1 TRIGON MAGAZIN NR. 96 DER REIGEN IN SARAJEVO THE HAPPIEST MAN IN THE WORLD, TEONA STRUGAR MITEVSKA, NORDMAZEDONIEN DER LETZTE JOB PAMFIR VON DMYTRO SUKHOLYTKYY-SOBCHUK, UKRAINE FILM IST EIN SPIEL DAISIES VON VE ˇ RA CHYTILOVÁ, TSCHECHOSLOWAKEI GESCHICHTE EINER BEGEGNUNG BEFORE, NOW & THEN VON KAMILA ANDINI, INDONESIEN DOPPELGÄNGER-DOPPEL SUBTRACTION VON MANI HAGHIGHI, IRAN
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Liebe Filmfreundin, lieber Filmfreund
Sie halten das Magazin 96 von trigon-film in den Händen und schicken sich an, das Editorial zu lesen. Das ist schön. Die Lektüre der Beiträge dieses Hefts wird Sie einstimmen auf eine stolze Reihe von neuen Filmen, die in den ersten Monaten 2023 in die Kinos gelangen werden, und auf ein paar sorgsam ausgewählte Klassiker, die restauriert wurden und damit wie neu verfügbar sind. Als Klassiker sind sie zeitlos wie der erfrischende Erstling Bratan von Bachtiar Chudojnasarow aus Tadschikistan oder die spleenige Perle Daisies ( Die kleinen Margeriten ) von Veˇra Chytilovà. Dieser Film stammt aus der Zeit des Prager Frühlings, dem Moskau 1968 ein gepanzert gewaltsames Ende bereitet hat. Aus dem rumänischen Grenzgebiet der Ukraine, deren Schicksal aktuell und in pervers übersteigerter Form an jenes von Prag 68 erinnert, erreicht uns mit Pamfir eine archaisch inszenierte Geschichte um Schmuggel und Karneval.
Eines fiel mir beim Gestalten dieses Magazins und angesichts der darin besprochenen Filme besonders auf: Es sind Filmemacherinnen, die seinen Inhalt prägen, mit Filmen, die uns in ihrer Gestaltung überzeugt haben und auch, weil sie eindrücklich zeigen, wie Frauen derzeit weltumspannend Dampf ablassen. Wir wünschen den Filmen, dass sie ein grosses Publikum finden werden. Natürlich auch dem Klassiker Die kleinen Margeriten , der zwei Maries durch eine turbulente Szenenfolge tanzen lässt und uns zeigt, dass grosses Kino kein Verfallsdatum hat, aktueller und kecker denn je sein kann. Auf eine Genrereise in den gespenstisch evangelikal geprägten Zustand ihrer brasilianischen Heimat entführt uns Anita Rocha Silveira in Medusa, während die Nordmazedonierin Teona Strugar Mitevska in Sarajevo in The Happiest Man in the World ein Partnervermittlungsseminar in Szene setzt, das die unsichtbaren Wunden der Menschen dreissig Jahre nach einem Krieg offenlegt.
Frauen stehen in diesen Filmen im Zentrum, und zwei Frauen prägen auch Before, Now & Then der Indonesierin Kamila Andini, die nach dem Jugendlichenporträt Yuni hier ihre Stilvielfalt an den Tag legt und in aufs feinste komponierten Tableaus vom Frausein im Lauf der jüngeren Geschichte ihres Landes erzählt und über dieses hinaus. Während Kamila Andini die Zeiten fliessen lässt, greift die Südkoreanerin July Jung in Next Sohee die aktuelle Arbeitswelt am Beispiel eines Callcenters auf: Alles wird da geopfert für die Maximierung des Gewinns, der Mensch und allen voran die Frau leidet unter den Bedingungen einer Arbeitswelt, in der das Individuum keinen Platz hat. – Wenn das Kino ein Fenster zur Welt ist, wie der Kritiker André Bazin schrieb, dann ist es das geografisch betrachtet, aber es ist es auch menschlich oder geschlechterspezifisch: Es bietet uns andere Perspektiven und mit ihnen andere Einsichten. Zum Beispiel eben: weibliche. Walter Ruggle
SELBST-BEFREIUNG
FILMPERLEN
TRIGON MAGAZIN NR. 96
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Medusa von Anita Rocha da Silveira, Brasilien Alexandra Seitz
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DER REIGEN IN SARAJEVO
The Happiest Man in the World von Teona Strugar Mitevska, Nordmazedonien Walter Ruggle
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FILM IST EIN SPIEL 24 Daisies – Die kleinen Margeriten von Veˇra Chytilová Patricia Pfeifer
EINER BEGEGNUNG 28 Before, Now & Then von Kamila Andini, Indonesien Martial Knaebel
32 Subtraction von Mani Haghighi, Iran Brigitte Siegrist
DER LETZTE JOB
Pamfir von Dmytro Sukholytkyy-Sobchuk, Ukraine Kathrin Kocher
GESCHICHTE
DOPPELGÄNGER-DOPPEL
36 Bratan : Restaurierte Klassikerperle
AB MIT DER LOK
38 Next Sohee von July Jung, Südkorea
TOD IM CALL CENTER
AUF DVD 39 Scorsese-Box 2 mit After the Curfew, Alyam Alyam und Muna Moto
Then
Die
Titelbild: Before, Now &
– Heftmitte: Daisies -
kleinen Margeriten
FEIGEN AUS CANNES
Im Nordwesten Tunesiens machen sich Fidé, Sana, Melek, Meriem und andere Frauen auf den Weg, um bei der Feigenernte zu helfen. Sous les figues von Erige Sehiri wurde bei der Quinzaine des réalisateurs in Cannes gezeigt und ist ein wunderbares Huis-clos unter freiem Himmel.
Die vom Dokumentarfilm kommende Erige Sehiri machte 2018 mit dem Eisenbahnfilm La Voie normale auf sich aufmerksam. Mit ihrem Spielfilmerstling Sous les figues liefert die französischtunesische Regisseurin einen bewegenden Film voller Sensibilität und lässt uns in das Herz der ländlichen Gegend im Nordwesten Tunesiens eintauchen. Der Film wurde 2022 nach Cannes eingeladen. Mit Stangen bewaffnet greifen die Erntehelfenden nach Ästen oder klettern auf Feigenbäume, um später ihre kostbare Ernte in Eimern oder Kisten zu deponieren. Im Schatten der Bäume sprechen sie über die Liebe, teilen ihre Erinnerungen und fragen wie dem «Mektoub», so etwas wie Schicksal. Einige umwerben sich, andere streiten sich leichtfertig, wieder andere sprechen über die Situation der Jugendlichen an der Küste von Monastir und man kann sich die Wirtschaftskrise vorstellen. Erige Sehiri filmt die Pflückerinnen so nah wie möglich an ihren Gesichtern, gibt ihre momentanen Emotionen wieder und lässt über die Verbindungen innerhalb der Gruppe das ganze Leben aufscheinen; am intensivsten am gesellschaftlichen
Zusammensein, das vor Sinnlichkeit und Realismus nur so sprüht. Ein Kino, in das man eintauchen kann und das von Gesten und Worten geprägt ist.
CHINAS REGIERUNG WILL KEINE REALITÄT IM KINO
In Berlin lief er im Februar im Wettbewerb, anschliessend wurde er in Chinas Kinos lanciert und avancierte im Land diesen Sommer zum Renner, bevor ihn das Regime im September kurz vor dem Parteitag aus dem Verkehr zog: Return to Dust von Li Ruijun. Jetzt ist er in der Schweiz erfolgreich gestartet.
Der Film passte nicht ins Propagandakonzept der Partei und ihres Führers. Der Filmemacher erzählt eine bewegende Liebesgeschichte, aber sie spielt
sich vor dem Hintergrund von ländlicher Armut ab. Und die soll es gemäss Parteidoktrin in China nicht geben. Ein chinesischer Produzent erklärte das gegenüber dem Economist so: «Alle wissen, dass es viele arme Leute gibt, aber die Regierung möchte nicht, dass Chinesinnen und Chinesen zu viel davon sehen.»
An internationalen Festivals und in den Schweizer Kinos läuft Return to Dust in der Version, die an der Berlinale Premiere hatte und gefeiert wurde. So schrieb etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung: «Es gibt Filme, die wie die chinesische Bau ern tra gö die Return to Dust auf den ersten Blick unpolitisch wirken, aber im Nachhinein in ihrer abgründigen Düsternis wie ei ne ästhetische Widerstandsgeste erscheinen.» Im Herbst ist der Film erfolgreich in
den Schweizer Kinos gestartet und am Festival von Valladolid als bester Film mit dem Golden Spike Award ausgezeichnet worden. Zuvor hatte er am Jameson CineFest Miskolc International Film Festival den Emeric Pressburger Preis geholt und den Preis der internationalen Filmkritik sowie am Far East Festival von Udine den Publikumspreis Black Dragon Audience Award. Die Jury von Valladolid begründete ihren Entscheid so: «Der Film ist eine Hymne auf ein würdevolles Leben, er zeigt, wie wichtig die Natur in unserem Leben ist und wie wir dazu neigen, die Ausgegrenzten zu diskriminieren.» (Siehe auch Medien zum Film)
OSCARS
Wie jedes Jahr gibt es bei der Verleihung der Academy Awards einen Preis für den Rest der Welt, und um diesen bewerben sich rund neunzig Länder mit je einem von ihnen nominierten Film.
Das Oscar-Rennen 2022 für die 95. Verleihung der Academy Awards im März 2023 ist in vollem Gang. Die Länder haben ihren Film des Jahres ausgewählt und nominiert. Unter ihnen finden sich in der Konkurrenz für den Academy Award for Best International Feature Film 2022 auch einige Titel der Kollektion trigon-film, denen wir natürlich allen die Daumen drücken.
Irak: THE EXAM von Shawkat Amin Korki
Bolivien: UTAMA von Alejandro Loayza Grisi
Nordmazedonien:
THE HAPPIEST MAN IN THE WORLD von Teona Strugar Mitevska
Tunesien: UNDER THE FIG TREES von Erige Sehiri
Tansania: TUG OF WAR von Amil Shivji
Die fünf endgültig nominierten Filme werden am 24. Januar 2023 bezeichnet. Die hier erwähnten Titel starten entweder in absehbarer Zeit in den Kinos und werden in diesem Magazin vorgestellt oder waren im Kino bereits zu sehen und können im Streaming auf filmingo nachgeholt werden. Auch wenn sie die Endrunde nicht schaffen, sind sie aufgrund ihrer herausragenden Qualität ins Rennen geschickt worden.
4 WEITSICHTEN
Sous les figues
Return to Dust
1976
1976 IM KINO GESTARTET
Manuela Martelli betrachtet das Leben in ihrem fesselnden und zutiefst beeindruckenden Debüt ganz aus der Wahrnehmung einer Frau, deren wohl situierte Familie sich mit dem Leben unter einer Diktatur arrangiert hat.
Wir schreiben das Jahr 1976. Drei Jahre ist es her, seit General Pinochet durch einen Putsch Staatschef wurde und in Chile eine brutale Militärdiktatur errichtet hat. Die 50-jährige Carmen führt mit ihrem Mann Miguel und den erwachsenen Kindern ein gutbürgerliches Leben in der Hauptstadt Santiago. Ehemann Miguel ist ein erfolgreicher, angesehener Arzt. Eigentlich wollte sie auch Medizin studieren, aber dies gehörte sich für eine Frau nicht. So kümmert sie sich um den Haushalt und engagiert sich für gemeinnützige Projekte in der Kirche. Über Politik wird in der Familie und im Freundeskreis nicht gesprochen. Man hat sich relativ gut arrangiert. Obwohl Carmen ein geregeltes Leben zu führen scheint, macht sich ein Unbehagen bemerkbar.
Carmen macht sich auf den Weg zum Winterhaus am Meer, um dessen Renovierung zu beaufsichtigen und Zeit für sich zu haben. Ihr Mann, die Kinder und Enkelkinder kommen während des Winterurlaubs vorbei. Als der Pfarrer sie bittet, sich um einen jungen Mann zu kümmern, den er heimlich beherbergt, betritt Carmen Neuland, weg von dem ruhigen Leben, das sie gewohnt ist.
Die Schauspielerin Manuela Martelli, die 2004 in Machuca begeisterte, hat in ihrem Spielfilmerstling ein ungemein dicht gestaltetes, sorgsam erzähltes und gefilmtes Stimmungsbild aus einem
Land gedreht, in dem Menschen unter einer Diktatur leben müssen und in keinem Augenblick mehr wissen, wem sie trauen können und wem nicht. Ihr Film ist hochaktuell: Eine Entdeckung, die sich aktuell in den Kinos machen lässt
ALAIN TANNER
geprägt
Jean-Luc Godard (1930–2022)
Schweizer
international bekannt gemacht. Er war seit der Gründung auch ein Freund von trigonfilm. Im September 2022 ist er in seiner Heimatstadt 93-jährig gestorben.
Geboren am 6. Dezember 1929, prägte Alain Tanner den Schweizer Film seit den 1960er Jahren wie kein zweiter. Er war ein Freund und treuer Begleiter der Arbeit von trigon-film und hat uns vor zwanzig Jahren schon zwei Filme anvertraut, die im Süden und Osten spie-
len und also zur Kollektion trigon-film passen, in der er sie gerne gesehen hat: Une ville à Chandigarh , den er 1966 zu Le Corbusier und seiner Architektur auf dem Subkontinent in Indien gedreht hatte, begleitet von einem Text seines Freundes und Co-Autors John Berger. Und Les hommes du port , die sehr persönliche Rückkehr nach Genua 1995 und daselbst in den Hafen, in dem Tanner in jungen Jahren und von der Ferne träumend gearbeitet hatte. Eine Meditation über die Arbeit und unsere Beziehung dazu.
Wir erinnern uns gerne an ihn und an seine Gesellschaft, an die das Kino und die Medien permanent reflektierenden Filme, die nicht nur unsere Generation durchs Leben begleitet haben, angefangen bei den frühen Essays Nice Time (1957) und Les apprentis (1964) zum Spielfilm-Aus- und Aufbruch in Charles mort ou vif (1969) über die von Bulle Ogier so wunderbar verträumt verkörperte Rosemonde in La salamandre hin
zur Abreise nach Algerien in Le retour d’Afrique (1972), die nicht ganz so zustande kam, wie sie angedacht war, aber umso intensiver.
Jonas, qui aura 25 ans en l’an 2000 (1976) war Tanners grösster Erfolg, monatelang in den Kinos, der Film, der die Träume einer Generation in einer WG vor den Toren der Stadt zusammenbrachte und die Geschichte als Blutwurst präsentierte. Da waren sie alle vereint, Jean-Luc Bideau, Myriam Boyer, Jacques Denis, Roger Jendly, Dominique Labourier und Miou Miou. Und auch Myriam Mézières, mit der Tanner Jahre später experimentierfreudige Arbeiten wie Une flamme dans mon cœur (1987) entwickelte.
Man kann die Filme Alain Tanners ganz ausgeprägt als Spiegelungen eines Landes betrachten. Sie bergen kostbare Bodenproben dessen, was die Schweiz ausmacht. Tanner war sich der Grenzen des Filmens auch filmend immer bewusst und hat dies mit thematisiert: «Selbst wenn du im Innern meines Bauches filmst, kannst du nicht sehen, wer ich bin», sagt die Serviertochter in Le Milieu du monde (1974). Unübersehbar, wie er in Dans la ville blanche 1983 Lissabon eine Hommage widmet, sich vor Bruno Ganz verbeugt und mit Hilfe einer Super-8-Kamera die eigenen Bilder gleichsam aufschlitzt.
Seine Figuren philosophierten vor unseren Augen und Ohren über das Leben und also auch über das Kino. Mehrmals registrierte er mit seismografischem Gespür leiseste Erschütterungen, etwa in Messidor (1979), dem Ausbruch zweier junger Frauen, die die bewegten
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«Das Kino, wie die Malerei, zeigt das Unsichtbare. »
Der Genfer Filmemacher Alain Tanner hat Generationen im Land
und den
Film
Une ville à Chandigarh
6 D E C I S I O N T O L E A V E Ein Film von PARK CHAN - WOOK TANG WEI . PARK HAE - IL Vom Regisseur von THE HANDMAIDEN und OLDBOY AB 19. JANUAR IM KINO «Ein sinnliches Erlebnis.» CINEMAN «Meisterhaft inszeniert.» FILMSTARTS Unterstützt von Infos: moods.ch Di 03.01. Los Dos En Gros So 22.01. Ambäck Di 24.01. «Funky» Rob & Flammer Dance Band Fr 03.02. Madeleine Peyroux Sa 04.02. Asmâa Hamzaoui & Bnat Timbouktou Mo 06.02. The Staples Jr. Singers Fr 10.02. Ian Paice Di 14.02. The Scorpios Mo 27.02. John Scofield Trio So 05.03. Sarah Chaksad Large Ensemble Fr 10.03. Suma Covjek So 12.03. Mats-Up & Mbuso Khoza Sa 18.03. Nowruz Festival So 26.03. Alune Wade Fr 07.04. Gaye Su Akyol Do 02.02. MonoNeon 22_11_MoodsInserat_Trigon_90.5x134.5_V.indd 1 08.11.22 13:44 Schweizer Film und Humor? Aber ja. Sechs von zehn der erfolgreichsten Schweizer Filme sind Komödien. Cinema zeigt die vielen Facetten von Humor im Film –mal gewitzt, mal charmant, mal derb. Und wie jedes Jahr: Ein Rückblick auf das Schweizer Filmschaffen Jahrbuch Cinema | Humor | 256 S. | Klappbr. zahlr. Abb. | € 24,00 / SFr 24,00 UVP (Abo) € 32,00 / SFr 32,00 UVP (Einzelheft) ISBN 978-3-7410-0468-1 Gibt es in der Schweiz was zu lachen? www.schueren-verlag.de
Achtziger vorwegnahmen. Gesucht hat Tanner filmend immer. Seine Erzählweise selbst ist eine suchende. Und zur Suche gehört, dass sie nicht immer ans Ziel führen kann.
Tanners Filme waren hautnah an ihrer Zeit und eigentlich immer eine Spur voraus. Sie bilden, das zeigt jedes (Wieder-) Sehen, eine Art Familienalbum, in dem die Figuren in ihrem Hier und Jetzt hörbar für uns übers liebe Leben sinnieren, darüber, dass es auf den Weg ankommt und nicht auf das Ziel, auf die gestellte Frage und nicht auf die Antwort. Die meisten Filme des Genfers sind auf filmingo.ch zu schauen, unter ihnen auch die Abstecher nach Chandigarh, Genua und Lisboa. Une ville à Chandigarh und Les hommes du port gibt’s gemeinsam auf einer DVD in der Edition trigon-film.
WEGE DER KUNST
Das Museum Rietberg in Zürich vereint einzigartige Kunst unterschiedlichster Kulturen der Welt. Doch wie sind die Objekte ins Museum gekommen? Welche materiellen Veränderungen und Bedeutungsverschiebungen haben sie im Zug ihrer Reise erfahren?
und Musealisierung der Werke. Zentral ist dabei die Frage, wie ein Objekt zu Kunst wird. Die Ausstellung diskutiert überdies verschiedene Formen des Wissens, die ein Werk begleiten: Welches Verständnis schreibt sich in die Kunst ein, wie wird es weitergegeben, verändert und neu konstruiert? All diesen Aspekten und weiteren Fragen geht die Ausstellung nach. Indem sich das Museum Rietberg kritisch mit seiner Sammlungsentstehung auseinandersetzt, leistet es einen Beitrag zu einer gesellschaftlich relevanten Debatte im Umgang mit den Sammlungen und deren Geschichte.
