Stadt Land Kunst - Theaterpreis des Bundes 2015 - 2019

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Stadt Land Kunst

Theater im Dialog mit der Gesellschaft an den Rändern der Städte und jenseits der Metropolen

THEATERPREIS DES BUNDES 2015–2019



Titelfoto: „Theatre Of The Long Now“ von Hertel+Ferl und dem Bureau Baubotanik (Theater Rampe / Kunstverein Wagenhalle e.V. 2018). Foto Dominique Brewing. Seite 2: „Die Hamletmaschine“ von Heiner Müller in der Regie von Martin Ambara (Ringlokschuppen Ruhr 2019). Foto Stephan Glagla

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EDITORIAL JENSEITS DER THEATERMETROPOLEN, wo die Suchscheinwerfer des Berliner

Theatertreffens kaum hinreichen, wirken zahl­reiche kleine und mittlere Theater. Diese Arbeit zu würdigen und ins Rampenlicht der kulturpolitischen Bühne zu rücken, hat sich der ­Theaterpreis des Bundes zur Aufgabe gemacht. In den ­bisherigen Ausschreibungsrunden seit 2015 wurden 31 Häuser ausgezeichnet. Ausgelobt von Kulturstaatsministerin Monika Grütters, realisiert in Kooperation mit dem Internationalen Theaterinstitut – Zentrum Deutschland (ITI) würdigt der Preis künstlerisches Programm und g ­ esellschaftliches Engagement von Stadttheatern, Landesbühnen, Gastspielhäusern und freien Spielstätten. Dieses Magazin stellt vor, wie diese Bühnen arbeiten, welche Projekte sie mit den Mitteln des Theaterpreises umsetzen, was sich mit der Auszeichnung ver­ ändert hat – und was all­täglicher Kampf geblieben ist, weil die Theater sich ­immer wieder als soziale Räume der ­Öffentlichkeit behaupten, Theater und Stadt­gesellschaft sich immer wieder neu finden ­müssen. Gemeinsam mit Theater der Zeit hat das ITI Autor*innen aus dem Umfeld der Theater eingeladen, Porträts dieser Häuser zu schreiben. In diesen Wochen, in denen die Bühnen aufgrund der Corona-Pandemie verschlossen sind, Theater sich in der Kunst des Videostreamings üben, erzählen die Texte von der Energie, der Leidenschaft, vom l­ achenden und brüllenden Leben auf der Bühne und in der Stadt. Von dem, was kommen wird! Die Redaktion Berlin, Mai 2020


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GRUSSWORT DER MONAT MAI ist bekanntlich der Theatermonat schlechthin. Doch ohne das

Theatertreffen in Berlin, ohne Festivals wie die Ruhrfestspiele oder die Stücke und ohne die allabendlichen Aufführungen in den zahlreichen Theatern und Spielstätten unseres Landes, die wegen der Eindämmung der Corona-Pandemie vorübergehend nicht stattfinden können, erlebt das Theater in diesem Jahr eine schmerzhafte Leere, die uns seinen Wert einmal mehr eindringlich vor Augen führt. Wie sehr wir Kunst und Kultur, wie sehr wir gerade das Theater brauchen – was den gesellschaftlichen Zusammenhalt betrifft –, sehen wir jetzt einmal mehr, da wir in großen Teilen auf sie verzichten müssen. Kreative, Künstlerinnen und Künstler sind unverzichtbar – in guten wie in schlechten Zeiten. Deshalb ­unternimmt die Bundesregierung in der aktuellen Situation alles nur Mögliche, um Kreative zu unterstützen und die Zukunft der Kultureinrichtungen zu sichern. Als Orte der künstlerischen Begegnung und der Selbstvergewisserung unter­ stützen wir unsere Theater nicht nur in Krisenzeiten – im Gegenteil: Weil gerade die kleinen und mittleren Theater und Ensembles mit viel Leidenschaft und ­Engagement dafür sorgen, dass es in ganz Deutschland ein dichtes Netz an ­Theateraufführungen auf hohem professionellem Niveau gibt, habe ich zu deren stärkeren Wahrnehmung und der Anerkennung ihrer Arbeit 2015 erstmals einen Theaterpreis ausgelobt, der seither alle zwei Jahre verliehen wird. Auf Vorschlag einer Jury werden herausragende Leistungen der Theaterarbeit in den Kom­ munen unter anderem mit einem Geldpreis ausgezeichnet. Der Preis ist sowohl ein „Ermutigungspreis“ für die Theater, als auch eine Würdigung der Kraft­ anstrengung der Kommunen und der Länder, die jene lebendige und vielfältige Theaterszene überhaupt erst möglich machen, um die wir im Ausland so oft ­beneidet werden. Ja, an zahlreichen Orten in Deutschland – von Aachen bis Schwedt, von Flensburg bis Konstanz – begeistert das Theater mit seiner enormen Bandbreite an For­ maten, an ästhetischen Experimenten und innovativen Konzepten und ermög­ licht zahlreichen Menschen auch jenseits der großen Städte eine Begegnung­ mit den darstellenden Künsten. All das wäre nicht möglich ohne die rund 210 Mitgliedsbühnen des Deutschen Bühnenvereins, die Produktionshäuser, zahlreiche freie Gruppen und Ensembles sowie über 400 Theaterspielorte ohne eigene ­Ensembles, die in der Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergast­ spielen INTHEGA zusammengeschlossen sind. Es freut mich, dass wir seit 2015


