulin mehr spritzen müssen nach einer einfachen Infusion von Insulin produzierenden Zellen, statt einer komplizierten Pankreastransplantation.

Wo sind Sie am kreativsten?

Wenn ich mit einer diversen Gruppe von Grundlagenforschenden, Ingenieur:innen, Mediziner:innen, Chirurg:innen, Studierenden und Geschäftsleuten neue Therapien entwickeln darf.

Was tun Sie, um den Kopf auszulüften und auf neue Gedanken zu kommen?

Dabei helfen mir meine Frau, Familie und Sport. Am liebsten laufe ich Langstrecken, mache Radtouren und im Winter Snowboarding und Touren auf meinem Splitboard.

Mit welcher berühmten Persönlichkeit würden Sie gerne abendessen und weshalb?

Mit Robert Langer, Institutsprofessor am MIT in Cambridge in den USA. Ich kenne ihn gut, durfte einige Publikationen mit ihm erarbeiten, habe viel mit ihm geredet, aber nie ausgelassen wie während eines Nachtessens. Langer hat über 40 erfolgreiche Firmen gegründet, Moderna ist nur ein Beispiel.

Drei Bücher, die Sie auf eine einsame Insel mitnehmen würden?

«Le Petit Prince» von Antoine de Saint-Exupéry, «Grieche sucht Griechin» von Friedrich Dürrenmatt und «The Boys in the Boat» von Daniel James Brown.

Kugelschreiber oder Laptop?

Digitaler Kugelschreiber. Ich schreibe gerne von Hand auf Papier, und der digitale Kugelschreiber macht dann gleichzeitig eine elektronische Kopie in der Cloud.

Berg oder Strand?

Strand an einem Bergsee. Ich liebe Wasser, Schwimmen und Windsurfen, und ich liebe die Berge. Am besten also beides zusammen.

«Plötzlich ist mir bewusst geworden, wie viel Glück ich in meinem Leben gehabt habe.»
José Oberholzer, Transplantationschirurg

weitergeht. Oberholzer hat in Zürich und Fribourg Medizin studiert, nach seinen chirurgischen Lehr- und Wanderjahren landete er 1996 an den Hôpitaux Universitaires de Genève. «Diese Jahre waren prägend und sicher karriereentscheidend, auch für mein heutiges breites chirurgisches Repertoire», sagt Oberholzer rückblickend. In Genf erhielt er eine solide akademische Grundausbildung. Und er konnte in die Laborforschung einsteigen, wo er an den ersten Studien zur Zelltherapie bei Diabetes mitarbeitete und schon bald, als blutjunger Kerl, die Forschungsgruppe für Inselzelltransplantation leitete.

Doch der junge, ehrgeizige Oberholzer wollte nicht nur im Labor arbeiten, er wollte auch Chirurg werden. «Mir war klar, dass ich viel Operationserfahrung brauchte, um eines Tages zu den Besten zu gehören.» Es gelang ihm, seinen Chef Philipp Morel, der ihn eigentlich vor allem ihm Labor wollte, zu überzeugen, ihn neben dem Forschen auch operieren zu lassen. Dafür sei er ihm sehr dankbar, sagt Oberholzer, noch heute sei sein Mentor wie ein Vater für ihn.

Marokko und Urdorf

Nach sechs Jahren in Genf zog es den jungen Arzt dann ins Ausland, zuerst mit einem Fellowship an die University of Alberta in Edmonton und dann an das University of Illinois Hospital & Health Sciences System in Chicago, wo er eine Professur für Chirurgie, Bioengineer ing und Endokrinologie antrat und später, 2007, Chefarzt und Leiter des Transplantationsprogramms wurde. «Eigentlich wollte ich ja nur drei Jahre bleiben und dann zurück in die Schweiz gehen», sagt Oberholzer. Er seufzt und schmunzelt. Aus den drei Jahren sind zwanzig geworden. Seine Frau, eine Neurobiologin – sie ist sein «Highschool-Sweetheart», die beiden kennen sich seit der Zeit an der Kantonsschule Limmattal – war einverstanden und beschloss, sich erst mal um die Kinder zu kümmern. Und so wurde die Familie allmählich heimisch in Amerika.

