Natascha Küderli | collagiert / collaged

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collagiert collaged

Natascha KĂźderli


„ Eine Stadt bedeutet für mich lebende Struktur. “

An der Kreuzung, Neue Wege 2013

Zwei Fenster 2008

“ A city is for me a living structure. ”

Der Katalog wurde gefördert von

The catalog was sponsored by


thema theme

Natascha KĂźderli 1


Das Taxi wartet 2014

Maon 2015

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„So wie wir aus Körper, Seele und Geist bestehen, so besitzt auch eine Stadt einen Körper, eine Seele und eine geistige Atmosphäre.“ Bereits während ihres Architekturstudiums von 1992 - 1996 interessierte sich Natascha Küderli besonders für das architektonische Zusammenspiel von Gebäuden im urbanen Raum. Ihre Masterarbeit widmete sie zunächst der Stadt Amsterdam und entdeckte bei der Erforschung historischer Stadtpläne in den Grundrissen Analogien zu Formen menschlicher Körper. Vergleiche dieser Art lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. So führt der Ingenieur und Architekturtheoretiker Vitruv in seinen Schriften De architectura libri decem 1 das Maß der Architektur auf den menschlichen Körper zurück und überträgt diesen anthropometrischen Ansatz auch auf Stadtgrundrisse. Seine Theorie, die für Architekten und Stadtplaner bis in die

zusammenspiel interplay “As we are made of body, soul and spirit, a city also has a body, a soul and a spiritual atmosphere.“ Natascha Küderli already showed great interest in the interaction of buildings within urban space during her architectural studies ( 1992 - 1996 ). At first her master thesis focused on the city of Amsterdam. While exploring historical maps Küderli discovered in the city’s layout analogies with forms of the human body. These types of comparison can be traced back to antiquity where the civil engineer and architectural theorist Vitruvius ascribes in his work De architectura libri decem 1 the architectural measures to the human body, applying this anthropometric approach to the ground maps of cities. His theory, formative for architects and urban planners up to the Renaissance,

Oberbaumbrücke 2011 1 Marcus Vitruvius Pollio ( um 84 v. Chr. - um 27 v. Chr.), ein römischer Militärtechniker

und Ingenieur, verfasste De architectura libri decem (Zehn Bücher über die Baukunst), das einzige bis heute erhalten gebliebene Werk der antiken Architekturtheorie.

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Marcus Vitruvius Pollio ( c. 84 BC. - ca. 27 BC ) Roman military engineer and civil engineer, wrote De architectura libri decem ( Ten Books on Architecture ), the only treatise on architecture that survived from antiquity.


Renaissance maßgeblich war, bezieht sich bei der Suche nach den idealen Proportionen von Bauwerken auf das Vorbild des nackten männlichen Körpers. Im Widerspruch dazu steht das hierarchisch geprägte Bild des „christlichen Körpers“, bei dem die Glieder von Kopf und Herz dominiert sind. Erst in der Renaissance, als die Städte sich zu weit vernetzten Handelszentren entwickelten und mit der Entdeckung der physiologischen Grundlagen des Blutkreislaufes und des Herzens als Motor des Lebens durch William Harvey 2 im 17. Jahrhundert, etablierte sich die Vorstellung von der Stadt als einem lebendigen Organismus. Bis heute wird das Netz aus Verkehrs- und Transportwegen der Städte mit den Venen und Arterien des menschlichen pulsierenden Körpers verglichen. Dabei führte die zunehmende Mobilität nicht nur zu einer gesteigerten Geschwindigkeit des Alltagslebens, sondern auch zu städteplanerischen Konzepten, die besonders darauf ausgerichtet sind, die individuelle Mobilität der

finds the ideal proportions of buildings in the paragon of the naked male body. Contrary to this is the hierarchical image of the ‘ Christian body ’ where head and heart lord over the limbs. The idea of the city as living organism, however, did not take root until the Renaissance when cities developed into widely connected hubs of trade and with the discovery of the physiological principles of the cardiovascular system as well as the heart as the motor of life by William Harvey 2 in the 17 th century. Till this day the urban network of traffic and transport routes is often compared to the veins and arteries of the human body. The increasing mobility, however, did not only lead to an acceleration of everyday life but also to planning concepts especially geared to enhance people’s individual mobility. While city

2 William Harvey Exercitatio Anatomica de Motu Cordis et Sanguinis in Animalibus

Frankfurt a. Main 1628

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east meets west 2011

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Menschen zu fördern. Waren Stadtplätze zuvor etwa als Versammlungsstätten gedacht, werden sie nun von Straßen zerschnitten oder fungieren als zentrale Verkehrsknotenpunkte. Richard Sennet beschreibt in seinem Buch Fleisch und Stein 3 den Wandel des städtischen Raums seit dem 19. Jahrhundert als Mittel zum Zweck reiner Bewegung. Wie sich auch die Methoden der Rezeption einer Großstadt ändern, zeigt Natascha Küderli in ihren Fotound Filmcollagen, mit denen sie über mehrere Jahre hinweg an einem Porträt der Stadt Berlin gearbeitet hat.

squares used to be intended as meeting places, they are now often dissected by roads or serve as central traffic junctions. In his book Flesh and Stone 3 Richard Sennett describes the change of urban space since the 19 th century as a means for the purpose of mere movement. Natascha Küderli illustrates with her photo and film collages in which she portrayed the city of Berlin for several years, how the methods of the reception of a city can change.

