Das Plastik-Paradox - Kunststoff ist überall. Wie wollen wir in Zukunft damit umgehen?

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Der Ozeanograph Richard Thompson prägte den Begriff „Mikroplastik“ Foto: Fred Dott/Greenpeace Umwelt Müllteppiche verschmutzen die Meere, Mikroplastik unsere Körper – Kunststoff ist überall. Wie kam es dazu? Und wie wollen wir in Zukunft damit umgehen? Plastik ist überall. Und auf einmal scheint das für uns ein Riesenproblem zu sein. So erließ unter anderem die EU erst jüngst ein Verbot von Einweg-Plastik. Bis vor kurzem war das noch anders. Plastik genoss sozusagen die Anonymität des Alltags. Es hat uns quasi so sehr umgeben, dass wir es kaum mehr bemerken. Man ist überrascht, wenn man zum Beispiel hört, dass moderne Autos und Flugzeuge zu etwa 50 Prozent aus Kunststoff bestehen. Mehr Kleidung wird heutzutage aus Polyester und Nylon – beides Kunststoffe – hergestellt als aus Baumwolle oder Wolle. Kunststoff wird auch in Kleinstmengen als Klebstoff verwendet, um einen Großteil der jährlich bei unseren Nachbarn auf der Insel konsumierten 60 Milliarden Teebeutel zu versiegeln.


Rechnet man jetzt noch die offensichtlicheren Dinge wie Spielzeug, Haushaltsgeräte oder Lebensmittelverpackungen hinzu, wird das enorme Ausmaß dieses Kunststoffimperiums deutlich. Es ist das bunte und doch banale Hintergrundmaterial des modernen Lebens. Jedes Jahr spuckt die Welt rund 340 Millionen Tonnen des Materials aus. Genug, um jeden Wolkenkratzer in New York City damit zu füllen. Die Menschheit produziert schon seit Jahrzehnten unermessliche Mengen Kunststoff und überschritt bereits Anfang der 1990er Jahre erstmals die 100-Tonnen-Marke. Aber aus einem unerfindlichen Grund scheint es seit Kurzem so, als würde es anfangen, uns gewaltig zu stören. Das Ergebnis ist ein weltweites Aufbegehren gegen Plastik, das sowohl Länder- als auch ganz traditionelle politische Grenzen überschreitet. Im Jahr 2016 erreichte im Vereinigten Königkreich eine Greenpeace-Petition für ein Verbot von Plastikmikroperlen 365.000 Unterschriften in nur vier Monaten und wurde schließlich zur größten Umweltpetition, die jemals der Regierung vorgelegt wurde. Protestgruppen in den USA und Südkorea haben öffentlichkeitswirksam Unmengen von unzweckmäßigen und überkandidelten Plastikverpackungen in Supermärkten entsorgt. Anfang des Jahres schickten wütende Kunden in Großbritannien so viele Verpackungspakete an die jeweiligen Hersteller zurück, dass die Post vollkommen überfordert war. Es war eine Protestaktion gegen die Tatsache, dass die Verpackungen nicht recyclebar waren. Prinz Charles hält Reden über die Gefahren von Plastik, während Kim Kardashian auf Instagram über die "Plastikkrise" postet und behauptet, keine Strohhalme mehr zu nutzen.

Dem Plastik den Krieg erklären Auf den höchsten Regierungsebenen ähnelt die Plastikpanik den Reaktionen auf Naturkatastrophen oder Krisen im Gesundheitswesen. Die Vereinten Nationen haben der Einwegverpackung „den Krieg“ erklärt. In Großbritannien hat Theresa May Plastik als "Plage" bezeichnet und einen 25-Jahres-Plan vorgelegt, der Einwegverpackung bis 2042 verschwinden lassen soll. Indien behauptete daraufhin, es würde dasselbe tun – aber bis 2022. Julian Kirby, ein Aktivist der Friends of the Earth, sagt mir, dass er „in fast zwei Jahrzehnten des Kampagnenlebens so etwas noch nie erlebt hat“. Friends of the Earth startete erst 2016 ein Kunststoffprogramm. Greenpeace hatte bis 2015 kein eigenes Kunststoffteam. Ein Journalist der Daily Mail, die als eine der ersten Zeitungen auf den Plastik-Hype aufsprang, sagt mir, dass sie mehr Post wegen Plastik erhalten hätten als wegen jedes anderen Umweltthemas: „Plastik schlägt den Klimawandel immer.“ Und dann gab es da noch „Der blaue Planet 2“. Im Dezember 2017 widmete sich die letzte Episode der Serie sechs Minuten lang dem Einfluss von Kunststoff auf das Meeresleben. Da war eine Schildkröte, die sich hoffnungslos in Plastiknetze verstrickt hatte, und da war ein toter Albatros, in dessen Darm sich jede Menge Plastikschrott befand. „Auf nichts waren die Reaktionen größer“, sagt Tom McDonald, Aufnahmeleiter bei der BBC. „Die Leute wollten


nicht nur über die Episode selbst reden – was total normal gewesen wäre –, sie fragten uns, wie man die Dinge wieder in Ordnung bringen kann.“ In den nächsten Tagen riefen Politiker an, die eine Flut von E-Mails von ihren Wählern bekommen hatten – und sich jetzt zum Handeln genötigt sahen. Man begann, vom "Blauer Planet 2-Effekt" zu sprechen, wenn man erklären wollte, warum sich die öffentliche Meinung nun so entschieden gegen Kunststoff wendete. All dies speist das Gefühl, dass man kurz vor einem großen für die Umwelt stehen könnte – ein Sieg, wie es ihn seit der erfolgreichen Bekämpfung von saurem Regen und FCKW vor drei Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Eine Empörungswelle treibt also die Mächtigen dazu, eine einzige Substanz aus unserem kollektiven Leben zu eliminieren. Und da es bereits eine Menge Zugeständnisse gibt, scheinen die Chancen nicht schlecht.

