Im Rossini-Land

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FEUILLETON ■

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Dienstag, 30. Juli 2019

Gott ist gestrichen in „Jugend ohne Gott“ in Salzburg

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Mozart, gefeiert und verrätselt bei den Salzburger Festspielen

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Neptunähnlich: Drei neue Exoplaneten wurden entdeckt Seite 20

Der Palazzo ducale beherrscht die Physiognomie der Stadt Urbino. Foto: Getty Images/Romaoslo

Im Rossini-Land Die Marken sind eine facettenreiche Region mit alter Tradition und modernem Entspannungseffekt. Von Sigrid Mölck-Del Giudice

Sicher, man erinnert sich vielleicht noch aus der Schulzeit, dass der berühmte Bildhauer Gian Lorenzo Bernini aus Neapel stammt oder Dante Alighieri, einer der bedeutendsten Dichter des europäischen Mittelalters, aus Florenz. Denn wer kennt diese Städte nicht? Doch wenn man auf den Spuren des nicht weniger bekannten Malers Raphael oder des Komponisten Gioacchino Rossini wandert, die aus den Marken kommen, dann muss man vielleicht schon mal zur Landkarte greifen. Sogar für manche Italiener ist die Region ein unbekanntes Terrain. Nicht von ungefähr schrieb der Reiseschriftsteller Guido Piovene Ende der 1950er Jahre spöttisch über die Marken: „In Mailand denkt man, sie liegen an der Grenze nach Afrika, in Palermo werden sie in der Nähe der Schweiz vermutet.“ In Wirklichkeit befinden sie sich ziemlich genau in der Mitte, nämlich zwischen der Adria und Umbrien. Leopardis Weltschmerz Das weitgehend vom Massentourismus verschonte Binnenland der Region wirkt streckenweise wie ein impressionistisches Landschaftsbild. Endlose Getreidefelder, Wälder und kleine Dörfer, in denen die Zeit stillgestanden zu sein scheint. Am Horizont die Sibillinischen Berge, von denen sich Flüsse den Weg zur Adria gegraben haben, wie die „Gola del Furlo“, die Furlo-Schlucht, mit einem Naturreservat von außergewöhnlichem

Flora- und Faunareichtum. Meist auf Hügelkuppen thronen wehrhafte Festungen, Kirchen und Klöster, viele aus den Zeiten, als noch die Päpste in Italien die Politik bestimmten. „Lieber einen Toten im Haus als einen Marchigiano vor der Tür“, hieß es damals. Die bissige Redensart entstand, weil die Marchigiani für den Kirchenstaat die Steuern eintreiben mussten. Giacomo Leopardi (1798–1837), Spross einer Grafenfamilie in Recanati und einer der berühmtesten Dichter Italiens, dessen Verse jedes italienische Schulkind rezitieren kann, mochte die Stille und die Enge seines Heimatortes nicht. „Hier ist alles tot“, schrieb er, „was gibt es so Schönes in Recanati, das man gern sehen oder kennenlernen möchte? Nichts!“ Bereits als Kind flüchtete er sich am liebsten in die väterliche, schon damals rund 20.000 Bände umfassende Bibliothek, wo er mit elf Jahren Horaz übersetzte. Er lernte sechs Sprachen, verfasste Abhandlungen zur Astronomie und begann seine ersten Gedichte zu schreiben. Mit 24 Jahren verließ Leopardi erstmals seine Heimatstadt, lebte kurzfristig in Rom, Mailand, Bologna und in der Toskana, bis er, erst 39-jährig, in Neapel starb. Sein pessimistisches Lebensgefühl und die Auseinandersetzung mit der Realität des Leidens in seinen Werken, die ihn zum „Dichter des Weltschmerzes“ machten, sollten eine ganze Geistesrichtung bestimmen. Die Stadt ehrt ihren großen Sohn mit einem Denkmal auf der Piazza Leopardi