Bergspitzen 2008

3 Richard Sennett Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation.

Berlin 1997. Richard Sennett: Flesh and Stone. The Body and the City in Western Civilization. New York / London 1994

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Auf Empfang 3 2013


Engleiste Gleise 201 1

Kingscanion 1 2001

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Oberirdische Bewegung 2012

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Zwei Damen 2013

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Die BVG hängt an einem schönen Ort 2012

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The best is yet to come 2015

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Blauer Asphlat 2013

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Auf hรถheren Wegen 2010

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„ Ich schneide die Luft ab, damit ich den Blick habe “ Die Collage als Methode der visuellen Beschreibung eines Stadtkörpers Wie porträtiert man nun eine Stadt, einen lebendigen, pulsierenden, atmenden Organismus, in dem man sich selbst bewegt, in dem man selbst Teil des komplexen und vielschichtigen Gefüges ist ? Welche Perspektive nimmt man ein, wie geht man ohne Vorurteile über vorgefasste Zuschreibungen und allgemein bekannte Ansichten, wie selbst über den eigenen beschränkten Erfahrungshorizont hinaus ? Anders als bei der klassischen Porträtfotografie ist hier das Gegenüber weder eindeutig zu orten noch zu umreißen. Je nach Standort und Blickperspektive der Fotografin präsentiert sich das ‚ Modell ’ in unzähligen, immer wieder neuen Ansichten, in immer wieder neuem Licht und einzigartigen Momenten und zufälligen Begegnungen. Zudem befindet sich gerade Berlin im Prozess permanenter Veränderung.

collagiert collaged “ I cut off the air to be able to gaze ” Collage as Visual Description of Urban Bodies How do you portray a city – this living, pulsating, breathing organism in which you move and are part of, this complex, multilayered structure ? Which perspective to take, how to go beyond preconceived attributions and common views, beyond one’s own limited horizon ? In contrast to classical portrait photography the counterpart here can neither be clearly located nor outlined. Depending on location and perspective of the photographer the city as the ‘ model ’ presents itself in countless, consistently new aspects, in a new light, unique moments and incidental encounters. Especially the city of Berlin is in a process of constant change.

Gelb fährt um die Kurve 2012

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Kreuzungspunkt Berlin 2010

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Der Bewegungsfluss der Stadt als filmische Collage Eine Bootsfahrt auf einem der Wasserwege durch die Stadt lieferte den entscheidenden Impuls für Natascha Küderlis mehrjähriges Projekt, die Stadt Berlin zu porträtieren. In langsam gleichmäßiger Bewegung zieht die Innenstadt wie in einem Film am Auge der Passagiere vorbei. Der Stillstand des eigenen Körpers, der - jenseits des hektischen Treibens des Straßenverkehrs - vom Boot wie durch eine Ader durch den Stadtkörper befördert wird, erlaubt eine besonders konzentrierte Sicht auf die Gebäude aus ungewohnter Perspektive. Ohne die Möglichkeit inne zu halten, zeigt sich die Umgebung im Vorbeigehen, um dem Blick stets langsam wieder zu entgleiten. Mit der Fahrt des Bootes auf dem Wasser ändern sich immer wieder die Blickperspektiven auf die Brücken, auf den Fluss und auf die Gebäudegruppen, die sich in Kurven in das Blickfeld schieben, fast als würden sie sich in den Weg stellen. Um diese ‚Augen-Blicke’ während der Fahrt festzuhalten, fotografiert

berlin berlin The Constant Flow of Berlin as Cinematic Collage A boating trip on one of the waterways across Berlin provided Natascha Küderli with the crucial impulse for the project to portray the city over several years. In slow, continuous motion the city centre drifts past the eyes of the passenger like in a film. The idleness of one’s own body, transported on the boat beyond the hectic activities of road traffic as if in a vein of the city’s body, affords a highly concentrated view on the buildings from an unusual perspective. With no pause to think, the surroundings reveal themselves in passing by, slowly slipping away. From the boat the perspective on bridges and river constantly changes and clusters of buildings slide into view as if intending to obstruct. To hold on to these short moments, these blinks of an eye, Natascha Küderli takes pictures from the boat in irregular, intuitively chosen intervals. In a second step these snapshots get developed and printed onto photographic paper in postcard size. Küderli does not choose the pictures by looking for a

Große Bootsfahrt I 201 1


Natascha Küderli vom Boot aus in unregelmäßigen, intuitiv gewählten Abständen. In einem zweiten Schritt werden die Filme mit den fotografischen Momentaufnahmen entwickelt und auf Fotopapier in Postkartenformat abgezogen. Bei der Auswahl der Fotos geht es ihr nicht um die Suche nach den besonders gelungenen oder technisch vollkommenen Einzelansichten, die zu Bildsymbolen der Stadt werden könnten. Die reiche Sammlung der Momentaufnahmen bildet das Ausgangsmaterial für die Collagen, in denen sich die Vielzahl der Eindrücke zu dynamischen Gesamtbildern verdichten. In Handarbeit schneidet die Künstlerin jeweils den Himmel aus den Stadtsilhouetten und montiert die Bildfragmente in eine rhythmische Abfolge in vertikaler Schichtung übereinander. Selbst wenn es in der seriellen Reihung der Bilder nicht um eine exakte Dokumentation der Bootsfahrt und des Streckenverlaufs geht, entfaltet sich im Rhythmus der Bilder doch Bewegung, als sei die Geschwindigkeit des Bootes noch spürbar. Dabei fügen sich die persönlichen

particularly felicitous or technically perfect view which could become iconic for the city. The huge collection of snapshots are rather used as source material for the collages in which the myriads of impressions develop into dynamic overall images. The artist cuts the sky out of the city silhouettes and assembles the fragments into a rhythmical sequence by layering them vertically. Even though the serial arrangement is not about documenting the boating trip or the course of the journey, nevertheless the rhythm of the images leads to movement. One can almost sense the pace of the boat. The personal view of the artist in retrospect combines with formal criteria which partly are discovered only while mounting, merging into a new sequence – water surface in motion alternates with static buildings; massive and sleek walls stand next to transparent crystalline structures, trees and scaffoldings; light streams through openings in ruins right next to zones of darkness. The sky might be missing in the fragments