Ist unser Lifestyle zu viel für den Planeten? Aber die Beseitigung von Plastik erfordert mehr als einen verpackungsfreien Gang im Supermarkt und ein paar feuchte Pappstrohhalme in Kneipen. Kunststoff ist überall – nicht weil er besser ist als die natürlichen Materialien, die er ersetzte, sondern weil er leichter und billiger ist. So viel billiger, dass es einfacher war, das Wegwerfen zu rechtfertigen. Die Kunden fanden es praktisch und die Unternehmen verkauften ihnen gerne einen neuen Kunststoffverpackung für jede gekaufte Limonade und jeden gekauften Schokoriegel. So wie Stahl die Grenzen im Bauwesen verschob, ermöglichte Kunststoff eine billige und simple Verbrauchskultur, die wir bis dato für selbstverständlich gehalten haben. Sich mit Plastik zu beschäftigen, bedeutet in gewisser Weise, sich mit dem Konsumverhalten selbst auseinanderzusetzen. Es erfordert, dass wir erkennen, wie radikal unser Lifestyle den Planeten in einer einzigen Generation verändert hat. Und wir müssen uns eingestehen, dass dieser Lebensstil vielleicht zu viel für ihn ist. Das Erstaunlichste an der Anti-Plastik-Bewegung ist, wie schnell sie gewachsen ist. Allein ins Jahr 2015 zurückzureisen würde bedeuten, in eine Welt zu reisen, in der fast alles, was wir heute über Kunststoff wissen, bereits bekannt ist – es aber niemanden stört. Noch vor drei Jahren war Kunststoff eines von vielen Problemen – wie z.B. der Klimawandel, aussterbende Arten oder Antibiotikaresistenzen –, bei denen sich zwar alle einig sind, dass sie schlimm sind, gegen die aber nur wenig unternommen wird. An den Wissenschaftlern lag es nicht. Kunststoff betreffend gibt man sich bereits seit fast drei Jahrzehnten skeptisch. Anfang der 1990er Jahre stellten die Forscher fest, dass etwa 60 bis 80 Prozent der Abfälle im Meer nicht biologisch abbaubare Kunststoffe waren und die Menge an Kunststoff, die an Stränden und in Häfen angespült wurde, zunahm. Dann entdeckte man, dass sich in den ruhigen Regionen zwischen den Meeresströmungen Plastik ansammelt und das bildet, was der Ozeanograph Curtis Ebbesmeyer "große Müllteppiche" nennt. Der größte Müllteppich – Ebbesmeyer geht von insgesamt acht aus – ist dreimal so groß wie Frankreich und enthält rund 79.000 Tonnen Abfall.


Im Jahr 2004 wurde das Ausmaß des Problems noch deutlicher, als der Ozeanograph Richard Thompson der University of Plymouth den Begriff „Mikroplastik“ prägte, um die Milliarden winziger Kunststoffstücke zu beschreiben, die entweder durch den Abbau größerer Kunststoffe entstanden sind oder bewusst für den Einsatz in kommerziellen Produkten verwendet werden. Forscher auf der ganzen Welt begannen zu katalogisieren, wie diese Mikrokunststoffe ihren Weg in die Organe von Organismen fanden, vom winzigen Krill bis hin zu riesigen Thunfischen. Im Jahr 2015 schätzte eine Gruppe unter der Leitung der Umweltforscherin Jenna Jambeck, dass jedes Jahr zwischen 4,8 und 12,7 Millionen Tonnen Kunststoff in den Ozean gelangen – eine Zahl, die sich bis 2025 verdoppeln wird.

Medien-Darling Müllteppich Das Plastikproblem war schon immer unfassbar groß und wurde immer größer. Trotzdem war es schwer, die Leute dazu zu bekommen, sich damit zu beschäftigen. Manchmal schafften es zwar ein paar alarmierende Stories über Kunststoffe in die Medien und weckten das Interesse der Öffentlichkeit – der Müllteppich war ein Medien-Darling, und ab und zu gab es ein bisschen Hysterie wegen überquellenden Deponien oder den unfassbaren Abfallmengen, die man nach Übersee outsourcte – aber das war alles nichts im Vergleich zu heute. Roland Geyer, ein renomierter Industrieökologe an der University of California, erzählt, dass er zwischen 2006 und 2016 wahrscheinlich weniger als zehn Interviews zum Thema Kunststoffe gegeben hat – in den letzten zwei Jahren erhielt er mehr als 200 Interviewanfragen. Woran der Umschwung nun genau liegt, darüber wird viel gestritten. Die plausibelste Antwort – und diejenige, die zur Arbeitsgrundlage vieler der Wissenschaftler und Aktivisten geworden ist, mit denen ich gesprochen habe – ist nicht, dass das Wissen über Plastik eine kritische Masse erreicht hat, oder etwa dass wir es satt haben, Bilder von bezaubernden Meeresbewohnern, die an unserem Abfall ersticken, zu sehen – obwohl diese Dinge natürlich nicht unwichtig sind. Es ist vielmehr so, dass sich die ganze Art und Weise gewandelt hat, wie wir über Kunststoff denken. Früher sahen wir Plastik als Müll an – lästig, aber keine Bedrohung. Aber diese simple Vorstellung wurde von der bitteren Erkenntnis abgelöst, dass Kunststoff deutlich weiter verbreitet und bedrohlicher ist, als sich die meisten Menschen es sich jemals hätten vorstellen können. Das Umdenken begann mit dem öffentlichen Aufschrei wegen Mikroperlen, den kleinen Kunststoffkörnern, die Unternehmen seit Mitte der 1990er Jahre in Kosmetik- und Reinigungsprodukte packen, um sie zu verbessern. Fast jedes Kunststoffprodukt hat ein natürliches und oft biologisch abbaubares Vorbild, Kunststoff-Mikroperlen ersetzen z.B. gemahlene Samenkerne oder Bimssteine. 2010 schlugen Wissenschaftler schließlich Alarm und informierten über potenzielle Gefahren für das Meeresleben. Die Leute waren schockiert, als sie erfuhren, dass Mikroperlen in Tausenden von Produkten enthalten waren – von bekannten Anti-Pickel-Peelings bis hin zu vorgeblich umweltfreundlichen Seifen wie denen des Body Shops.


