UP #687: Revolution (Jänner 2017)

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REVOLUTION

Angus Bancroft, Drugs, Intoxication and Society.

Revolutionen gibt es nicht nur im gesellschaftspolitischen Zusammenleben. In der Wissenschaft verlaufen sie weit weniger blutig – zumindest im Vergleich mit den anderen Umstürzen im Schwerpunkt. Von Christoph Mödlhamer

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issenschafterInnen betreiben Forschung. So weit, so klar. Dabei entstehen Theorien. Manche davon sind so bahnbrechend, dass sie die gesamte Disziplin erschüttern und unseren Blick grundlegend wandeln. Dabei spricht man in der Wissenschaftstheorie vom Paradigmenwandel. Der Begriff wurde vom US-Physiker und Philosophen Thomas S. Kuhn 1962 in seinem Werk „The Structure of Scientific Revolutions“ geprägt. Nach der Paradigmenentstehung… Wissenschaftliche Paradigmen entstehen zuvorderst durch die intensive Beschäftigung mit einem Gegenstand. Dadurch bilden sich wissenschaftliche Disziplinen. Durch die wissenschaftliche Betätigung werden Theorien generiert. Je nach Intensität der Beschäftigung oder der Anzahl an Beteiligten entstehen miteinander konkurrierende Theorien. Diejenige mit dem größten Erklärungsgehalt und die sich durchsetzt, verfestigt sich zum Paradigma – einem grundsätzlichen Erklärungsmodell. Dieses in einer Disziplin vorherrschende Paradigma leitet nun die wissenschaftliche Praxis an: es identifiziert Probleme und gibt Methoden vor. …über die normale Wissenschaft… Das bestehende Paradigma bietet den Rahmen für die Forschung. Es wird nicht hinterfragt. Es gibt eindeutige Regeln und Normen, die zu untersuchenden Probleme und die verwendeten Methoden vor. Erst dadurch wird die nötige Tiefe und Genauigkeit von Wissenschaft ermöglicht. Die innerhalb eines Paradigmas betriebene Forschung nennt sich normale Wissenschaft. Normal deshalb, weil sie innerhalb des Rahmens abläuft, den das

herrschende Paradigma vorgibt: ForscherInnen stellen Theorien auf und bearbeiten Probleme, die durch das Paradigma klar als lösbare Probleme identifiziert werden. Kuhn bezeichnet dies als „puzzle solving“. …zum Paradigmenwandel Durch normale Wissenschaft können Entdeckungen gemacht werden, die das dominierende Paradigma nicht erklärt. Neue Theorien entstehen, die dem verbreiteten Erklärungsmodell widersprechen. Dies wird als Auftreten einer Anomalie bezeichnet, die das Paradigma herausfordert. Häufen sich derartige Entwicklungen wird das bestehende Paradigma mehr und mehr hinterfragt. Zweifel entstehen. Alternativen werden gesucht. Gelingt es, einen alternativen Erklärungsansatz zu finden, der die Theorie, die das ursprüngliche Paradigma in Erklärungsnot brachte, umfasst, entsteht ein neues Paradigma. Die Wissenschaftscommunity teilt sich dann in Lager: die Paradigmen stehen im Wettbewerb. Jede Seite versucht, die Erklärungskraft ihres Paradigmen mit Theorien zu untermauern. Gelingt dies den AnhängerInnen des bestehenden Paradigmas nicht, kommt es zur wissenschaftlichen Revolution – zum Paradigmenwandel („paradigm shift“). Das abgelöste Paradigma wird obsolet, denn sie sind unvereinbar. Kuhn nennt das Inkommensurabilität. AnhängerInnen des alten sind gezwungen sich dem neuen anzuschließen, oder aus dem Wissenschaftsbetrieb auszuscheiden. Nach dem Paradigmenwandel müssen alte Theorien und Erkenntnisse überprüft, verworfen oder modifiziert werden. Neue Probleme werden identifiziert, neue Methoden und Theorien werden im nun vorherrschenden Paradigma entwickelt. So funktioniert radikaler wissenschaftlicher Fortschritt.


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