Und genau das war ja auch die geheime Botschaft der Verantwortlichen: “Seht zu, wie ihr selber klar kommt.” Ihr Tod war weder vorherbestimmt noch schicksalhaft. Er ist das Ergebnis einer entsetzlichen Verkettung von Umständen und Reaktionen, die unter den Bedingungen dieses maroden Gebäudes entstanden sind. Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden, um weitere Unglücke verhindern. Lukardis selbst für ihren Tod verantwortlich zu machen oder den Hausmeister, würde bedeuten, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Dass ihr Tod nicht unvermeidlich war, macht ihn um so schmerzhafter für uns. Mit Lukardis ist eine Mutter von drei erwachsenen Kindern gestorben. Sie war stolz auf ihre Kinder. Sie war verständnisvoll und konsequent zugleich. Sie hat sie in Ruhe gelassen, wenn sie es wollten und dennoch gesagt, was ihr nicht gefallen hat. Sie war überzeugt, dass sie ihren Weg machen.[...] Mit Lukardis ist ein Mensch umgekommen, der anderen Menschen zugewandt war. Wo sie war, schuf sie eine frische Atmosphäre, in der Beklemmung keinen Platz hatte. Sie war unbefangen und aufrichtig. Sie mochte das Direkte und Unkomplizierte. Deshalb gehörte sie auch zu den Menschen, die andere durch ihr Lachen und ihre Fröhlichkeit anstecken konnten. Es war angenehm und belebend, mit ihr zusammen zu sein. Daran denken alle, die sie kannten, gerne zurück. Sie war bescheiden und schnörkellos, wollte nie aufdringlich sein. Sie konnte nicht leiden, dass Menschen sich über andere Menschen erheben. Sie mochte Heuchelei, Eitelkeiten und Arroganz nicht. Sie hat sich in Abgrenzung zu dem entwickelt, was ihre Herkunftsfamilie für sie vorgesehen hatte. Lukardis zu Erbach-Fürstenau konnte nicht ertragen, dass Menschen andere Menschen ausgrenzen und diskriminieren, wegen ihrer Herkunft oder wegen ihrer Verhaltensweisen. Typisch ist ein Leserbrief in der Frankfurter Rundschau, der zwei Tage nach ihrem Tode veröffentlicht wurde. Sie drückte darin ihre Abscheu vor einem Artikel aus, in dem die FR bedauerte, Polen, die als Kampftrinker bezeichnet wurden, nicht abschieben zu können. Das bezeichnete sie als rassistisches Gedankengut. Lukardis liebte keine Phrasen. Sie war eine Frau der Tat. Sie wollte verändern und beeinflussen, was sie störte. Das galt in ihrem privaten Leben, wenn sie sich z.B. in einem Geschäft gegen rassistische Äußerungen eines Kunden wandte und damit lebhafte Diskussionen auslöste. Sie war eine Frau der Tat auch in ihrem beruflichen Leben. Sie kämpfte an ihrem Arbeitsplatz engagiert für Verbesserungen. Sie kritisierte häufig das Paktieren der Gewerkschaftsführung mit Kapital und Regierung und die dem entsprechende Untätigkeit, die sozialen Interessen der Arbeitnehmer zu verteidigen, seien sie nun beschäftigt oder arbeitslos. Lukardis lebte in meiner Nachbarschaft. Ich kenne sie über gemeinsame Freunde schon länger. Näher habe ich sie kennen gelernt im Rhein-Main-Bündnis gegen Sozialabbau und Billiglöhne, das sich Ende 2002 gegen das organisierte Lohndumping durch die Hartz-Gesetze gegründet hatte. Lukardis gehörte wie ich auch zu denen, die es gegründet haben. Lukardis trat mit dafür ein, auch gegen den Willen der Gewerkschaftsführung und ohne dass man wissen konnte, wie viele Menschen kommen, eine bundesweite Demonstration gegen Hartz IV am 1.11.2003 in Berlin zu beschließen. Das Rhein-Main-Bündnis hatte daran einen nennenswerten Anteil. Es kamen 100.000 Menschen. Diese Demonstration erzeugte frischen Wind. Sie war eine Demonstration nach dem Geschmack von Lukardis. Lukardis hat an vielen Demonstrationen teilgenommen. Sie hat sich auch in Vereinen wie Klartext e.V. oder pro asyl engagiert, die sich auf verschiedene Weise gegen Rassismus und Ungerechtigkeit wenden. Auch hier zeichnete sie sich dadurch aus, dass sie praktische Beiträge leistete. Was und wo sie etwas tat: Wenn sie etwas zusagte, machte sie es auch. Man konnte sich auf sie verlassen. Als Mensch, der dem Leben zugewandt war, trieb sie auch Sport, sie wanderte, reiste und feierte, sie ging spontan ins Kino oder in Konzerte und hielt gerne ein Schwätzchen. Lukardis wuchs im Odenwald auf. Sie verließ ihr Elternhaus nach dem Abitur, wurde Krankenschwester und arbeitete seit 18 Jahren als Sekretärin am Institut für Grundschulpädagogik der Universität Frankfurt. Sie wurde 52 Jahre alt. Lukardis fehlt uns. Sie fehlt als Mutter, als Freundin, als Kollegin und als Mitstreiterin für eine Welt, in der sich Menschen nicht mehr über andere Menschen erheben können. Lukardis ist tot. Aber sie lebt weiter mit