In Nullkommanix vom Nullbewusstsein zum öffentlichen Schock Der Kampf gegen Plastikmüll erfordert mehr als einen verpackungsfreien Gang im Supermarkt Die Erkenntnis, dass mikroskopisch kleine Plastikperlchen Abermillionen von Abflüsse hinuntergeflossen sind, war laut Will McCallum, dem Leiter der Anti-Kunststoffkampagne bei Greenpeace in Großbritannien, ein entscheidender Moment in der öffentlichen Wahrnehmung von Kunststoff: „Das war eine Designentscheidung – ein Designfehler, um bei der Wahrheit zu bleiben. Und es brachte die Leute dazu zu fragen ,Wie konnte das passieren?'“ Als der US-Kongress 2015 ein begrenztes Verbot von Mikroplastik enthaltenden Kosmetika in Betracht zog, wurde es mit breiter parteiübergreifender Unterstützung verabschiedet. „Das Thema entwickelte sich in Nullkommanix von Nullbewusstsein zu einem öffentlichen Schock“, befindet die Abgeordnete Mary Creagh, die Vorsitzende des parlamentarischen Umweltprüfungsausschusses des Vereinigten Königreichs, der 2016 Mikroplastikperlen untersuchte und schlussendlich ein umfassendes Verbot ihrer Herstellung und ihres Verkaufs veranlasste. Mikroperlen waren nur der Anfang. Die Öffentlichkeit würde bald erfahren, dass synthetische Gewebe wie Nylon und Polyester bei jedem Waschgang Tausende von mikroskopischen Fasern produzieren. Nachdem Wissenschaftler zeigten, wie diese Fasern in den Innereien von Fischen landeten, veröffentlichten Medien Beiträge mit Aufmachern á la „Yogapants zerstören die Erde", während umweltbewusste Firmen nach Lösungen suchten. So gibt es unterdessen zum Beispiel einen Waschmaschinenbeutel namens Guppyfriend, der angeblich den Abrieb der synthetischen Kleidung auffängt. Doch bei Klamotten war natürlich noch nicht Schluss. Auch Autoreifen, die zu etwa 60 Prozent aus Kunststoff bestehen, verlieren bei jeder Umdrehung Mikrofasern – und zwar weltweit potenziell mehr als Mikroplastikperlen und Kleidung zusammen. Alltagsgegenstände wirkten plötzlich wie verseucht, und es gab wenig, was Ottonormalbürger dagegen hätte tun können. In Eltern-Foren gibt es Hunderte von Beiträgen über alternative Kosmetikprodukte, die keine Mikroplastikperlen enthalten – aber kunststofffreie Reifen sind nicht in Sicht. Die walisische Abgeordnete Anna McMorrin, die das Thema im Parlament ansprach, erzählt, dass ihre Wähler verärgert seien: „Die Leute sagen mir: ,Hey, ich versuche, im Supermarkt darauf zu achten, was ich kaufe, ich trenne Müll – aber was soll das bringen, wenn das Zeug eh überall ist?‘“

Der Kontrollverlust Laut Chris Rose, einem ehemaligen Greenpeace-Mitarbeiter, der einen populären Blog über Umweltthemen schreibt, war Wissenschaftlern schon lange klar, dass Kunststoff ein gesundheitsgefährdender Schadstoff ist. Aber bis vor kurzem war das Bild in der Öffentlichkeit ein gänzlich anderes. Für die meisten schien Kunststoff im wahrsten Sinne des Wortes leicht greifbar: Dinge, die Leute kauften – und wieder wegwarfen. Die Leute konnten


es sehen, berühren und es kam ihnen vor, als wäre alles unter Kontrolle. Selbst wenn man nichts groß gegen das Problem tat, hatte man immer das Gefühl, dass man es könnte, wenn man denn wollte: Indem man den Plastikmüll aufhebt und in den Mülleimer wirft. Aber so einfach scheint es nicht mehr zu sein. Plastik ist zwar nach wie vor überall – in unseren Haushaltsprodukten, Kaffeetassen, Teebeuteln und in der Kleidung –, aber unter Kontrolle haben wir es nicht mehr. Es rutscht uns durch die Finger und die Poren unserer Wasserfilter, und es diffundiert in Flüsse und Meere wie die schmutzigen Abwässer einer Drecksfabrik. Plastikmüll wird nicht länger durch eine Einwegtüte am Straßenrand verkörpert. Heute kommt er uns eher vor wie eine bisher unbekannte Chemikalie, die irgendwo im Kleingedruckten eines Haarsprays aufgelistet ist – allzeit bereit, Fische zu mutieren oder ein Loch in die Ozonschicht zu fressen. Dass die Öffentlichkeit nun Plastik den Rücken zuwendet, haben weder Wissenschaftler noch Umweltaktivisten erwartet. Die meisten sind daran gewöhnt, dass man ihre Warnungen nicht für voll nimmt. Tatsächlich scheinen einige Wissenschaftler ob der Wucht des Backlashs beinahe verlegen zu sein. „Ich kratze mir jeden Tag den Kopf“, so der Ozeanograph Erik van Sebille vom Imperial College. „Wie kann ausgerechnet Plastik Staatsfeind Nr. 1 sein? Die Rolle sollte eigentlich dem Klimawandel zustehen.“ Andere Wissenschaftler wiederum spielen die Plastikbelastung als ein Problem unter vielen herunter – eines, das die öffentliche Aufmerksamkeit von wichtigeren Dingen ablenkt.