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Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Foto Eva Radünzel

GRUSSWORT

bereits 31 dieser Bühnen und Ensembles mit dem Theaterpreis des Bundes aus­ zeichnen konnten. Ich danke dem ITI Deutschland, dem Deutschen Bühnenverein und anderen mitwirkenden Verbänden für ihre wichtige Unterstützung dabei. Viele Theater und Festivals begegnen der momentan erzwungenen Distanz zum Publikum mit Streaming-Angeboten oder anderen digitalen Formaten und ­zeigen dabei eindrucksvoll, wie man einer Krisensituation mit Kreativität be­ gegnen, wie man in schwierigen Zeiten auch Chancen erkennen kann, um neue Wege auszuprobieren. Auch die Porträts der Theater, Inszenierungen und Initia­ tiven, die mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet wurden und die ­neben anderen ausgewählten Bewerbungen der drei vergangenen Preisjahrgänge in dieser Beilage vorgestellt werden, sind schöne Zeugnisse jener begeisternd-­ innovativen Haltung. „Wenn es nach der Krise darum gehen wird, das Gespräch wieder zu beginnen, Begegnungen zu üben, wird das Theater unverzichtbarer sein denn je“, hat der Präsident des Deutschen Bühnenvereins Ulrich Khuon anlässlich des Welt­ theatertages am 27. März 2020 gesagt. Ich bin mir sicher, dass eine solche ­kollektive – für viele auch existenzielle – Erfahrung, wie wir sie in diesen Wochen erleben, gerade im Theater auf spannende Weise reflektiert werden wird. Auch deshalb bin ich neugierig auf viele weitere bewegende, streitbare und eindring­ liche Begegnungen mit der Theaterkunst in allen Facetten – nicht nur in den ­Metropolen. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

Prof. Monika Grütters MdB Staatsministerin für Kultur und Medien


„Grundgesetz – Ein chorischer Stresstest“ von Marta Górnicka (Maxim Gorki Theater 2019). Foto Ute Langkafel



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INHALTSVERZEICHNIS Stadt Land Kunst

Preisträger 2015

Theater im Dialog mit der Gesellschaft

Anhaltisches Theater Dessau

an den Rändern

Das Letzte Kleinod

der Städte und jenseits der Metropolen

Forum Freies Theater Düsseldorf Fundus Theater, Hamburg Heimathafen Neukölln, Berlin Lindenfels Westflügel, Leipzig Maxim Gorki Theater, Berlin Stadttheater Bremerhaven Städtische Bühnen Osnabrück

THEATERPREIS DES BUNDES 2015–2019

Theater der Altmark, Stendal Theater der Jungen Welt, Leipzig Theater Oberhausen

Editorial Grußwort Kulturstaatsministerin Monika Grütters Inhaltsverzeichnis

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4 8 And The Winner Is …

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Über die Wirkmächtigkeit des Theaterpreises des Bundes – Wolfgang Haendeler, Direktor des Theaters Hameln, Ulrike Kolter, Jurymitglied Theaterpreis des Bundes 2019, Roland May, General­intendant des Theaters Plauen-Zwickau und Christian Schäfer, Künstlerischer Leiter des Theaters Gütersloh im Gespräch mit Detlef Brandenburg


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Preisträger 2017 ETA Hoffmann Theater, Bamberg Lichthof Theater, Hamburg tanzhaus nrw, Düsseldorf Theater Naumburg Theater Altenburg Gera Theater Junge Generation, Dresden Schaubude Berlin Sophiensæle, Berlin

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Preisträger 2019

Theater Thikwa, Berlin

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Auswertung Umfrage

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Autor*innenverzeichnis Impressum

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boat people projekt, Göttingen Helios Theater, Hamm Landestheater Schwaben, Memmingen Oper Halle Piccolo Theater, Cottbus Puppentheater Magdeburg Ringlokschuppen Ruhr, Mülheim an der Ruhr Theater Erlangen Theaterwerkstatt Pilkentafel, Flensburg Theater Rampe, Stuttgart

Gemeinschaft, Kunst und Eigensinn Janina Benduski, Erste Vorsitzende des Bundes­ verbands Freie Darstellende Künste, INTHEGAPräsidentin Dorothee Starke und Bühnenvereins­ präsident Ulrich Khuon über Bewerberfeld und Kriterien des Theaterpreises des Bundes im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