Auf die Frage, wer er eigentlich sei, antwortet Oberholzer verschmitzt: «Ich bin ein ‹Mischling›.» Oberhol-

zer ist nämlich in Marokko geboren und hat bis zur Einschulung in Tanger gelebt. Seine Mutter ist Spanierin – darum auch der Vorname. Sein Vater, ein Banker, kommt aus Uznach. Er sei ein Abenteurer gewesen und sei herumgereist, erzählt Oberholzer. In Marokko hat der Vater dann eine Familie gegründet. Als der kleine José in den Kindergarten sollte, sind sie nach Urdorf gezogen – wo er erst mal kein Wort verstanden habe, lacht Oberholzer. Doch bald habe er ein ganz normales Kinderleben in einer Schweizer Familie geführt.

Einen Moment lang ist es still. Oberholzer kommt auf die Zeit in Illinois zurück. «Das war ein glücklicher Zufall», sagt er kopfschüttelnd. Das Hospital besass nämlich als erstes Spital überhaupt einen Operationsroboter. «Dadurch war ich bei der robotischen Chirurgie an vorderster Front dabei.» In Chicago wurde 2008 die weltweit erste robotische Nierentransplantation vorgenommen. Oberholzer hat noch mit der ersten Generation des «Da Vinci», wie das smarte Ungetüm heisst, operiert. «Die ersten Operationsroboter waren wie ein Fiat 500, heute arbeiten wir dagegen mit einem Ferrari», erklärt er. Teamwork im Operationssaal

Szenenwechsel: Operationssaal 2 am USZ, 8 Uhr morgens. Es ist eine ruhige und konzentrierte Atmosphäre. Auf dem Aufbau in der Mitte liegt der Nierenspender. Man

sieht ihn nicht, er ist steril abgedeckt, über ihm die Arme des Roboters. José Oberholzer und der leitende Oberarzt Fabian Rössler sind die Operateure. Oberholzer hat Rössler in der robotergestützten Chirurgie ausgebildet. Beim Eingriff geht es darum, eine Niere für eine Transplantation zu entnehmen. Die beiden Ärzte arbeiten im Team. Bei dem minimalinvasiven Eingriff gibt es nur wenige Körperschnitte. Oberholzer arbeitet direkt am Patienten. Die verlängerten Präzisionsinstrumente gehen durch eine kleine, geschützte Körperöffnung in den Bauchraum. Auf dem Bildschirm verfolgt er die Operation. Rössler bedient den Roboter. Er sitzt an einem Apparat an der Wand, den Kopf in eine Art Guckkasten versenkt. Darin sieht er virtuell, in 3D­Optik, den Bauchraum des Patienten. Seine Hände an Steuerhebeln machen kleine routinierte Bewegungen. Die beiden Operateure arbeiten konzentriert, ab und zu fällt ein Wort. Sie legen die Niere frei. Nach gut anderthalb Stunden sagt Oberholzer, man könne oben anrufen. Die Empfängerin kann jetzt in die Anästhesie gebracht werden. Bis zur eigentlichen Organentnahme wird es noch eine knappe Stunde dauern. Bis dann wird die Patientin im Operationsaal einen Stock höher bereit sein für die Transplantation.

Glücklicher Redner

Zurück im Büro von José Oberholzer. Die vielen grün leuchtenden Pflanzen schaffen eine angenehme Atmosphäre. Oberholzer schüttelt lachend den Kopf. Ihm ist in den Sinn gekommen, wie er einst in Washington am National Institut of Health (NIH) als Keyredner auf dem Podium stand, im Publikum Leute vom NIH und von der Food and Drug Administration FDA, die seiner Forschungsgruppe die Bewilligung für die Inselzelltherapie bei Diabetes gesprochen hatte. Da sei er auf einmal emotional geworden, er habe seine Rede kurz unterbrechen müssen. Er sah sich, den kleinen Jungen aus dem Limmattal, wie er nun so dastand in Washington vor all diesen gescheiten Leuten, deren Bücher er für seine medizinische Bildung gelesen hatte. «Plötzlich ist mir bewusst geworden, wie viel Glück ich in meinem Leben gehabt habe», sagt er. Es war ein Schlüsselmoment. Immer öfter dachte er aber auch, dass es allmählich an der Zeit sein könnte, in die Schweiz zurückzukehren. «Ich hatte so viele Möglichkeiten in den USA, ich konnte mich verwirklichen, dafür war ich sehr dankbar. Doch all die Menschen und die Institutionen, die mich gefördert, ausgebildet und unterstützt haben, waren in der Schweiz», sagt Oberholzer. Er wollte etwas zurückgeben. Zwanzig Jahre lang hat José Oberholzer in Amerika gearbeitet, geforscht, gelehrt und gelebt. Seine inzwischen erwachsenen Kinder, eine Umweltwissenschaftlerin und eine angehende Architektin – sind noch immer dort. Aus der amerikanischen Kultur hat er die flachen Hierarchien, die Kultur der Nachwuchsförderung und den Sinn fürs Teamwork mitgenommen. Oberholzer schweigt einen Moment. Er wirkt entspannt. Dann muss er los – der nächste Termin steht an in der eng getakteten Agenda.