Plastik ist greifbar Plastikmüll wird nicht länger durch Einwegtüten verkörpert Aber im Gegensatz zum Klimawandel, der uns vage, übermenschlich und apokalyptisch vorkommt, ist Plastik kleiner, greifbarer – es ist just in diesem Moment in jedermanns Leben. „Dieses Problem ist x-mal schlimmer als jenes – solche Berechnungen macht die Öffentlichekeit nicht “, so Tom Burke, ein ehemaliger Mitarbeiter von Friends of the Earth. „Von einem Moment auf den anderen merken Leute, dass andere Menschen bei einem Problem genauso denken wie sie, und schon geht’s los. Am langen Ende wollen alle nur, dass die Dinge, die aus dem Ruder laufen, in Ordnung gebracht werden.“ Oder, wie Christian Dunn, ein Ökologiedozent der University of Bangor, der das letzte Jahr damit verbracht hat, seine Heimatstadt Chester in eine der kunststofffeindlichsten Städte Englands zu verwandeln, es formuliert: „Es ist einfach etwas, was man wirklich angehen kann.“ Wenn man mit Dunn und seiner Mitorganisatorin Helen Tandy, die das lokale Friends of the Earth-Büro leitet und den unbändigen Optimismus und das Selbstvertrauen einer langjährigen Umweltschützerin besitzt, durch die Gegend läuft, wird einem der Reiz am Kampf gegen Plastik klar. Es gibt einem das Gefühl, dass man sich einer aufrührerischen politischen Kampagne angeschlossen hat. Unternehmen, von Cafés bis hin zu Gemüsehändlern, haben Unterstützerplaketten in ihren Fenstern. „Frag in irgendeiner Kneipe hier nach einem Strohhalm und man wird dir sagen, dass es keine gibt, weil sie Wale


töten,“ sagt ein junger Barkeeper. Ein Bauarbeiter namens Dylan wiederum erzählt, dass er damit begonnen hat, seinen Kunden zu empfehlen, kunststofffreie Armaturen zu kaufen. Die gängigen hätten viel zu viel davon. Im Zoo von Chester erzählt der Hausmeister, dass das hiesige Café komplett auf Einwegverpackungen aus Plastik verzichtet, und auch den Zooshop hat man im Blick. Der Zoo ist eine der größten Attraktionen der Gegend und dementsprechend ein großer Gewinn für die Anti-Plastik-Kampagne. „Was ist mit Futtersäcken? Und all den anderen Dingen für die Tiere?“ fragt Dunn. Das Management beteuert, man würde auch das prüfen. Auf unserem Weg nach draußen geht eine Gruppe von Schulkindern mit Luftballons auf das Elefantengehege zu. Tandy fragt sich, wo sie die wohl her haben. „Das nächste Mal fragen wir nach.“

Jeder will irgendetwas tun Diese Art von unglaublich praxisorientierten, basisnahen Kampagnen hat sich erst in den letzten Jahren entwickelt. Damit sind wir in einer Phase angelangt, in der jede Marke, Organisation und jeder Politiker sich zu bemühen scheint, irgendetwas zu tun. Wenn man nur ein paar Wochen aufmerksam Pressemitteilungen liest, bekommt man mit, dass Fußballvereine planen, alle Plastikbecher aus ihren Stadien zu verbannen, Kaffeeketten wie Starbucks versprechen, schätzungsweise 1 Milliarde Strohhalme pro Jahr einzusparen, einige Städte diese ohnehin schon verboten haben und Lego, eine Firma, die momentan kein Produkt hat, das ohne Plastik auskommt, untersucht, inwiefern man pflanzliche Kunststoffe für die Spielzeugproduktion nutzen kann. Das alles hat einen Hauch von Manie. Natalie Fee, eine Aktivistin, die die Kampagne City to Sea gegründet hat, erzählt, dass sie, nachdem sie letztes Jahr im öffentlich-rechtlichen Fernsehen aufgetreten war, um über Plastik zu sprechen, mehrere Anfragen erhielt, um in Banken und Vorstandsetagen über ihre Arbeit zu sprechen – als Motivationsguru. Der Fluch der guten Tat ist allerdings auch, dass sie opportunistische Nutznießer anzieht. Britische Brexit-Politiker wie Michael Gove – der unterdessen Umwelt- und Ernährungsminister ist – versuchen, ihr angeschlagenes Image mit Anti-Plastik-Aktionen aufzupolieren. Und das klappt überdurchschnittlich, so erzählt man. Unabhängig von den teilweise zweifelhaften Beweggründen der Politik hat der öffentliche Aufschrei zweifellos die ganz Großkopferten in Regierungen und Wirtschaft auf ein ernsthaftes Umweltproblem aufmerksam gemacht – und sie davon überzeugt, dass es sich um ein Problem handelt, bei dem man eigentlich nur gewinnen kann. Nur ein Bruchteil der vorgeschlagenen Maßnahmen gegen Kunststoffe ist bis dato gesetzlich ratifiziert – die Mikroplastikperlenverbote der USA und Großbritannien mal außen vor –, da ist noch eine Menge Luft nach oben, um sich ins rechte Licht zu rücken.

Was ist Plastik überhaupt?