Weitere Infos: www.rietberg.ch
WELTKINO BERN
Fokus Weltkino heisst ein Zyklus, den das Kino Rex in Bern im Winterhalbjahr im Rahmen seiner Einblicke in die Filmgeschichte veranstaltet. Filmprojektionen im Rex und im Lichtspiel werden da ergänzt mit Vorlesungen zu einzelnen Ländern in Süd und Ost.
auch in der chinesischen Diaspora wie etwa in Singapur, Malaysia oder Thailand wird «chinesisches Kino» produziert.
NATUR. UND WIR?
Mit der Ausstellung «Wege der Kunst» spürt das Museum Rietberg diesen Wegen nach und zeigt anhand von rund 20 Stationen auf, wer an den Erwerbungen und am Handel beteiligt war und in wessen Besitz sich die Werke befanden, bevor sie ins Museum gelangten. Im Fokus stehen somit die Provenienzen, also die Herkunftsgeschichten der Objekte, wobei der Schwerpunkt insbesondere auf dem 19. und 20. Jahrhundert liegt.
Eng mit den Objektbiografien verbunden sind die vielschichtigen Begegnungen und Beziehungen zwischen Menschen, Institutionen und Ländern, die im Rahmen der Ausstellung näher beleuchtet werden. Wichtiger Bestandteil der Thematik sind auch die verschiedenen Präsentationsweisen sowie die Ästhetisierung
Das Kino Rex und das Lichtspiel haben den 10. Zyklus der Reihe in einem Zusammenspiel von 10 Vorlesungen und 20 Filmen zur filmhistorischen Entdeckungsreise von Kinogeschichte(n) rund um den Globus gestaltet. Von Kanada über Südamerika, Afrika, Balkan, Asien bis Australien: Im Fokus stehen – fernab des klassischen, von Europa und den USA geprägten Kanons – kulturelle Erzähltraditionen, filmästhetische Strömungen, Charakteristiken des regionalen Filmschaffens und Entwicklungen in spezifischen Kultur- und Sprachregionen. Wir schaffen Raum für unterschiedliche Perspektiven, Traditionen und Positionen – und zeigen gleichzeitig die globale Verflechtung auf. Die Vorlesungen finden jeweils mittwochs um 18h15 abwechselnd im Lichtspiel und Rex statt. Die Filme anschliessend um 20h mit Wiederholungen montags 18h.
Angesagt sind zum Beispiel ein Fokus aufs chinesische Kino unter dem Titel «Ein Begriff, viele Schattierungen», den der Journalist Till Brockmann am 11. Januar 2023 bestreitet. Auf den ersten Blick scheint das chinesische Kino eine klar zu identifizierende nationale Kategorie des Weltkinos zu sein: Filme, die sich der chinesischen Sprache bedienen und zu diesem fernöstlichen Kulturkreis gehören. Doch die Sache ist viel komp lizierter. Aufgrund von politischen und migratorischen Ereignissen beinhaltet dieser Sammelbegriff Filme aus der Republik China (1912–1949), aus der Volksrepublik China (ab 1949), aus Hong-Kong und Taiwan (ROC) – doch
Am 8. Februar widmet sich Festivalleiterin und Filmemacherin Aida Schläpfer Al-Hassani dem arabrischen Kino: «Von Youssef Chahine bis zum waghalsigen Kino Tunesiens». Das ägyptische Kino ist das älteste und produktivste auf dem afrikanischen Kontinent und in der arabischen Welt. Das nahezu 100-jährige «Hollywood des Ostens» brachte Filmpioniere wie Youssef Chahine hervor. Seit 1927 wurden über 4000 ägyptische Filme produziert. Auch das tunesische Kino hat eine lange Film- und Kinotradition und wurde jüngst durch den arabischen Frühling geprägt.
Am 3. Mai steht das iranische Kino im Fokus des Filmwissenschaftlers Daniel Wiegand: «Zwischen Poesie und Realismus», lautet sein Titel. Ab den 1960er Jahren entstand im Iran ein Gegenkino zum damaligen Mainstream, das seither auch als Iranische Neue Welle bezeichnet wird. Seine herausragenden Figuren sind entweder gestorben, leben im Exil oder stecken im Gefängnis der Religionsdiktatur, die sich vor freiem Denken und damit auch unabhängiger Kunst fürchtet und keine Argumente hat für ihre Politik, nur die Methoden der Unterdrückung.
Am 31. Mai folgt das Filmland Kolumbien, das Wolfgang Fuhrmann näher betrachtet. Die kolumbianische Filmgeschichte stand lange Zeit in der zweiten Reihe und fand im Gegensatz zu den lateinamerikanischen Filmgeschichten Mexikos, Brasiliens oder Argentiniens nur wenig Beachtung. Mittlerweile hat das kolumbianische Kino aufgeholt und wird seit Jahren auf internationalen Filmfestivals ausgezeichnet. Die Vorlesung gibt einen Überblick über die verschiedenen Stationen des kolumbianischen Kinos. Infos: rexbern.ch
Das Stapferhaus am Bahnhof Lenzburg wurde erst kürzlich wieder für seine vorzüglichen Ausstellungen ausgezeichnet. Aktuell dreht sich alles um die Beziehung zwischen Mensch und Natur, etwas präziser: Natur. Und wir?
Wir lieben, verehren und schützen die Natur, wir erforschen, erobern und verkaufen sie - und geraten zunehmend in Sorge über ihren Zustand. Was aber ist Natur eigentlich? Wem gehört sie? Und müssen wir sie retten? «Natur. Und wir?» lädt zu einem poetischen Ausflug nach drinnen, geht vom kritischen Zustand der Natur aus und führt zu einem neuen Blick auf sie. Wir sollen das eigene Verhältnis zur Natur entdecken und mitreden, wohin die Reise gehen soll.
Wir streiten in diesen Tagen viel über den richtigen Umgang mit der Natur. Darüber, ob der Schutz der Natur oder das Wohl und die Versorgungssicherheit der Menschen an erster Stelle stehen, und darüber, was unser Umgang mit der Natur für die Generationen nach uns bedeutet. Die aktuelle StapferhausAusstellung befragt den Boden, auf dem sich diese Debatten entspinnen: das Verhältnis zwischen Mensch und Natur und die Stellung des Menschen in der Welt. Die Überzeugung, dass der Mensch Steinen, Pflanzen und Tieren übergeordnet ist, prägt unser Denken.
«Natur. Und wir?» erzählt, woher diese Vorstellungen kommen und lädt ein, die eigene Sichtweise zu erweitern: Was wäre, wenn wir die Welt aus dem Blickwinkel eines Fuchses oder eines Pilzes wahrnehmen könnten? Was, wenn wir all die winzigen Mikroben in und auf uns sehen könnten, die unser Leben erst ermöglichen? Wie ist es, wenn die Natur mehr Rechte hat? Und was, wenn Natur etwas ganz anderes ist, als bisher angenommen? Die Besucherinnen und Besucher tauchen von Kopf bis Fuss in poetische, verspielte Welten ein und erkunden dabei neue Perspektiven auf die Natur. Sie sind aufgefordert, Position zu beziehen und den eigenen Kompass neu auszurichten. So wird das Publikum schliesslich Teil einer Debatte, in der verhandelt wird, was zu tun ist: Müssen wir die Natur retten und wenn ja, mit welchen Mitteln? Mit ausgeklügelter Technik, mehr Forschung oder einem anderen Verhältnis zur Welt? Die Ausstellung gibt nicht die eine Antwort. Sie regt an, über die entscheidende Frage unserer Zeit nachzudenken. Und dabei den Sand zwischen den Zehen zu spüren und den Boden, auf dem wir alle stehen, zu erforschen. Bis 20. Oktober 2023. Infos: www.stapferhaus.ch
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Kopf eines Buddhas. China, Provinz Hebei
Ausstellung «Was ist Natur?» im Stapferhaus - Bild: Anita Affentranger
Meisterliches iranisches Kino: There Is No Evil von Mohammad Rasoulof, einem der Filmschaffenden, die ins Gefängnis gesteckt wurden.
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www.filmpodium.ch ZACHARIAS KUNUK & . THE INUIT STYLE OF FILMMAKING . 1. Januar bis 15. Februar 2023 . TRIGON_Inserat_Filmpodium_Inuit_190x134.5.indd 1 18.11.22 15:32
Kino Kosmos jugendfilmtage.ch
ABDULLAH IBRAHIM IM KKL
Die 88-jährige südafrikanische PianoLegende Abdullah Ibrahim ist zusammen mit fünf Bläsern des Ensembles «Ekaya» im April 2023 im KKL Luzern angesagt.
Mit 88 Jahren blickt Südafrikas grosser Jazzpianist Abdullah Ibrahim auf eine einzigartige Karriere zurück. Vor 60 Jahren kehrte der gebürtige Kapstädter dem Apartheid-Regime den Rücken und spielte seine ersten Konzerte in Europa im legendären Zürcher Jazzclub «Africana», wo er von Duke Ellington entdeckt und gefördert wurde. Es folgten Konzerte auf allen grossen Bühnen der Welt, seine Beziehung zur Schweiz aber blieb immer besonders eng. Seine Fans sind begeistert von der aus TownshipHymnen und Kwela-Tanzmusik gespeisten Musik, die in ihrer repetitiven Einfachheit einen mitreissenden Sog entfaltet. Auf seinem Anfang 2022 veröffentlichten Solo-Album «Solotude» zeigt sich Ibrahim als Tonmaler auf dem Jazzklavier – sein hymnisches Spiel ist stets von einem tief in der Seele lodernden Feuer geprägt und verbindet Wohlklang mit Tiefgang. Live kommt dies am besten mit seinem von fünf Bläsern angeführten Ensemble «Ekaya» zur Geltung, mit dem er am 20. April 2023 noch einmal im KKL Luzern auftreten wird.
BERLINALE-RETRO SPEZIAL
Renommierte internationale Filmschaffende stellen ihre Coming-of-AgeFilmfavoriten vor. Die Berlinale-Retro mit dem Titel «Young at Heart – Comingof-Age at the Movies» widmet sich dem Jungsein und Erwachsenwerden als gemeinschaftlichem Kinoerlebnis.
Filmschaffende haben sich immer wieder jugendlicher Lebenswelten angenommen und ihnen filmisch Ausdruck verliehen. Dabei decken sie sämtliche Genres ab, vom Drama über die Komödie bis zum Horrorfilm. Zentral sind stets die Fragen: Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Wer kann ich sein? Die Berlinale Retro 23 beschreitet erstmalig neue Wege, indem sie renommierte Filmschaffende aus den Bereichen Regie, Schauspiel und Drehbuch dazu einlädt, das Programm der Sektion zu gestalten. Etwa 30 Filmschaffende werden ihren persönlichen Filmfavoriten zum Thema «Coming–of-Age» für das Programm der Retrospektive auswählen, unter ihnen Ryusuke Hamaguchi, Sergei Loznitsa, Mohammad Rasoulof, Abderrahmane Sissako und Jasmila Žbanic.
SELBST-BEFREIUNG
Brasilien heute. Ein Land, in dem die Social-Media-Verblendung politisch prägend wurde, zeigt sich in Medusa von Anita Rocha da Silveira.
Leicht ist es nicht unbedingt, fast zwei Stunden lang dem religiös-reaktionären Wahnsinn zu folgen, den Anita Rocha da Silveira in Medusa zunächst aus der Innenperspektive heraus präsentiert, um ihn sodann – ebenso von Innen heraus – zu sprengen. Irgendwann nämlich beginnen die Frauen dann doch endlich zu schreien. Und es ist wie ein Befreiungsschlag, den insbesondere das weibliche Publikum zu jenem Zeitpunkt bereits geradezu herbeisehnt: kreischende Furien schlagen das Gespenst der Unfreiheit in die Flucht und erobern sich die nächtliche Strasse zurück.
Aktuelle Entwicklungen
Jene Strasse, die sie zuvor selbst patroulliert haben, um sie von «Sünde» und «Laster» zu säubern; in Gestalt einer Gruppe junger Frauen, die einem erzkonservativen Geschlechterbild anhängen, im Dienst am Manne ihre Bestimmung sehen, in der Mutterschaft ihre Erfüllung und in der Schönheit ihre Verpflichtung. Tagsüber bewundert diese Jungfrauen-Bürgerinnenwehr eine Jungmänner-Miliz bei Leibesertüchtigungsritualen, die unter einem Banner mit der Aufschrift «ordem, deus e progresso» stattfinden («Ordem e Progresso» lautet der Wahlspruch auf Brasiliens Flagge); gemeinsam himmelt man sodann den charismatischen,
smart-dynamischen Prediger an, der sich dieses ganze verblendete Konglomerat zu zweifelsohne sinistren Zwecken geschaffen und dienstbar gemacht hat.
Das alles ist schon ziemlich gruselig, am Gruseligsten aber ist, dass die in Rio de Janeiro geborene und aufgewachsene Rocha da Silveira, die hier ein eigenes Drehbuch verfilmt, keine hanebüchene Science-Fiction-Story zusammen fabuliert, sondern aktuelle Entwicklungen (nicht nur) in ihrem Heimatland aufgreift und bei deren Präsentation eigentlich nur ein wenig an der Satire-Schraube dreht. Medusa liegt wie eine leicht verzerrende Folie etwas schräg auf Bolsonaro-Brasilien – sowie weiter gehend weltweit überall dort, wo ultrarechte, rassistische, klassistische, misogyne, homophobe, fortschrittsfeindliche und anti-aufklärerische Bewegungen aller Art Demokratien plagen und bedrohen; und insbesondere der verhängnisvolle Zusammenschluss von Evangelikalen und Anti-Feministen, Schönheitsterror und Lustfeindlichkeit sind es, die dabei aufs Korn genommen werden.
Die klangvolle neue Stimme Lateinamerikas «Michelle and the treasures of the lord» ist der Albtraum einer jeden Emanze; nicht lediglich ideologisch, sondern konkret und handgreiflich. Angetan mit gespenstisch wirkenden weissen Masken fallen sie nächtens über Geschlechtsgenossinnen her, die aus ihrer Lust –am Tanz, am Sex, am Leben – keinen Hehl machen. Sie zwingen sie vor laufender Kamera zu Selbstbezichtigung und Abbitte
oder sie prügeln sie ins Koma. Doch dann erhält eine der «treasures», Mariana, bei einem dieser Streifzüge von einer flüchtenden Unbotmässigen einen Backenstreich und trägt eine mächtige Narbe davon, die sie aus der Gruppe der Future-Trophy-Wives ausgrenzt. Statt im Schönheitssalon arbeitet sie nun in einer Klinik für Komatöse und die Aussage der dortigen Leiterin, dass niemand hier aufwache und niemand sterbe, scheint zugleich auch einen stagnierenden gesellschaftlichen Zustand ausserhalb des Krankenhauses zu beschreiben.
Wie in ihrem eigenwillig düsteren Langfilmdebüt Mate-me por favor (2015) –über einen gerüchteweise umgehenden Vergewaltiger und die gefährlichen Fantasien, die er bei einer Gruppe pubertierender Teenagerinnen auslöst –gelingt Rocha da Silveira auch mit Medusa eine Expedition in ein dunkles Reich voll leuchtender Farben und schafft sie, mit kursorischen Reminiszenzen ans Genrekino, ein starkes Stimmungsbild. Neuerlich streben eindeutige und radikale Obsessionen – von Lust/Angst bis Kontrolle/Verlust – in vielerlei Richtungen und werden unterschiedliche Potenziale in verschiedenen Kontexten ausgelotet. Am Ende ergibt das einen Rundumschlag, der, pendelnd zwischen Groteske und Horror, voll auf die Zwölf des internalisierten Machismo zielt und trifft. Und so löst Medusa denn auch das Versprechen des Erstlings ein: in ungewöhnlichen Registern ertönt eine klangvolle neue Stimme des lateinamerikanischen Kinos.
Alexandra Seitz
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Medusa
Medusa
Mit God Exists, Her Name is Petrunya hat die nordmazedonische Filmemacherin Teona Strugar Mitevska einen Erfolg gelandet und die Mannsbilder in ihrer Heimat und anderswo ganz schön auf die Schippe genommen. Jetzt überrascht sie uns mit einem Stück über eine Gruppe von Menschen, die ganz menschlich auf der Suche nach Liebe sind und dazu an einem organisierten Begegnungstreffen teilnehmen. Dabei taucht die Geschichte auf, die auf dem Balkan bis tief in die Seelen Spuren hinterlassen hat.
REIGEN
THE HAPPIEST MAN IN THE WORLD VON TEONA STRUGAR MITEVSKA, NORDMAZEDONIEN
DER
IN SARAJEVO
Von Walter Ruggle
«Wir glauben, dass Uniformen Teilnehmende ermutigen, die Regeln zu befolgen», erläutert Seminarleiterin Merisha die Tatsache, dass die Frauen und Männer, die sich bei ihr auf Partnerschaftssuche zusammengefunden haben, rosarote Überkleider tragen sollen. Wir haben uns zuschauend mit ihnen eingefunden in einem dieser architektonisch scheusslichen Businesshotels, wie man sie an vielen Orten noch immer finden kann. Seelenlose Betonklötze.
Unser Bau erhebt sich über Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina. Hier entzündete sich der Erste Weltkrieg am Anfang des 20. Jahrhunderts, hier herrschte nach einem Zweiten Weltkrieg noch einmal Krieg am Ende des gleichen Jahrhunderts. Niemand hätte Letzteres noch für möglich gehalten nach den ersten beiden Kriegen, aber was an Unmöglichem noch möglich sein kann auf dem europäischen Kontinent, das sollte uns erst das Jahr 2022 mit dem Angriffskrieg Russlands auf sein Nachbarland Ukraine so richtig deutlich und heftigst zeigen. Von hier und vom Ende des neuen Films von Teona Strugar Mitevska aus betrachtet bekommt der simple Kleidungssatz von Merisha ganz andere Dimensionen: Uniformen ermutigen Beteiligte, Regeln zu befolgen, die andere aufstellen. Das eigenständige Denken wird in Uniformen delegiert, sprich ausgeschaltet.
TOUCH OF HAPPINESS IN ZÜRICH
The Happiest Man in the World ist der Film betitelt, und spätestens in dem Moment, in dem Zoran, dieser «glücklichste Mann der Welt», im Dekor auftaucht, beginnen Widersprüche, wie sie jeder Alltag hervorbringt. Im Raum haben sich gut zwei Dutzend Frauen und Männer unterschiedlichen Alters eingefunden, die allesamt auf der Suche nach Liebe sind und sich in dieser Suche
unterstützen lassen von einer Organisation, die unkomplizierte Begegnungen ermöglichen will. Da ist die Witwe, die immer von ihrem Mann erzählt, die junge Frau, die nicht schnell genug fündig werden kann, die Muslimin, die ihre Religionszugehörigkeit mit Schleier sichtbar macht, die Dame mit dem Hündchen, die allein schon für zwei denken muss. Die Männer sind Nebensache und ja, noch dies: Der Konferenzraum, in dem sich das Liebesfindungsseminar unter dem Titel «Touch of Happiness» abspielt, heisst für uns sinnigerweise «Salon Zürich».
ASJA UND ZORAN
Glücklich sieht Zoran nicht aus, aber er bezeichnet sich im Lauf des Geschehens selber einmal so. Auch das Glück ist eben relativ; dasselbe Moment kann für den einen Glück und die andere Unglück bedeuten. Wie schnell das kippen kann, auch ins Gegenteil, ist etwas vom Intensivsten, was uns Teona Strugar Mitevska in ihrem präzis geschriebenen, lebensnah, vielschichtig und hervorragend gespielten Film mehrfach vor Augen führt. Zoran ist 47, verheiratet, Vater eines Kindes, auf einer Bank arbeitend, er denkt ab und zu über Suizid nach, wirkt unsicher. Als Kind habe er sich viel herumgetrieben und Blödsinn gemacht. Er habe zur Armee der Republika Srpska gehört und auf seine eigene Heimatstadt geschossen.