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THEA TER PRE IS

Der Ozeanblaue Zug der Gruppe DasLetzte Kleinod. Foto Ingo Wagner


2015

Anhaltisches Theater Dessau Das letzte Kleinod Forum Freies Theater Düsseldorf FUNDUS Theater, Hamburg Heimathafen Neukölln, Berlin Lindenfels Westflügel, Leipzig Maxim Gorki Theater, Berlin Stadttheater Bremerhaven Städtische Bühnen Osnabrück Theater der Altmark, Stendal Theater der Jungen Welt, Leipzig Theater Oberhausen

DES BUN DES


12 D A S A N H A LT I S C H E T H E AT E R D E S S A U

DIE TÄGLICHE TAPFERKEIT

DAS WAR NATÜRLICH EIN SIGNAL für das Haus und die Stadt Dessau-Roßlau, als das Anhaltische Theater im Jahr 2015 zu den ­insgesamt zwölf Bühnen gehörte, die mit dem erstmals von Kultur­ staatsministerin Monika Grütters ausgelobten Theaterpreis des ­Bundes ausgezeichnet wurden. Beworben hatte sich die Bühne unter anderem mit der Produktion „Kristallpalast“, einer Revue, die Ballett und Schauspiel zusammenführte. Den Preis nahmen der damalige Ballettchef Tomasz Kajdanski, der ehemalige Generalintendant ­André Bücker, zu dessen Amtszeit die Produktion entstanden war, ­sowie dessen Nachfolger Johannes Weigand entgegen. Damals befand sich das Haus in einer schwierigen Lage. Die bis 2016 in Sachsen-Anhalt regierende Große Koalition aus CDU und SPD hatte im Jahr 2013 weitreichende Sparbeschlüsse zur Haushalts­ konsolidierung getroffen, die teils drastische Kürzungen der Zuwen­ dungen für die Theater einschlossen. Gerade auch in Dessau-Roßlau gab es anhaltenden, heftigen Protest dagegen, im Frühsommer 2013 kamen an einem Werktag mehr als 1000 Menschen vor dem Anhal­ tischen Theater zusammen, um gegen die vom damaligen Kul­­tur­ minister Stephan Dorgerloh (SPD) verfügten Einsparungen zu ­protestieren, angeführt von Klemens Koschig, der zu der Zeit Ober­ bürgermeister der Doppelstadt an Elbe und Mulde war. Genützt haben die fantasievollen Protestaktionen, bei denen sich Künstler*innen vom Dach des Theaters abseilten und das Haus an Pflöcken im Boden vertäuten, zunächst nichts. Und doch blieb eine Botschaft dieses Bürger*innenwiderstands bis heute bestehen: Die Stadt­gesellschaft hatte ein Bekenntnis zu ihrem Theater abgegeben, das sie schätzt und erhalten wissen will – auch für die nächsten Genera­tionen. Mit so viel Rückenwind lässt sich selbst unter widrigen Bedingungen künstlerische Arbeit leisten. Und wenn es dann auch noch eine bundesweit ausstrahlende Anerkennung für die tägliche Tapferkeit gibt, kann dies nur zum Guten gereichen. Die Zuwendungskürzungen für die Theater in Sachsen-Anhalt sind namentlich durch den Einsatz des neuen Kulturministers Rainer Robra (CDU) inzwischen deutlich abgemildert worden, zur Erfüllung aller Träume reicht es freilich bei Weitem nicht. Aber das machen ­Johannes Weigand, der Generalintendant, und seine Mannschaft durch Fantasie und Engagement wett. Einfach ist das aber nicht, ­zumal das imposante Haus, das 1938 als Neubau übergeben und in Gegenwart der NS-Führung eröffnet worden war, mit knapp 1000 Plätzen für eine Stadt von derzeit rund 80 000 Einwohnern eigentlich überdimensioniert ist. Johannes Weigand sagt, man müsse natürlich einräumen, dass es so ist – „aber man kann eben auch beweisen, dass hier trotzdem tolle Sachen möglich sind“: vier Opernproduktionen im Jahr, dazu Schauspiel, Ballett und Kooperationen mit dem Dessau-

Wörlitzer Gartenreich, dem Kurt Weill Fest und der Stiftung Bauhaus Dessau. Der Spielplan soll vielen etwas bieten, ein Stadttheater muss breit aufgestellt sein, um sein Publikum zu binden. Dessen Reaktion beweist, dass man in Dessau-Roßlau offensichtlich vieles richtig macht: „Wir haben jährlich doppelt so viele Besucher*innen, wie die Stadt Einwohner*innen hat“, sagt Weigand. Und der Haushalt seiner Bühne ist ausgeglichen, die „schwarze Null“ steht. Das Preisgeld von 80 000 Euro hat Weigand unter anderem in eine Ballettproduktion für das Weill-Fest und ein Tanzprojekt mit jungen Syrern gesteckt. Für diese praktizierte Willkommenskultur hat das Theater zwar auch poli­tischen Gegenwind zu spüren bekommen, vor allem jedoch viel An­erkennung.