Auf wankendem Grund: Die Sinologin Polina Lukicheva und der Ökonom Philippe Tobler haben eine interdisziplinäre Ringvorlesung zum Thema «Unsicherheit» organisiert.

Interview: Roger Nickl und Thomas Gull

Bilder: Stefan Walter

Polina Lukicheva, Philippe Tobler, Sie haben in diesem Frühjahrssemester an der UZH eine Ringvorlesung zum Thema «Uncertainty» mit prominenten Gästen aus der ganzen Welt

organisiert. Anlässlich von Kriegen, Krisen und KI haben wir das Gefühl, in unsicheren Zeiten zu leben, in denen alte Gewissheiten nicht mehr gelten. Teilen Sie diese Befindlichkeit?

Philippe Tobler: Historisch gesehen leben wir in relativ sicheren Zeiten. Daran haben wir uns gewöhnt und nehmen deshalb verunsichernde Entwicklungen

INTERVIEW — Unsicherheit

Aus der Balance

Das Gefühl von Unsicherheit kann belastend sein, aber auch eine Chance, um Neues zu lernen, sagen Polina Lukicheva und Philippe Tobler. Die Sinologin und der Ökonom über Stress, Orientierungskrisen und Unsicherheit als Normalzustand.

und Ereignisse besonders deutlich wahr. Beispiele für solche Ereignissen gab es in den letzten Jahren einige: ökonomische Instabilität durch Inflation und Zinsen, ein steigendes Bewusstsein für den Klimawandel, geopolitische Spannungen. Es ist für viele Menschen das erste Mal, dass sie einen bedrohlichen Krieg auf europäischem Boden miterleben. Zudem war Covid-19 ein

einschneidendes Ereignis, das zu einem Gefühl von Unsicherheit bezüglich der öffentlichen Gesundheit führte und das Vertrauen in Institutionen auf die Probe stellte.

Polina Lukicheva: Das Gefühl, in besonders unsicheren Zeiten zu leben, spiegelt möglicherweise auch einen «Gegenwartsbias»: Das Jetzt erscheint uns gemäss

diesem oft instabiler als das Vergangene. Aber war die Welt je wirklich «sicher»? Selbst im Westen finden wir kaum eine Generation, die keine grössere Erschütterungen miterlebt hat – Weltkriege, Finanzkrisen, gesellschaftliche Umbrüche. Der Zerfall der Sowjetunion war ein geopolitischer Schock mit globalen Folgen, die wir bis heute spüren. 9/11, die Finanzkrise 2008, die Pandemie, der Krieg in der Ukraine: Brüche scheinen eher die Regel als die Ausnahme in einem rückblickend oft überschätzten Bild globaler Stabilität zu sein.

Unsicherheiten lösen individuell und in der Gesellschaft Stress aus. Das heisst, sie scheinen nicht gut zu sein für uns. Ist das so?

Tobler: Unsicherheit kann uns tatsächlich stressen –das kann man auch physiologisch feststellen, zum Beispiel anhand von erhöhten Stresshormonwerten und einer erhöhten Aktivität in angstbezogenen Gehirnregionen. Wegen der erhöhten Stressreaktion ist insbesondere lang andauernde Unsicherheit nicht gut für die geistige und körperliche Gesundheit. Unsicherheit kann aber auch eine Chance sein, zum Beispiel um etwas Neues zu tun und daraus zu lernen.

Was haben Sie selbst von den Referaten und Podien an der von Ihnen organisierten Ringvorlesung gelernt?