Kein Anfang und kein Ende 2009


Mit der Zeit geht es aufwärts 201 1

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S-Bahnsteig 2007


Blicke der Künstlerin aus der Erinnerung und nach formalen Kriterien, die sie zum Teil erst während des Montierens entdeckt, zu einem neuen Ablauf zusammen: Bewegte Wasserflächen wechseln sich ab mit statischen Gebäuden, Einschnitte aus massiven, glatten Mauern neben transparenten, gläsernen Strukturen, Bäumen und Baugerüsten, neben dunklen Zonen strömt Licht durch die Öffnungen im Gemäuer. Auch wenn den Fotofragmenten nun der Himmel fehlt, bildet sich das natürliche Licht auf den Gebäuden ab, strukturiert und komponiert es die architektonischen Räume, lässt die Oberfläche des Wassers glänzen oder erzeugt an dunklen Stellen unfassbare Tiefe. Im Gesamtbild führen die Lichtstimmungen wie in einem Gemälde zu unterschiedlichen Farbzonen, wenn sich der rosa gefärbte Fluss in kräftig kühles kobaltblaues Gewässer wandelt, ohne dass dafür ein logisch nachvollziehbarer Grund oder zeitlicher Ablauf zu erkennen wäre. Dazu kommen die unterschiedlichen Qualitäten der Farbfilme, die mit ihren jeweils eigentümlichen Farbstichen das Ergebnis zusätzlich beeinflussen.

but the natural light is reflected in the buildings, it structures and composes architectural space, illuminates the water's surface or lends dark spots inexplicable depth. In the final images the painting-like mood of the light leads to different colour zones like when the pink tinge of the river transforms into a bold cobalt blue without apparent reason or comprehensible time change. In addition, the colour films add different qualities and their specific tint to the overall impression.

Abends in der Dircksenstrasse 201 1

Begreifen was uns bewegt 2010

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Gerade diese Zufälle inspirieren die Künstlerin im Arbeitsprozess und helfen zuweilen sogar dabei, neue Arbeitsthemen und Methoden der Umsetzung zu finden. Während das Auge dem Fluss des Wassers zu folgen versucht, choreographieren die Brücken wie Akzente oder Haltepunkte den Blick des Bildbetrachters. Erst im Nacheinander der unterschiedlichen ‚Wasserbecken’ entsteht die Struktur und damit wie in Filmsequenzen der Eindruck von Dauer. Bereits hier bildete sich die Idee von Natascha Küderli, das Prinzip der Collage auch auf das Medium Film zu übertragen. Ausgehend von den Collagen als Drehbuch erschien 2017 ihr Experimentalfilm Berlin layers of movement 4.

„ Die Collagen sind auch im Film zu sehen, die eine Art ‚storyboard’ und ein Weg waren, um zu erzählen, was ich sehe.“

Precisely these coincidences inspire Küderli in her work and sometimes even help her to find new topics or methods. While the eye tries to follow the current of the water, bridges choreograph the gaze of the viewer by stressing something in particular or offering a stopping point. Only by following the different 'water basins' one can recognise a structure and thereby – like in film sequences – the effect of continuity. Already then Natasche Küderli had the idea to transfer the principle of collage onto the medium film. Based on the collages her experimental film Berlin – Layers of Movement 4 came out in 2017.

“The collages can also be seen in the film used as a sort of ‘ storyboard ’ and a way to convey what I see.”

U-Bahnfahrt im Tunnel 201 1

4 Natascha Küderli Berlin - Layers of a movement. Eine Stadt in Bewegung.

mehr Seite 49 ff / see also page 49ff

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Von Friedrichstrasse zum HBF 2009

HBF Berlin 2009

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Am Lift vorbei 2010

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Bundestag 2005

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Rot Gelb 201 1

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Twisted Bodies 201 3

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Kudamm Colours 201 0

Berlin Hauptbahnhof 201 0

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Die Komposition surrealer Stadtplastiken/-körper aus der Summe verschiedener Blicke Die Schnittstellen in den Bildern sind häufig so präzise gesetzt, dass der Vorgang des Montierens im Film wie auch in den Bildern in den Hintergrund tritt. So entsteht in den Collagen zuweilen der Eindruck als würde in der Kombination der Blicke und Momentaufnahmen ein Körper, eine Plastik geschaffen, eine ganz neue Welt komponiert werden. Besonders deutlich wird dies in einer Arbeit, deren Fotomaterial während einer Busfahrt durch Berlin entstanden ist. Wieder löst Küderli die Stadtansichten vom Himmel und legt diese von unten nach oben übereinander. Die Anschlüsse werden präzise, doch zuweilen nach rein optischen Kriterien bestimmt. So kann die helle Linie der Siegessäule übergehen in den weißen Mittelstreifen der Straße, ein Auto kann auf dem Dach eines Hochhauses landen oder ein Baum auf der Spitze des Fernsehturms Wurzeln schlagen. Anders als während der Bootsfahrt schlängen sich die Busse auf vielfach verzweigten Wegen durch das unübersichtliche und belebte Straßennetz des Stadtverkehrs.