Die Paare wurden im Raum nach vorgegebenem Plan an Zweiertische verteilt. Zoran ist dem Tisch 12 zugewiesen, und an dem sitzt bereits Asja. Beide nehmen zum ersten Mal an einer solchen Liebesfindungs-Veranstaltung teil. Asja hat Recht studiert und arbeitet als Rechtsberaterin in einer kleinen Firma. Ihre Eltern leben noch, was an einem Ort wie Sarajevo beim ersten Vorstellen erwähnenswert ist. Sie selber lebte auch einmal in einer Bezie -
hung, doch das sei irrelevant. Sie hat eine Abtreibung hinter sich, reist gerne und träumt aktuell davon, nach Japan zu fliegen. Früher wollte sie eine Familie gründen. Aber: Mit einem Mann, der in einer Beziehung steckt, will sie nichts zu tun haben. So weit, so gut. Doch wie sollen die beiden zusammenpassen?
«Wir haben vergessen, was wichtig ist – die Liebe», trällert die Frau, die die Einleitung gestaltet. Das Spiel, das da im Konferenzsaal Zürich in Sarajevo zu Verkuppelungszwecken veranstaltet wird, ist ein einfaches. Marta und Merisha sind die beiden Hostessen im Leopardenkleid, die die Gruppe durch den Anlass führen. Eine männliche Stimme stellt über die Lautsprecheranlage die Fragen, die an jedem Tisch von beiden Personen beantwortet werden sollen und jeweils dem Gegenüber einen Einblick ermöglichen: Welches ist deine Lieblingsfarbe? Was ist deine liebste Jahreszeit? Welche Tagesstunde magst du am liebsten? Oder welche Persönlichkeit aus der Geschichte würdest du gerne einladen? «Jesus», sagt Asja ohne lange zu überlegen; «Kurt Cobain», meint Zoran. Das Spektrum ist offen und gross, wobei man ja auch das Nirwana durchaus unterschiedlich interpretieren kann.
RELIGIONEN PRÄGEN GESELLSCHAFT UND POLITIK
In ihrem letzten Spielfilm God Exists, Her Name is Petrunya hat Teona Strugar Mitevska die Mannsbilder ganz schön vorgeführt und uns gezeigt, wie die Religion und über sie die Politik sich männlich entwickelt hat und männlich gebärdet. Eine Frau erlaubt sich da, in einem klerikalen Ritual, das die männliche Religion den Männern vorbehalten hat, mitzuspielen. Die Politik schreitet über ihren Arm der Polizei ein, aber die Frau macht ihnen allen das Spiel nicht einfach: Sie führt den Männern vor, wie ihre Regelwerke, ob Bibel oder Gesetzbuch, von Männern für Männer geschaffen wurden. Und sie verlässt den Schauplatz am Ende, indem sie den Männern das von ihr im Eingriff ins Ritual eroberte Kreuz überlässt mit dem selbstsicheren Hinweis: Ihr könnt es behalten, denn scheinbar braucht ihr es.
Auch wenn The Happiest Man in the World sich in der Anlage und der Erzählung stark unterscheidet von der Satire God Exists, Her Name is Petrunya , so bleibt Teona Strugar Mitevska ihrem Blickwinkel treu. Es ist ganz klar derjenige der Frau, die das Sein als Frau betrachtet und dabei vorführt, was Godard so schön beschrieben hat: «Das Kino zeigt das Unsichtbare.» Die Geschichte, die die nordmazedonische Filmemacherin hier erzählt, ist eine, die die Wirklichkeit des Balkans genährt hat. Sie berichtet im nachfolgenden Gespräch darüber, wie ihre Drehbuch-Co-Autorin
Elma Tataragi ć die Erfahrung gemacht hat, jenem Mann wieder zu begegnen, der sie im Krieg verletzt hat. Die Anlage, die die beiden Frauen in ihrem Drehbuch gewählt haben, ist eigentlich eine theatrale, denn der zentrale Schauplatz des Films ist dieser Hotelbunker, von dessen Terrasse aus man einen Blick hat auf den beinahe unüberschaubar grossen Kriegsfriedhof der Stadt. Ans Theater denkt man aber erst, wenn man sich den Film als Ganzes vor Augen führt: Von ein paar wenigen kurzen Flashbacks abgesehen, die diese Bezeichnung in ihrer Flashartigkeit auch wirklich verdienen, lebt der Film die Einheit von Ort und Zeit in einem klassischen Sinn vor. Und das gehört zum Anspruchsvollsten im Kino, denn da gilt es, den Raum aufzubrechen, nicht nach aussen, vielmehr nach innen.
UNSICHERHEIT UNSICHERHEIT BLEIBEN LASSEN
Wie schafft die Filmemacherin es, den Raum zu überwinden, so dass nicht das Gefühl von Bühne entsteht? Eine elementare Rolle dabei kommt ihrer Kamerafrau Virginie Saint Martin zu, die einerseits die Kamera auch in der Hand behält, wenn sie die Gesichter von Asja und Zoran gross cadriert und jede Regung, jede Falte, jedes Wimpernzucken sichtbar macht. Aber eben nicht auf einem Stativ, das Sicherheit bedeuten würde. Es gibt in diesem Raum und vor allem in dieser Zweierkonstellation keine Sicherheit, keinen Augenblick lang – Jelena Kordi ć Kuret und Adnan Omerović verkörpern ihre beiden Figuren gänsehautintensiv. Alles ist dauernd im Fluss, alles kann sich permanent anders zeigen, es ist das Wechselbad der Gefühle, in das Asja und Zoran versetzt sind durch die schiere Tatsache, dass sie sich wieder gegenüberstehen, wie schon einmal am Neujahrstag 1993, aber unter völlig anderen Vorzeichen, in einem gänzlich anderen Lebensabschnitt. Das, was sie vereint, ist eine Tragödie, die sie durchlebt hatten, die sich nicht auslöschen lässt. In einem der stärksten Momente der Konfrontation mit dem Gewesenen, das nach wie vor in den Köpfen wuchert, dreht die Kamera im Kreis und Asja sagt mit einer Atempause zwischen den Sätzen: «Wir haben alle überlebt. Die Kriminellen sind unter uns. Ich bin verliebt.» Da steckt wieder alles drin, auch das Widersprüchliche.
Sprachlosigkeit, Augenblicke, Regungen, Zerrissenheiten: Teona Strugar Mitevska gibt der Zeit nach einem Krieg eine Innenansicht. 30 Jahre ist es her, und es gehen einem angesichts der aktuellen Gräueltaten der russischen oder der burmesischen Armee Gedanken durch den Kopf von Geschichten, die anderswo in 30 Jahren erzählt werden. Am Ende tanzt Asja im unteren Stock des Hotels, wo eine U-18-Party läuft, mit einem Jungen, der ihr Sohn sein könnte. Wann ist ein Krieg fertig? Ist er nie zu Ende? ■
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«KRIEG IST MÄNNLICHE ABSURDITÄT»
GESPRÄCH MIT TEONA STRUGAR MITEVSKA ZU
THE HAPPIEST MAN IN THE WORLD
God Exists, Her Name is Petrunya war ein klares Statement gegen das Patriarchat. When the Day Had no Name handelte von der Unfähigkeit junger Generationen, insbesondere der männlichen, sich selbst anders zu definieren, als dies die Gesellschaft und also erneut patriarchale Strukturen von ihnen verlangen. Wie kommt es, dass Sie nun einen Film über den Krieg und die Scherben machen, die er hinterlassen hat?
Ich bin in Jugoslawien geboren und aufgewachsen. Als in Bosnien der Krieg ausbrach, war ich 17, ein Jahr älter als Asja damals, die in The Happiest Man in the World die weibliche Hauptrolle spielt. Dieser Krieg und die Auflösung von allem, woran wir glaubten, prägte die Entwicklung meines Lebens und beeinflusst mich bis heute. Im ersten Jahr der Filmhochschule in New York drehte ich den Kurzfilm Amer in America , eine Dokumentation über meinen besten Freund Amer, der als bosnischer Flüchtling in Florida lebte. Im zweiten Jahr ging ich im Kurzfilm Veta Amers persönlicher Geschichte nach und wie er seine Heimatstadt Stolac verlassen musste. Der Film wurde an der Berlinale gezeigt und markierte den Anfang meiner Karriere, war das Tor zu den weiteren Filmen, die folgen sollten. Für mich ist The Happiest Man in the World eine Art Gedicht, eine Form, all das Grossartige zu zelebrieren, das Jugoslawien und Sarajevo, die schönste Stadt mit den liebsten Menschen der Welt, einst ausmachte.
Es ist die dritte Zusammenarbeit mit Elma Tataragic, der Co-Autorin des Films. Eigentlich die vierte, denn wir haben soeben das Drehbuch meines nächsten Films Mother abgeschlossen. Wir sagen es immer wieder: Zusammen haben wir mindestens 20 Geschichten zu erzählen, vier sind geschrieben, 16 weitere liegen noch vor uns. Wenn du dich mit jemandem so gut ergänzt, willst du diesen Menschen nicht mehr loslassen, und Elma ist für mich eine unheimlich inspirierende Kraft. God Exists, Her Name is Petrunya war eine persönliche Reise für mich. The Happiest Man in the World ist Elmas Geschichte. Das Drehbuch basiert auf ihrem Leben.
Können Sie uns etwas über die wahren Begebenheiten erzählen, die dem Film zugrunde liegen?
Elma wurde während der Belagerung von Sarajevo verletzt. Als sie nach dem Krieg an der Filmakademie in Sarajevo studierte, nahm sie auf Einladung an einem SchauspielWorkshop teil und traf dort tatsächlich auf diesen Mann. Sie wurden aufgefordert, über die schlimmsten Dinge zu sprechen, die ihnen widerfahren waren, und teilten ihre Erlebnisse genau wie im Film. Ihr Zusammentreffen war reinster Zufall. Sie blieb mit dem Mann in Kontakt, auch
wenn die ganze Erfahrung sehr widersprüchliche Gefühle in ihr auslöste. Vor acht Jahren erzählte mir Elma, dass sie gerne etwas mit dieser Geschichte machen würde. Drei Jahre später war ich mit meiner Schwester Labina, die den Film produziert hat und Marta spielt, am Filmfestival Sarajevo. Wir logierten im berühmten Hotel Holiday Inn, diesem grossen gelben Bauwerk, das während der Belagerung eine zentrale Rolle spielte. Wir sassen in der Hall und ich erzählte ihr Elmas Geschichte. Labina sagte: «Stell dir vor, wir würden die Erzählung hier inszenieren anlässlich einer Art von Kongress.» Wir spannen die Idee weiter und fanden eine Form, mit einem zeitgemässen Blick auf die eigentümliche Erfahrung zu blicken. Wir riefen Elma an, sie meinte: «Grossartig! Wann fangen wir an zu schreiben?»
Fanden Sie es richtig, als Mazedonierin eine Geschichte über Bosnien zu erzählen?
Mit der Frage habe ich mich lange beschäftigt. Ich bin in Skopje aufgewachsen und habe in den frühen 90er Jahren während der Belagerung Sarajevos in den USA studiert. Das Kriegsgeschehen betrachtete ich aus der Ferne, erste Berichte hörte ich von meiner Familie, auch wenn Mazedonien selbst kaum involviert war. Dennoch betraf uns dieser Krieg, weil wir alle Teil von ein und demselben Land waren: Jugoslawien. Der Krieg beeinflusste unser Leben so oder so. Als wir das Drehbuch schrieben, haben Elma und ich viel recherchiert und vor Ort mit Menschen in Sarajevo Interviews geführt. Einige ihrer Erlebnisse sind ins Drehbuch eingeflossen. Erst in diesem Moment realisierte ich, wie unwissend ich war, wie wenig mir klar war, was Krieg eigentlich bedeutete. Man weiss nichts, wenn man all die Verheerungen nicht selbst erlebt hat. Da konnte mir Elma noch so nahestehen. Weil sie aber alles an Haut und Haar erlebt hatte, kam ich mir nicht wie ein Eindringling vor.
Hat Elma diesem Mann im wahren Leben verziehen? Das hat sie, sonst hätte sie die Story nicht schreiben können. Vergebung ist nur möglich, wenn man Verantwortung übernimmt. Die Geschichte ist letztlich ein fiktiver Bericht über ein tatsächliches Ereignis.
In Bosnien gab es also keinen Prozess wie die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission? Wir haben oft über den Post-Apartheid-Prozess in Südafrika gesprochen, aber nein, so etwas gab es in Bosnien nicht. Möglicherweise haben wir uns über die Kultur und regionale Zusammenarbeit bis zu einem gewissen Grad angenähert und versöhnt. Die Zusammensetzung von Cast und Crew spiegelt das exemplarisch wider. Es sind Schauspielerinnen und Schauspieler aus Serbien, Kroatien und Bosnien dabei, die in Bosnien-Herzegowina leben und unterschiedliche religiöse oder nicht-religiöse Hintergründe haben. Wir müssen uns vor Augen halten, dass Sarajevo bis in die 1990er Jahre ein unglaublicher Schmelztiegel von Religionen und Nationalitäten war. Das war Jugoslawien eben auch: sozialistische Ideologie und eine Philosophie der multikulturellen Brüderlichkeit und Einheit. Mein Vater ist Mazedonier, meine Mutter Montenegrinerin. Vielleicht fühle ich mich deshalb der Geschichte noch näher: Ich bin ein Kind Jugoslawiens.
Wir können spüren, dass einige Charaktere nicht wissen, zu welcher Gemeinschaft sie gehören, als ob sie gezwungen wären, durch ihre Geburt oder Religion eine Identität zu wählen. Sie wirken verloren.
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Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel anbringen: Elmas Mutter ist Kroatin und Katholikin, ihr Vater Bosnier und Muslim. In ihrer Familie gibt es auch ein jüdisches und christlich-orthodoxes Erbe. Was ist sie? Das ist die Tragödie des Krieges: sich entlang der Linien von ethnischer Zugehörigkeit und Religion definieren zu müssen oder diese in Frage zu stellen. Seit dem Krieg hat sich das gesellschaftliche Zusammenleben in Sarajevo erheblich verbessert, dennoch ist es unfassbar, wie der alte Konflikt noch immer durch die kleinsten Ritzen des Alltags dringt, das sieht man im Film etwa, wenn Asim über Kürbiskuchen spricht. Dieser Krieg ist 30 Jahre her, wir haben ihn beinahe vergessen und dennoch ist er in der Gegenwart noch spürbar. Und jetzt haben wir die Ukraine, einen weiteren Krieg auf europäischem Boden. Wann werden wir endlich lernen, dieses zerstörerische Verhalten abzulegen?
Ist Sarajevo immer noch ein Schmelztiegel der Kulturen? Kommt es vor, dass ein Opfer auf der Strasse plötzlich einen ehemaligen Scharfschützen erkennt? Wir können uns vorstellen, wie wahrscheinlich es ist, dass Menschen von den verschiedenen Fronten des Krieges in Bussen, Strassenbahnen und auf Plätzen aufeinandertreffen. Sarajevo ist auch eine geteilte Stadt, ein zersplittertes Konglomerat, und dennoch scheint sie lebendiger zu sein als die Politik. Es gibt natürlich auch gegenläufige Tendenzen, was enttäuschend ist. Wir behaupten, Geschichte beruhe auf Fakten, leben aber in einer Zeit, in der historische Tatsachen anscheinend ihre Bedeutung verloren haben. Leider liegt die Faktenlage im heutigen Bosnien-Herzegowina je nach Gemeinschaft anders. Selbst heute leugnen gewisse Politiker die Belagerung von
Sarajevo, als ob sie nie stattgefunden hätte. Jüngere Generationen wachsen mit der Unkenntnis darüber auf, wie der Krieg alles und jede und jeden betroffen hat. Wenn wir ignorieren was passiert ist, wenn wir nicht aufklären und den Dialog suchen, wie können wir dann eine gemeinsame Zukunft schaffen?
Wie haben Sie Asjas Figur entwickelt? Asja sollte eine ganz gewöhnliche Städterin sein, wie man sie zufällig in Sarajevo, Brüssel oder Berlin antreffen könnte. Wir brauchten jene Vertrautheit und Ähnlichkeit, die beinahe an Unsichtbarkeit grenzt. Im Kontext vorgetäuschter Normalität wirkte der Alltag von Asja noch prekärer. Wir wollten, dass sich auch Zuschauerinnen und Zuschauer, die nicht aus der Balkanregion stammen, mit ihr identifizieren können. Sie hat einen normalen Job. Sie
«Jetzt haben wir die Ukraine, einen weiteren Krieg auf europäischem Boden. Wann werden wir endlich lernen, dieses zerstörerische Verhalten abzulegen?»
Teona Strugar Mitevska
führt ein normales Leben. Ihr einziges Problem ist, dass sie niemanden findet, der zu ihr steht und den sie lieben kann. Wie jeder andere Mensch auf der Welt ist sie auf der Suche nach Liebe, Anerkennung und Glück. Die Idee war, solange den Anschein von Normalität zu wahren, bis sich das Publikum mit ihr identifiziert. Erst als sie mit Zoran in Kontakt kommt, zeigen wir ihre Wut, die sehr typisch ist. Man ist nun nahe bei ihr und versteht den Ursprung ihrer Emotionen.
Asja sagt, sie könne keinerlei Lärm ertragen. Ist das eine Anspielung darauf, dass in Sarajevo Menschen unter posttraumatischer Belastungsstörung leiden, was nie ganz anerkannt oder öffentlich diskutiert worden ist? Ganz genau. Es ist das häufigste Anzeichen für ein Trauma. Wir wissen, dass Traumata von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Selbst die jungen Leute, denen Asja auf der Tanzfläche begegnet, tragen das Trauma in einer Weise in sich, die ihnen vielleicht nicht bewusst ist. Nicht in der gleichen Weise wie Asja, aber vermutlich sind auch sie irgendwie davon betroffen.
Wie wird es Asja nach diesem Tag ergehen?
Nun, es liegt ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Ich möchte Ihnen etwas sehr Persönliches erzählen. Elma, die Drehbuchautorin, ist 46 Jahre alt. Sie versuchte viele Jahre lang schwanger zu werden, machte sämtliche Untersuchungen und es gab äusserlich keinen Grund, warum sie kein Kind bekommen konnte. Irgendwann gab sie es auf. Doch kaum waren wir mit dem Drehbuch fertig, wurde sie schwanger. Ich habe immer noch Gänsehaut, wenn ich darüber rede, als ob das Loslassen der schweren Belastung, die sie in sich trug, ihr eine Zukunft ermöglicht hätte.
Was sollen wir von Zoran halten?
Auch er ist ein Opfer seiner Umstände und ein trauriger Mann. Ich zeigte den Film einigen Leuten aus Sarajevo, und es war eine echte Herausforderung für sie, weil der Film sie dazu brachte, die andere Seite zu sehen: Zoran ist der Erzfeind, und doch kann man Mitleid mit ihm haben. Ich bin erstaunt über Elmas Fähigkeit, diesen Mann zu verstehen. Dass sie vergeben kann, ist ein Beweis für die unglaubliche Grosszügigkeit des menschlichen Wesens. Zoran wuchs als Opfer der Geschichte auf, als Opfer des
männlichen Egos, denn für mich war der Krieg in Jugoslawien eine Sache übersteigerter Egos, ein unnötiger Krieg aufgrund männlicher Absurdität.
Gibt es Zeugenaussagen von ehemaligen Scharfschützen, auf die Sie sich stützen konnten?