Lukicheva: Renommierte Forschende – darunter mehrere Stimmen in unserer Vorlesungsreihe – sehen

«Technische Fähigkeiten veralten heute so schnell, dass viele Menschen in einem Zustand permanenter Anpassung leben – oder des Zurückbleibens.»
Polina Lukicheva, Sinologin

die gegenwärtige Phase nicht nur als Abfolge von Krisen, sondern als möglichen Kipppunkt. Der Physiker und Risiko- und Komplexitätsforscher Didier Sornette sprach vom Ende eines Weltregimes: Die Illusion der «perpetual money machine» – ein Wirtschaftsmodell, das über Jahrzehnte auf Schulden, Spekulation und Vermögensinflation beruhte – erzeugte scheinbare Stabilität, schuf jedoch in Wahrheit Fragilität, Ungleichheit und systemisches Risiko. Ein weiterer, vergleichsweise neuer Faktor und möglicher Hinweis auf eine qualitativ veränderte Dynamik, den viele Sprecher:innen in unserer Vorlesungsreihe betonten, ist die Beschleunigung. Der Klimawandel ist ein Beispiel dafür: Zwar hat sich das Erdklima immer gewandelt, doch die heutige Veränderung vollzieht sich in bislang beispielloser Geschwindigkeit. Ähnliches gilt für technologische Entwicklungen: Systeme entstehen und verschwinden, bevor sie verankert sind, und technische Fähigkeiten veralten so schnell, dass viele Menschen in einem Zustand permanenter Anpassung leben – oder des Zurückbleibens. Die durch Erfahrung geformten Erwartungen greifen ins Leere.

Was hat das für Konsequenzen?

Lukicheva: Letztlich geht es um eine Verschiebung in den Bedingungen des Verstehens selbst – das ist vielleicht eine der grundlegendsten Dimensionen der aktuellen Unsicherheit. Was wir erleben, sind nicht nur politische oder wirtschaftliche Ungewissheiten – sondern eine epistemische Umwälzung. Der amerikanische Komplexitäts- und Evolutionsforscher David Krakauer spricht in diesem Zusammenhang von einer Revolution des Verstehens: Wenn Wissen der Versuch ist, Welt ver-

ständlich zu machen, dann stellt sich heute eine tiefere Verunsicherung ein. Nicht nur über das, was geschieht und geschehen wird – sondern darüber, ob wir es noch begreifen können. Die Krise betrifft das Vertrauen in die Möglichkeit von Orientierung selbst.

Menschen können unterschiedlich gut mit Unsicherheiten umgehen. Was brauchte es, um erfolgreich mit Unsicherheiten zu leben?

Tobler: Man muss daran glauben, dass man in einer unsicheren Situation etwas aus den Ergebnissen der eigenen Handlungen lernen kann. Lernen generell hilft, Unsicherheiten so weit als möglich zu minimieren und zu präzisieren. Die Ökonomik teilt Unsicherheit in Ambiguität und Risiko auf. Bei der Ambiguität sind die Wahrscheinlichkeiten möglicher Ereignisse nicht bekannt. Im Gegensatz dazu sind beim Risiko die Wahrscheinlichkeiten bekannt. Das Zahlenlotto ist hierfür ein gutes Beispiel. Die Menschen vermeiden typischerweise sowohl Ambiguität als auch Risiko. Durch Lernen können wir uns Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Ereignissen aneignen, das heisst ambige in riskante Situationen umwandeln und so Unsicherheit ein Stückweit reduzieren.

Lukicheva: Zentral ist, Unsicherheit als normalen Zustand anzuerkennen – nicht als Störung, sondern als Grundbedingung. Aus evolutionärer Perspektive ist sie genau das: Lebende Systeme handeln unter Bedingungen unvollständiger Information. Mit der realen Welt umzugehen, heisst immer, mit Unsicherheit zu leben. Wenn das gilt, dann liegt der nächste Schritt darin, Unsicherheit nicht ausschliesslich als Bedrohung zu begreifen, sondern auch als Möglichkeitsraum. Sich unter diesen Voraussetzungen zu fragen, was genau infrage steht oder neu verhandelt werden muss, ist erkenntnisfördernd – und öffnet neue Denkbewegungen. In diesem Sinne ist Unsicherheit kein Defizit, sondern ein Motor des Denkens: Sie zwingt uns, Modelle zu reflektieren, Begriffe zu überprüfen, Annahmen zu öffnen. Im Umgang mit Unsicherheit geht es also wesentlich um kognitive Flexibilität – nicht am vermeintlich Festen festzuhalten, sondern die Grenzen des Erkannten aktiv zu verschieben. Ein solcher Umgang lässt sich durchaus lernen – indem wir Unsicherheit in erträglichen Dosen zulassen und durchdenken.

