Applause 01/2020

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POP & POLITIK

„TROTZ ALLEDEM“ - HANNES WADER VERÖFFENTLICHT AUTOBIOGRAFIE

DASS NICHTS BLEIBT, WIE ES WAR

abgeführt wird, erfahre ich erst am anderen Tag.

Der große Liedermacher Hannes Wader hat seine Autobiografie „Trotz alledem“ veröffentlicht. Waders Lebensgeschichte ist Arbeiterlied, Folksong und großer deutscher Gesellschaftsroman zugleich. Poetisch und politisch, wie in seinen Liedern, erzählt Hannes Wader, was ihn und seine Musik geprägt hat: Nachkriegszeit auf dem Land, 68er-Jahre in Berlin, Deutscher Herbst, Friedensbewegung, der Kampf für eine gerechtere Welt und der Abschied von Illusionen. APPLAUSE veröffentlicht einen Auszug aus dem dramatischen Kapitel „Unter Verdacht“. Im Oktober 1971 stehe ich nach einem Konzert in Essen hinter der Halle, vor dem geöffneten Kofferraum von Jürgen Pohlmanns Auto, um meine Gitarre einzuladen. Plötzlich reißt mir jemand von hinten meine Jacke über beide Arme, sodass ich mich nicht rühren kann. Von vorne kommt ein Mann im dunklen Anzug und drückt mir die Mündung einer Hand­feuerwaffe in den Bauch. Ein Dritter tastet mich nach Waffen ab,

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findet keine und verzichtet darauf, mir Handschellen anzulegen. Gleichzeitig tre­ten mehrere uniformierte Polizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag, von mindestens einem Dutzend Fotoreportern begleitet, hinter den umliegenden Büschen hervor. Blitzlichtgewitter. Ich bin verhaftet. Dass synchron mit meiner Festnahme in Essen meine Berliner Wohnung auf­gebrochen, durchsucht, Hendrickje aus dem Bett gezerrt und

Erst einmal sperrt man mich eine Stunde lang in eine Zelle. Ein Beam­ter schließt auf, winkt mich raus: »Kommen Sie, kommen Sie, Klavier spielen«- soll heißen, mir werden Fingerabdrücke abgenommen. Erken­nungsdienstlich behandelt, werde ich zum Verhör geführt. Das dauert Stunden. Die damit total überforderten Essener Ermittler sind die ganze Zeit mit einer RAFSonderkommission der Hamburger Kripo, von der sie die Fragen an mich diktiert bekommen, telefonisch verbunden. Dem Essener Beamten am Telefon steht der Schweiß auf der Stirn. Ich kann den Hamburger am anderen Ende der Leitung, der seinen Essener Kolle­gen laut zusammenscheißt, brüllen hören. Ich sage alles, was ich weiß. Und das ist so wenig, dass endlich gegen Morgengrauen Hamburg Essen den Befehl erteilt, mich laufen zu lassen. Daraufhin geben die Polizeipres­sesprecher die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens „wegen Unterstüt­zung einer kriminellen Vereinigung” gegen mich bekannt. Lancieren parallel dazu - sei es aus Versehen, sei es, um mir bewusst zu schaden - die Falschmeldung, ich hätte mich geweigert, den Namen der Person preiszugeben, der ich meine Wohnung überlassen habe. So steht es am nächsten Tag in allen Zeitungen, so berichtet es, mein Verhaftungsfoto eingeblen­d et, Karl-Heinz Köpcke in der Tagesschau. Ich stehe damit unter dem Generalverdacht, der RAF aktiv anzugehören. Hella Utesch, die junge Journalistin, der ich vor noch gar nicht langer Zeit im Karlsruher Club Ubu meine Wohnungsschlüssel überlassen habe, war, wie ich bald erfahre, jemand anderes: die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin. Der Medienboykott in Hörfunk und Fernsehen setzt unmittelbar ein;


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