Man findet Youtubefilme von Kriegsverbrechern, die über ihre Erfahrung sprechen, aber das ist sehr abstrakt und undurchsichtig. Was Zoran angeht, so ist er einer der vielen Soldaten, die gegen ihren Willen rekrutiert wurden und dennoch an einem bestimmten Punkt eine Entscheidung getroffen haben. Seine tägliche Existenz ist sein Fegefeuer.
Sie haben diesen Film als Choreographie zwischen zwei Menschen inszeniert, die sich begegnen, voreinander fliehen und erneut zusammentreffen. Manchmal umringt von einem Chor anderer Menschen. Jeder Film ist ein Zusammenspiel von Geschichte, Umgebung, thematisierter Erfahrung, Kamerabewegungen, Figurenentwicklung, Cadrage, Farbe, Ton und Regieführung. The Happiest Man in the World spielt an einem einzigen Ort, in einem Hotel, das im Stil des Brutalismus gebaut wurde. Ich stand vor der grossen Herausforderung, eine Truppe von vierzig Schauspielenden in einem Raum zu filmen, und nur siebzehn von ihnen waren Profis. Mir war klar, dass ich sie auf den Prozess vorbereiten musste, und auch mich selbst, um mein Handwerk selbstbewusst auszuüben und das zu tun, was mir am meisten Spass macht: Schauspielende zu führen. Während acht Monaten castete ich in Bosnien und der Republik Srpska. Ich wusste, dass es ein Ensemble-Film sein würde und dass ich ihn wie ein Puzzle angehen musste, bei dem jedes Stück seine elementare Bedeutung hat. Eine Figur konnte nicht ohne den Rest funktionieren und umgekehrt. Für eine Theaterinszenierung probt man rund sechs Wochen, bei uns war es ganz ähnlich: Sieben Wochen probten wir auf dem Set und drehten danach während fast vier Wochen. Die Proben dauerten also länger als der Dreh. Sie liessen das Chaos ordnen und Raum für Improvisationen schaffen; dabei kommen auch gewisse Wahrheiten zu Tage, die nicht selbstverständlich sind. Die gesamte Besetzung war immer einsatzbereit am Set und folgte dem Motto: Suche nicht nach der Kamera, die Kamera wird dich finden. Dieser Prozess war eine der besten und demütigsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Es entstand ein unglaublicher Zusammenhalt, ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl. Wir handelten als einheitlicher Organismus wie die ultimativen Musketiere: Einer für alle, alle für einen! Alle hatten eigene Kriegserfahrung im Gepäck, und auf manche wirkten unsere Proben wie eine Verlängerung, Ausweitung, Reminiszenz oder gar wie eine Therapie. Ich amtete bloss als Vermittlerin.
Sie vermitteln im Film den Eindruck, dass ein Krieg nicht beendet ist, solange Schmerz, Verlust und Trauma nicht geheilt sind.
Bosnien ist immer noch verletzt und tief gespalten. Das Dayton-Abkommen machte es unmöglich, das Land zu regieren. Dreissig Jahre später leben Bosnierinnen und Bosnier immer noch mit dem Krieg. Eine menschliche Tragödie, die uns alle angeht. Mein Film stellt die Frage: Wann ist ein Krieg zu Ende, wann wird die Erinnerung daran verschwinden, und können Traumata jemals überwunden werden? Ich hoffe, Europa hat aus dieser Erfahrung gelernt und wir werden nicht dieselben Fehler mit der Ukraine machen. ■
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TEONA STRUGAR MITEVSKA
Geboren 1974 in Skopje, Mazedonien, lebt dort und in Brüssel. Sie kam als Kinderschauspielerin zum ersten Mal mit Film in Berührung. Ausbildung zur Grafikdesignerin, Filmstudium an der Tisch School of the Arts in New York. Ihr Spielfilm Jas sum od Titov Veles der auf über 80 Festivals weltweit gezeigt wurde und dabei über 20 Preise gewann, wie auch The Woman Who Brushed Off Her Tears und When the Day Had no Name waren an die Berlinale eingeladen. God Exists, Her Name is Petrunya lief erfolgreich in den Kinos und ist in der Edition trigon-film auf DVD erschienen. Zusammen mit ihren Geschwistern Vuk und Labina leitet Teona die nordmazedonische Produktionsfirma Sisters and Brother Mitevski.
In seinem Erstling erzählt der ukrainische Filmemacher Dmytro Sukholytkyy-Sobchuk die Geschichte eines furchtlosen Familienvaters, der dafür kämpft, dass sein Sohn andere Wege einschlägt als er selbst – und der dafür noch einmal das Gesetz bricht. Eindrücklich verbinden sich volkstümliche Traditionen und Genres. Die Figur gerät zum mythischen Helden des ukrainischen Westens, der sich gegen Korruption und Ignoranz engagiert.
SUKHOLYTKYY-SOBCHUK,
DER LETZTE JOB PAMFIR VON DMYTRO
UKRAINE
Von Kathrin Kocher
Pamfir nennt man ihn, Stein. Gross und stark ist er, in der Gegend als einer der gerissensten Schmuggler bekannt, als Kämpfer mit eiserner Faust, der nicht einmal vor dem eigenen Vater zurückschreckt. Es ranken wilde Geschichten um den Mann, der jetzt überschwänglich seinen Sohn an sich drückt: «Wie gross du geworden bist!» Lange war Leonid nicht zu Hause, hat im Ausland Geld für die Familie verdient. Endlich ist er zurück und Nazar kann sein Glück kaum fassen. In der Kleinstadt ganz im Westen der Ukraine, an der Grenze zu Rumänien, steht der Feiertag Malanka an, für den aufwändig Kostüme aus Stroh und tierischen Larven gestaltet werden. Dass sein Vater pünktlich zum berühmten Karnevals-Spektakel auftaucht, bedeutet dem Teenager viel.
Auch Olena möchte ihren Mann am liebsten gleich für immer dabehalten. Weil sie den heranwachsenden Nazar nicht mehr zu bändigen weiss, sich alleine fühlt und sich die beiden auch nach all der Zeit leidenschaftlich lieben. Ihr Leonid kümmert sich jedoch bereits um seine Rückreisepapiere nach Polen, denn Nazar soll eine Perspektive haben und studieren können, das Haus endlich fertig werden. Dafür hat sein Bruder Victor nur Spott übrig: «Hättest du weitergemacht, wäre dein Haus längst fertig. Schmuggeln ist unsere Tradition.» Doch dem hat Leonid der gläubigen Olena zuliebe abgeschworen, ehrliches Handwerk soll es sein, und Nazar in seinem Vater ein Vorbild finden. So hebt Leonid nun einen Brunnen im matschigen Boden vor der Kirche aus, dafür hilft ihm der Pfarrer mit den Papieren. Eine Hand wäscht die andere.
ÜBERDRUCK
Der Frieden währt nicht lange. Nazar zündelt nach einer Chorprobe im Keller der Kirche und fackelt aus Versehen das ganze Gebäude ab. Ehrensache, dass Leonid schnellst möglich für den Schaden aufkommt, gerade jetzt will er es sich mit dem Pfarrer nicht verscherzen. Schnelles Geld – das wissen hier alle – verdient man nicht mit Brunnen graben. Pamfir zögert keine Sekunde: er wärmt alte Kontakte auf, bestellt Schmuggelware, schwört, dass dies sein letzter Job sein werde, begibt sich in den Teufelskreis. Vor Olena hält er sein Vorhaben geheim, Victor und die Mutter hingegen sind aktiv Teil davon, sie verstehen das Metier bestens. Routiniert holt Pamfir die illegale Fracht ab, fertigt Tragriemen und besorgt Aufputschmittel für den riskanten Sprint durch den Wald, wo es die Grenze zu überschreiten gilt – buchstäblich und in übertragenem Sinne. Doch die Handlanger, die Victor für ihn anheuert, sind jung und unerfahren, und Pamfir kennt zwar das Gehölz, aber nicht den Mann, der mittlerweile darüber herrscht. Bald steht er nicht mehr bei der Kirche, sondern bei Herrn Oreste in der Schuld, was den Druck noch erhöht und in der Nacht von Malanka unumkehrbare Folgen nach sich zieht.
Pamfir, uraufgeführt in Cannes, ist das fulminante Spielfilmdebüt des Ukrainers Dmytro Sukholytkyy-Sobchuk, der bereits mit seinem Kurzfilm Weightlifters (2018) international Aufsehen erregte. Der Filmemacher siedelt seine Handlung in der Oblast Tscherniwzi in den Karpaten an, einer Region, die er auch durch seine früheren Arbeiten bestens kennt und in der sich heidnische Riten und der Glaube an die christliche Dreifaltigkeit durchdringen. Gedreht wurde in 16 Dörfern mit vielen Laien, die alle den lokalen Dialekt sprechen. Die Geschichte gerät durch die Rückkehr des titelgebenden Pamfir, der sich seiner Familie wegen mit den Mächtigen der Unterwelt anlegt, in Fahrt.
Sukholytkyy-Sobchuk geht dabei weit über den Genrefilm hinaus, lässt bewusst Neo-Western mit Gangsterfilm und griechischer Tragödie zu einem rauen, Film-Noir-artigen Krimi verschwimmen, in dem ein mythischer Held gegen alle Widerstände kämpft wie ein Bär, der in einem wilden Wald gejagt wird. Dank einer Inszenierung, die ständig auf Bewegung setzt und virtuos die Körper
bis in alle existenziellen Facetten und Schattierungen zu choreographieren versteht, erzeugt der junge Regisseur in seinem Film einen erstaunlichen Atem und löst intensive Gefühle aus, die durch die zuweilen märchenhaft anmutende Kulisse und farblich akzentuierte Fotografie noch verstärkt werden.
Angeführt wird die hervorragende Besetzung von Oleksandr Yatsentyuk, der in der Hauptrolle mit einer aussergewöhnlichen Präsenz begeistert: Wenn er furchtlos um sich schlägt, wie er brummt und knurrt, und besonders auch dann, wenn seine bedingungslose Liebe zu Frau und Sohn durchscheint. In sorgfältig zurückhaltendem Ton zeichnet Sukholytkyy-Sobchuk seine Figuren einnehmend mehrdimensional, dringt tief in ihre Beziehungen vor, in denen es um Loyalität, Hingabe und Wiedergutmachung geht und im Unbehagen Wärme und Humor aufblitzen: Die alte Mutter wirft sich mit ihren erwachsenen Söhnen ins Laub, der Potentat scherzt mit den Enkelkindern – bevor einem wieder ein Schauer über den Rücken jagt.
DAS FILMMATERIAL VOR DEN BOMBEN GERETTET
Pamfir zeigt uns eine Ukraine, wie wir sie wahrscheinlich so bald nicht mehr sehen werden. Kurz vor der russischen Invasion gedreht, wurde der Film wegen des Krieges ausserhalb des Landes fertiggestellt: «Wir mussten den Film inmitten der Angriffe aus der Postproduktion retten», sagte die französische Co-Produzentin Laura Briand. «Das Postproduktionsstudio lag in Kiew in einem Gebiet, in dem Raketen niedergingen. Das gesamte Tonmaterial drohte verloren zu gehen». Ein Tonassistent habe sich nochmals ins Studio gewagt und das Material rechtzeitig übertragen können. Dmytro Sukholytkyy-Sobchuk selbst ist laut seiner ukrainischen Produzentin Aleksandra Kostina bei Ausbruch des Krieges nach Lwiw im Westen des Landes gereist, um als Freiwilliger Geflüchteten zu helfen: «Er hat seine Kamera als Waffe mitgenommen.» ■
Dmytro Sukholytkyy-Sobchuk wurde 1983 in Uman, Ukraine, geboren. Bevor er zum Film kam, absolvierte er die Architekturfakultät der Technischen Hochschule Czernowitz und die Philosophische Fakultät der Nationalen Universität Czernowitz. 2013 machte er seinen Abschluss an der Nationalen Karpenko-Karyi-Universität für Theater, Kino und Fernsehen in Kiew. Während seines Studiums drehte er mehrere Kurzfilme, die an verschiedene internationale Filmfestivals eingeladen wurden und Preise erhielten. Sein erster Studentenfilm, Adolescence, wurde mit dem internationalen «Arseniy and Andrei Tarkovsky»-Preis ausgezeichnet. Sein Bachelor-Abschlussfilm The Beard war Teil des Kurzfilm-Almanachs Ukraine, Goodbye! und wurde 2012 in die Sammlung der besten Kurzfilme der «Ukrainian New Wave» aufgenommen. The Beard erhielt zudem den Hauptpreis des Nationalen Drehbuchfestivals «Coronation of the Word». Weightlifter war 2018 für den Europäischen Filmpreis nominiert und gewann in Angers den Preis der Grossen Jury. Dmytro SukholytkyySobchuk nahm an verschiedenen internationalen Workshops teil: Berlinale Talent Campus, Aristoteles Workshop, Locarno Academy, Cannes Cinéfondation und Torino FilmLab. Er ist der Gründer der Drehbuchplattform Terrarium. Pamfir ist sein erster Spielfilm; er wurde unter anderem vom Schweizer Fonds visions sud est gefördert.
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DMYTRO SUKHOLYTKYY-SOBCHUK
EINE EINZIGARTIGE REALITÄT ABZUBILDEN .»
Das Drehbuch zu Pamfir ist das Resultat meines beruflichen Prozesses der letzten Jahre. In meinem Abschlussfilm Krasna Malanka habe ich die Vorbereitungen für den Karneval Malanka begleitet. Später kam Intersection , eine Kurzdokumentation in rumänischer Koproduktion dazu. Die beiden Filme entstanden in einem Grenzgebiet zwischen der Ukraine und Rumänien, wo vieles nach wie vor sehr unkonventionell läuft. Insbesondere der Schmuggel, über den ich in Hintergrundgesprächen mit darin involvierten jungen und nicht mehr ganz so jungen Männern viele Informationen gesammelt habe.
Mit Pamfirs Geschichte wollte ich einerseits die ukrainische Emigration und die Kluft zwischen der Ukraine und der EU thematisieren. Gleichzeitig sollte es auch die Geschichte eines gewöhnlichen Mannes sein, der zur Verzweiflung getrieben wird. Ein Mann, der im Bemühen seine heile Welt zu bewahren, eine Menge ethischer Normen und moralischer Gesetze bricht, um seinem Sohn eine bessere Zukunft zu bieten – und das um jeden Preis. Es ist die Geschichte eines aufrichtigen Mannes, der regelrecht zum Tier wird. Es ist aber auch eine Geschichte über die Liebe, die zugleich sanft und grausam sein kann.
Würden Sie Ihren Film mit einer griechischen Tragödie vor der Kulisse des ukrainischen Hinterlandes vergleichen?
Pamfir ist ein Drama, das den biblischen Mythos von Abraham im Stil der griechischen Tragödie vor dem Hintergrund des berühmten ukrainischen Karnevals von Malanka nachspielt. Sechs Figuren treiben das Stück
voran. Pamfir steht im Zentrum. Er ist derjenige, der das Geschehen in Gang setzt. Daneben dreht sich die Geschichte vor allem um Pamfirs Beziehung zu seiner Frau Olena und seinem Sohn Nazar sowie um das Verhältnis zu seiner Mutter und seinem Bruder Viktor. Und natürlich vor allem um den Konflikt mit seinem Vater. Wie in einem Krimi enthüllt jede Szene die Gründe dafür und entwirrt die verstrickten Familienbeziehungen. Das Schmuggelgeschäft dient als Hintergrund für die Ereignisse, die vom Dorfleben und dem Malanka-Fest eingerahmt werden.
Für mich ist es äusserst wichtig, eine einzigartige Realität abzubilden. Ich halte es für meine Aufgabe als Regisseur, Handlung aufzubauen, mit minimalem Dialog auszukommen und dass der Film auf einer universellen Geschichte basiert, die für das Publikum, ganz gleich welcher Herkunft, verständlich und bewegend ist. Es geht mir darum, die Psyche komplexer und vielfältiger Charaktere abzubilden, die sich in verblüffenden Situationen wiederfinden und zuweilen widersprüchlich handeln.
Können Sie uns über Malanka erzählen und warum das Fest im Film stattfindet?
Malanka ist ein traditioneller ukrainischer Feiertag. Man nennt ihn auch Karneval oder Bacchusfest. Ein uralter Brauch, der tief in die von Rabelais beschriebene Karnevalskultur zurückreicht. Man zieht eine besondere Maske an und schlüpft in eine andere Rolle. In der Westukraine wird Malanka in der Nacht zum 13. Januar gefeiert. In manchen Dörfern ist Malanka eine der Karnevalsfiguren, in anderen der Karneval selbst. Die Leute geben kleine Darbietungen zum Besten oder singen Volkslieder. Es
«FÜR MICH IST ES ÄUSSERST
WICHTIG,
EIN GESPRÄCH MIT DMYTRO SUKHOLYTKYY-SOBCHUK ZU SEINEM SPIELFILM PAMFIR
Wie ist die Idee zu Pamfir entstanden?
wird getrunken, und getanzt, man zieht umher. Das Ganze gipfelt in einem grossen Volksfest: einem rauschenden Gelage oder einem Bühnenkampf. In vielen Dörfern beginnt und endet das Jahr mit den Malanka-Feiertagen, nicht mit Neujahr oder Weihnachten
Die Vorbereitungen sind enorm aufwändig. Das Kostüm wählt man der eigenen Persönlichkeit entsprechend. Hier wird es für mich interessant: Jeder entscheidet sich für eine Verkleidung, die die Vorstellung von sich selbst widerspiegelt und das ganz bewusst. Malanka wird traditionell mit dem Tod in Verbindung gebracht, wobei auf den Tod die Auferstehung folgt. Der Kult selbst basiert nicht nur auf heidnischen, sondern auch auf christlichen Bräuchen. Was mich aber am meisten interessiert, ist diese Energie, die freigesetzt wird, sowohl kollektiv als auch individuell. Während des Drehs zu Krasna Malanka bin ich mehrere Jahre lang umhergereist und habe viele Menschen getroffen. Diese Erfahrungen wollte ich in einen Spielfilm einfliessen lassen. So wurde Malanka zu einem wichtigen Element, zu einem Ausgangspunkt der Hierarchie in den Gemeinschaften der Grenzdörfer, die dieser Tradition folgen. Während wir Viktor oder Nazar bei der Wahl ihrer Rollen beobachten, merken wir, dass hier gerade etwas passiert. Mein Ziel ist es, das Publikum als stille Beobachtende zu lenken.
Der Film spielt in der multiethnischen Region von Tscherniwzi, aus der auch Sie stammen. Was ist das Besondere an dieser Gegend? Tscherniwzi ist ein Schmelztiegel von Kulturen, wie man ihn nur in einem Grenzgebiet finden kann. Dort leben
Rumänen, Moldawier, Armenier und Menschen vieler anderer Nationalitäten. Typisch für solche Gegenden: Es gibt eine Vermischung der Kulturen, Überschneidung der Nationalitäten, religiösen Dualismus. Dieser kommt in Bergregionen oft vor: Die Menschen glauben an Gott und an die trinitarische Kirche, folgen aber auch heidnischen Riten und gehen zu Wahrsagerinnen. Als Kind war das für mich Alltag. Wenn ich krank war, brachten sie mich nicht nur zum Arzt, sondern eben auch zum Wahrsager. Das hatte einen grossen Einfluss auf mich, auf die Wahl des Filmstoffs, des Drehorts und die Herkunft der Hauptfigur.
Der Film selbst ist eine Mischung aus verschiedenen Genres. Es finden sich einige Elemente aus dem Western und dem Film Noir. Können Sie uns etwas zu Ihren Referenzen sagen?