Unsicherheiten, sagen Sie, sind nicht nur negativ, sondern Sie können auch positive und produktive Impulse geben?

Tobler: Ja, In unsicheren Situationen lernen wir mehr und schneller als in stabilen und sicheren Situationen. Das ist vorteilhaft und hilft uns, besser mit unsicheren Situationen umzugehen. Zudem erlaubt dies der Wissenschaft, auf wichtige offene Fragen zu fokussieren. Unsicherheit ist ein Indikator dafür, dass es etwas zu lernen gibt.

«Unsicherheit ist ein Indikator dafür, dass es etwas zu lernen gibt.»
Philippe Tobler, Ökonom

Wie gehen Sie selbst mit Unsicherheiten um?

Lukicheva: Ein Perspektivwechsel hilft oft: Was zunächst als Unsicherheit erscheint, kann – aus anderer Sicht – ein Möglichkeitsspielraum sein, ein Ausgangspunkt für Denk­ und Entscheidungsräume. Ich versuche, ernst zu nehmen, was auch in unserer Reihe im Zentrum stand: Unsicherheit aus verschiedenen Perspektiven analytisch zu erfassen. Dazu gehört für mich, ihre mögliche Quellen zu unterscheiden und einzuordnen: Was ist tatsächlich (un)gewiss? Was beruht vielleicht nur auf Denkgewohnheiten oder impliziten Annahmen? Welche Gewissheiten müssen verlassen werden, wenn sie nicht mehr tragen? Und was liegt in der konkreten Situation

«Was wir ‹Glauben› und ‹Kultur› nennen, lässt sich als evolutionäre Antwort auf Unsicherheit verstehen.»

im eigenen Einflussbereich – wo eröffnen sich reale Handlungsspielräume? Und dann: handeln, soweit es möglich ist.

Philippe Tobler, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung experimentell mit dem Thema Unsicherheit – was untersuchen Sie?

Tobler: Wir untersuchen am Department of Economics Entscheidungen unter Unsicherheit, zum Beispiel, ob jemand eine riskante Alternative (1 oder 9 Franken mit 50:50-Chance) oder eine sichere Alternative (5 Franken sicher) bevorzugt. Durch sorgfältiges Variieren der sicheren Alternative können wir für jede einzelne Person die individuelle Risikoeinstellung bestimmen, das heisst, wie stark risikovermeidend oder risikosuchend sie ist. Frauen und ältere Menschen sind oft etwas risikovermeidender als Männer und jüngere Menschen. Wir beschäftigen uns auch mit der Frage, wie sich Unsicherheiten und Risiken im Gehirn manifestieren. So haben wir Risikosignale in Dopaminzellen gefunden und konnten zeigen, dass und wie Dopaminmedikamente die Menschen risikosuchender machen. Diese Befunde sind wichtig, weil alle bekannten süchtig machenden Drogen auf das Dopaminsystem wirken und weil die den Botenstoff Dopamin produzierenden Zellen bei Leuten mit Parkinson absterben. Eine bekannte Nebenwirkung der zur Behandlung von Parkinson eingesetzten Dopaminmedikamente ist, dass sie zu Spielsucht und anderem riskanten Verhalten führen können.

Wenn wir in die Geschichte zurückblicken: Welche Strategien haben Menschen entwickelt, um besser mit Unsicherheiten umzugehen?