ANHALTISCHES THEATER DESSAU Das Anhaltische Theater Dessau zieht als Mehrspartenhaus bis zu 175 000 Be­su­cher*in­­­nen pro Spielzeit (2018/19) an. Auf einer der größten Bühnen Deutsch­ lands werden im Großen Haus Musiktheater, Konzerte, Schauspiel, Ballett und Puppentheater geboten. Neben den eigenen Neuproduktionen (17 in der SZ 2017/18 und 20 in der SZ 2018/19) ist das Theater Ausrichter von Festivals, wie etwa dem Theaterjugendfestival Schau rein!. Die enge künstlerische Verflechtung des Theaters mit der eigenen Stadtgeschichte zeigt sich etwa in der Kooperation mit dem Kurt Weill Fest oder in der Programmreihe „staging the bauhaus“.

„Da Da Dance“ von Thomas Kajdánski (Anhaltisches Theater Dessau 2016). Foto Claudia Heysel

VON ANDREAS MONTAG


13 DAS LETZTE KLEINOD

DIE 1. EUROPEAN RAILWAY THEATRE COMPANY

„Gesalzene Wassermelonen“ von Jens-Erwin Siemssen (Das Letzte Kleinod 2019). Foto Ingo Wagner

VON JENS FISCHER

WIDER DIE THEATERSÜNDE des Stagnierens und Verharrens – ständig in Bewegung. Auf ihrem Thespiskarren. Dem ozeanblau ein­ gefärbten Zug der 1. European Railway Theatre Company: Dazu er­ nannt hatte sich Das Letzte Kleinod, bekannt für dokumentarische Site-specific-Projekte und beheimatet im endlosen Nirgendwo der nordwestdeutschen Prärie in einem denkmalgeschützten Bahnhof von 1899 in Geestenseth. Fast autark wirkt die mobile Theaterwelt, rattert mit Schlafwagen, Großküche, Speisesaal, Werkstatt, Probe­ bühne und Büros über die Schienen. Geparkt und gespielt wird auf Abstellgleisen am Rande der Städte, inmitten von Industriebrachen oder vor verlassenen Werkstatthallen. Jens-Erwin Siemssen ist Kopf der Company, Moderator des Kollektivs, Autor und Regisseur der ­Produktionen. Er sucht, findet und bringt Geschichten an ihren Aus­ gangspunkt zurück, die an der Nordseeküste starten, sich hinaus in fremde Welten verstricken und dabei ein persönliches Licht auf welt­ politische Zusammenhänge werfen. Hierzu verdichtet Siemssen das, was ihm Zeitzeug*innen und deren Nachfahr*innen berichten, zu Text­ collagen. Er inszeniert weniger Stücke, arrangiert vielmehr b ­ eispiel- bis lehrstückhafte Bilder und bringt diese an den möglichst naturbelas­ senen Originalschauplätzen mit professionellen Schau­spie­­ler*innen zur Uraufführung. Neben historisch inspirierten Kostümen sind meist nur noch ein, zwei für den Ort typische Objekte im Einsatz, die als Re­ quisiten mit Symbolkraft genutzt werden. So spielte Das Letzte Klein­ od beispielsweise im Wattenmeer, zwischen Inseldünen, enterte Bun­ ker, Kasernen und lud auf eine unbewohnte Marine­fes­tung. Zeigte in Israel und Emden die Odyssee von jüdischen Holocaust-Überleben­ den und zeichnete an der Wesermündung endende Schicksale von ­vietnamesischen „Boat People“ nach. Dank sozial- und theaterpäda­ gogischer Angebote wurde der Kleinod-Bahnhof zeitweise zur Begeg­ nungsstätte für Geflüchtete der Region. 2015 erhielten die Verant­ wortlichen den Theaterpreis des Bundes, in Zahlen: 75 000 Euro. Ein Teil des Preisgeldes ging in den Umbau eines alten Güterwaggons in einen Theaterwagen, damit Kinderstücke über die Begegnung unter­ schiedlicher Kulturen realisiert und an möglichst viele Orte im ElbeWeser-Dreieck transportiert werden können. Ein weiterer Teil des Preisgeldes floss in die Recherche zur wissenschaftlichen Arbeit auf einem Forschungsschiff im Südatlantik. Die daraus ent­wickelte Auf­ führung „Meteor“ reiste von Bremerhaven bis nach Frankfurt (Oder). Auch finanziert werden konnte die Arbeit mit exilierten syrischen Künstler*innen und jungen Migrant*innen der Region. Ihre Biografi­ en ließen sich als begehbare Theaterperformance erleben, die im Landkreis Cuxhaven tourte: „Wir haben die Angst gefressen“. Die Aufmerksamkeit, die der „Ermutigungspreis“ mit sich brachte, konnte Siemssens internationales Team zur besseren Vernetzung in