Mit dem Kameramann arbeitete ich ohne konkrete Referenzen. Ich bat ihn nur, sich die Gemälde von Caravaggio anzusehen und sie im Hinterkopf zu behalten. Er sollte auch mutig sein in der Farbgestaltung. So entwickelten wir ein eigenes Farbkonzept. Pamfir ist eine Familiengeschichte: Sie ist bunt, extrem warm und reichhaltig. Ins Drehbuch baute ich bewusst bestimmte Genreelemente ein. Die Rückkehr der Figur an einen Ort, an dem sie lange nicht mehr war, wo sie nicht mehr hingehört, ist zum Beispiel ein klassisches Element des Westerns. Als ich merkte, wie sich die Genres vermischten, scheute ich mich nicht, mit ihnen zu experimentieren, und musste mir deshalb keine Grenzen setzen.
Ich habe dieses Genre-Labyrinth sowohl im Drehbuch als auch auf der Leinwand genutzt, um mich auf die Aussage
und nicht auf die Form des Films zu konzentrieren. Bei der Arbeit am Bild wurde mir klar, dass ich eine Art Mythologie entwickeln möchte, was mit Hilfe von Genres möglich ist. Es war spannend, mich nicht an irgendwelche Referenzen zu halten. Natürlich kann ich dennoch einige Analogien nennen. Malanka etwa ist eine Anlehnung an Pieter Bruegels Gemälde «Landschaft mit dem Sturz des Ikarus», das eigentlich die Redensart «Kein Pflug steht still um eines Menschen willen» illustriert. Im Bildvordergrund sehen wir die Kontinuität des Lebens, während sich im Hintergrund eine Tragödie abspielt, die im Kontext jedoch zweitrangig ist.
Wie
Ich kenne Nikita schon länger. Wir haben einmal einen Studentenfilm zusammen gedreht. Auch er liebt die Karpaten und hat schon dort gearbeitet. Den Dreh haben wir erst nach einer langen Vorbereitungsphase begonnen. Die wichtigste Aufgabe war, unserer Hauptfigur wie durch einen Tunnel oder ein Labyrinth zu folgen und den ganzen Weg mit ihr zu gehen, ohne anzuhalten. Die Bewegung der Kamera musste den Lebensrhythmus dieser Figur widerspiegeln. Wir haben acht Wochen lang in den Karpaten geprobt und suchten bei der Auswahl der Drehorte nach möglichst vielen Winkeln, Kurven, Ecken und Türen. Nikita ist ein Virtuose. Er hat seine Arbeit wie ein japanischer Kalligraph bis zur Perfektion getrieben. Wir strebten nach einer absoluten Verbindung. Als wir diese erreicht hatten, war es uns möglich, das Material zu verfeinern und nach Intonationen zu suchen.
Wie haben Sie die Schauspieler und Schauspielerinnen gefunden? Können Sie uns etwas über die Arbeit am Set erzählen?
Wir haben zwei Jahre lang nach Pamfir gesucht, bevor ich Oleksandr Yatsentyuk kennenlernte, der äusserst überlegt und gewissenhaft wirkte. Ich bin sehr froh, dass er einem so langen Marathon zugestimmt hat. Als ich ihn bat, an Gewicht zuzulegen, hatte er nur zwei Fragen: wie viele Kilos und bis wann. Die meisten der Schauspieler kommen aus der Westukraine und haben den lokalen Dialekt recht einfach übernommen. Olena Khokhlatkina (Pamfirs Mutter) kommt jedoch aus der Ostukraine. Sie bat ich, den Dialekt zu lernen. Auch wenn sie im Film nicht viel spricht, hat sie sich viel intensiver vorbereitet, als die anderen es taten. Auf der Suche nach Nazar (Pamfirs Sohn) haben wir ein Casting in einem improvisierten Camp durchgeführt: Die Jungen spielten zusammen, gaben sich Spitznamen und improvisierten verschiedene Szenen. Sowohl für Oleksandr Yatsentyuk (Pamfir) als auch für Solomiya Kyrylova (Olena) ist Pamfir ihr Spielfilmdebüt. Dasselbe gilt für Stanislav Potiak (Nazar), der gar Laie ist.
Für die Arbeit mit Schauspielerinnen und Schauspielern habe ich eine eigene Methode etabliert. In Weightlifter habe ich über vier Monate lang mit Gewichthebern und ihren Partnern geprobt. Keiner von ihnen war professioneller Schauspieler. Der Film wird von Laien getragen. Zwei Dinge sind mir besonders wichtig: Improvisation und Provokation. Es sind die beiden wichtigsten Phasen, die die Darstellenden bei einem Dreh durchlaufen.
Auch der Schnitt ist ein wichtiger Teil Ihres Films. Meine Idee war, dass der Cutter nur das Drehbuch liest und das Material gleich nach den Dreharbeiten bekommt. So haben wir eigentlich zwei Filme gleichzeitig geschnitten, je unsere eigene Version. Ich wollte kein einziges Bild löschen. Während der Covid-Pandemie entwickelten wir beide unsere eigene Geschichte. Nach dem Lockdown trafen wir uns und begannen mit der Arbeit an der dritten Version des Films. Die grösste Herausforderung war die Art und Weise, wie wir in jede Szene ein- und aussteigen. Die Energie, die wir aus einer Szene erzeugen, ist wichtig für den Übergang zur nächsten. Wir haben alles darangesetzt, die Einheit der Multi-Genre-Tragödie zu bewahren. Nikodem wusste extrem genau, wo es nach Lösungen zu suchen galt. Ich kannte das Material zwar gut, aber er kannte es in- und auswendig. Wir haben viel und kreativ zusammen herumexperimentiert.
Sie arbeiten seit vielen Jahren an Pamfir. Was empfinden Sie dabei, nun Ihren ersten Spielfilm, der in einem Grenzdorf angesiedelt ist, zu veröffentlichen, während die Ukraine ihre Grenzen verteidigt?
Ich glaube, dass wir in den letzten dreissig Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit die Bestrebungen früherer Generationen übernommen haben: Wir wollen uns vom imperialen sowjetischen Einfluss lösen. Wir streben danach, der grossen demokratischen Gemeinschaft der EU beizutreten. Seit 2014 wird dieser Wunsch, sich so weit wie möglich von jeglicher russischen Präsenz zu lösen, immer deutlicher.
Pamfir ist ein Vater, der sich das Beste für sein Kind wünscht und alles Mögliche und Unmögliche tut, um das zu erreichen. Er opfert sogar sich selbst und seine Überzeugungen, um seinem Sohn ein besseres Leben zu ermöglichen. Je mehr wir darüber nachdenken, wer wir sind und warum wir uns auf diesem Weg des Krieges befinden, desto mehr werden wir erkennen, dass die Grundlagen für diesen Freiheitskampf nicht in den letzten 10 oder 30 Jahren, sondern in Jahrhunderten gelegt wurden. Mir scheint, dass Pamfir ein typischer Ukrainer ist, der für seine Zukunft kämpft und eine schwierige Vergangenheit hinter sich hat, sich maximal mit der Heimat identifiziert. Seine Erscheinung ist eigentlich das modernisierte Aussehen eines Saporoger Kosaken.
Sie arbeiten sowohl im fiktionalen als auch im dokumentarischen Bereich. Was steht als Nächstes an? Angesichts des Krieges in der Ukraine kann ich immer nur drei bis fünf Tage im Voraus planen. Die Situation kann sich binnen einer Sekunde verändern. Ganz in der Nähe kann es zu einer Explosion kommen, selbst an einem Ort, der sicher scheint. Aktuell möchte ich meinem Land zur Seite stehen. Seit dem 24. Februar 2022 habe ich die Ukraine nur für ein paar Tage verlassen, um die Postproduktion zu beenden. Es ist wichtig für mich, jetzt hier zu sein. Mir ist klar, dass die Arbeit eines Filmemachers nicht so wirkungsvoll ist wie das Know-how im militärischen Bereich. Dennoch glaube ich, dass alle ukrainischen Kunstschaffenden, die im 20. Jahrhundert vom Sowjetregime ermordet wurden, einen neuen Weg für unsere Identität geebnet hätten, hätten sie überlebt. Deshalb finde ich es wichtig zu dokumentieren, was jetzt gerade passiert. Und das tue ich. Ich weiss nicht, was als Nächstes passiert. Ich glaube an unseren Sieg. Ich für meinen Teil tue alles, was ich kann, um meinem Land zu helfen. ■
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war die Zusammenarbeit mit Kameramann Nikita Kuzmenko?
Er war in den 1960er Jahren schon Kult, der auf wunderbare Art verspielte Spielfilm der Tschechin Veˇra Chytilová, der unter den deutschen Titeln Die kleinen Margeriten und Tausendschönchen lief und nach der Zerschlagung des Prager Frühlings verboten wurde. Zwei anarchische Frauen mit Namen Marie I und Marie II bringen so ziemlich alles durcheinander und am Ende auch sich selbst.
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DIE KLEINEN
– SEDMIKRÁSKY – DAISIES VON VE ˇ RA CHYTILOVÁ
FILM IST EIN SPIEL
MARGERITEN
Von Patricia Pfeifer
Das rebellisch anarchische Märchen Sedmikrásky (Die kleinen Margeriten/Tausendschönchen – Daisies) hat bis heute nichts an seiner Verve verloren und gilt zurecht als einer der zentralen Filme der tschechoslowakischen Nouvelle Vague der 1960er Jahre. In seinen surrealistisch traumhaften Anleihen steht Veˇra Chytilovás Film über die beiden rebellischen Gören Marie und Marie nicht alleine – auch die Kurzfilme von Jan Svankmajer, Jaromil Jires Valerie – Eine Woche voller Wunder oder Vögel, Waisen und Narren des Slowaken Juraj Jakubisko zeugen von dieser verspielten Qualität. Die sprühende Fantasie dieser Filme ging den Zensoren in der damaligen Tschechoslowakei offensichtlich zu weit. Die Filme wurden verboten, dem jungen Talent Veˇra Chytilová auferlegten die Apparatschiks ein siebenjähriges Berufsverbot.
«Wir haben den Film auf folgende Gegenüberstellung aufgebaut: Etwas kann ästhetisch schön sein und gleichzeitig ein Bild der Vernichtung. Ohne Geist geht nichts. Eine Sache kann positiv oder negativ sein. Alles kommt auf den Standpunkt an und darauf, was man vermitteln will. So oder so beginnt alles mit der Geburt und endet mit dem Tod. Entscheidend ist das, was dazwischen liegt. Aber ist es nur Spass und Vergnügen? Oder ist es mehr? Und wenn ja, worum geht es, da alles vom Nichts spricht?»
Veˇra Chytilová
«Ich träume von einem Film, der Millionen kleiner Ebenen besitzt. .», erzählt Veˇra Chytilová 1978 in einem Interview, und wir können uns heute nur noch vorstellen, wie dieser Film wohl ausgesehen hätte. Vom tatenlosen Sinnieren war die Grande Dame des tschechischen Kinos Zeit ihres Lebens weit entfernt. Bis ins hohe Alter sprühte die Regisseurin vor Ideen, Energie und einer drängenden Ungeduld. Davon zeugen nicht zuletzt die vier Jahrzehnte, über die sich ihr filmisches Oeuvre erstreckt. Als sie 1963 zeitgleich mit Milosˇ Forman und Jaromil Jire š ihren Debütfilm Von etwas anderem (O necem jiném) herausbringt, schreibt sie sich als eine der wenigen weiblichen Stimmen in die Gründungsgeschichte der Tschechischen Neuen Welle ein.
CHEMIE, ARCHITEKTUR, FILM
Dabei landet die 1929 geborene Regisseurin eher zufällig beim Film. Erst wird sie unerwartet zu einem Chemiestudium zugelassen, das sie kurzerhand wieder abbricht, um in Brno ein Architekturstudium zu beginnen – aus ihrer Leidenschaft fürs Zeichnen und Malen heraus. Doch auch dieses Feuer währt nicht lange: Zeitweilig arbeitet sie als technische Zeichnerin, Model und Klein -
darstellerin und ist bis 1957 Regieassistentin und Clap-woman bei den Prager Barrandov Studios. Dort trifft sie auch auf den Schauspieler und Szenaristen Jan Werich, der sie für den Film begeistert. Als man ihr aber bei den Studios keine Empfehlung ausstellen will, bewirbt sie sich 1957 auf eigene Faust an der berühmten Prager Filmhochschule FAMU – und wird prompt aufgenommen.
«Fehler stören mich nicht. Was mich ärgert, ist die Langeweile.»
Veˇra Chytilová
«Die Lüge in der Kunst gehört gesetzlich verboten!» Nichts widerstrebt der Regisseurin mehr als Konformismus und moralische Bequemlichkeit – wie auch an dieser bekanntesten Parole von ihr klar wird. Und filmische Experimentierfreude wird für sie das geeignetste Mittel, sich als Rebellin zu behaupten. Erstmals rücken weibliche Protagonisten in den Fokus, wie in ihrem Schulabschlussfilm Die Decke ( Strop , 1961) und dem Debüt Von etwas anderem . Noch deutlich vom Cinéma-vérité-Stil geprägt, begleitet sie hier in semi-dokumentarischen Zügen den Alltag junger Frauen im Sozialismus und führt allein durch diese Perspektivverschiebung ein Novum ein.
FILMEN WIE EINEN HUT KAUFEN
Von Beginn an arbeitet sie bewusst mit Laiendarstellerinnen oder Freundinnen und Bekannten zusammen, da sie die Selbstbeherrschung der Profis zu sehr langweilt. «Ich habe zum Beispiel mit Veˇra Chytilová gearbeitet, als sie Die Decke drehte», erzählt ihr Filmkollege Juraj Jakubisko, «die filmt so, wie sie einen Hut kauft: es ist eine herrliche Zeremonie, voll Eleganz und weiblicher Klugheit. Sie leidet schrecklich dabei, und kurz nachher gefällt ihr der Hut nicht mehr; daraus entsteht dann der Stil der Erzählung.» Berühmtberüchtigt ist ihre Mischung aus Intuition, Zufall und reichlich Drama, die am Set ebenso wie am Schneidetisch herrschte, vor allem wenn klar wurde, dass die Filmmeter nicht mehr ausreichten!
Vielleicht nahm sie daher auch den Jump Cut allzu wörtlich? In Sedmikrásky (Tausendschönchen – kein Märchen) , der 1966 entsteht, purzeln die beiden puppenartigen Figuren Marie I und Marie II von einem Bild ins Nächste, vom Sonnendeck in die Blumenwiese, vom Kronleuchter ins Wasser, zerschneiden in einem Anfall von Übermut sich selbst und zuletzt auch das Filmbild in Hunderte von Schnipseln. Unersättliche Genusssucht und Zerstörungslust fallen hier zusammen, ähnlich wie in Jan Svankmajers surrealistischen Animationsfilmen und seinem Kurzfilm Historia Naturae (1967): die Lust an der Destruktion wird als Teil der Evolution und unseres menschlichen Verhaltens herausgestellt. Wir vernichten das, was wir eigentlich brauchen!
bei der Drehkulisse doch um die berühmte Burg S ˇ vihov, auf der das bekannteste tschechische Märchen, nämlich «Drei Haselnüsse für Aschenbrödel» (1973), gedreht wurde.
«Wir bestehen nicht nur aus rationalen Elementen, die man zählen und messen kann. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn man einem Menschen seine Stimme nimmt, indem man ihn in einem Film von einem anderen synchronisieren lässt, zerstört man diesen Menschen, denn man nimmt ihm etwas weg, das ihm ganz allein gehört, nicht nur etwas Äusserliches, sondern etwas Tiefgründiges, etwas Unersetzliches, Einzigartiges, sozusagen seine Seele.»
Veˇra Chytilovà
POESIEVOLLES KINO
Veˇra Chytilová präsentiert in Tausendschönchen ein Lehrstück der Anti-Moral und widmet den Film all denjenigen, die sich über ein zertretenes Salatbeet aufregen. Kein Wunder ärgert sie sich lange Zeit darüber, dass der Film in der Tschechoslowakei als Kritik an der verdorbenen Jugend missinterpretiert wurde.
Ihre grössten Erfolge feiert sie mit Filmen wie diesem und Fruit of Paradise ( Ovoce stromu rajskych jíme, 1969), die vom blossen Geschichten-Erzählen abrücken und Interpretationsspielräume eröffnen. Für das visuelle Spektakel sorgt vor allem die grossartige Kameraarbeit von Jaroslav Kucˇera, ihrem späteren Ehemann. Gemeinsam mit Pavel Juráek, Jires und Jakubisko wird Veˇra Chytilová häufig zum poetischen Flügel der Tschechischen Neuen Welle gezählt, in dem eine starke Formsprache und Symbolisierung überwiegt. In diesen skurrilen Märchenwelten wird die Aussage in das Bild verbannt und es ist die Aufgabe des Publikums, sich einen Reim daraus zu machen.
NACH SAN REMO GESCHMUGGELT
Bedeutsam für die Entwicklung des Absurden und Surrealen in den Filmen des Prager Frühlings war nicht nur die politische Tauwetter-Periode der Entstalinisierung, die zu Beginn der 1960er Jahre mehr Experimentierfreude in den Künsten zuliess; vielmehr war es die Rehabilitierung Kafkas und die Übersetzung seiner Texte, die sich wie ein Befreiungsschlag auf Film und Theater auswirkte. Die Subversivität des Vieldeutigen und Poetischen zwang die Zensoren, einzig anhand der Reaktion des Publikums zu erwägen, wie viel kritisches Potenzial in den Assoziationsspielräumen lag. Mit ihrer modernen Märchenfilm-Adaption Der Narr und die Kaiserin wird sich Chytilová Ende der 1980er erneut dieser tschechischen Erzähltradition zuwenden, handelt es sich
Trotz allem sollte man vorsichtig sein, die Regisseurin in eine einzige Schublade stecken zu wollen. Für Veˇra Chytilová stand stets der Inhalt im Vordergrund, und dieser konnte mal nonnarrativ oder wieder ganz orthodox in eine lineare Geschichte verpackt werden. So greift ihr Film Geschichte der Wände (Panelstory (1979) erneut auf eine semi-dokumentarische Herangehensweise zurück und dekonstruiert in der Plattenbau-Siedlung zwischen Matschpfützen und Baukränen die kommunistische Utopie von Glanz und Fortschrittsglauben.
Die fragmentarische Episodenstruktur spiegelt die Isolation der einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner wider, die sich eben nicht als Teil einer Gemeinschaft erleben. Der Film zählt zu einem der radikalsten Werke aus der Phase der Normalisierung, die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings ab 1968 begann. Seine Veröffentlichung wurde im Zuge der verschärften Kulturpolitik verhindert. Dennoch gelang es Veˇra Chytilová 1980, ihn im Auto nach Italien zu schmuggeln, wo er auf dem Filmfestival von San Remo mit dem Grossen Preis ausgezeichnet wurde.
AUGENZWINKERN
Zu kurz greift auch die Feststellung, ihre Filme seien als feministischer Beitrag zu lesen, da es stets um das Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen gehe. Hier scheinen gerne westliche Missverständnisse auf, da sich osteuropäische Filmemacherinnen wie Chytilová oder ihre ungarische Zeitgenossin Mártá Mészárós wiederholt von einer solchen Etikettierung distanziert haben. Nur nach Frauenrechten zu streben, war ihnen viel zu wenig. Natürlich taucht das Motiv des Apfels symbolträchtig in Chytilovás Apfel-Trilogie auf, zu der ihre Filme Tausendschönchen gemeinsam mit Paradiesfrucht und Apfelspiel (1977) zusammengefasst werden: Die Vertreibung aus dem Paradies, weibliche Verführungskunst, der Baum der Erkenntnis und schwächelnde Männerfiguren sind hier Programm. Und doch geht es mehr um eine spielerisch-ironische Auseinandersetzung mit sozialen Hierarchien und moralischen Defiziten, bei denen das Augenzwinkern stets hinzugedacht werden muss.
