Lämmer und Wölfe der neuen Weltordnung heise.de/tp/artikel/15/15726/1.html
Niels Werber 05.10.2003
Jacques Derrida über den 11. September, die USA und Schurkenstaaten Noam Chomsky war einer der schnellsten. Sein Buch 911 besteht größtenteils aus Interviews, die er noch im September 2001 gegeben hat. Die Pointe seiner "Reflexionen" über die Attentate besteht darin, erstens Terrorismus ganz in Übereinkunft ("exactly in the sense") mit offiziellen Regierungsdokumenten zu definieren als "der kalkulierte Einsatz von Gewalt, um Ziele zu erreichen, die ihrem Wesen nach politisch, religiös oder ideologisch sind". Zweitens wendet er dann diese Definition auf die USAußenpolitik der letzten drei Jahrezehnte an, um zu dem Schluss zu kommen, "dass die USA selbst ein führender Terrorstaat sind". Der von Bush deklarierte "war against terror" sei tatsächlichen ein Terrorkrieg, der auf beiden Seiten: Staaten und Netzwerken ohne Rücksicht auf Völker und Menschenrecht geführt werde. Der Unterschied, den mancher noch zwischen Al Qaida und den USA, zwischen Bin Laden und Bush ziehen mag, schwindet hier bis zur Unkenntlichkeit. Der versierte Linguist Chomsky benötigt nur ein paar Seiten, um nachzuweisen, dass die Terroristen im Weißen Haus sitzen und die USA ein Schurkenstaat sind.
Die USA: ein Schurkenstaat Der perverseste und gewalttätigste, der destruktivste der rogue states das wären also die Vereinigten Staaten und gelegentlich ihre Verbündeten. Die Masse der Beweisindizien ist beeindruckend. Die USA und andere "hegemoniale Staaten" erheben Vorwürfe "gegen sogenannte Schurkenstaaten", um dann gegen sie "zu Felde zu ziehen, ohne sich sonderlich um das Völkerrecht zu kümmern." Um beliebig Kriege zu führen, die sich gelegentlich auch Intervention, Prävention oder Polizeiaktion nennen, wird dem Feind zuerst das Schurkische aus "strategischen Motiven zugeschrieben", dann wird er dafür "bestraft". Die klassische Kriegserklärung, die heute kaum noch eine Rolle spielt, obschon Bomben fallen und Panzer rollen, wird ersetzt von der Attribution des Schurken. Die Eigenschaft "schurkisch" ist eine Auslegung, eine Zuschreibung, die bereits einer gerichtlichen Vorladung gleichkommt, also eigentlich stets eine Denunziation, eine Klage oder Anklage, ein Vorwurf, eine abwertende Beurteilung. Als solche ist sie Ankündigung, Vorbereitung und erster Schritt zur Rechtfertigung einer Sanktion. Der Schurkenstaat muss bestraft, eingedämmt, daran gehindert werden, Schaden anzurichten, notfalls mit der Gewalt des Rechts und dem Recht der Gewalt. Jemanden zum Schurken erklären, um ihn dann zu strafen. Das, was man "dunkel den '11. September' nennt", war eine "eindrucksvoll kalkulierte Medieninszenierung", die den weltweiten Operationen gegen den Schurken vorausging. Die Souveränität des Staates schlägt so um in "Staatsterrorismus", denn die USA begehen am sog. Schurken "Rechtsverletzungen und Rechtsverstöße", weil sie ganz einfach "die Macht dazu haben". Sie verhalten sich als "outlaw", der seine "Macht missbraucht" und "das internationale Recht verletzt", wenn es ihm gerade paßt. Aufgrund ihrer überragenden Atommacht und der Beherrschung des UNSicherheitsrates streben die USA eine "imperiale Hegemonie" an, längst herrschen sie auf der Welt in "faktischer Diktatur". Unentwegt missbrauchen sie ihre Macht und "üben Verrat" an den Grundsätzen der Menschen und Völkerrechte. Wer nach dem Muster einer alten Polemik bei Derrida immer noch an Derridada denkt und von der Dekonstruktion etymologische Spielereien und scholastische Sophismen erwartet, der wird überrascht sein zu hören, dass all diese doch sehr handgreiflichen Statements nicht von Chomsky stammen, sondern aus Jacques Derridas neuestem Buch über Schurken. Derrida hat uns schon im Frühsommer damit frappiert, ein langes und langweiliges Paper über "Die Wiedergeburt Europas" (FAZ vom 31. Mai 2003) einfach zu unterzeichnen und so gleichsam eine Phase der Kollaboration mit Habermas einzuleiten (Vision reloaded: Das spätaufgeklärte Europa