The Composition of Surreal Urban Sculptures / Bodies as the Sum of Different Views The cut in the images is often so precise that the actual mounting in the film as well as in the pictures fades into the background. This way the collages’ mixture of views and snapshots sometimes seem to create a body, a sculpture or indeed a whole new world. That is particularly apparent in a work whose photographic material originated during a bus ride through Berlin. Again Küderli separated the cityscapes from the sky and arranged those from bottom to top, one above the other. The connections are precise but often follow purely optical criteria. For example, the bright line of the triumphal column passes over into the white centre strip of a road, a car lands on the roof of a skyscraper or a tree puts down roots on top of the TV tower. Different to the boating trip the busses meander through the confusing and busy

Many layers 201 3

Busfahrt 201 1


Die unterschiedlichen Blickwinkel und die chaotische Strecke auf Um- und Nebenwegen führen in der Kombination zu inspirierenden Doppeldeutigkeiten und Widersprüchen, die dem Betrachter Raum für Ablenkung und eigene Erfahrungen geben können. Diese surrealen Momente entstehen in den Collagen Küderlis ohne digitale Nachbearbeitung oder Farbkorrekturen der Bilder, immer werden Farbsprünge, scheinbar unvereinbare Größenunterschiede und Proportionen, selbst ungewöhnliche Unschärfen bewusst in die Bildsprache einbezogen.

unschärfen blurring road system of city traffic. The various angles and the chaotic route with detours and byways lead to inspiring ambiguities and contradictions which give the viewers enough space for diversion and their own experiences. Küderli created these surreal moments in her collages without any digital post-processing or colour corrections of the pictures; in fact she always deliberately includes colour changes, seemingly contradictory differences in size or proportion and even unusual blurring in her images.

Brückengleise 201 1

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Ohne Titel 201 4

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Himmelskette mit Kraftwerk 200 8

Abfahrt 201 1

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Lichtfäden 201 0

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Der ‚Puls‘ als Ornament Die Qualität und Organisation der beobachteten sowie der eigenen Bewegung der Fotografin führte bei den Stadtrecherchen zu Bildern ganz unterschiedlicher Sprache. Wählte die Künstlerin ihre Kameraposition zwischen zwei Gleisen, um gleichzeitig auf die S-Bahn und die Fernzüge zu warten, fügen sich die Einzelaufnahmen in der seriellen Staffelung zu einer völlig abstrakten, geradezu ornamentalen Struktur. Als sei in der schier unendlich fortsetzbaren Wiederholung eine Metapher für den Pulsschlag der Stadt gefunden, zugleich aber die Geschwindigkeit und Bewegung zu einem Muster geordnet, wie um das unübersichtliche Getöse und den unaufhörlichen Trubel der Stadt zu bannen.

The ‘Pulse’ as Ornament The quality and structure of the movements of others as well as the photographer’s own movements led to completely different images during Küderli's trips through the city. When the artist positioned her camera between two rail tracks to wait for the commuter as well as the long-distance trains, the single shots join together in a serial echelon to forge a highly abstract, almost ornamental structure - as if the endless repetition were a metaphor for the pulsating city while at the same time the pace and movements were arranged to form a pattern warding off the confusing roar and constant hubbub.

Auf und über dem Alexanderplatz 201 1


Cool 201 3

Abenddämmerung 201 1

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blink of an eye 201 4

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Mach den Weg frei 201 4

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Auf Reisen (gehen) sitzen 201 2

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Architektur und Verkehr 2005

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Die Schichten der Weite, Gegenbilder der Stadt Von ähnlich suggestiver Wirkung und der Sehnsucht nach Ruhe und Weite leben Natascha Küderlis Bilder des Himmels. Diese Bildgattung entdeckte die Künstlerin eher zufällig beim Anblick der von den Stadtansichten präzise getrennten Himmelsreste, die sie dann 2008 erstmals zu einem Bild montierte. Das Prinzip der Collage dient der Künstlerin hier dazu, ihrer Vorstellung von der Existenz mehrerer, aufeinander folgender Schichten des Himmels Ausdruck zu verleihen. Dabei bleibt die Stadt in den sie umhüllenden Luftschichten noch spürbar. Als würde der architektonische Stadtkörper auch den Raum um sich schaffen und diesen definieren, bilden sich die Silhouetten im Negativ in den Himmelsstreifen ab. Zuweilen betonen noch erkennbare Reste von Baumkronen, dunkle Linien der Schnittkanten zu Fabrikschloten oder Antennen auf den Dächern der Häuser die Anwesenheit der gebauten Stadt. In der Abfolge der Himmelsstreifen mit je

schnittkanten cut edges Layers of Vastness, Counter-Images of the City Natascha Küderli’s pictures of the sky thrive on a similar effect and longing for quietude and vastness. This pictorial genre was a more or less accidental discovery when Küderli saw the cut-off skies lying next to her cityscapes; in 2008 she mounted her first collage of them. Here the collage emphasises her idea of the different, subsequent layers of the sky while the city is still palpable in the atmospheric stratum. As if the architectural body of Berlin creates and defines its own space around itself, the silhouettes project themselves as negatives in the strips of the sky. Sometimes just discernible rests of treetops, dark lines of smokestacks or antennas on rooftops suggest the presence of the city. Seen from afar the

Die Himmel über Berlin II 2008

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unterschiedlicher Lichtstimmung ergibt sich von Ferne gesehen eine abstrakte Bildkomposition mit weichen Farbabstufungen von verdünntem Blau und Rot. Da wo sich die einzelnen Schichten überlagern, generieren sich schwebende Formen, die in ihrer Transparenz immaterielle und vergängliche Stadtfragmente aus Licht und Luft erscheinen lassen, sich aber Kippbildern gleich auch wieder zu Wolken verwandeln können. Einerseits bleiben die Schnittstellen hier deutlich sichtbar und betonen die Flächigkeit des Bildes, doch entsteht in den Überlagerungen von Negativformen, die jeweils von der darunterliegenden Schicht angefüllt und gefärbt werden, der Eindruck unendlicher Tiefe.

schichten layers sequence of the skies with their different light results in an abstract composition with soft colour gradiations of watery blue and red. Where the layers overlap, they generate floating forms which conjure up immaterial and ephemeral urban fragments of light and air that could easily change back to cloud formations – like an optical illusion. On the one hand the cuts are clearly visible and emphasise the flatness of the picture; on the other, however, the overlapping of the negative forms which are coloured and filled by the underlying layers convey an impression of infinite depth.