Ein schönes Beispiel für Veˇra Chytilovás Verhältnis zum Feminismus sind ihre pointierten Worte, mit denen sie sich im Jahr 1978 von ihren Interview-Partnerinnen der feministischen Filmzeitschrift «Frauen und Film» verabschiedet: «Danke. Auf Wiedersehen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie lustiger sind.» ■
Als junge Witwe, die erneut und diesmal mit einem reichen Gutsbesitzer verheiratet ist, gelingt es Nana nicht, die Traumata der Vergangenheit abzuschütteln und sich aus dem Korsett der Regeln einer scheinbar festgefahrenen Welt zu befreien. Erst eine Geliebte ihres Mannes öffnet ihr die Tür zur Freiheit. Kamila Andini nimmt uns mit auf eine emotions geladene Zeitreise und betrachtet die Emanzipation der Frau in diesem berauschenden Film, der an der Berlinale zu den Highlights gehörte und mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, im Spiegel der Geschichte.
GESCHICHTE EINER BEGEGNUNG
Von Martial Knaebel
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BEFORE, NOW & THEN VON KAMILA ANDINI, INDONESIEN
Was wissen wir Europäerinnen und Europäer über die zeitgenössische Geschichte Indonesiens, wenn wir mal von Naturkatastrophen und Terroranschlägen absehen? Wenig, wenn man etwa die Online-Enzyklopädie Wikipedia betrachtet. Schon allein deshalb ist der neue Film von Kamila Andini, der in vielen Besprechungen nach seiner Premiere an der Berlinale als «epochaler Film» eingestuft wurde, besonders sehenswert. Seine unbestrittenen künstlerischen Qualitäten, sei es in Bezug auf die Komposition der Bilder oder die Inszenierung der Schauspielerinnen und Schauspieler, machen ihn zu einem Meisterwerk, das es in sich hat. Darüber hinaus faszinieren die ungemein dicht gestalteten Stimmungen, die für eine Atmosphäre der Unsicherheit stehen, die das gesellschaftliche Leben im Land prägte.
VOR DER GEGENWART STEHT DIE VERGANGENHEIT
In einem Prolog, der für das «Before» des Titels steht, für die Vorgeschichte des Folgenden, sehen wir zwei junge Frauen, Nana und ihre Schwester Ninsingh, auf der Flucht durch einen dichten Wald. Sie versuchen, vor Rebellen – oder sind es Soldaten? – zu fliehen, die für den Tod von Nanas Vater und das Verschwinden von ihrem Ehemann verantwortlich sind und deren Anführer die junge Frau hätte verkuppeln wollen. Diese kurze Einstiegssequenz fällt durch die Stimmung auf, in der sie gestaltet ist und die uns einstimmt: Die minimalistische, fast stumme Tonspur dort, wo man das Rauschen des Waldes erwartet hätte, hinterlässt einen phantasmagorischen Eindruck und verstärkt die Gewalt, die sich im Land abzeichnet. Ist das alles ein Traum oder ist es die Realität? Übergangslos fliessend befinden wir uns in der Gegenwart –dem «Now» aus dem Titel, in der Nana mit der schmerzhaften Vergangenheit abgeschlossen zu haben scheint. Sie ist neu verheiratet, dieses Mal mit einem reichen Landbesitzer, dessen Ernten sie verwaltet, während sie gleichzeitig den Haushalt führt und ein gewisses Talent in der Kunst des Blumenschmucks an den Tag legt.
Das Drehbuch des Films Before, Now & Then (Nana) basiert auf dem ersten Kapitel des Romans «Jais Darga Namaku» (Mein Name ist Jais Darga) von Ahda Imran, der selber am Drehbuch mitgearbeitet hat und in seinem Buch die Biografie einer indonesischen Frau namens Raden Nana Sunani erzählt, die in den 1960er Jahren in West-Java gelebt hat. «Raden Nana Sunani ist kein grosser Name», beschreibt Kamila Andini die Figur, um die sich der Roman dreht und nun auch ihr Film, «sie ist keine Nationalheldin. Sie ist nur eine Frau. Aber genau das ist es, was mich interessiert. Ich glaube, dass das Leben und die Geschichte jeder einzelnen Person zählen. Jede von uns beeinflusst andere auf die eine oder andere Weise. Was Nana passiert ist, ist vielen Frauen in Indonesien passiert. Deshalb war es wichtig, ihre Geschichte zu adaptieren: nicht, weil sie anders ist, sondern weil wir die gleichen Dinge teilen.»
Kamila Andini
EINE FRAGE DES BLICKS
Ist Nana also eine gewöhnliche Frau? Wie so oft kommt man auf das zurück, was Alain Resnais und Chris. Marker in ihrem ebenso kurzen wie berühmten Dokumentarfilm Les statues meurent aussi (Die Statuen sterben auch) so treffend beschrieben haben: auf die «Qualität des Blicks» auf Objekte und im weiteren Sinne auf Menschen. Es ist der Blick auf sie, der den Menschen und Dingen eine Existenz verleiht. Wenn der Blick verschwindet, sind es mit ihm verbunden Leben, die verschwinden. Und hier verleiht die Qualität des Blicks, den Kamila Andini der Figur der Nana schenkt, ihr den besonderen Status, der über das Gewöhnliche hinausgeht. Bei näherer Betrachtung ist Nanas Schönheit nur ansatzweise auf das Aussehen der Schauspielerin Happy Salma zurückzuführen, die sie verkörpert. Es geht um ihre Haltung, um die Kamera, die ihre Gesten und Attitüden einfängt, auf diese ruhige und besonnene Art, die Einstellungen und Sequenzen zu komponieren. Eine diskrete Kamera, die weit genug entfernt ist, um die Figuren leben und atmen zu lassen, und die ihre Intimität zu respektieren scheint. Aber auch eine Kamera, die nah genug ist, um selbst den unscheinbarsten Objekten Körper und Leben zu verleihen.
«Ich glaube, dass das Leben und die Geschichte jeder einzelnen Person zählen. Jede von uns beeinflusst andere auf die eine oder andere Weise. Was Nana passiert ist, ist vielen Frauen in Indonesien passiert. Deshalb war es wichtig, ihre Geschichte zu adaptieren: nicht, weil sie anders ist, sondern weil wir die gleichen Dinge teilen.»
KAMILA ANDINI
Geboren 1986 in Jakarta, Indonesien, als älteste Tochter des Filmemachers Garin Nugroho ( Opera Jawa ). Kamila Andini studierte Soziologie und Medienkunst an der Deakin Uni in Melbourne. Sie befasst sich mit soziokulturellen Themen, Gleichberechtigung und Umweltfragen. Mit ihrem Regiedebüt The Mirror Never Lies über ein Volk indonesischer Seenomaden war sie 2012 bereits international unterwegs. Ihr zweiter Spielfilm Sekala Niskala , ein filmisches Universum des Dualismus, das auf der balinesischen Philosophie Sekala Niskala basiert, gewann 2018 den Grossen Preis der Internationalen Jury im Generationen-Programm der Berlinale. Ihr Spielfilm Yuni , eine fesselnde Coming-of-Age-Geschichte, war dank trigon-film in den Kinos zu entdecken wie Opera Jawa von Garin Nugroho. Before, Now & Then lief an der Berlinale 2022 und holte sich einen Silbernen Bären. Kamila Andini dreht auch Kurzfilme, um ihre Vision sichtbar zu machen. Nach Following Diana, Memoria und Sekar wurde ihr Kurzfilm Back Home Teil eines Omnibusses. Daneben hat sie ihre Regiearbeit aufs Theater ausgeweitet. Ihr erstes Theaterstück, das auf ihrem zweiten Film basiert, wurde 2018 im Esplanade Singapur und 2019 im Asia Topa Melbourne aufgeführt. Es folgte die monologische, szenische und virtuelle Performance «Nusa Yang Hilang».
DIESE ART VON STÄRKE MUSS VON EINER FRAU KOMMEN
«Die Frauen sind die wahren Opfer unserer Zeit. Aber in jeder Epoche gab es immer die Figur einer Frau, die sich nicht ein einziges Mal als Opfer gesehen hat, auch wenn sie nicht anders konnte, als Opfer zu bringen. Before, Now & Then ist die Geschichte einer Frau, die Opfer einer Epoche ist – des Krieges, der Politik, der Rebellion und einer patriarchalischen Gesellschaft – und die den Sinn ihrer eigenen Freiheit als Frau finden möchte. Sie freundet sich mit einer der Geliebten ihres Mannes an, weil sie nur so Unterstützung finden kann.
Die Unabhängigkeit Indonesiens hat seinem Volk nicht die Freiheit gesichert. Der Druck erfolgt in immer neuen Formen. Ich wollte mit diesem Film die vielen Varianten aufzeigen, durch die Frauen auch heute noch unterdrückt werden. Bild und Ton bringen zusammen Nanas Emotionen und ihre Angst zum Ausdruck. Before, Now & Then handelt von den Geheimnissen einer Frau, davon, wie sie ihre Probleme verborgen hält. Politische Umstände, häusliche Probleme, persönliche Ängste und Freuden werden in kleinen alltäglichen Ereignissen verortet. Das Haar wird eine metaphorische Verbindung für die Frauen im Laufe der Geschichte. Im Grunde ist es ein ganz einfacher Zeitfilm, der mit einem sanften Touch und feinen Kompositionen arbeitet.
Die Kamera bewegt sich langsam oder bleibt unbeweglich wie ein Gemälde. Wie auf einer Bühne wird das Spiel die vielfältigen Schichten der Figuren enthüllen. Die Ausstattung ist entscheidend, sie holt die Aussenwelt ins Haus, sucht Freiheit auf kleinstem Raum und offenbart die Geschichte kleiner Gegenstände wie auch von Haar und Körper der Frau. Eine Frau muss sich darin auszeichnen, Geheimnisse zu bewahren, sowohl ihre eigenen als auch die ihrer Familie. Wenn es ein Problem gibt, soll es hinter ihrem Haar verborgen bleiben.
Hinzu kommt, dass der Film von einer sehr interessanten Zeit in unserem Land handelt, in der Traditionen mit der Moderne konfrontiert wurden. Bandung, die Stadt, in der die Geschichte spielt, war als westlicher Schmelztiegel bekannt. Es gab viele unabhängige Musiker und Künstlerinnen, die von der westlichen Kultur beeinflusst waren, und trotzdem lebten wir damals noch sehr traditionell. Dieser Kontrast war interessant, und ich versuchte, ihn in den Film zu übertragen.
Die Beziehung zwischen Nana und Ino ist von der Geschichte der Mutter von Jais Darga (der ausführenden Produzentin des Films) und der Geliebten ihres Vaters inspiriert. Es ist eine sehr patriarchalische Welt, in der Nana lebt, und die Frauen um sie herum sind ebenfalls in dieser besonderen Welt gefangen, in der alle das Gleiche denken. Nana verliert sich in dieser Welt, und Ino kommt hinzu, um eine neue Perspektive, ein neues Gefühl von Freiheit und Stärke zu vermitteln. Diese Art von Stärke, so habe ich das immer empfunden, muss von einer anderen Frau kommen. Kein Mann kann diese ganz besondere Kraft geben. Das ist es, was ich von Nana und Ino erwarte. Sie sind beide Opfer der Situation und der Zeit, aber die Gesellschaft der anderen ist das, was sie brauchen, um dieses Gefühl der Stärke und Befreiung zu gewinnen.»
Kamila Andini
EINE BEGEGNUNG, ABER KEINE ZUFÄLLIGE
Wie auch immer, man merkt, dass die junge Frau trotz ihrer Kinder und des materiellen Wohlstands, den sie durch ihre erneute Heirat erlangt hat, nicht wirklich glücklich ist. Das liegt nicht zuletzt an den Albträumen aus der Vergangenheit, die sie verfolgen. Ausserdem wird ihr klar gemacht, dass sie zwar die Frau ihres gut situierten Mannes ist, aber dennoch einer niedrigeren Klasse angehört. Das wird uns immer mit der gleichen Feinfühligkeit, fast schon mit Leichtigkeit vor Augen geführt. Als Nana Ino (Laura Basuki), die Geliebte ihres Mannes, kennenlernt, wundert man sich über die Komplizenschaft zwischen den beiden jungen Frauen, aber sie ist es, die Nana von einer Last befreit, die sie nicht loslassen konnte.
Indem sie sich auf die Beziehung zwischen Nana und Ino konzentrierten, sahen prominente Kritiker in der Inszenierung eine Referenz an In the Mood for Love des Hongkong-Chinesen Wong Kar-Wai. Die sorgfältige Beschreibung der Epoche, der traditionellen Tanzabende – und auch die Bemerkungen der Bediensteten – würden mich jedoch eher an Satyajit Rays Jalsaghar (Der Musiksalon) erinnern, in dem ein dekadenter Meister versucht, seinen künstlerischen Ruf trotz der wirtschaftlichen Misere, in der er sich befindet, aufrechtzuerhalten.
IM STURM ERSTARRTE WELT
So ist Before, Now & Then nicht nur die Erzählung des Lebens einer Frau namens Nana, sondern auch ein erfolgreicher Versuch, eine entscheidende Epoche in der Geschichte der noch jungen Republik Indonesien zu beschreiben. Die Anspielungen auf die Machtergreifung von General Suharto sind deutlich, aber bei den Meistern hört man sie nicht, im Gegenteil. Es sind die Diener, die einfachen Leute, die mit Schrecken davon sprechen. Man versteht sie, da man heute weiss, dass diese Hexenjagd blutig war: Unter dem Vorwand, den Kommunismus zu bekämpfen, wurden in den 1960er Jahren eine Million – wenn nicht sogar zwei Millionen – Menschen hingerichtet. Die Kommunisten wurden also eliminiert, den multinationalen Konzernen wurde ein Boulevard eröffnet, um die immensen Reichtümer des Landes auszubeuten.
Kamila Andini ist eine junge Regisseurin mit einer bereits imposanten Filmografie, die jedes Mal einen anderen Aspekt der indonesischen Gesellschaft aufgreift und jedes Mal eine originelle Inszenierung bietet. Die Theatralik, für die sie sich bei Before Now & Then entschieden hat, gibt genau den richtigen Ton für eine Gesellschaft an, die sich in gewisser Weise selbst zur Schau stellt. Er verleiht auch Nanas Leben das Schicksal einer antiken Tragödie. ■
In Ergänzung zum neuen Film von Kamila Andini Yuni, der letzte Film von Kamila Andini, war in den Kinos zu sehen und ist weiterhin im Streaming auf filmingo.ch zu schauen.
Jalsaghar (Der Musiksalon) von Satyajit Ray ist in der Edition trigon-film in seiner restaurierten Version auf DVD herausgekommen und auch auf filmingo zu schauen.
Opera Jawa von Garin Nugroho gibt es als DVD mit einem Gespräch mit Garin Nugroho und der Aufzeichnung der Theateraufführung von «The Iron Bed» sowie einem reichhaltigen Booklet.
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In der Innenstadt von Teheran sieht Farzaneh, eine junge Fahrlehrerin, wie ihr Mann Jalal in die Wohnung einer Frau geht. Als sie ihn zur Rede stellt, behauptet Jalal, er sei aus beruflichen Gründen unterwegs gewesen. Er beschliesst, sich selbst ein Bild von dem Gebäude zu machen. Dort trifft er eine Frau, die Farzaneh wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Ihr Name ist Bita. Verblüfft vergleichen die beiden Familienfotos: Auch der Ehemann von Bita sieht genauso aus wie Jalal.
DOPPELGÄNGER-DOPPEL
SUBTRACTION VON MANI HAGHIGHI, IRAN
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Von Brigitte Siegrist
In diesem Film gibt es eine Rechenaufgabe zu lösen und noch mehr: Mani Haghighis neustes Werk ist ein cleveres Vexierspiel und besticht einmal mehr durch Einfallsreichtum und unerwartete Wendungen. Im Vergleich zu den letzten zwei schillernd inszenierten Filmen Khook und A Dragon Arrives! präsentiert der Iraner den surrealen Psychothriller in dunkleren Tönen und Nachtaufnahmen, die aberwitzige Überdrehtheit weicht einer geradlinigen Erzählung, um einmal mehr in die typisch haghighsche Rätselhaftigkeit zu münden, die nach dem Kinobesuch zu reden gibt. Jeder Filmstoff verlangt nach seiner eigenen Inszenierung und an spielerischer Wendigkeit hat es dem Filmemacher mit Hang zum Genremix noch nie gefehlt.
Auch wenn bei iranischen Filmen sofort Fragen nach Kritik am politischen System und der Einschränkung oder Umgehung der Zensur auftauchen, explizit politisch zu sein ist Haghighis Ansinnen nicht. In der von ihm gepflegten Abstraktion – hier Subtraktion – liest sich dennoch stets die Befindlichkeit einer Gesellschaft ab, die im Alltag unter eigenen Bedingungen mit den üblichen Fragen des Daseins hadert. Umso mehr, wenn sie gerade für die grundlegendsten Menschenrechte auf der Strasse steht: für die Frau, die Freiheit und das ganz normale Leben. Mit Baraye (das in Farsi «für» und «wegen» bedeuten kann) hat Shervin Hajipour aus Twitter-Schnitzeln eine Ballade und einen Protestsong zusammengefügt, der ebenso schön wie traurig ist und gerade um die Welt geht: «Für das Tanzen auf den Strassen. Wegen der Angst, die man beim Küssen empfindet. Für meine Schwester, deine Schwester, unsere Schwestern. Für das Überwinden verrotteter Strukturen. Wegen der Scham, die die Armut bringt. Für die Sehnsucht nach einem normalen Leben.» Dies sei hier nicht nur aus Gründen der Aktualität festgehalten, sondern auch, weil die unsichtbare Mauer zwischen der vom Staat erzwungenen Realität und dem wirklichen Leben der Menschen in Subtraction mit im Raum schwebt.
IM FAHRZEUG BRAUCHT’S KEINE DREHBEWILLIGUNG
Doch zuerst ein Wort zur Frau. Man nimmt sie in Haghighis Filmen immer schon als ein starkes Wesen bis in die kleinste Nebenrolle wahr, und er hat das in Gesprächen mehr als einmal hervorgehoben. Das nach aussen vermittelte Bild der Unterordnung stimmt eben nur in Teilen, wovon die aktuellen Ereignisse eindrücklich Zeugnis ablegen. So verwundert es auch nicht, dass wir uns in Subtraction gleich zu Beginn in einem Auto der Fahrschule Saturn Platz nehmen, deren Inhaberin die junge Farzaneh ist. Es regnet in Strömen in Teheran und die Kamera ruckelt entlang eines Staus von Fahrzeug zu Fahrzeug, als wäre sie auf der nicht minder verstopften Gegenfahrbahn unterwegs. Sie beäugt kurz die Passagiere, legt wieder ein paar Meter zurück. Eine Kamerafahrt im wahrsten Sinn und ein urbanes Augenzwinkern an das im iranischen Kino seit Abbas Kiarostamis Endloskurven durch die Landschaft präsente Fahrzeug. Wie wichtig im Gottesstaat dieser private Zufluchtsort im öffentlichen Raum ist, hat Jafar Pahani 2015 in Taxi Teheran ad absurdum geführt. Angesichts des ihm auferlegten Berufsverbots drehte er gleich einen ganzen Film im Taxi und vermittelte das grosse Gesellschaftsbild auf kleinstem Raum. Heute sitzt er wie viele andere Kunst- und Kulturschaffende, die die Protestbewegung in der noch so harmlosesten Weise unterstützen, im Gefängnis.