andere Bundesländer nutzen. War das Theater bis zur TheaterpreisVerleihung ein niedersächsisches, legt der Ozeanblaue Zug nun jähr­ lich mehr Kilometer zurück. Die Themen der Projekte und ihrer Insze­ nierungen entwickeln sich weg vom Meer, hinein in den Osten Deutschlands. Ebenso die Arbeit mit Geflüchteten. Mit einigen wurde in Thüringen für eine Rennsteig-Zugreise der szenische Diskurs „Spitzkehre“ zum Thema Heimat erarbeitet. 2020 verfolgt Das Letzte Kleinod im Osten Spuren der Rückkehrer aus Weltkriegsgefangen­ schaft, in Sachsen-Anhalt ist eine Produktion zum Braunkohletage­ bau geplant. Aber auch Bremerhaven wird als Auswandererhafen und Zuwandererstadt porträtiert. Das Letzte Kleinod macht Theater dort, wo selten welches zu erleben ist, beackert lokale Themen aus globa­ ler Perspektive und bringt regionale Historie ans Licht, die sonst im Dunkel der Stadtarchive schlummern würde. Ein Kleinod der Theater­ zunft, für das die größte Herausforderung der nahen Zukunft ist, den Zug fit für die nächste TÜV-Prüfung zu machen.

DAS LETZTE KLEINOD Die ungewöhnlichste Spielstätte unter den Preisträger-Theatern hat wohl Das Letzte Kleinod. Das Ensemble lädt das Publikum von Geestenseht, einer Ortschaft zwischen Buxtehude und Bremerhaven, in einen (nicht ausrangierten!) Eisenbahnzug. In der Spielzeit 2018/19 entstanden dabei zehn Eigenproduktionen, von denen vier Kinder- und Jugendprojekte waren. Nachdem der Zug nach einer Sanierung die Schienen­zulassung erhalten hatte, wurden damit Gastspiele in die Nieder­lande und nach Polen unternommen. Ohne den Zug reiste das Ensemble 2019 außerdem nach Frankreich, Kasachstan, Usbekistan und Sibirien.


14 DAS FFT DÜSSELDORF

KOMPLIZE DER STADT

ES GIBT THEATERABENDE, da piesackt die Kunst das Publikum, und dennoch bleibt es auf seinem Platz. Am Ende kommt es sogar häufi­ ger zu den Inszenierungen, weil es insgeheim genießt, dass es in ihm knistert, wenn das Geschehen von der Bühne in den Saal drängt und seinen eingewurzelten Anschauungen ent­gegenwirkt. Die Kunst hat den Auftrag, Impulse in die Zivilgesellschaft zu senden. Dazu müssen Künstler*innen wissen, mit wem sie es zu tun haben, was ein reiz­ voller Gedanke ist, weil sie auf diese W ­ eise die Menschen besser ­kennenlernen und auch sich selbst immer wieder ein bisschen neu entdecken. Als Kathrin Tiedemann vor 15 Jahren die Leitung des FFT Düsseldorf übernommen hatte, koo­perierte das Haus ausschließlich mit Gymnasien, was Tiedemann ­sofort ­änderte, weil sie ja die ganze Stadt künstlerisch bewegen wollte und nicht nur einen Teil. Als einmal Jugendliche mit Migrationshintergrund für ein partizipatives Projekt gesucht wurden, fand das FFT sie in Freizeiteinrichtungen und auf Spielplätzen. Grenzen kennt das Theater mit nur 20 Mitarbeiter*innen nicht, wenn es sich aufmacht und die Menschen zu sich einlädt. Es ist ein Komplize der Stadt und seiner Bewohner *innen. Ein sozialer Ort, der sich in einen Satelliten verwandelt und die urbanen Räume ­umkreist, wenn es Strömungen gibt, von denen die Menschen wissen sollten. Für solche Notwendigkeiten hat das FFT ein besonderes ­Gespür. Tanz, Musik, Theater und bildende Kunst gehen auf seinen Büh­ nen bemerkenswerte Bündnisse ein oder strahlen für sich. Manchmal kracht es ganz schön, obwohl nicht ein einziges Wort fällt. Und manch­ mal fehlt der Feinschliff, der aus künstlerischen Abenteuern einen gefälligen Abend machen könnte, den man sich auch wünscht, je nachdem, wie die Woche gelaufen ist. Dann jedoch schießen half past selber schuld oder Billinger & Schulz mit ihren hellwachen Inszenie­ rungen quer, und alles ist auf einmal aufregend. Die Karriere der preisgekrönten Performer*innen hat im FFT begonnen, das freien Gruppen als Produktions- und Präsentationsstätte dient und als ­Koproduzent auch vor aberwitzigen Inszenierungen nicht zurück­ schreckt. Konsequent behält es sich seinen Laborcharakter vor, ohne den Boden der Tatsachen zu verlassen. Vor vier Jahren verwirklichten Künstler*innen und Wissenschaft­ ler*innen um Kuratorin Stefanie Wenner das Projekt „Mykhorriza: Ein Apparat“ und brachten im FFT Pilze zum Wuchern. „Mykhorriza“ ­bezeichnet in der Biologie eine Symbiose von Pflanzenwurzel und Pilz, die einander vernetzen und schützen. Schöner kann Kommu­ nikation nicht sein. Das FFT wurde daraufhin mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet mit der Begründung, es erfinde immer ­wieder neue Formate und gestalte dabei ein Programm zwischen ­Beteiligung der Stadtbewohner*innen und experimenteller Kunst.