Der öffentliche Protest zeigt bei Regierungen und Wirtschaft Wirkung Obwohl es allgegenwärtig ist, hätten die meisten Menschen wohl Schwierigkeiten, zu sagen, was Plastik überhaupt ist, wer es herstellt und woher es kommt. Das ist verständlich: Kunststoff ist ein globales Industrieprodukt, das weit weg von der Öffentlichkeit hergestellt wird. Die Rohstoffe stammen aus fossilen Brennstoffen, und viele der Konzerne, die Öl und Gas produzieren, produzieren auch Kunststoff, oft in den gleichen Anlagen. Die Geschichte des Kunststoffs ist also auch die Geschichte der fossilen Brennstoffindustrie – und die des ölgetriebenen Booms nach dem Zweiten Weltkrieg. Kunststoff ist ein Sammelbegriff für die Produkte, die durch die Umwandlung eines kohlenstoffreichen Chemikaliengemischs in eine feste Struktur entstehen. Bereits im 19. Jahrhundert fertigten Chemiker und Erfinder Haushaltsgegenstände wie Kämme aus einer spröden, frühen Form von Kunststoff. Zuerst wurde das Material Parkesine genannt, später Zelluloid, nach der pflanzlichen Zellulose, aus der sie hergestellt wurde. Aber das moderne Zeitalter des Kunststoffs begann mit der Erfindung des Bakelits im Jahr 1907. Bakelit – ein vollsynthetischer Werkstoff, der auf Phenol basiert, einer Chemikalie, die beim Prozess der Umwandlung von Rohöl oder Kohle in Benzin übrig bleibt – ist hart, meist grell eingefärbt und glänzt. Mit anderen Worten wäre es für uns heute ohne weiteres leicht als Kunststoff erkennbar. Die Erfinder wollten Bakelit als Isolator für die elektrische Verkabelung einsetzen, erkannten aber schnell sein nahezu unbegrenztes Potenzial und bewarben es als „Material der 1.000 Möglichkeiten“ – aus heutiger Sicht eine maßlose Untertreibung. In den Jahrzehnten danach wurden neue Kunststoffsorten entwickelt – und die Öffentlichkeit zeigte sich fasziniert von diesem unendlich formbaren Wundermaterial, das die Forschung da aus dem Hut gezaubert hatte. Aber erst im zweiten Weltkrieg machte sich Kunststoff endgültig unverzichtbar. Angesichts des Mangels an natürlichen Rohstoffen und der enormen Anforderungen des Kriegs machte das Potenzial von Kunststoff, fast alles zu werden – allein mit "Kohle, Wasser und Luft", wie der bekannte Kunststoffchemiker Victor Yarsley 1941 sagte – ihn für die Militärmaschine unerlässlich. Ein Popular Mechanics-Artikel von 1943 beschreibt die Visiere und Zielfernrohre der Truppen, die Mörsergranatenzünder und Flugzeugdächer – alles aus diesem neuem Kunststoff. Die militärischen Einheiten, so wird berichtet, hätten sogar damit begonnen, Kunststoffsignalhörner zu benutzen. Die US-Kunststoffproduktion hat sich zwischen 1939 und 1945 von 97.000 Tonnen auf 371.000 Tonnen mehr als verdreifacht. Nach dem Krieg teilten Chemie- und Erdölriesen den Markt zwischen sich auf. DuPont, Monsanto, Mobil und Exxon kauften oder entwickelten Kunststoffproduktionsanlagen. Das war vor allem logistisch sinnvoll. All diese Unternehmen lieferten bereits den Rohstoff für Kunststoffe, Phenol und Naphtha, beides Nebenprodukte aus ihren bestehenden Erdölbetrieben. Durch die Entwicklung neuer Kunststoffprodukte -– wie z.B. die Erfindung von Styropor durch Dow in den 1940er Jahren oder die von Kunststofffolien durch Mobil – schufen diese Unternehmen effektiv neue Märkte für ihr Öl


und Gas. „Die Entwicklung der petrochemischen Industrie ist wahrscheinlich der größte Einzelfaktor, der zum Wachstum der Kunststoffindustrie beiträgt“, schrieb ein Wissenschaftler der National Science Agency Australiens 1988.

Ein Material ersetzt alle In den Jahrzehnten des rasanten Wirtschaftswachstums nach dem Krieg begann das Plastik seinen unaufhaltsamen Aufstieg, der wiederum Baumwolle, Glas und Pappe als Material der Wahl für Konsumgüter verdrängen sollte. In den frühen 1950er Jahren wurde eine dünne Kunststoffverpackung eingeführt, die Papier und Gewebe zum Schutz von Konsumgütern und zur chemischen Reinigung ersetzte. Bis zum Ende des Jahrzehnts meldete DuPont mehr als eine Milliarde verkaufte Kunststoffplanen an den Einzelhandel. Gleichzeitig gelangte Kunststoff in Form von Latexfarbe und Polystyrol-Isolierungen in Millionen von Wohnungen, ein enormer Fortschritt im Vergleich zu stechender Ölfarbe und teuren Steinwolle- oder Holzfaserplatten. Bald war Plastik überall, sogar im Weltraum. Die Flagge, die Neil Armstrong 1969 auf den Mond pflanzte, bestand aus Nylon. Im folgenden Jahr begannen Coke und Pepsi, ihre Glasflaschen durch Kunststoffversionen von Monsanto Chemical und Standard Oil zu ersetzen. „Die klassische Hierarchie der Substanzen ist passé: Ein einziger Stoff ersetzt alle", analysierte der Philosoph Roland Barthes 1972. Aber Kunststoff hat nicht nur den Platz vorhandener Materialien eingenommen – und die Welt ansonsten unverändert gelassen. Seine einzigartigen Eigenschaften – formbarer, verarbeitbarer, billiger und leichter als die ersetzten Materialien zu sein – trugen dazu bei, den Trend der Weltwirtschaft zum Wegwerfkonsum anzufeuern. „Unsere enorm produktive Wirtschaft verlangt, dass wir den Konsum zu unserer Lebensweise machen“, schrieb der Ökonom Victor Lebow 1955. „Wir brauchen Dinge, die in immer schnellerem Tempo verbraucht, verbrannt, abgenutzt, ersetzt und entsorgt werden.“ Kunststoff war der perfekte Beschleuniger für diese radikale Veränderung, einfach weil er so billig und leicht zu entsorgen war. Nur ein Jahr zuvor, 1954, wurde Lloyd Stouffer, Redakteur der Fachzeitschrift Modern Plastics, in der Presse verspottet, als er auf einer Branchenkonferenz sagte: „Die Zukunft des Kunststoffs liegt im Papierkorb“. 1963 sprach er auf der gleichen Konferenz, diesmal ohne jeden Widerspruch: „Man füllt die Mülltonnen, die Müllhalden und die Verbrennungsanlagen mit Milliarden von Kunststoffflaschen, Kunststoffbechern, Kunststoffschläuchen, Blistern und Schutzfolien, Plastiktüten und Blechverpackungen“, jubilierte er. „Endlich ist der Tag gekommen, an dem niemand mehr die Plastikverpackung für zu gut hält, um sie wegzuwerfen. Was für ein Glück!“ Kunststoff bedeutete Gewinn. Wie ein Forscher des Midwest Research Institute 1969 schrieb, „ist die starke Triebkraft für die Entwicklung des Wegwerfbehälter-Marktes die Tatsache, dass jede aus dem Markt verdrängte Mehrwegflasche den Verkauf von 20 nicht wiederverwertbaren bedeutet“. 1965 berichtete die Gesellschaft der Kunststoffindustrie, dass Kunststoffe im 13. Jahr in Folge ein Rekordwachstum hingelegt hätten.