und der Wertschätzung seiner Verse, die über die ganze Stadt verteilt auf Marmortafeln verewigt sind. Hauptanziehungspunkt aber ist für Schulklassen und Literaturwissenschafter das stattliche Geburtshaus des Dichters mit einem Vorplatz, der Geschichte atmet. Harmonische Plätze In den Marken wird der Besucher nicht von zahllosen weltbekannten Sehenswürdigkeiten sprichwörtlich erschlagen, sondern sie bieten sich ihm in verdaulichen Portionen an – dafür aber von Qualität. Ancona, die Kapitale der Region, einst Hafenstadt von strategischer Bedeutung, wird hauptsächlich von Urlaubern angesteuert, die sich nach Albanien oder Griechenland einschiffen. Enttäuscht von der betriebsamnüchternen Atmosphäre soll schon Goethes Vater 1740 auf seiner Italienreise bemängelt haben, dass die Bucht viel „zu wenig vor den starken Nordwinden geschützt“ sei. Darüber hinaus wurde die Stadt im Zweiten Weltkrieg durch Bombenangriffe stark beschädigt und entsprechend modernen Kriterien wieder aufgebaut. Zu den kulturellen Highlights gehört neben dem hübschen mittelalterlichen Städtchen Ascoli Piceno mit einer der schönsten und harmonischsten Plätze Italiens, vor allem Urbino, ein Juwel der Renaissance und Geburtsort Raphaels – das seine Schönheit vor allem dem Herrschergeschlecht der Montefeltro verdankt. „Der junge Fürst Federico, aufgeschlossen und bürgernah“, erklärt Peter Aufreiter

aus Linz, seit 2015 Direktor der Nationalgalerie der Marken und designierter Direktor des Technischen Museums in Wien, während er durch die prachtvollen Räume führt, „spazierte täglich, wenn er nicht gerade auf Kriegszügen war, durch die Straßen Urbinos und sprach mit den Bürgern auf Augenhöhe. Seinen Palazzo soll er bescheiden ,casa‘ genannt haben.“ Als der junge Federico Mitte des 15. Jahrhunderts die Regierung übernahm, holte er Architekten, Bildhauer und Maler von Ruf mit dem Auftrag, eine „città ideale“, eine ideale Stadt zu schaffen, für die er auch eigene Entwürfe einbrachte. So entstand in relativ kurzer Zeit ein harmonisches, in sich geschlossenes Stadtbild mit dem Palazzo Ducale als Zentrum, der heute – mit wechselnden Ausstellungen – nicht nur Besucher aus ganz Italien anzieht. Doch Urbino ist keineswegs eine museale, sondern eine junge Stadt. Das verdankt sie dem außergewöhnlichen Wachstum ihrer traditionsreichen Universität. Der Alltagsrhythmus wird, zumindest währende der Semester, von den fast 20.000 Studenten, die auf nur rund 15.000 Einwohner kommen, geprägt. In den historischen Cafés unter den Arkaden auf der Piazza della Repubblica, der guten Stube der Stadt, trifft man sich zum Schwatz, zum Zeitunglesen und zum Feiern einer erfolgreichen Abschlussprüfung bei einem Glas Verdicchio oder Rosso Piceno. Mancher trägt einen selbstgebastelten Lorbeerkranz auf dem Kopf, als stolzes Zeichen der neu erwor-

benen Würde. „Le Marche“, die Marken (vom deutschen Wort „Mark“ im Sinne von Grenzland), die nur im Plural auftreten, lassen sich, wie ihr Name, nicht auf ein einziges Merkmal reduzieren. Obwohl Industrie und Dienstleistungsgewerbe agrarische Strukturen längst in den Hintergrund gedrängt haben, ist das positiv Provinzielle vergangener Zeiten vielerorts erhalten geblieben. Kaum bekannte Orte überraschen mit gut erhaltenen historischen Bauten und einem intakten urbanen Leben, in dem Tradition und Moderne auf originelle Weise verschmelzen. Lebhaftes Pesaro Wirklich lebhaft und international präsentiert sich Pesaro während des „Rossini Opera Festivals“, mit dem die Stadt alle Jahre im August ihrem größten Sohn, dem Komponisten Gioacchino Rossini, ein Denkmal setzt. Opernfreunde aus der ganzen Welt kommen eigens zu diesem Kulturereignis angereist. Das Festival wurde 1980 ins Leben gerufen. Vor oder nach der Aufführung bietet sich in einer der zahlreichen Trattorien ein „Tournedos Rossini“, ein mit Gänseleber belegtes und mit gehobelten schwarzen Trüffel bestreutes Rinderfilet an. Das Gericht soll im Pariser Restaurant „Maison dorée“ auf Wunsch des Komponisten eigens für ihn kreiert und nach ihm benannt worden sein. Rossini verbrachte seine letzten Lebensjahre in der französischen Hauptstadt, wo er 1868 starb. ■


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