Die 80 000 Euro nutzte das Theater für vier Projekte, unter denen ­eines herausragt, weil es inhaltlich hochaktuell war und formal eine gelungene Rückkopplung der Würdigung durch den Bund darstellte: Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers, Filmemachers und ­Malers Peter Weiss wurde an zehn Stationen der Stadt aus seinem Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ gelesen. Man traf sich in der Mahnund Gedenkstätte für die Opfer nationalsozialistischer Gewalt­ herrschaft und der Kunstakademie, um über Mut und Protest zu de­ battieren. 40 Prozent aller Theatervorstellungen des FFT richten sich an ­Kinder und Jugendliche, das erwachsene Publikum ist so jung wie in keinem anderen Theater Düsseldorfs. Vielleicht weil es andernorts das Wehrhafte zugunsten der Demokratie vermisst, das im FFT die künstlerischen Prozesse antreibt. Das passt nicht allen, aber „every­ body’s liebling“ kann schließlich jeder. ­ FFT DÜSSELDORF Das FFT Düsseldorf (Forum Freies Theater) versteht sich als Plattform an der Schnittstelle zwischen Theater, Performance, Tanz, bildender Kunst und Musik. In Ko­­produktion mit freien Gruppen entstanden hier im Jahr 2019 35 Produk­ tionen. Über das Jahr verteilt konnten den Zuschauer*innen 414 Veranstal­tun­gen geboten werden. Dabei arbeitet das FFT eng mit den anderen freien Produktions­ häusern des Bündnisses internationaler Produktionshäuser zusammen. Als einer von mehreren Austragsorten fungiert das FFT beim überregional bekannten Impulse Theater Festival sowie beim Festival Spielarten für Kinder- und Jugend­ theater in NRW.

„Der Kirschgarten – Eine theatrale Hausbesetzung“ von Marlin de Haan (FFT Düsseldorf 2018). Foto Christian Ahlborn

VON SEMA KOUSCHKERIAN


15 D A S F U N D U S T H E AT E R I N H A M B U R G / T H E AT R E O F R E S E A R C H

FORSCHEN UND SPIELEN

„Playing Up“ vom Fundus Theater, der Tate Modern und LADA (Start 2016). Foto Angela von Brill

VON ANGELA DIETZ

EIN HINTERHOF IN DER HASSELBROOKSTRASSE im Ham­ burger Stadtteil Eilbek: Hier residiert das Fundus Theater seit 23 Jahren in einer denkmalgeschützten ehemaligen Kaffee- und Tabakrösterei. Wer an den unspektakulären Nachkriegswohnhäusern in rotem Back­ stein entlanggeht, würde kaum eines der künstlerisch ambitionier­ testen und innovativsten Kindertheater Hamburgs hier vermuten. Das Privattheater tanzt auf drei Hochzeiten: Neben Eigenproduktio­ nen sind ausgewählte Inszenierungen der vielgestaltigen freien Kin­der­ theaterszene zu sehen, inklusive Puppen- und Figurentheater, sowie Arbeiten des 2003 entstandenen Forschungstheaters, eines szeni­ schen Labors zwischen Kunst und Wissenschaft. In jeder Spielzeit wird auf gesellschaftlich und politisch relevante Themen gesetzt, die auch mit Kindern bearbeitet und inszeniert sowie theatral und multi­ medial performt werden. Im Grunde ist das gesamte Fundus Theater eine beständige Forschungswerkstatt, ein Theatre of Research. Ein Blick in die aktuelle Spielzeit verdeutlicht das Konzept. Im neuen Familienprogramm „Weil Wochenende“ wird die veränderte Situation vieler Familien berücksichtigt, zu der heute oftmals „so wahnsinnig unterschiedliche Leute gehören“. Eine Stunde lang, jeweils vor und nach einer Aufführung, können sich große und kleine Theater­besucher*in­nen in der „Kaputt-Werkstatt“ oder beim Zusammenbauen schräger Figu­ ren vergnügen. Da fliegt der Hammer auf eine Platine, oder aus ­Büchern entstehen durch Kleben und Malen Bücherskulpturen. Eigenproduktionen wie „Das Blaue vom Himmel“ haben ihren Platz im Programm, genauso wie Schul- und Ferientheaterworkshops. Das jährliche Kinder Theater Treffen „Auf die Plätze!“ präsentiert ausgewählte Inszenierungen der freien Hamburger Kindertheater­ szene. Hier erproben sich Kinder als Kritiker*innen, und die Theater­ leute diskutieren ihre Inszenierungen. Die aktuelle, interaktive Per­ formance „Auf Zucker“ schafft es, so unterschiedliche Themen wie Zucker – ungesund und lecker! – mit der Versklavung von West­ afrikaner*innen auf karibischen Zuckerrohrplantagen zu verbinden, ohne ins Moralische zu schwenken. Es zeichnet das Forschungsthea­ ter aus, dass wie selbstverständlich Bakary Kulaymata Camara, Schauspieler aus dem westafrikanischen Gambia, zum Team gehört. „Der Kindergarten im Stadtteil und die große internationale Bühne sollen gleichermaßen ernst genommen werden“, formuliert Sibylle Peters vom Forschungstheater den Anspruch. Deshalb arbeiten Teams in wechselnder Besetzung mit Kindern, Jugendlichen, Forscher*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen zusammen. 2011 gründete das Fundus Theater Deutschlands erstes Graduierten­ kolleg, in dem man mit der Kombination aus wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung promovieren konnte. Partner: die Hafen­City Universität und das K3 Zentrum für Choreographie / Tanzplan Hamburg