Die sozialen Kosten sind enorm Man wirft heute weg, was man früher noch aufgehoben hätte Foto: China Photos/Getty Images Aber all das bedeutete eben auch: Müll. In den USA hatten Mehrwegverpackungen wie z.B. Glasflaschen vor 1950 eine Rücklaufquote von fast 96 Prozent. In den 1970er Jahren sank die Quote auf unter 5 Prozent. Das bedeutete, dass eine bis dato unvorstellbare Anzahl von Gegenständen auf Deponien entsorgt wurde. 1969 behauptete Rolf Eliassen, wissenschaftlicher Berater des Weißen Hauses, auf einer EPA-Konferenz hinsichtlich des wachsenden Abfallproblems, „die sozialen Kosten für die Sammlung, Verarbeitung und Entsorgung dieser unverwüstlichen Gegenstände sind enorm“. Was folgte, war ein Backlash gegen die Einwegkultur im Allgemeinen und den Kunststoff im Speziellen – also nichts anderes als das, was wir heute auch erleben. 1969 berichtete die New York Times, dass sich in den Großstädten des Landes eine Lawine aus Abfall auftürme, die das Zeug hätte, nicht nur eh schon bestehende Umweltprobleme zu verstärken, sonder zum schlimmsten Umweltproblem jener Zeit zu werden. 1970, zwei Monate vor dem ersten „Tag der Erde“, beklagte Richard Nixon „neue Verpackungsmethoden aus Materialien, die sich nicht abbauen lassen“, und beklagte, dass „man heute oft wegwerfen, was man früher noch aufgehoben hätte“. New York City führte 1971 eine Steuer auf Kunststoffflaschen ein, der Kongress diskutierte 1973 ein Verbot aller Einwegbehälter und der Bundesstaat Hawaii verbot 1977 Kunststoffflaschen vollständig. Ein epischer Kampf gegen Plastik hatte begonnen, und es schien so, als könnte man ihn gewinnen. Von Anfang an kämpfte die Branche mit harten Bandagen gegen alle Gesetzesvorlagen. Die New Yorker Plastikflaschensteuer wurde vom Obersten Gerichtshof des Bundesstaates noch im selben Jahr, in dem sie eingeführt wurde, nach einer Klage der Society for the Plastics Industry wegen unfairer Behandlung aufgehoben. Hawaiis Plastikflaschenverbot wurde 1979 von einem Bezirksgericht aufgehoben, nachdem eine ähnliche Klage eines Getränkeunternehmens eingereicht worden war. Und ein Verbot durch den US-Kongress schaffte es nie ans Licht, nachdem Lobbyisten behauptet hatten, es würde Arbeitsplätze vernichten.

Die Verantwortung wird auf die Verbraucher abgewälzt Nachdem diese Bedrohungen durch die Legislative erfolgreich abgewehrt wurde, verfolgte ein loser Zusammenschluss von Öl- und Chemieunternehmen sowie Getränke- und Verpackungsherstellern eine zweigleisige Strategie, die Antiplastikressentiments für eine Generation erfolgreich eindämmen sollte. Der eine Teil der Strategie bestand darin, die Verantwortung für Müll und Abfall von den Unternehmen auf die Verbraucher zu verlagern. Anstatt die Unternehmen zu beschuldigen, die Einwegverpackungen gefördert und dabei Millionen verdient hatten, argumentierten dieselben Unternehmen, dass unverantwortliche


Konsumenten das eigentliche Problem seien. Dieses Argument wurde durch einen Leitartikel aus dem Jahr 1965 in einer US-amerikanischen Fachzeitschrift mit der Überschrift „Guns Don't Kill People“ untermauert, der „die Müllmessys, die unsere Landschaft verschandeln“ und nicht die Hersteller selbst verantwortlich für die Abfallberge machte. Um diese Botschaft unter die Leute zu bringen, finanzierten Unternehmen, die sich mit Kunststoffen und anderen Einwegverpackungen verdingten, gemeinnützige Organisationen, die die Verantwortung der Verbraucher für den Müll in den Mittelpunkt stellten. Eine dieser Gruppen, Keep America Beautiful (KAB), die 1953 gegründet und von Unternehmen wie CocaCola, Pepsi, Dow Chemical und Mobil finanziert wurde, lancierte Hunderte von Anzeigen mit der gewünschten Stoßrichtung. „Menschen haben damit angefangen, die Umwelt zu verschmutzen. Menschen können auch wieder damit aufhören“, so ließ die Kampagne zum Tag der Erde 1971 wissen. Des Weiteren beauftragte KAB lokale Bürger- und Gemeindegruppen, die Aufräumarbeiten organisierten und sich anschickten, die so genannte „nationale Schande“ des Abfalls auszumerzen. Diese Arbeit war verdienstvoll, keine Frage, aber Mitte der 1970er Jahre führten die engen Branchenverflechtungen dazu, dass Umweltgruppen wie der Sierra Club, die Izaak Walton League und sogar die US-Umweltschutzbehörde besorgt ihre beratenden Funktionen für die KAB niederlegten. 1976 berichteten Zeitungen, dass Russell Train, der Chef der USUmweltschutzbehörde (EPA), ein wütendes Memo verbreitete, in dem unter anderem behauptet wurde, dass die Geldgeber von KAB aktiv daran arbeiteten, Anti-Schmutz-Gesetze zu sabotieren. Das Framing von Verschmutzung als ganz persönlichem Scheitern war bemerkenswert erfolgreich. 1988, in dem Jahr, in dem die globale Kunststoffproduktion mit Stahl gleichzog, fing Margaret Thatcher, die im St. James Park Müll für ein Fotoshooting einsammelte, den Ton perfekt ein. „Das ist nicht die Schuld der Regierung“, gab sie Reportern zu Protokoll. „Es ist die Schuld der Menschen, die Müll wissentlich oder gedankenlos wegwerfen." Bemerkenswert war, dass die, die Plastik überhaupt erst hergestellt oder verkauft hatten, von ihrer Anklage völlig ausgenommen waren.

