92 — 93 Antje Senarclens de Grancy
25 Hubert Gessner, Hotel International, Hans-Resel-Gasse/ Strauchergasse, 1928–1930, Privatbesitz
der ursprünglichen Qualität erkennen kann. Zu seiner Entstehungszeit zeugte das Gebäude, das später zum Ausgangspunkt für ein aus Arbeiterkammer (Abb. 24) und Hotel International/Volkshaus (Abb. 25) bestehendes bauliches Ensemble werden sollte, vom wachsenden Selbstbewusstsein der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie. Anlässlich der Eröffnung im April 1912 schrieb der Arbeiterwille: „[H]eute weht von einem stolzen Bau im Herzen des größten Arbeiterbezirkes die rote Fahne als Zeichen, dass die Partei von einer Burg zu Schutz und Trutz Besitz ergriffen hat [...].“38 Nicht zufällig wurde der Bau in der Murvorstadt am rechtsseitigen Grazer Murufer nahe der im 19. Jahrhundert errichteten Arbeiterquartiere errichtet. Auch die Wahl der Wagner-Schüler Hubert und Franz Gessner lag nahe, hatten sich diese doch in Wien bereits seit fast einem Jahrzehnt als Architekten der Sozialdemokratie einen Namen gemacht.39 In der Bauaufgabe vergleichbar ist vor allem Hubert Gessners Druck- und Verlagsanstalt „Vorwärts“ (1909) an der Linken Wienzeile, das sich durch eine klinker verkleidete, abstrahierte Fassade auszeichnet. Am – vermutlich wegen des traditionsbewussteren lokalen Milieus – wesentlich konservativeren Äußeren des Grazer Gebäudes zeigt sich eine für die Zeit aber durchaus übliche Verbindung von modernen Motiven wie die durch Platten erzeugte Flächigkeit mit Formen, die sich am Wiener Klassizismus und Biedermeier (und damit an der bürgerlichen Architektur) orientierten. Der Grund für diese Wahl ist wohl in der größeren Repräsentativität von Giebelmotiv und Säulenzitaten zu finden. Dennoch wurde der Bau in Ausführung und Aussagekraft als ein Signal für Modernität und Zweckerfüllung verstanden. Sowohl bei der Konstruktion der Eisenbetondecken als auch bei der Ausstattung der Räume wurden modernste technische Errungenschaften eingesetzt. Der Elektrizität kam dabei eine besondere Rolle zu, wie im Arbeiterwille mit Genugtuung hervorgehoben wurde: „Der persönliche Verkehr ist durch den elektrischen Draht [interne Sprechanlage] und die Rohrpost verdrängt. Die Entstaubungsapparate arbeiten an der Reinigung, der Ventilator sorgt für die Erhaltung der frischen Luft, Gas- und elektrische Lichter beleuchten die Räume, elektrische Aufzüge versorgen den Transport, elektrische Uhrenanlagen zeigen den Lauf der Sonne an.“40 Trotz seiner für die Zeitgenossen wahrnehmbaren modernen Aussagekraft wurde der erste Grazer Bau der Sozialdemokratie wegen seiner Einbindung in das Stadtbild und der angenehmen Wirkung der Fassade von Walter von Semetkowski, dem ehemaligen Geschäftsführer des Vereins für Heimatschutz in Steiermark, und damaligen Landeskonservator als „ehrliches, schlichtes Werk künstlerischen und technischen Geistes“41 gelobt. Schlussbemerkung
38 Ein Haus der Arbeit, in: Arbeiterwille, 07.04.1912, S. 9. 39 Hubert Gessner sollte später in Graz auch das Hotel International bzw. Volkshaus planen und war auch Bauleiter des Stadtwerkegebäudes am Andreas-HoferPlatz. 40 K.S., Inneneinrichtung, in: Arbeiterwille, 07.04.1912, S. 10. 41 Walter von Semetkowski, Das neue Betriebsgebäude, in: Arbeiterwille, 07.04.1912, S. 10.
Beide für die Architektur in Graz um 1900 wesentlichen identitätsstiftenden Muster – die moderne, offene und fortschrittsorientierte (deutsche) Großstadt auf der einen, die traditionsbewusste, anheimelnde (und ebenso deutsche) Provinz auf der anderen Seite – standen neben- bzw. mitunter auch gegeneinander, schlossen einander zunächst aber keineswegs kategorisch aus. Erst mit und nach dem Ersten Weltkrieg begannen sich international die Fronten zwischen den „Modernen“ und den „Traditionalisten“ zu verhärten. In der Steiermark der Zwischenkriegszeit führte die starke Traditions-, Heimat- und Landschaftsbezogenheit des überwiegenden Teils der Grazer Architekten zur Herausbildung einer auf Synthetisierung und Harmonisierung von Gegensätzen ausgerichteten „bodenständigen“ Moderne, die progressiven, an der Veränderung sozialer Gegebenheiten und an radikalen formalen und funktionellen Neuerungen interessierten Architekten keinen Platz ließ.