DIE POLSCHMELZE
Die Kamera fährt unvermittelt zurück, scheint in der Gegenkolonne jemanden entdeckt zu haben. Sie dringt ins Innere, und wir finden uns mitten in einem Geplänkel zwischen Farzaneh und einer Fahrschülerin wieder, deren Fortschritte sich bei diesem Verkehrsaufkommen in Grenzen halten. Sie wundert sich über den Dauerregen: «Ist das nun die Polschmelze?» Farzaneh findet
das zwar nicht logisch, kann ihren Gedanken aber nicht zu Ende führen, weil sie auf der Strasse eine Entdeckung gemacht hat, die sie in Bann zieht. Fluchtartig steigt sie aus dem Auto und in einen Bus, in dem unerklärlicherweise ihr Ehemann sitzt, der hier nicht sein sollte. Ihre schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten, als sie beobachtet, wie der baldige Vater ihres noch ungeborenen Kindes auf ein Gebäude zugeht, wo man ihn zu kennen scheint und er sich kurz darauf am Fenster einer edlen Wohnung mit einer Frau unterhält. Natürlich liegen die Dinge so einfach nicht, wie sich herausstellt, als sie Jalal am Abend zur Rede stellt. Er war den ganzen Tag ausserhalb der Stadt. Farzaneh, der die Schwangerschaft zu schaffen macht, die an depressiven Verstimmungen leidet und Medikamente nimmt, beginnt an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln. Ein erster Samen des Zwiespalts ist gesetzt.
EBENBILDER
Sie will aber Gewissheit, schickt erst den Schwiegervater vor und folgt schliesslich Jalal, der sich ebenfalls auf den Weg in die besagte Wohnung gemacht hat. Fliessend wechselt Mani Haghighi nun die Perspektive, wenn wir in der herrlichen Treppenhausszene Zeuge werden von der ersten Begegnung zwischen der Frau namens Bita und Jalal. Sie sind gleichzeitig verwundert und fasziniert, als sie gewahr werden, dass Bita genauso aussieht wie Farzaneh und Jalal offentsichtlich von einer Nachbarin für Bitas Mann gehalten wird. So muss er nun als Erstes die Waschmaschine im Haus flicken. Als Farzaneh auftaucht und ihr Ebenbild erblickt, bricht sie ohnmächtig zusammen. Für sie ist die Entdeckung höchst beunruhigend. Jede und jeder reagiert anders auf
MANI HAGHIGHI
Mani Haghighi, geboren 1969 in Teheran, studierte Philosophie an der McGill University in Montreal, bevor er in den Iran zurückkehrte, um Filme zu drehen. Neben seiner Tätigkeit als Regisseur arbeitet Haghighi als Schauspieler und als Drehbuchautor. Sein erster Film Abadan feierte am Tribeca Film Festival Premiere, der zweite, Men at Work, lief im Forum des Jungen Films in Berlin. Mit Modest Reception gewann er an der Berlinale den NETPAC Award als Bester asiatischer Film. Seine Auftragskomödie 50 Kilo Albaloo geriet 2016 zum dritterfolgreichsten Film im iranischen Kino und wurde nach dem Grosserfolg aufgrund einer religiös motivierten Intervention verboten (Unterwäsche spielte eine Rolle). Mani Haghighi spielte in mehreren seiner eigenen Filme als Darsteller mit und trat auch als Schauspieler für andere Regisseure auf, insbesondere für Asghar Farhadi ( About Elly, 2009), für den er das Drehbuch zu Fireworks Wednesday (2006) geschrieben hatte. Mit A Dragon Arrives! und Khook wurde Haghighi in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen, Subtraction feierte 2022 seine Premiere am Festival Toronto.
Filme mit Beteiligung von Mani Haghighi sind auf DVD erhältlich oder auf filmingo zu geniessen.
FIREWORKS WEDNESDAY von Asghar Farhadi – Drehbuch ABOUT ELLY von Asghar Farhadi – Schauspieler MODEST RECEPTION – Drehbuch und Regie und Schauspieler
A DRAGON ARRIVES! – Drehbuch und Regie und Darsteller seiner selbst KHOOK – Drehbuch und Regie
das Mysterium, und man darf gespannt sein, wie der Letzte im Quartett, Bitas Mann Mohsen, sein Spiegelbild betrachten wird. Dieser steckt aber gerade in ernsthaften Schwierigkeiten, weil er einen Geschäftspartner spitalreif geprügelt hat und sich bei ihm und seiner Familie entschuldigen sollte (wozu es hilfreich zu wissen ist, dass eine solche Entschuldigung das Strafmass nach iranischem Recht massgeblich mindert). Weil Mohsen dazu aber zu stolz ist, könnte man das Problem nun ohne sein Wissen elegant mit seinem Doppelgänger lösen. Die Sache wird immer kniffliger.
Spannend zu verfolgen, wie die beiden iranischen Schauspielstars Taraneh Alidoosti ( About Elly von Asghar Farhadi) und Navid Mohammadzadeh ( Leila’s Brother von Saeed Roustaee) die Herausforderung der Doppelrollen meistern. Die Spielfreude, die sie an den Tag legen, wenn sie die Unterschiede der Figuren nun nicht vorwiegend durch äussere Merkmale herausarbeiten, sondern durch feine Nuancen im Charakter, ist ein reinstes Vergnügen. Unweigerlich beginnt sich die oder der geneigte Zuschauende zu achten, wie oft die Filmzwillinge gemeinsam in einer Einstellung zu sehen sind, die häufig eine schön kadrierte Nahoder Grossaufnahme ist. Oder man fragt sich, worin sich die beiden Familien unterscheiden, etwa darin, dass Farzaneh und Jalal ein Kind erst erwarten, während mit dem 7-Jährigen Sohn von Bita und Mohsen schon ein entzückender kleiner Mensch mit stolzer Persönlichkeit im Leben steht. Auch vermeintliche Anschlussfehler sollte man nicht vorschnell als solche taxieren. Begleitet von Dauerregen und omnipräsenten Wasserschäden wirkt die Begegnung unheimlich und übermächtig. Ist die Zukunft in den Alltag eingedrungen und haben wir es hier mit Klons zu tun, oder bricht die Welt gerade sowieso heillos auseinander?
Das Doppelgänger-Motiv ist in Literatur, Theater und Film beliebt und hat im Laufe der Geschichte mannigfaltige Interpretationen erfahren, wobei man in der Kürze zwei grundsätzliche Unterscheidungen festhalten kann: In der Verwechslungskomödie steht die physische Ähnlichkeit im Vordergrund. Sie spürt Gesellschaftsfragen mit Witz nach und erlebte als bissige Politsatire mit Chaplins The Great Dictator einen Höhepunkt. Die vertracktere Persönlichkeitsspaltung nahm literarisch in der deutschen Romantik mit
Erzählungen von E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe Fahrt auf und fand ihren kunstvollen Höhepunkt vielleicht in Oscar Wildes unübertroffenem «Bildnis des Dorian Grey». Filmische Umsetzungen, die das Ringen mit der eigenen Persönlichkeit widerspiegeln, die Suche nach oder die Flucht vor dem besseren oder schlechteren Ich, gab es von Dr. Jeckill und Mister Hyde bis zu Dennis Villeneuves Enemy in unzähligen Varianten, während der Doppelgänger im Science Fiction-Film wie etwa in Duncon Jones’ Moon als Klon auf die Ähnlichkeit reduziert der Stütze eines Systems dient oder sich als komplexeres Wesen in Mehrfachwelten bewegen kann wie kürzlich in Everywhere, Everything, All at Once.
ÖFFENTLICHE UND PRIVATE PERSON
Persönlichkeitsspaltung und die Frage der Identität stehen in Subtraction im Zentrum, auf die individuelle Psyche gemünzt oder als Ich, das sich in einem restriktiven System bedroht fühlt. Mani Haghighi stellt fest: «Wir leben im Iran, und wie Sie wissen in einer Form der Theokratie, in der es praktisch unausweichlich ist, zwei Leben zu führen: Du hast ein privates Leben und ein öffentliches Gesicht.» Was böte sich da besser an, als dies mit einem Doppelgänger-Plot zu veranschaulichen?
Die zwei Filmpaare offenbaren verschiedene Persönlichkeitsaspekte, wie wir sie alle in uns tragen. Wie gerne zeigt man sich am Anfang einer Beziehung von der besten Seite, bevor sich Risse zeigen und nicht leugnen lassen. So gesehen kann man Subtraction auch als Liebesgeschichte lesen, in der nach dem vollkommenen Gegenüber gesucht wird. Sogar eine Vermählung ist symbolisch angetönt.
Seit seinem ersten Spielfilm Abadan sind Mani Haghighis Inszenierungen über Men at Work und Modest Reception an international wichtigen Festivals präsent; zuletzt liefen A Dragon Arrives! und Khook im Wettbewerb der Berlinale. Der Filmemacher mit Philosphiestudium denkt sich knifflige Lebensfragen aus und setzt sie vor dem Hintergrund seiner kulturellen Herkunft mit überschäumender Gestaltungskraft um. Ihn als den Almodóvar des Mittleren Ostens auf der Höhe seiner Zeit zu bezeichnen, wie man hie und da hört, wirkt nicht zu weit gesucht. Substraction harrt nun Ihrer Rechenkunst und dem Sehgenuss im Kino. ■
FRAU
LEBEN FREIHEIT
IRANS DIKTATUR KÄMPFT GEGEN MENSCH UND KULTUR
Auch wenn Mani Haghighi nie explizit politische Filme gemacht hat, waren ihm die Zensoren dauernd auf den Fersen. Er ist nicht der einzige Kunstschaffende in der Religionsdiktatur Iran, der sich zu helfen lernen wusste, um seine Geschichten zu drehen und in ihnen die geschätzten Mitmenschen, die reiche Geschichte, die vielfältige Gesellschaft und die doktrinäre Politik zu betrachten. In den letzten Monaten hat sich die Lage im Iran zugespitzt, nachdem die Schergen der Mullahs die 22-jährige Kurdin Mahsi Amini zu Tode gebracht hatten, weil ihr der Schleier verrutscht war. Seither halten die Proteste an, trotz staatlicher Gewalt und Massenverhaftungen. Im Namen einer Religion wird Menschen die Freiheit genommen, werden Frauen mit Kleidervorschriften gequält, verhaftet und gefoltert, wenn sie sich nicht daran halten. Den Stand der aktuellen Entwicklungen entnehme man den Medien.
Im Oktober 2022 war Mani Haghighi unterwegs ans BFI London Film Festival zur Premiere seines neuen Filmes Subtraction, der im September in seiner Anwesenheit am Festival von Toronto uraufgeführt worden war. Am Flughafen in Teheran wurde dem Filmemacher der Pass konfisziert. Die Mullahs im Iran scheinen sich ihrer Sache immer weniger sicher, wenn sie Landsleute, die sich als Iraner verstehen und bewusst immer wieder heimkehrten, nicht einmal mehr reisen lässt. Eingekerkert hatten sie bereits Filmschaffende wie Mohammad Rasoulof ( There Is No Evil ) und Mostafa Al-Ahmad ( Poosteh ), weil diese im Zuge eines gewaltsamen Vorgehens der Regierung eine Erklärung in den sozialen Medien veröffentlicht hatten. Sie hatten die iranischen Sicherheitskräfte gebeten, keine Waffen mehr zu benutzen, nachdem es im Mai in der südwestlichen Stadt Abadan bei Protesten zu Zusammenstössen mit der Polizei gekommen war. Auslöser der Proteste war ein Gebäudeeinsturz, bei dem 41 Menschen ums Leben gekommen waren.
Unter den Filmschaffenden, die sich im Gefängnis nach Mohammad Rasoulof erkundigten, war Jafar Panahi ( Taxi Teheran ), den die Behörden auch gleich einlochten. Mani Haghighi hat nach seiner Heimkehr vom Flughafen in Teheran ein Video publiziert, in dem er sich beim Festival in London entschuldigt, dass er nicht zur Premiere kommen kann, man hätte ihm keinen Grund angegeben für das «äusserst unhöfliche Verhalten». Er nennt zwei Optionen, die er sich auf dem Heimweg vom Flughafen überlegt habe. Er habe sich gefragt, «warum das iranische Regime mich, einen Filmemacher, daran hindern will, mein eigenes Land zu verlassen.» Und er habe zwei Theorien aufgestellt:
«Die erste: Vor ein paar Wochen habe ich ein Instagram -Video aufgenommen, in dem ich Irans Hidschab - Pflicht und das harte Vorgehen gegen Jugendliche, die dagegen protestieren, sowie viele andere Ungerechtigkeiten in ihrem Leben kritisiert habe. Vielleicht dachten die Behörden, wenn sie mich hier behalten würden, könnten sie mich besser im Auge behalten, vielleicht war es, um mir zu drohen und mich zum Schweigen zu bringen. Nun, die Tatsache, dass ich jetzt in diesem Video zu Ihnen spreche, untergräbt diesen Plan irgendwie. Die zweite Theorie ist, dass es sich um ein umgekehrtes Exil handelt, dass sie mein eigenes Land und mein eigenes Zuhause zu einem unerträglichen Gefängnis für mich machen und mich bestrafen, indem sie mich zwingen, dort als Gefangener zu bleiben. Nun, ich kann Ihnen sagen, dass es eine der grössten Freuden meines Lebens ist, jetzt hier in Teheran zu sein. Ich kann die Freude und die Ehre, diesen grossen Moment der Geschichte aus erster Hand miterleben zu dürfen, nicht in Worte fassen. Und ich wäre jetzt lieber hier als irgendwo anders auf der Welt. Wenn dies also eine Strafe für meine Taten ist, dann nur zu.» Er beendete sein Statement mit den drei Worten, «die uns Iranerinnen und Iranern in den letzten Wochen so viel Freude und Mut gemacht haben: Frau, Leben, Freiheit.»
Mani Haghighi ist bei Redaktionsschluss dieses Magazins wohlauf, durfte aber mangels Pass auch seine Aufgabe als Jurypräsident am Filmfestival von Genf nicht wahrnehmen und die Schweizer Vorpremiere seines Films nicht begleiten. Im Zusammenhang mit seiner Juryaufgabe, die er auf Distanz wahrnehmen musste, hat er die internationale Filmgemeinschaft dazu aufgerufen, ihre Bemühungen im Kampf gegen die autoritäre iranische Regierung zu verstärken, und gefordert, dass Festivals, Märkte und die Oscars staatliche iranische Einrichtungen ausschliessen sollten.
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Neue Farben braucht das Land! A Dragon Arrives!
AB MIT DER LOKOMOTIVE
DIE RESTAURIERTE FILMPERLE BRATAN – DER KLEINE BRUDER UND DAS WERK VON BACHTIAR CHUDOJNASAROW, TADSCHIKISTAN
Von Martial Knaebel und Walter Ruggle
Der Tadschike Bachtiar Chudojnasarow wurde 1965 in der Hauptstadt Duschanbe geboren und starb 2015 in Berlin. Von seinem Erstling Bratan an hatte er mit seiner Person und seinen in der Realität verwurzelten und von Poesie beflügelten Filmen verzückt. Jetzt wurde ein erster auf Initiative des Filmemachers Veit Helmer sorgfältig digita lisiert und restauriert. Und es ist, als wären keine dreissig Jahre vergangen seit seiner Entstehung. Ein erfrischendes Debüt.
Das kleine Brüderchen fährt mit seinem älteren Bruder in die Stadt, wo der Vater der Kinder wohnt, die seit der Scheidung ihrer Eltern bei der Grossmutter aufwachsen. Der Grosse will, dass der Vater die Erziehung des Kleinen übernimmt, und er versucht, allen einzureden, dass die Zeit dafür reif ist. Allerdings hat der Titelheld Bratan – das Brüderchen eben – bereits seinen eigenen Kopf. Er sträubt sich heftig und kehrt schliesslich mit dem Bruder zur Grossmutter zurück. Eigentlich geht es in dem wundervoll beflügelten Filmdebüt von Bachtiar Chudojnasarow um nichts anderes als eine abenteuerliche Fahrt durch die tadschikische Steppe mit einem uralten bummeligen Güterzug. Der Film ist eines der schönsten Beispiele eines Rail-Road-Movies, leinwandfüllende Bilder von einmaliger Frische, in die die Wirklichkeit des einfachen Lebens gebettet ist. Er ist getragen von einem eigenwilligen Rhythmus und den Trommeln der Steppe, und es geht ein seltsamer Zauber von dieser lakonisch gestalteten Bilderreise aus, der den Filmemacher auszeichnete.
ZEIT DER ENTDECKUNGSFESTIVALS
Es gab eine Zeit, in der man, um neue talentierte Filmschaffende zu entdecken, einfach eines der kleinen, aber ambitionierten Festivals besuchen musste. Die Qualität ihrer Auswahl stimmte und war stärker geprägt von Filmliebe als von Marktverfügbarkeiten. In den frühen 1980er Jahren gehörten etwa die Veranstaltungen in Mannheim, Nantes oder Turin dazu, und sie alle präsentierten 1991 zum Beispiel einen jungen Filmemacher aus Tadschikistan namens Bachtiar Chudojnasarow. Sein erster Film, Bratan (Der kleine Bruder) , wurde auf allen drei Festivals ausgezeichnet. Er war wie ein Meteorit aus einem Land, das in einem beginnenden Bürgerkrieg steckte als Folge der Auflösung der Sowjetunion. Wie anderswo in den alten Republiken herrschten in den neuen Einheiten Korruption und Gier nach potenziellen Reichtümern.
Doch Bachtiar Chudojnasarow kümmerte sich nicht darum: «Das Wichtigste an meinem Film sind nicht die Festivals oder die Preise. Das Wichtigste ist, dass die beiden Knaben praktisch wie Brüder geworden sind. Der ältere Schauspieler hatte keinen jüngeren Bruder und der andere keinen älteren, jetzt haben beide einen.»
Nach seinem Studium an der damals renommierten VGIK in Moskau machte er sich mit einigen Freunden an die Produktion dieses sehr niedrig budgetierten Erstlings und bald schon an den zweiten Film Kosh ba Kosh. Auch dieser ist luftig im allerschönsten Sinn des Wortes. Kosh ba Kosh handelt von einem jungen Paar, das sich am liebsten in der Seilbahn über Duschanbe trifft und in der gelben Kabine über der kriegerischen Realität am Boden schwebt. Der Film wurde in Venedig 1993 mit einem Silbernen Löwen ausgezeichnet. Man vernimmt darin das Echo des Bürgerkriegs in der Ferne, ohne dass er erwähnt wird - man spielt lieber die Karten oder Liebe. Chudojnasarow liess sich nun in Berlin nieder, von wo aus er seine nächsten Filme produzierte. Luna Papa (1999), der wieder in Tadschikistan unter schwierigsten Bedingungen gedreht wurde, sowohl klimatisch als auch politisch –das Filmteam musste evakuiert werden, das Set wurde von einem Sturm zerstört.
EIN WELTBÜRGER
Trotz der Anerkennung, die ihm der kommerziell erfolgreiche Film Luna Papa einbrachte, hatte Bachtiar Chudojnasarow immer Schwierigkeiten, die Finanzierung für seine folgenden Filme zu finden. Da er in Deutschland lebte, fiel es ihm schwer, sich an die Funktionsweise der westlichen Filmwelt anzupassen. Gleichzeitig lehnte er den Status eines tadschikischen Filmemachers ab: «Mein Werk kann nicht als tadschikisches Kino klassifiziert werden. Es ist mein Kino, ein Kino für meine Freunde, meine Wurzeln und meine Verwandten, die in Tadschikistan leben. Meine Filme handeln nicht nur von Tadschikistan, sondern von Zentralasien. Ich denke, dass die Zeit der Filme, die auf niederen, nationalistischen Themen basieren, vorbei ist. Ich bin jetzt ein Weltbürger und sehe die Dinge anders.»