auf Kampnagel. Die Themen: Versammlung und Teilhabe sowie Per­ forming Citizenship. Laut Geschäftsführerin Gundula Hölty konnte das Fundus Theater mit dem Preisgeld, das es für die Auszeichnung mit dem Theaterpreis des Bundes 2015 erhielt, in der Spielzeit 2016 alle geplanten Projekte verwirklichen. Im gleichen Jahr wurde die interaktive Inszenierung „Playing Up“ mit der Tate Modern und der LADA (Live Art Develop­ ment Agency) in London initiiert und hier wie dort gespielt. Familien entdecken und spielen Performance-Kunst. Innovation gehört seit 40 Jahren zum Wesen des Theaters. Die bis heute aktiven Gründerinnen Sylvia Deinert und Tine Krieg entwickelten das erste präventive Stück zu Kindesmissbrauch, „Das Familien­ album“. Mit dem in eine Mäusefamilie platzierten Setting, für Kinder ab acht Jahren, tourten sie landauf, landab durch Theater, Kitas und Schulen. Im Mai 2020 findet, sollte es die Coronakrise zulassen, das Transgeneratoren Festival vom Verein Profund Kindertheater in Zu­ sammenarbeit mit Kampnagel und dem Fundus Theater statt: „Süßes und Saures – Kunst & Politik für Kinder & Erwachsene“. FUNDUS THEATER Als Theatre of Research versteht sich das Kindertheater Fundus aus Hamburg. Dabei entstehen ästhetische Formen, bei denen immer das Forschen im Vorder­ grund steht, sei es bei Theaterproduktionen, Projektwochen, Workshops oder Tagungen. Kinder forschen hier gemeinsam mit Erwachsenen, die über das Graduiertenkolleg Performing Citizenship an das Theater angegliedert sind. Ca. 200 Veranstaltungen entstehen so pro Spielzeit. Dabei haben sich 25 Schul­ kooperationen und zwölf Forschungskooperationen mit Universitäten gebildet.


16 D E R H E I M AT H A F E N N E U K Ö L L N I N B E R L I N

AMÜSEMANG UND POLITIK

„VOLKSTHEATER“ IST JA EINE GENREBEZEICHNUNG mit Imageproblemen, die Bilder vom Krachledernen und Seichten be­ schwört. Dass sich der Begriff freilich auch kapern und zu seiner ur­ sprünglichen Bedeutung zurückführen lässt, nämlich: Kunst ohne ­Distinktionsdünkel, die Arbeiter*innen ebenso adressiert wie das Bürgertum, das hat vor ziemlich genau einer Dekade ein zehnköpfiges Frauenkollektiv mit der Eröffnung des Heimathafens Neukölln be­ wiesen. Zugleich die letzte relevante Theaterneugründung in Berlins freier Szene jenseits von Nischen. Das Künstler*innenteam um Stefanie Aehnelt, Nicole Oder, Inka Löwendorf, Julia von Schacky und Wiebke Meier, das bereits zuvor an wechselnden Spielorten im Kiez theaterhistorische Preziosen mit ­Lokalkolorit wiederbelebt hatte (wie den Schwank „Alle fürchten sich oder Die Hasen in der Hasenheide“ von 1827), fand im eigenhändig renovierten Saalbau an der Karl-Marx-Straße den Ankerplatz für ein Programm, das die unmittelbare Nachbarschaft im Spannungsfeld von vielfach übermalter Vergangenheit und oftmals prekärer Gegen­ wart ausleuchtet. In Neukölln, dem angestammten Arbeiterbezirk, leben heute Menschen aus 160 Nationen. Es gibt Probleme und grelle mediale Überzeichnungen der Brennpunktgefahren. Und es gab mal Zeiten, als das Viertel eins der populärsten „Amüsemang“-Areale der Haupt­ stadt war. Woran im großen Saal des Heimathafens die Revue-Reihe „Die Rixdorfer Perlen“ erinnert. In der treten in regelmäßiger Folge drei trinkfeste caretaker (Reinigungskraft, Bar- und Amüsierdame) zum verbalen Kehraus an – und zur Pflege Altberliner Liedguts Marke Claire Waldoff. Dabei werden jedoch nicht die vermeintlich goldenen zwanziger Jahre verklärt (die ja längst von Absturzängsten und anderen sozialen Verwerfungen durchsetzt waren), sondern hinter satirischfrivoler Schürze zum Beispiel die brutalen Gentrifzierungsprozesse gespiegelt, denen das Viertel ausgesetzt ist. Insofern bilden die Unterhaltungsstücke im Saalbau (der im Laufe der Zeit schon Kino, Dorfkneipe und Passierscheinstelle war) auch keinen Kontrast zu den explizit politischen Stücken, die im kleinen Studio des Hauses zur Premiere kommen – darunter die Adaptionen der Romane „Arabboy“ und „ArabQueen“ der Journalistin Güner Yasemin Balcı in der Regie von Nicole Oder. Inszenierungen, die von den Repressionen in patriarchal geprägten Teilen migrantischer Communitys erzählen – eben nicht, um die grassierende Islamophobie zu befeuern, sondern als Dialogangebot an jene Neuköllner*innen, die in solchen Verhältnissen leben. Auch das ist Volkstheater – ohne Populismus. Der Theaterpreis des Bundes 2015 hat unter anderem geholfen, die Inszenierung „ArabQueen“ auf dem Spielplan zu halten – im ­Studio mit 69 Plätzen haben Produktionen kaum eine Chance, sich