Recycling als Allheilmittel „Die Zukunft des Kunststoffrecyclings steht immer noch völlig in den Sternen“ Foto: Spencer Platt/Getty Images Der zweite Teil der Strategie, mit der die Branche der Öffentlichkeit die Sorge hinsichtlich der Umweltverschmutzung durch Plastikmüll nehmen wollte, bestand darin, sich für eine relativ neue Idee stark zu machen: das Haushaltsrecycling. In den 1970er Jahren prüften Umweltgruppen und die EPA, ob man Recycling – ein altbekanntes Konzept für relativ große


Gegenstände wie z.B. Autos, Maschinen oder Metallschrott – bis auf die Gemeindeebene ausgedehnen könnte, um das wachsende Problem der Konsumabfälle in den Griff zu bekommen. Die Verpackungs- und Getränkeindustrie hatte schon früh darauf gesetzt, mit Hilfe von Recycling die eigenen Produkte von Müllhalden fernzuhalten. Bevor Kunststoffflaschen ihren Siegeszug antraten, finanzierte die Coca-Cola Bottling Company 1971 in New York City einige der weltweit ersten Depots für das Recycling von Haushaltsabfällen, darunter vor allem Glas und Aluminium. Ähnlich verhält sich die Kunststoffindustrie, die natürlich öffentlichkeitswirksam das Recycling-Potenzial über den grünen Klee lobt. 1988 gründete die Society of the Plastics Industry Trade Association das Council for Solid Waste Solutions zur Förderung des Kunststoffrecyclings in Städten und behauptete, bis 1995 könnten 25 Prozent der Kunststoffflaschen recycelt werden. 1989 wiederum gründeten Amoco (ehemals Standard Oil), Mobil und Dow die National Polystyrene Recycling Company, die das gleiche Ziel von 25 Prozent, ebenfalls bis 1995, aber für Lebensmittelverpackungen als Ziel ausgab. Eine MobilAnzeige, die in diesen Jahren im Time Magazine veröffentlicht wurde, stellte die Behauptung auf, Polystyrol-Lebensmittelverpackungen seien „der Sündenbock und nicht das Problem“ der Müllkrise - die Lösung hingegen sei einfach „mehr Recycling“. 1990 behauptete eine weitere Industriegruppe, das American Plastics Council, dass Kunststoff bis 2000 „das am häufigsten recycelte Material“ sein würde.

Plastik lässt sich kaum recyclen Das Problem mit diesen rosigen Versprechen war, dass Kunststoff eines der sich am schlechtesten für Recycling eignenden Materialien ist. Glas, Stahl und Aluminium können fast unendlich oft eingeschmolzen und wieder in Form gebracht werden, um neue Dinge in der gleichen Qualität des Ausgangserzeugnisses herzustellen. Im Gegensatz dazu wird Kunststoff bei jeder Wiederverwertung deutlich zersetzt. Eine Kunststoffflasche kann nicht recycelt werden, um eine Kunststoffflasche von gleicher Qualität herzustellen. Stattdessen wird recycelter Kunststoff anderen Produkten – zu Bekleidungsfasern oder Latten für Möbel, die dann möglicherweise als Straßenfüllmaterial oder Kunststoffisolierung verwendet werden, von denen wiederum nichts weiter recycelbar ist. Jede Stufe des Plastik-Recycling ist im Grunde ein weiterer Schritt Richtung Deponie oder Meer. „Die Zukunft des Kunststoffrecyclings steht immer noch völlig in den Sternen“, sagte Robert Ham, ein Ingenieur an der University of Wisconsin, 1992 und verwies nicht ganz zu Unrecht auf die Grenzen, an die Plastik stößt, wenn es um Wiederverwertung geht. Für Unternehmen, die profitträchtige Materialien wie Aluminium wiederverwerteten, war Recycling von Kunststoffen deshalb von marginaler wirtschaftlicher Bedeutung. In den 1980er Jahren, als sich herausstellte, dass mit Kunststoffrecycling kein wirtschaftlicher Boom zu machen war, trat der öffentliche Sektor auf den Plan. Das Recycling wurde ab da