Trotz dieser starken Worte gehörte Bachtiar Chudojnasarow zu einer Generation von Filmschaffenden, die das tadschikische Kino über den kleinen Kreis hinaus bekannt gemacht haben. Man denke an Jamshed Usmonov, Mairam Yusupova und Gulbakhor Mizoeva, die alle ausgewandert sind, um arbeiten zu können. Chudojnasarow, der im Alter von nur 49 Jahren an einer schweren Krankheit starb, hinterlässt ein unvollendetes Werk, von dem man gerne gesehen hätte, dass und wie es sich weiterentwickelt, denn seine ersten Filme waren aufgrund ihrer Originalität und der Wärme ihres Blicks auf die Figuren und Kulturen, die sie uns vorstellten, vielversprechend. Der Zug in Bratan , die Seilbahn in Kosh ba Kosh , der Lastwagen in Luna Papa : jedes Mal eine Liebeserklärung an das Kino und an die Poesie des Bildes. Auf seine Weise war Bachtiar Chudojnasarow ein Poet, der gerne geflogen wäre.
Bratan in der restaurierten Version mit Begleitbooklet und Kosh ba Kosh von Bachtiar Chudojnasarow sind auf DVD in der Edition trigon-film erhältlich oder auf filmingo zu entdecken.
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Weitere gute Filme gibt’s auch als DVD auf trigon-film.org
Beale Street Could Talk (2019)
Jenkins
If
von Barry
FILMINGO-PREMIERE
NEXT SOHEE VON JULY JUNG, SÜDKOREA
Das koreanische Kino hat sich mit einer Reihe von Filmen in den vergangenen Jahren definitiv auf die globale Karte der Filmländer katapultiert, obwohl es eigentlich schon seit Langem dahin gehört hätte. Aber Bong Joon-ho mit seinem Spielfilm Parasite prägte zunächst das Festival Cannes und anschliessend weitere Events bis hin zur Oscar-Nacht 2020, in der der Koreaner gleich vier Statuetten einheimste. Während der damalige US-amerikanische Präsident, der sich selber gerne als Genie sieht, sich über die Academy aufregte und darüber, dass man irgendeinen asiatischen Film auszeichnen würde, freute sich der damalige Präsident Südkoreas, Moon Jae-in, und verkündete, Parasite erinnere daran, «wie berührend und kraftvoll» ein Film sein könne und «viele Menschen auf der ganzen Welt mit einer einzigartigen koreanischen Geschichte» bewege. Im eigenen Land waren die eigenen Filme seit Jahren schon top auf den Hitlisten, wobei man auch anfügen muss: Nicht alle südkoreanischen Knüller eignen sich so gut wie Parasite für die internationalen Kinoprogramme.
WEIBLICHE STIMME AUS SÜDKOREA
Unter den Arthouse-Filmen erregt derjenige von July Jung Aufsehen, die es 2014 bereits mit ihrem Erstling A Girl at My Door ins Hauptprogramm des Festivals von Cannes geschafft hatte. Sie steht für eine weibliche Stimme aus einer stark männlich geprägten südkoreanischen Kinolandschaft. Ihr neuer Film Next Sohee (Da-eum-so-hee) lief 2022 in Cannes, dieses Mal in der Nebensektion Semaine de la Critique. Jung erzählt von einer jungen Frau, deren reales Schicksal sie bewegt hatte: «Eines Tages hörte ich vom Tod eines jungen Mädchens. Sie war mir fremd, aber warum schmerzte mein Herz so sehr, als ich davon hörte? Warum hatte ich so viel Mitleid mit diesem Kind? Ich musste einfach mehr über sie herausfinden. Darüber, wie es passiert war. Und so erfuhr ich mehr über Sohee. Ich fand Detective Oh Yoo-jin, die Sohee getroffen hatte.»
Sohee ist Lernende an einer Berufsschule. Sie ist begeistert, als sie ein Praktikum im Callcenter eines grossen Internetanbieters bekommt, doch der begehrte Bürojob entpuppt sich als albtraumhafter Arbeitsplatz. Das Unternehmen setzt sie unter immensen Druck, das beste Teamziel zu erreichen. Die Arbeit ist selbst für ein mutiges Mädchen wie Sohee entmutigend, aber zu allem Überfluss erhalten die Praktikanten und Praktikantinnen nur einen Bruchteil des normalen Lohns. So freudig sie eingestiegen ist: Sohee ist zwischen Wut, Enttäuschung und Druck hin- und hergerissen. Letztendlich führt sie das in den Tod. Die Detektivin Oh Yoo-jin wird mit dem Fall betraut. Sie beginnt, Sohees Spuren und die Menschen in ihrem Umfeld zu verfolgen, um die wirklichen Ursachen des Todes aufzudecken. Während sie Sohees Fall untersucht, findet Yoo-jin heraus, dass die verborgene Seite des Vorfalls erschütternder ist, als sie es sich hätte vorstellen können.
DAUERND AM LIMIT
July Jung hat ihre Erzählung in jene zwei Teile gegliedert, die sich auch in der Wirklichkeit ergaben: Das Schicksal einer jungen Frau und die Suche einer älteren nach den Umständen. Im Kern dreht sich der Film um die Arbeit in Callcenters, aber man kann ihn weit über das hinaus sehen als Beschreibung unserer Arbeitswelten, die von Zeitdruck und Erwartungshaltungen geprägt sind. Ken Loach hat das in Sorry We Missed You 2019 auf Grossbritannien bezogen eindrücklich geschildert. Next Sohee ist sozusagen eine asiatische Nichte seiner Hauptfigur Ricky. Im Callcenter-Umfeld erleben wir die unsäglichen Belastungen durch Erfolgsvorgaben. Nach dem Suizid der Angestellten beginnt die beharrliche Suche einer Detektivin nach dem Warum. Ist der erste Teil des Films so etwas wie eine Gesellschaftsstudie über den Umgang in einer Welt der Hierarchien und Gewinnmaximierung, so stellt sich der zweite Teil als Krimi heraus, der die Hintergründe im ersten Teil blosslegt. Die Umstände sind koreanisch, die Entwicklungen global. ■
STÄNDIG AUF CALL
Von Fred Egger
«Nicht bloss beeindruckend, sondern sehr nahe jenem Bereich, wo Begriffe wie ‹Meisterwerk› oder ‹filmische Offenbarung› angemessen klingen. – Eine tief berührende Parabel über die Arbeit am eigenen Glück.»
Die WochenZeitung, Dominic Schmid
«Ein stiller, berührender Film über ein ganz alltägliches Leben.»
Züritipp, Gregor Schenker
«Die Schönheit des Lichts und der Bildausschnitte überwältigt, die scheinbare Einfachheit verleiht den Details Bedeutung, und sobald ein wenig Zärtlichkeit auftaucht, berührt sie wirklich.»
Le Temps, Norbert Creutz
«Absolut rührende Liebesgeschichte.»
Luzerner Zeitung, Regina Grüter
«Staatschef Xi verspricht Wohlstand durch Urbanisierung, die Armut sei besiegt. Etwas anderes soll man nicht sehen, kann man auch nicht mehr. Zumindest in China nicht. Hier schon. Und wer den bewegenden Film sehen kann, sollte ihn sich anschauen.» NZZ, A. Scheiner
«Die beiden Aussenseiter haben sich selbst, sie genügen sich. Sie drücken sich etwa sanft mit Weizenkörnern Blumenmuster auf die Haut. Das ist Romantik bis in den Tod. Das ist schön.»
SRF Kultur, Georges Wyrsch
«Es wird klar, dass hier nicht Paarharmonie das Thema ist, sondern das sich Un terordnen und auf sich allein gestellte Durch schlagen. Ein Romantikverständnis im Tragi schen.»
P.S. Zeitung, Thierry Frochaux
«Ein absolut wunderbarer Film, grossartige Charaktere, eine grosse Schauspielerin an der Seite eines nicht-professionellen Schauspielers, der Bauer seines Standes ist.» RTS, Stéphane Gobbo
«Wenn die Eheleute beim Jäten Gedanken über die Natur austauschen, erhält der Film etwas Sagenhaftes. Als sei er ein Gedicht über das gute Leben im schlechten. Oder eine Erinnerung an die grossen Einsiedler der chinesischen Literatur.»
WoZ, Annette Hug
« Return to Dust verknüpft auf intelligente Weise ein soziales Thema mit dem einzigartigen Werdegang zweier Personen, die lernen, sich zu lieben, und nimmt sich dabei die nötige Zeit für die Entwicklung seiner Erzählung.»
Ciné-feuilles, Noé Maggetti
«Eine singuläre Liebesgeschichte, die so zärtlich und natürlich wirkt, wie sie schon lange nicht mehr erzählt wurde.» Outnow, Teresa Vena
«Da nimmt man sich Zeit, man setzt sich hin, das ist Kino!»
RTS Première, Philippe Congiusti
«Li Ruijun lässt uns teilhaben an einem Stück Wirklichkeit, wie es das Kino zu schaffen vermag, daran erinnernd, dass grosse Künstler nie Filme über ein Thema, sondern stets über ihr Leben und ihre Welt kreieren.»
Seniorweb, Hanspeter Stalder
«Stille Hommage an ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur, die als Kritik an der rasenden Modernisierung Chinas gelesen werden kann.» Filmnetz, Walter Gasperi
Anders als Andere.
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DAS IST KINO!
MEDIEN ZU RETURN TO DUST VON LI RUIJUN, CHINA
FILME SCHENKEN
DVDS VON EXQUISITEN FILMEN SIND BLEIBENDE WERTE DREI EMPFEHLUNGEN
KUROSAWA-MIFUNE
Kurosawa – Mifune: Ein Kraftduo. Die beiden gehören zu den erfolgreichsten Duos in der Filmgeschichte: Hier der Meisterregisseur und grosse Humanist, der unvergängliche Werke geschaffen hat und Vorbild war und ist für Generationen von Filmschaffenden. Da der brillante Schauspieler, der das zwischen Ernsthaftigkeit und Schalk Oszillierende in den Figuren des Regisseurs bravourös verkörperte – bis ihre Wege sich trennten. Die drei Filme dieser Edition zeigen das Spektrum des Duos sehr schön auf.
Sanjuro – Tsubaki Sanjuro (1962) ist ein Genrefilm, und den beherrschte Kurosawa meisterlich. Einen Spass hat sich der Regisseur mehrfach daraus gemacht, seine Samuraifigur nicht ganz den Normen gemäss auftreten zu lassen. Hier zeigt ein erfahrener Samurai den jungen, idealistischen Leuten, wie schwierig es ist, zwischen Schein und Sein, Gut und Böse zu unterscheiden. Verkörpert wird die Hauptrolle von Akira Kurosawas Lieblingsschauspieler Toshiro Mifune, der einen Müssiggänger spielt und immer erst dann handelt, wenn sein ausgesprochen wacher Geist ihn dazu nötigt.
Yojimbo – Der Leibwächter (1961) ist das vorangegangene Prachtstück in Sachen Samurai-Parodie. Der arbeitslose Sanjuro (umwerfend: Toshiro Mifune) kommt auf der Wanderschaft durch das Japan des 19. Jahrhunderts in ein abgelegenes Bergdorf, wo zwei verfeindete Familienclans mit allen Mitteln um die Vorherrschaft kämpfen. Geschickt macht sich Sanjuro die Rivalitäten zunutze, ergreift mal hier, mal dort Partei und spielt in einem gewagten Intrigenspiel beide Gruppen gegeneinander aus.
Das ist höchste Unterhaltungskunst. Last but not least der älteste in dieser Box: Shizukanaru ketto – Das stumme Duell , (1949). Toshiro Mifune hier als junger Arzt in einer völlig anderen, sehr ernsthaften Rolle. Gegen Kriegsende verwundet sich Dr. Fujisaki bei einer Notfalloperation im Lazarett. Wenig später stellt er fest, dass der Patient an Syphilis erkrankt ist und dass er selbst sich angesteckt hat. Aus Angst, die Krankheit weiterzugeben, bricht er nach dem Krieg mit seiner Verlobten und kämpft schweigsam mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Infektionskrankheit. Sein ehemaliger Patient aber lebt sorglos dahin und heiratet. Kurosawa adaptierte hier ein erfolgreiches Theaterstück und spitzte es zu auf die Frage der Verantwortung.
trigon-film dvd-Edition 244 Box mit 3 DVDs
Sprache OV Japanisch Untertitel deutsch Ländercode 2
NURI BILGE CEYLAN
Immer schon wollte Sinan Schriftsteller werden. Zurück aus Çanakkale in seinem anatolischen Heimatdorf holen ihn die Schulden seines Vaters ein und Fragen, die sich ihm und uns stellen. The Wild Pear Tree der Titel des letzten Films von Nuri Bilge Ceylan, steht auch für den Titel des ersten Romans, den Sinan verfasst hat. Wir schauen gewissermassen einem Buch bei seiner Entstehung zu, ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Es wird auch nicht geschrieben, es bildet sich aus und mit dem, was sich da eben gerade abspielt. Man könnte auch sagen: Wir schauen der Literatur beim Literaturwerden zu.
Sinan wird als Lehrer arbeiten und muss fürchten, in den Osten versetzt zu werden. In der Schule wie in der Kultur hat man es in der Türkei von heute nicht einfach. Freies Denken ist nicht erwünscht und schädlicher als Rauchen. Es könnte Fragen stellen oder sich lustig machen, beides Dinge, die Autokraten nicht mögen. Aber Nuri Bilge Ceylan ist kein Filmemacher, der seine Lebenszeit mit dem Oberflächenhandwerk Politik vergeuden möchte. Seine Filme sind existenzielle, und dadurch werden sie erst recht politisch. Hier visualisiert er wie gewohnt bestechend und dialogisiert in literarischer Grösse. Die Bilder geben der Sprache Raum, im Ton wirkt auch ein Schweigen oder der Hauch des Windes ausdrucksstark. Und wann hat man zuletzt so abgehoben bei einem Kuss wie hier am Brunnen bei den Bäumen? Einem Ceylan-Film sollte man offen begegnen, dann wünscht man nach drei Stunden, das Schauen und Lauschen mögen noch lange dauern. Der Türke schafft es, uns gar
nicht merken zu lassen, dass er am Erzählen ist, während seine Kamera doch nur mal diese oder jene Szene diskret betrachtet. Kein Filmemacher ist heute so nah am Literarischen und gleichzeitig so unaufdringlich stark visuell.
The Wild Pear Tree ist einer von fünf Filmen, die sich in der schönen Box zum Autor finden ( The Small Town, Clouds of May, Distant und Climates ) zusammen mit einem Booklet, einem Kurzfilm und einem sechsstündigen Making-of. Edition trigon-film 383. Die älteren Filme alle in restaurierten Fassungen OV/d/f.
SCORSESES WORLD CINEMA
Martin Scorsese ist nicht nur ein herausragender Filmemacher, der sich mit Filmen wie Taxi Driver, The King of Comedy oder The Age of Innocence einen Namen in der Filmgeschichte gesichert hat. Er selber ist ein leidenschaftlicher Cinéphiler, kennt die Filmgeschichte wie wenige und enga-
Ost und betreut Filme aus dem WCP, die sie erstmals restauriert mit deutschen und französischen Untertiteln auf DVD herausbringt.
Nach der ersten Box mit den Filmen Titash ekti nadir naam von Ritwik Ghatak, Indien, 1973; Limite von Mário Peixoto, Brasilien, 1931; La Noire de. und Borom Sarret von Sembène Ousmane, Senegal, 1966; ist im November die Box «World Cinema 2» erschienen. Sie präsentiert den marokkanischen Spielfilm Alyam, Alyam von Ahmed El Maanouni, den indonesischen Klassiker After the Curfew von Usmar Ismail und Jean-Pierre DikonguéPipas unverwüstlichen Muna Moto aus Kamerun. Alle Filme sind sorgfältig restauriert von Immagine Ritrovato in Bologna.
In einem kleinen marokkanischen Dorf hängt Abdelwahed in Alyam, Alyam seinen Träumen von einem besseren Leben für
giert sich mit seiner Stiftung zur Erhaltung des Filmerbes. Gemeinsam mit einer Reihe namhafter Filmschaffender aus der ganzen Welt hat Martin Scorsese das World Cinema Project gegründet, das Digitalisierungen und Restaurierungen möglich macht. Die Stiftung trigon-film engagiert sich ihrerseits seit Jahrzehnten für herausragende Filme aus Süd und
sich und seine Familie nach. Die hier beschriebene Lebenswirklichkeit junger Männer in Marokko ist auch nach Jahrzehnten noch immer aktuell. After the Curfew von Usmar Ismail, Indonesien 1954, blickt in die Zeit nach der Befreiung von der niederländischen Kolonialherrschaft, in der der Revolutionsheld Iskandar ins zivile Leben zurückkehrt. Dabei muss er erkennen, dass die Ideale, für die er gekämpft hat, nicht wirklich gelebt werden. Ein Schlüsselwerk. Last but not least Muna Moto von Jean-Pierre Dikongué-Pipa, Kamerun 1975. Das Mädchen N’Domé soll die vierte Frau ihres Onkels werden, obwohl sie den Jungen N’Gando liebt. Eine unmissverständliche Anklage gegen die Zwangsheirat, gegen die Unterdrückung der Frau und gegen die Massregelung der Jugend.
trigon-film DVD-Edition 386 Restaurierte Versionen Sprache OV Untertitel deutsch, français (Muna Moto de/fr/en), mit einem Booklet zum WCP und den Filmen
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After the Curfew
The Wild Pear Tree
Muna Moto
Kultur und Kunst
«Kultur, das ist wie die Landwirtschaft (agriculture), sie ist das, was man ernähren muss, das, was man vertreibt. Im Kino gibt es zwei sehr ausgeprägte Zweige, jenen der Produktion und den der Distribution. Bald einmal wurde nicht mehr produziert, um zu produzieren, sondern nur noch, um zu ver treiben. Und das ist etwas ganz anderes. Denner will natürlich ein Kilo Tomaten produzieren, aber nur, um es zu vertreiben. Das ist nicht dasselbe. Die Tomaten sind dann in einer bestimmten Art da, um verkauft zu werden. Das ist die Kultur. Neben der Kultur gibt es die Kunst, und Kunst gibt es sehr wenig. Die Kunst entsteht nicht, um vertrieben zu werden.»
«Ich glaube, dass das Kino noch lange Zeit überleben wird, weil es da doch zumindest noch eine archaische Seite gibt, die es einfach braucht. Mir scheint, dass das Kino im Rahmen der gesellschaftlichen Organisation einen Stellenwert hat als etwas sehr Primitives, sehr Familiäres, sehr Sippenhaftes. Gleichzeitig ist es abenteuerlich, enthält etwas, von dem alle träumen, weil sie so leben könnten. Das Kreative ist die Kraft des Kinos.»
Jean-Luc Godard (1930–2022)
1990 zum 60. Geburtstag in einem Gespräch mit Walter Ruggle
Impressum
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Das trigon-film-magazin 1. Trimester 2023
Redaktionsadresse
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Mitarbeit und gute Geister: Raphaël Chevalley, Fred Egger, Martial Knaebel, Kathrin Kocher, Hugo Köpfli, Patricia Pfeifer, Meret Ruggle, Stefanie Rusterholz, Monika Schweri, Alexandra Seitz, Brigitte Siegrist, Suzanne Widmer.
Konzept und Realisation
Integral Lars Müller, Zürich Esther Butterworth
Druck
Gremper AG, Basel
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Das Copyright der Texte ist bei den Autorinnen und Autoren, jenes der Bilder bei trigon-film Das Bild aus der Ausstellung «Was ist Natur» beim Stapferhaus, Anita Affentranger. Bei Zitaten ist jeweils als Quelle « trigon-filmmagazin » anzugeben. Nachdruck und online-Verwendung nur nach vorheriger Absprache mit der Redaktion.
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Bild: After the Curfew von Usmar Ismail – Indonesien – 1954 – erschienen auf DVD in der Scorsese-Box 2 der Edition trigon-film, zu schauen auch auf filmingo.ch
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