Tobler: Die Strategien sind vielfältig. Zum Beispiel mit dem Bau von Häusern, um sich vor dem Wetter und

möglicher Gefahr, die von anderen Menschen und Tieren ausgeht, zu schützen. Individuell, indem wir aus unseren eigenen Erfahrungen oder den Erfahrungen anderer lernen. Wissenschaft kann man als eine institutionalisierte Form von Lernen verstehen, die ihrerseits auch Unsicherheit reduziert. Und Menschen haben Techniken entwickelt, um beispielsweise Nahrungsmittel haltbar zu machen. Solche Innovationen haben uns unabhängiger von äusseren Umständen gemacht. Wir haben gelernt, mögliche Probleme früher zu erkennen. Heutzutage können wir beispielsweise Hitzewellen viel früher und präziser vorhersagen als in der Vergangenheit. Sozial ist beispielsweise der Rechtsstaat eine grosse Errungenschaft, die Sicherheit schafft. Der Grundsatz, dass alle vor dem Gesetz gleich sind und nicht der Willkür der Mächtigen ausgeliefert sein sollten, muss aber immer wieder verteidigt werden.

Lukicheva: Strategien früherer Gesellschaften im Umgang mit Unsicherheit waren im Kern kollektiv: Rituale, Glaubenssysteme, gemeinschaftlich geteilte Sinnstrukturen. Was wir «Glauben» oder «Kultur» nennen, lässt sich auch als evolutionäre Antwort auf fundamentale Unsicherheit verstehen – als Form der sozialen Stabilisierung durch geteilte Erwartungen, emotionale Bindung und symbolische Orientierung. Auch technologische, wirtschaftliche und organisatorische Bewältigungsformen – etwa Feuerkontrolle, Bewässerungssysteme, Handel und Märkte – waren darauf ausgerichtet, Unsicherheit zu reduzieren. Doch gerade in dem Mass, wie der Mensch neue Strategien zur Bewältigung von Unsicherheit entwickelte, nahmen auch die Risiken selbst zu – ebenso wie die Unsicherheit, die daraus folgte. Das wiederum machte neue Strategien erforderlich. Es handelt sich also um eine Rückkopplung: mehr Strategie –mehr Komplexität – mehr Risiko, wie das der Wissenschaftsphilosoph und Wirtschaftswissenschaftler Don Ross an unserer Ringvorlesung festhielt. Das muss man nicht in jeder Hinsicht teilen, aber Ross’ Feststellung verweist auf zwei zentrale Punkte: erstens, dass kollektive Bewältigung von Unsicherheit ein grundlegender

Polina Lukicheva hat Sinologie, Kunstgeschichte und Philosophie studiert und ist Postdoc am Asien-OrientInstitut der UZH, wo sie im Bereich komparative Epistemiologie und Anthropologie forscht. Dr. Polina Lukicheva, polina.lukicheva@aoi.uzh.ch

Philippe Tobler ist Professor für Neuroökonomie und Soziale Neurowissenschaft. Er untersucht unter anderem, wie das Gehirn Risiko verarbeitet und wie sich die Risikoeinstellung durch Erfahrung verändert. Prof. Philippe Tobler, phil.tobler@econ.uzh.ch

Lebendige Antike und falsche Heroen

Der Historiker Felix K. Maier nutzt eine selbst entwickelte KI, um sich ein lebendiges Bild vom alten Rom zu machen. Der Kulturwissenschatler Roland Meyer analysiert, wie mit KI-Bildgeneratoren online alternative Geschichtsbilder produziert werden und weshalb diese bei der politischen Rechten besonders Anklang inden. Im Talk im Turm diskutieren Felix K. Maier und Roland Meyer mit den beiden Moderator :innen Rita Ziegler und Thomas Gull, wie KI unseren Blick auf die Geschichte verändert und welche Chancen und Risiken damit verbunden sind.

Es diskutieren:

Der Historiker

Prof. Felix K. Maier

Der Kultur- und Bildwissenschatler

Prof. Roland Meyer

Moderation

Rita Ziegler und Thomas Gull, UZH Kommunikation

Dienstag, 9. September 2025 18.15 bis 19.30 Uhr

Restaurant UniTurm, Rämistrasse 71, 8006 Zürich Türöffnung 17.45 Uhr

Der Talk im Turm ist eine Koproduktion von UZH Alumni und UZH Kommunikation.

Anmeldung unter: www.talkimturm.uzh.ch

Eintritt (inklusive Apéro): CHF 45

Mitglied bei UZH Alumni: CHF 30

Studierende: CHF 20

Platzzahl beschränkt, Anmeldung erforderlich

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«Staatliche und soziale Regeln nehmen eine ähnliche Funktion ein wie die Religion. Sie generieren Stabilität.»
Philippe Tobler

Bestandteil menschlicher Entwicklung ist. Und zweitens, dass gerade die Fähigkeit, neue Strategien zu entwerfen und einzusetzen, eine anthropologische Konstante darstellt – und zugleich ambivalent ist.