An der Ampel unter den Linden 201 1

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around the corner 201 0


Aufwärts 201 4

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Die Filmcollage der Künstlerin Natascha Küderli zeigt die vielschichtigen Verkehrsbewegungen der Weltstadt Berlin. U- und S- Bahn, Bus, Boot, Zug, Fahrrad, Flugzeug, Auto und Fußgänger bewegen sich neben-, über-, unter- und miteinander. Sie tun dies im Tunnel, in der Luft, über Gleise, Straßen, Flüsse, Wege und Stege wie in einem eigens choreographierten Tanz.

This film collage by the artist Natascha Küderli shows the many-layered movements of transport that characterise the city of Berlin. Local underground and overground trains as well as buses, boats, railways, bicycles, planes, cars and pedestrians move alongside, above, beneath and with each other. They do this in tunnels, in the air, on rail tracks, roads, rivers, paths and jetties as if they were all participants of a dance choreographed especially for them.

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Natascha Küderli komponiert in ihrem 45 Minuten Filmwerk ein spielerisches Miteinander dieser Bewegungsebenen. Bislang behandelte sie dieses Thema in Form von minutiös geschnittenen, selbst aufgenommenen Fotos, die sie in ihren Arbeiten zusammensetzt. In beiden Collagetechniken – Bild und Film – gelingt es ihr, die Einzigartigkeit von Überlagerung und Gleichzeitigkeit des Verkehrs einer Großstadt wie Berlin zu illustrieren. Dabei zeigt sie nicht nur den scheinbar immerwährenden Trubel, sondern auch die ruhigen Momente, wie die am stillgelegten Flughafen Berlin-Tempelhof mit Menschen auf Rollfeldern.

In her 45-minute film Natascha Küderli composes a playful intertwining of these movements. So far she addressed this subject by using her own photographs which she cuts meticously and then assembles in her photo collages. With both her collage techniques - in pictures and film - she manages to illustrate the unique overlapping and simultaneity of traffic in a large city such as Berlin. Thereby she not only shows Berlin's seemingly everlasting hustle and bustle but also quiet moments like at the city's abandoned airport Tempelhof with people on its former runways.

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Der Film pulsiert im Rhythmus einer Weltstadt. Die verschiedenen Geschwindigkeiten, mit denen man sich durch Tage und N채chte bewegt, sind faszinierend und entspannend zugleich und spiegeln das 채sthetische Empfinden der K체nstlerin.

The film oscillates in the rhythm of a metropolis. The different pace of day and night is at once fascinating as well as relaxing and reflects the aesthetic sense of the artist.

Laufzeit: 45 min. Erh채ltlich bei www.good!movies.de Running time: 45 min. Available at www.good!movies.de

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City person

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In Berlin war Natascha Küderli zu Gast. Ihre Collagen erzählen von ihrer langsamen Bewegung in die Stadt, von ihren Blicken auf die Architektur, von Licht, den Verkehrswegen und dem Nebeneinander unterschiedlichster Geschwindigkeiten und von ‚den Himmeln über Berlin’. Es scheint als hätten die Menschen für Natascha Küderlis Berlin-Recherchen noch keine wesentliche Rolle für den Prozess des Porträtierens gespielt. Sind Personen in den Bildern zu finden, erscheinen sie als Passanten, als Menschenansammlungen oder Einzelfiguren als Statisten. Wurde die Metapher der Stadt als lebendiger, bewegter Organismus, als Raum für Geschwindigkeit bis in die Moderne wegweisend für die Stadtrezeption, konkretisierte Natascha Küderli diese Idee bereits in ihren Studien zur Geschichte von Amsterdam, wenn sie diese Stadt als gebärende Frau beschreibt, die Leben spendet - in biologischem, geistigen und soziologischem Sinne: „ Ich vergleiche manche Städte in

einem bildlichen Sinne mit einer Frau. Eine Stadt empfängt

und sie gebärt – Menschen, Ideen und Umgebungen wie Architektur ( Straßen und Gebäude ) , Institutionen ( Krankenhäuser, Bildung, Kunst und Kultur … ) oder Ökonomie. “ Setzt man jedoch die Stadt mit einer ‚Person’ gleich, so stellt sich für die Künstlerin die Frage nach der ‚Seele’ einer Stadt :

„Eine Stadt hat einen physischen Körper, genau wie wir. Eine Stadt ist ein lebendiger Organismus. Sie wächst, expandiert, verändert sich, wird umgebaut, neugestaltet, neu verbunden und so weiter. Auch wenn Straßen und Häuser keine lebendige Seele besitzen ( wie Verstand, Wille oder Emotionen ), so sind sie doch ständigen Veränderungen ausgesetzt und befinden sich in einer steten Weiterentwicklung durch jene, die eine Seele besitzen, die Menschen. Eine Stadt verändert sich strukturell und architektonisch durch ihre Entwicklung. Architektur und Stadtplanung sind ständig in Bewegung. So wie sich unser Körper also bewegt und verändert, so bewegt, wächst und verändert sich im Physischen auch eine Stadt.“