weitestgehend staatlich finanziert und Plastik zusammen mit dem Hausmüll abtransportiert – während die Industrie einfach immer mehr Plastik auspumpte. Wie der USKongressabgeordnete Paul B. Henry 1992 in einer Anhörung zum Thema Containerrecycling sagte, gibt die Kunststoffindustrie vor, der „große Verfechter des Recyclings zu sein“, während „die Recyclingprogramme vor Ort, also die Müllabfuhr, im Grunde ausschließlich staatlich subventioniert werden“. Mit anderen Worten: die Regierungen durften die Rechnung für die großspurigen Versprechen der Industrie zahlen. Und das Volk war glücklich – solange nur jemand den Müll abholt. Bis heute bezeichnen Umweltaktivisten deshalb das haushaltsbasierte Recycling als „Wish-Cycling“ und gelbe Tonnen als „Zauberkisten“, die zwar das schlechte Gewissen der Menschen erleichtern aber nicht wirklich etwas bringen. In den vergangenen 20 Jahren ist die globale Kunststoffproduktion noch einmal explodiert – von rund 160 Mio. Tonnen im Jahr 1995 auf 340 Mio. Tonnen heute. Die Recyclingquoten sind immer noch niedrig: So werden in den USA weniger als 10 Prozent aller Kunststoffe jährlich recycelt. Selbst wenn jetzt die Recyclingraten auf wundersame Weise steigen würden, ist die Wiederverwertbarkeit von Kunststoff nach wie vor begrenzt, so dass sich an der Nachfrage nach neuem Kunststoff nicht viel ändern dürfte. Roland Geyer, ein Industrieökologe an der University of California, dessen Bericht Production, Use and Fate of All Plastics Ever Made aus dem Jahr 2017 zu einer wegweisenden Referenz für die amerikanische und europäische Politik geworden ist, sagt, dass er „inzwischen davon überzeugt ist, dass Recycling allein nicht ausreicht, um die weltweiten Massen von Kunststoff signifikant zu reduzieren". Und selbst wenn die Begeisterung der Öffentlichkeit für den Kampf gegen Plastik zum Teil von dem Gefühl getragen wird, dass es sich um ein lösbareres Problem als das des Klimawandels handelt, sind die beiden Themen enger miteinander verbunden, als sich der ein oder andere eingestehen mag. Sieben der zehn größten Kunststoffproduzenten sind immer noch Öl- und Gasunternehmen. Solange fossile Brennstoffe gefördert werden, wird es ebenfalls einen großen Anreiz geben, Kunststoffe herzustellen. Ein Bericht des Weltwirtschaftsforums prognostizierte, dass bis 2050 20 Prozent des weltweit geförderten Öls in die Kunststoffherstellung fließen würden. „Letztendlich ist Plastikmüll der sichtbare und greifbare Teil des von Menschen verursachten globalen Wandels", schrieben die Wissenschaftler Johanna Kramm und Martin Wagner in einem aktuellen Beitrag. „Es gibt durchaus eine Chance, das Ding nicht gegen die Wand zu fahren.“ Foto: David Mirzoeff/Greenpeace Das ist das Plastik-Paradox: Zwar kennen wir jetzt das Ausmaß des Problems und versuchen, dementsprechend zu handeln, aber je mehr wir tun, desto mehr scheint das Problem mit dem Plastik genauso unlösbar wie alle anderen Umweltprobleme zu sein, die wir nicht in den Griff kriegen. Und wie immer stoßen wir auf die gleichen Hindernisse: entfesselte Märkte, die Globalisierung und unseren eigenen Lebensstil.


Und trotzdem wollen die Leute es immer noch mit Plastik aufnehmen. Und das sollten sie auch. Trotz aller Schwierigkeiten hat sich die Anti-Plastik-Bewegung zur vielleicht erfolgreichsten weltweiten Umweltkampagne im neuen Jahrtausend entwickelt. Wenn die Regierungen an ihren Verpflichtungen festhalten und die Bewegung ihre Dynamik beibehält, wird sie auch Wirkung zeigen. Für Steve Zinger, einen Chemieindustrie-Analysten bei der USFirma Wood Mackenzie, ist das eine tolle Sache. "Besonders in diesem Jahr ist Ablehnung von Plastik bei Verbrauchern gestiegen. Die Unternehmen müssen ihre Geschäftsmodelle an die neuen Gegebenheiten, bereits bestehende und kommende Kunststoffverbote anpassen." Seiner Meinung nach werden auch Mineralölerzeuger einen Nachfrageeinbruch erleiden müssen. Das ist die andere, positive Seite des Plastik-Paradox. Wenn Kunststoff ein Mikrokosmos all unserer anderen Umweltprobleme ist, dann – folgt man dieser Logik – liegen in diesem Mikrokosmos auch die Lösungen. In nur wenigen Jahren haben wissenschaftliche Erkenntnisse über die durch Kunststoffe verursachten Umweltschäden Menschen überall auf der Welt dazu veranlasst, sich zu organisieren, Regierungen zu mehr Regulierung gedrängt – und sogar Unternehmen aus der Ölindustrie zum Einlenken gebracht. Weil Kunden sich weniger Verpackungen im Supermarkt wünschen, prognostiziert BP, dass man bis 2040 2 Mio. Barrel Öl pro Tag weniger fördern wird. Unsere Hartnäckigkeit wird sich bezahlt machen. Im viel größeren Kampf gegen den Klimawandel könnte der neue Umgang mit Plastik zu einem kleinen, aber entscheidenden Sieg werden, einer Blaupause für die Zukunft. Das bedeutet aber auch, dass man sich der Frage stellen muss, wie die Probleme miteinander zusammenhängen. Man muss endlich einsehen, dass Kunststoff nicht nur ein isoliertes Problem von vielen ist, das man einfach so aus seinem Leben verbannen kann, sondern dass es sich dabei um das sichtbarste Ergebnis eines halben Jahrhunderts ungebremsten Konsums handelt. Die Herausforderungen sind riesig. Und trotzdem ist Richard Thompson, eben jener Ozeanograph, der den Begriff Mikroplastik prägte, optimistisch: „Noch nie waren sich Wissenschaft, Wirtschaft und Regierungen weltweit so einig. Es gibt also durchaus eine Chance, das Ding nicht gegen die Wand zu fahren.“ Stephen Buranyi lebt in London, schreibt für den Guardian und beschäftigt sich als Wissenschaftler mit Immunbiologie


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