Historisch gesehen wurden Glaubenssysteme entwickelt, um Unerklärliches zu erklären und eine gewisse Geborgenheit zu vermitteln. Diese haben heute an Einfluss verloren. Was ersetzt sie?

Tobler: Komplett ersetzt wurden die religiöse Glaubenssysteme auf der individuellen Ebene nicht, aber sie sind weniger offiziell verankert, zumindest in Staaten mit Trennung von Religion und Staat. Staatliche und soziale Regeln und Normen nehmen eine ähnliche Funktion ein, sie generieren Vorhersagbarkeit und Stabilität. Das Funktionieren dieser Institutionen bildet Vertrauen in die Gemeinschaft und das Gemeinwesen und verhindert so auch unsicherheitsbezogene Angst.

Mittlerweile gibt es einen Trend, der unter anderem durch die neue US-Regierung verkörpert wird und der darin besteht, wissenschaftliche Erkenntnisse und rationale Argumente für verdächtig zu halten. Stattdessen vertraut man auf Verschwörungstheorien und pseudowissenschaftliche Behauptungen. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Tobler: Wie die amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes in einem vom Collegium Helveticum organisierten Vortrag kürzlich gezeigt hat, kann man diesen Trend als Fortsetzung einer politisch motivierten Tradition der öffentlichen Diskreditierung von Wissenschaft sehen. Wissenschaftlich gesichertes Wissen wird dabei bewusst als weniger gesichert dargestellt, als es eigentlich ist. Dies geschah beispielsweise bei der Frage, ob Passivrauchen negative Konsequenzen für die Gesundheit hat, oder aktuell bezüglich der Frage, ob der Klimawandel menschgemacht oder die Folge natürlicher Schwankungen ist. Letztlich geht es darum, politische Regulation zu verhindern zugunsten einer neoliberalen Marktwirtschaft. Durch die Diskreditierung der Wissenschaften geht man wohl auch davon aus, dass die Glaubwürdigkeit einer wissenschaftlichen Widerlegung von pseudowissenschaftlichen Behauptungen klein gehalten werden kann und wird.

Videos zur Ringvorlesung

«Uncertainty»

Die Podiumsgespräche der Ringvorlesungsreihe «Uncertainty. Navigating the Unpredictable in Society, Cognition, and Existence», die in diesem Frühjahrssemester an der UZH stattfanden, sind online als Video verfügbar.

UZH Magazin — 30. Jahrgang, Nr. 2 — Juni 2025 — www.magazin.uzh.ch

Herausgeberin: Universitätsleitung der Universität Zürich durch die Abteilung Kommunikation Leiter Storytelling & Inhouse Media: David Werner, david.werner@uzh.ch Verantwortliche Redaktion: Thomas Gull, thomas.gull@uzh.ch; Roger Nickl, roger.nickl@uzh.ch Autorinnen und Autoren: Andres Eberhard, mail@andreseberhard.ch; Mia Catarina Gull, miacatarina.gull@uzh.ch; Adrian Ritter, adrianritter@gmx.ch; Santina Russo, info@santinarusso.ch; Simona Ryser, simona.ryser@bluewin.ch; Carole Scheidegger, carole.scheidegger@uzh.ch; Theo von Däniken, theo.vondaeniken@uzh.ch Fotografinnen und Fotografen: Frank Brüderli, Marc Latzel, Ursula Meisser, Meinrad Schade, Stefan Walter — Illustrationen: Cornelia Gann, Noyau Gestaltung: HinderSchlatterFeuz, Zürich — Lithos und Druck: AVD Goldach AG, Sulzstrasse 10–12, 9403 Goldach, www.avd.ch Inserate: print-ad kretz gmbh, 8646 Wagen, Telefon 044 924 20 70, info@kretzgmbh.ch

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Auflage: 20000 Exemplare; erscheint viermal jährlich — Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck von Arti keln mit Genehmigung der Redaktion ISSN 2235-2805 — Dieses Produkt wurde klimaneutral produziert.

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Das nächste UZH Magazin erscheint im September 2025.

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