„Amsterdam hat mir klargemacht, dass ich Städte wie eine Person betrachten darf.“ “ Amsterdam made me realise that I can look at a city like I look at a person.” Natascha Küderli moved through Berlin as a visitor. Her collages tell of her slow movements, her looking at the architecture, they reflect the light, the traffic routes as well as the coexistence of different paces and ‘ the skies above Berlin ’. People did not play a crucial role in the portraying process of this city. They are only present as passers-by, in crowds or as single figures like extras. Natascha Küderli made the modern-age metaphor of the city as living, moving organism and space for acceleration already palpable in her studies of the history of Amsterdam, a city she described as a birth-giving woman – in a biological, cognitive and sociological sense : “ I compare some cities in the

figurative sense to a female person. They conceive and give birth to people, ideas and surroundings like

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architecture ( streets and buildings ), institutions (hospitals, education, creative arts … ) and economy.” However, if you compare a city with a person, the question of the city's soul arises, too : “A city has a physical body, just as

we do. A city is a living organism. It is growing, building, changing, being rebuilt, reconstructed, reconnected and so forth. Although streets and buildings have no living soul ( mind, will and emotions ), they are in constant change as well as in development of and through those who have a soul: people. A city changes in structure and architecture with its development. There is movement in architecture and in city planning. As our bodies move and change, also a city moves, grows and changes physically. “


BMW-Turm 201 8

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Anknüpfend an die Grundlagen für ihre Masterarbeit arbeitet Natascha Küderli aktuell an einem Buch, in dem sie ihre Methoden der Stadtrezeption ausführlich darlegt und auch ihre Idee von der „Seele einer Stadt“ näher bestimmt : „ Eine Stadt ist ein Körper, der viele Seelen

beherbergt. So wie wir eine Seele besitzen, so haben auch Städte eine Seele. Die Seele einer Stadt wird durch die Menschen geprägt, die sie errichtet und bevölkert haben, als auch durch jene, die jetzt in ihr leben und an ihr bauen. Die Seele (Verstand, Wille und Emotionen) ist der Ort, an dem man die Verfassung der Menschen ablesen kann, die in ihr gelebt haben und die heute in ihr leben. Sie ist der Ort, wo die Stadt ihre Haltung, ihre Stellung und ihren Ehrgeiz offenbart.“

In diesem Kontext ist ihr aktuelles Kunstprojekt zu sehen, das der Erarbeitung eines Porträts ihrer Heimatstadt München gilt. Hatte sich die Künstlerin in Berlin noch ganz auf ihre eigene Sicht der Dinge während der Stadtrundgänge konzentriert, geht es ihr in München um die Menschen, um deren individuelle Erfahrungen, Aktionen und Ideen im Kosmos des städtischen Zusammenlebens. Welche Spuren haben die Personen, die zu diesem komplexen Stadtkörper gehören, in der Vergangenheit hinterlassen und inwiefern bestimmen diese das Stadtbild und das Zusammenleben in der Stadt bis heute ? Wo liegen etwa die Schwierigkeiten, die ungelösten Probleme der Stadt, „ Wenn unsere Seele geheilt werden

kann, wieso dann nicht auch die Seele einer Stadt? “

„Wenn die Seele eines Menschen geheilt werden kann, warum dann nicht auch die Seele einer Stadt? “ ” If the soul of a person can be healed, why not the soul of a city ? “

Following the groundwork of her master thesis Küderli is currently writing a book in which she presents her methods of reception of urban space as well as her idea of the “ soul of a city ” : “ A city is a body inhabited by many souls.

Like we have a soul, cities have a soul, too. The soul of a city is shaped by the population that built and lived in it and by those people who inhabit and build the city today. The soul (mind, will and emotions) is where you can grasp the state of the people who used to live there and who live in the city today. It is where the city reveals its attitude, disposition and ambitions.”

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Küderli's current art project which deals with the portrayal of her hometown Munich can also be seen in this context. In Berlin the artist concentrated on her own view of the city while in Munich she focuses on the inhabitants, their experiences, actions and ideas within the urban setting. Which past traces can be found of those people being part of this complex urban body and how do those dominate the cityscape as well as the co-existence in Munich to this day ? Where are the difficulties, the unsolved problems of the city, “which injuries did its soul suffer ?” Küderli concludes: “ If the soul of a person can be healed, why not

the soul of a city ? ”


Mit einem Fragenkatalog als Werkzeug ihrer Ermittlungen sucht Natascha Küderli VertreterInnen acht unterschiedlicher Gesellschaftsbereiche für Interviews. Wie sie im Trailer zu ihrem geplanten Dokumentarfilm über das Projekt erklärt, ist sie

„ definitiv davon überzeugt, dass das Thema ‚einander zuhören’ besonders wichtig ist “, um etwas über Seelenzustände zu erfahren. Vorerst erprobte sie ihren Forschungsansatz mit acht Personen aus ihrem Bekanntenkreis, die sie zu Gesprächen und für erste Fotoporträts ins Atelier eingeladen hatte. In der Folge arbeitete sie an kubistisch anmutenden Bildnissen ihrer Modelle, die sie in Fotocollagen aus verschiedenen Perspektiven zugleich zeigt. Die Montagen mehrerer Fotofragmente führen zu bewegten Figuren, die im Bild nach allen Seiten blickend von der Lebendigkeit der Gespräche erzählen. Diese Bilder rufen aber auch in Erinnerung, dass die Begegnungen lediglich Stichproben sein können, flüchtige und vergängliche Momente, die sich im Fluss des Stadtlebens fortwährend verwandeln.

Armed with a list of questions Natascha Küderli was looking for interviewees from eight different sectors of society. As she explains in the trailer to her proposed documentary, she is “ absolutely certain that the issue of 'listening to each other' is particularly important ” if you want to know more about people’s state of mind. First she tried her approach with eight people from her circle of friends and acquaintances who she invited to her studio to talk to and take first pictures of. Subsequently she worked on seemingly cubist portraits of her sitters who can be seen in her photo collages from different perspectives concurrently. Several photo fragments are mounted in such a way that the figures seem to move and to recount the liveliness of the conversations in the studio. However, these pictures also illustrate that such encounters can only be random samples, fleeting moments which constantly change in the current of city life.

Die Sinne / The senses Oliver 2018

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Die Seele Wille, Verstand, Emotionen The soul will, mind, emotions

Hinzu kommt die Idee der Künstlerin, möglichst viele unterschiedliche Ansichten und Antworten zu sammeln, festzuhalten und zu pluralistischen Bildern zu komponieren. Diese Methode findet ihren Ausdruck in den jüngsten Fotoarbeiten, die bisher zum Projekt entstanden sind. Mit Fragen wie „ was empfindet, denkt, will München ? “ oder „Was empfinden, denken, wollen Sie von München“ und schließlich „ Was empfindet, denkt, will München von Ihnen ? “ untersucht Natascha Küderli, wie sich die Menschen jeweils in Gedanken zu ihrer Stadt positionieren und mit ihr identifizieren. Um ihre Recherchen visuell zu dokumentieren, kombiniert sie in Collagen ihre Fragen als Schrift mit Fragmenten der in Streifen geschnittenen Portraits ihrer Protagonisten und deren Antworten. Da die Seele laut Natascha Küderli stark mit den Sinnesorganen zusammenarbeite, schneidet die Künstlerin gerade diese Partien streifenförmig aus den Bildnissen der Protagonisten heraus. Sie ‚zoomt’ auf Augen, Nasen, Ohren, Münder, um diese jeweils in Kombination mit den Antworten ihrer Interviewpartner in Serie zu montieren.

2018

Furthermore, the artist intends to collect and record as much different opinions and answers as possible which are then arranged into pluralistic images. This approach can be seen in her most current photographic work for the project. With questions like “What does Munich feel/think/want ?” or “What do you feel about/think of/want from Munich ?” or

“What does Munich feel about/think of/want from you ?” Küderli examines how people position themselves in relation to their city and how they identify with it. She documents her research visually in the collages by combining her printed-out questions with the cut-up portraits of her protagonists and their answers. According to Küderli the soul interacts strongly with the senses, therefore she cuts these parts of the face into strips. She 'zooms' on eyes, noses, ears and mouths, mounting those in series and in combination with the answers of her interviewees.

Die Sinne / The senses Mirjam & Claudia 2018

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In diesen Bildern wird das Anliegen der Künstlerin im Prozess der Recherche augenfällig. Mit der Absicht, auch ihren eigenen Horizont zu erweitern, nimmt sie sich als Regisseurin zurück und ordnet ihre eigenen Ansichten in die Reihe ihrer Interviewpartner. So entstehen Denkbilder, Sammlungen verschiedener Blicke und konträrer Ansichten, Bilder des gemeinsamen Diskurses

These pictures demonstrate the intention of the artist's research. In order to widen her own horizon she also takes a backseat as art director and adds her own views to those of her interviewees. This way notions, compilations of different views and contrary opinions as well as images of a mutual discourse arise.

München, was denkt Sie ? Munich, what does she think ? 2018

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MĂźnchen, was empfindet Sie ?

MĂźnchen, was will Sie ?

Munich, what does she feel ?

Munich, what does she want ?

2018

2018

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Biergarten 1 2018

Lieblingsort / Favorite place 2018

Englischer Garten 3 2018

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In umfangreichen Bilderserien berichtet Küderli auch davon, wie sie die jeweils bedeutsamen Orte ihrer Protagonisten in München aufgesucht und fotografiert hat, um die Bilder dann zusammen mit den Gesichtern zu Collagen zu verbinden. Wie für ihre Arbeiten über Berlin werden Ansichten der Stadt streifenförmig ausgeschnitten und übereinander geklebt. Dabei werden Größenverhältnisse verändert, Entfernungen übersprungen, Widersprüchliches verbunden und selbst bislang Unsichtbares offengelegt. In der subjektiven Erfahrungs- und Ideenwelt der Protagonisten können Allgemeinplätze unscharf in den Hintergrund treten, Räume unter den Straßen oder dem Englischen Garten auftauchen, sich Außen und Innenräume verschränken oder selbst die Körper verschiedener Personen im Biergarten zu neu erfundenen Figuren auf den Bierbänken zusammensetzen.

In Ausschnitten lässt Küderli Gedanken, Texte und mit Bedeutung aufgeladene Details mit besonderen Partien der Architektur und der Parks verwachsen, lässt selbst die Isar aus der Stirn einer Person sprudeln und baut aus dem Blick auf das Flussufer idyllische Berglandschaften als Allegorien romantischer Natursehnsucht. Dabei bleiben die Protagonisten stets präsent in ihren Bildern. Sie erscheinen fragmentiert und fest verwoben mit den Ausschnitten ihrer Orte, schieben sich selbst wie Beobachter in Profilansicht von der Seite ins Bild oder tauchen als Projektionsfläche im Hintergrund auf. Manchmal sehen sie frontal aus dem Bild heraus, als suchten sie den direkten Blickkontakt mit den Betrachtenden, denen sie ihre Geschichten anvertrauen.

„Ich bin ich auf die Suche gegangen, wo sind die Stärken und Schwächen einer Stadt, wo ist sie verletzt ? Haben ihre Probleme heute etwas mit der Vergangenheit zu tun ? Wo ist sie stark ?“ “I began to search for the strengths and weaknesses of a city, where it is hurt ? Do the current problems have something to do with its past ? Where does its strength lie ? “ The extensive photo series also document how Küderli visits and takes pictures of the important places of her protagonists in Munich, to then merge the images with the faces and create collages. Like in her work about Berlin she cuts cityscapes into strips and mounts them one above the other. Proportions change, distances are skipped, conflicting views are connected and even invisible things can be suddenly revealed. Subjective experiences and ideas of the protagonists let platitudes take a backseat, reveal spaces underneath roads or the English Garden, interlace the outside with inner spaces or assemble different people in a beer garden to newly invented figures. Thoughts,

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texts and details charged with meaning are interwoven with particular parts of buildings or parks, the river Isar gushes out of someone's forehead while the view of the river banks are transformed into idyllic mountainous scenery, allegories of Romantic nature glorification. The protagonists are always present in their pictures. They appear fragmented and tightly entangled with the snippets of their sites, they slide into view in profile like observers or appear as projection screens in the background. Sometimes they look straight at the viewer as if wanting to confide their stories to them.


Orte der Verletzung, der Trauer und des Bedauerns Places of Violation, of Grief and Regret 2018

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Bereits bei der Durchsicht der langen Reihe von Fotoarbeiten, die Natascha Küderli bislang zu München erarbeitet hat, entsteht der Eindruck von Licht und Farbe, von Vielfalt und Verschiedenheit. Dabei ist die Heterogenität nicht immer reich und bunt, denkt man an die bis in die Gegenwart massive Präsenz der dunkelsten Kapitel der Geschichte. Küderli führt dies eindrücklich in Bildern vor Augen, wenn sich etwa transparente, gläserne, beinahe fragil wirkende Gebäude zeitgenössischer Architektur wie Keile durch die monströsen Mahnmale der Geschichte wie dem Parteigebäude der NSDAP zu schieben versuchen. Gemeinsam mit ihren Protagonisten ruft die Künstlerin in ihren Collagen alle möglichen Orte und deren Qualitäten auf Orte, an denen man sich wohl fühlt, gerne wohnen würde, die belebend sind, aber auch die unheimlichen, traurigen Orte der Angst, der Gewalt und des Todes – Stellen, an denen München, die Seele Münchens bis heute verwundet scheint. In der Summe helfen diese vielen Geschichten, Versatzstücke und gesammelten Fragmente nicht nur dabei, einen Stadtkörper als Organismus zu beschreiben, sondern auch dazu, gemeinsam mit den BewohnerInnen an einem Bildnis der Stadt zu arbeiten, das weder idealisiert, noch typisiert, sondern einen aktuellen

Looking through the large photographic work which Natascha Küderli has produced on Munich so far, the viewer is struck by light and colour, diversity and variety. However, its heterogeneity is not always opulent and colourful if you think of the still great presence of the darkest chapter of German history. Küderli shows this quite plainly in her collages where translucent, almost fragile buildings of temporary architecture try to penetrate the monstrous monuments of history like the Nazi Party headquarters. Together with her protagonists the artist evokes all sorts of places and their qualities – places where one can feel happy and would like to live, enjoying life, but also eerie, gloomy places of fear, violence and death where Munich's soul is still deeply hurt. The many stories, pieces and collected fragments together not only help to portray a city as living organism but also to work together with the inhabitants on its image without idealising or

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Zustand im Erleben der Menschen beschreibt. Mit der Collage hat die Künstlerin eine geeignete Methode der Darstellung gefunden, um über das Gewohnte und vordergründig Sichtbare hinauszugehen. So können sich innerhalb der einzelnen Bilder in den mehrschichtigen Kombinationen verschiedener Aspekte, Erfahrungen, Sinneseindrücke, Ideen und Ansichten der ErzählerInnen surreale Visionen der Stadt entfalten und bei erneuter Betrachtung wieder verändern. Die Bilder bleiben in ihren Brüchen, Überraschungen, Leerstellen, Unschärfen und Widersprüchen beweglich und lebendig. In der Gesamtschau der Arbeiten formieren sie sich ebenso zu einem strahlenden Kosmos, der einem Kaleidoskop ähnlich geordnet scheint, aber immer offen bleibt für neue Kombinationen, Beobachtungen und Ideen während der Betrachtung. Darin liegt ein gesellschaftspolitisches Potential der Kunst von Natascha Küderli, die in ihrer Arbeit über München die Menschen zu Wort kommen lässt und mit den Bildern auch die Betrachter zur Mitarbeit, zum gemeinsamen Diskurs einlädt.

typecasting it but to describe the current condition through the eyes of the people. With the collage Küderli has found an apt method to transcend beyond the familiar and ostensibly visible. Within the individual multilayered pictures different aspects, experiences, sensory impressions, ideas and opinions of the protagonists can unfold and present a surreal vision of the city, changing again and again with each new gaze. The pictures with their breaks, surprises, blank spaces, vagueness and contradictions stay versatile and vibrant. Küderli’s works form a radiant cosmos reminiscent of a kaleidoscope but always open to new combinations, observations and ideas of the viewer. Therefore the art of Natascha Küderli has great sociopolitical potential as she lets people have their say in her Munich project and in invites the viewer to participate and partake in a shared discourse.


Alle Arbeiten sind handgefertigte, nummerierte und signierte Collagen von analog aufgenommenen Fotografien. Die meisten Motive erscheinen in einer Edition von sechs in unterschiedlichen GrĂśĂ&#x;en. Einige Werke sind EinzelstĂźcke.

All works are handmade, numbered and signed collages compiled from analogue photographs. Most motifs appear in one edition of six in different sizes. Some works are unique pieces.

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Published 2019

Publisher Marion Bierling Text Andrea Lesjak Film-Text Marion Bierling Translation Dr. Mechthild Barth Repros Peter Baur Layout Bernd Eickhorst Preprint tomEICKHORST GmbH Production WEGNER GmbH

© 2019 bei den Autoren

Seven layers of heaven 2015


nataschakuederli.com


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