selbstständig zu finanzieren. Des Weiteren hat das Preisgeld dem Heimathafen ermöglicht, neue Projekte anzuschieben, die ebenfalls ihre Themen von den Straßen des Viertels gelesen haben. „Ultima Ratio“ in der Regie von Nicole Oder war inspiriert vom realen Fall der verhinderten Abschiebung eines somalischen Ehe­ paars (eine Kirchengemeinde am Reuterplatz gewährte Asyl), ver­ dichtet zu einer theatralen Graphic Novel über Selbstbestimmung und Ausgeliefertsein. Und „Finding Freddy“ führte als Roadwalk aus dem Heimathafen heraus, auf die Spuren der widersprüchlichen ­Biografie eines jüdischen Neuköllners, der nach dem Krieg für die Amerikaner spionierte. Wofür auch Kiezbewohner*innen, die selbst noch die Nazizeit erlebt hatten, ihre Türen öffneten. Die Befragung der Vergangenheit hat viele Facetten am Heimathafen. Keine Frage, das Theatermachen in Neuköllns freier Szene bleibt eine Herausforderung. Steigende Mieten, regelmäßige Einbrüche, die notorische Unterfinanzierung der Spielstätte. Aber es liefert auch ­Geschichten, die sonst nirgends zu finden wären.­ HEIMATHAFEN NEUKÖLLN Als „Kulturraum“ für Unterhaltung und kritische Debatten fühlt sich der Heimat­ hafen Neukölln mit seinem direkten Umfeld verbunden: dem Berliner Stadtteil Neukölln und der Karl-Marx-Straße. Das vielfältige Programm verteilt sich auf vier Säulen (Sparten, wenn man so will): Theater, Tacheles, Musik, Amüsemang. 150 bis 200 Theateraufführungen pro Jahr können die Zuschauer*innen besu­ chen, ergänzt durch ca. 150 Veranstaltungen in den anderen Sparten (2019). Jedes Jahr entstehen drei bis vier Eigenproduktionen (oder Koproduktionen), die durch eine Vielzahl an Gastspielen ergänzt werden.

„Peng! Peng! Boateng!“ nach Michael Horeni in der Regie von Nicole Oder (Heimathafen Neukölln 2016). Foto Verena Eidel

VON PATRICK WILDERMANN


17 DER LINDENFELS WESTFLÜGEL IN LEIPZIG

SÉANCEN DES POETISCHEN

„Kukułka“ von Wilde & Vogel, Grupa Coincidentia sowie Lehmann und Wenzel in der Regie von Łukasz Kos (Lindenfels Westflügel 2019). Foto Michał Strokowski

VON STEFFEN GEORGI

ES DÜRFTE DAS SCHÖNSTE THEATERHAUS SEIN, das es in

Leipzig gibt. In jedem Fall eines, das auch ob seiner patinasatten ­Jugendstilarchitektur Atmosphäre atmet wie kein zweites hier. Ein wenig abseits steht dieses Theater, nicht verborgen in einer Seiten­ straße, sondern eher wie in diese zurückgetreten; ganz so, als gelte es bewusst etwas Abstand zu wahren. Und das nicht nur zum Trubel auf der nahen großen Hauptverkehrsader im Boom-Viertel Plagwitz, dem Stadtteil, in dem seit 2003 der Lindenfels Westflügel sein Domizil hat. Internationales Produktionszentrum für Figuren- und Objektthea­ ter lautet die etwas offiziöse Formulierung für das, was die Musikerin Charlotte Wilde und der Figurenspieler und -bauer Michael Vogel hier ins Leben gerufen haben, in diesem Gebäude, das Teil eines größeren Komplexes ist, in dem von 1939 bis 1975 die Ofenrohrfabrik Frölich & Herrlich ihre Arbeit verrichtete und das danach für viele Jahre weitge­ hend in einem Dornröschenschlaf vor sich hindämmerte, darauf war­ tend, irgendwann, irgendwie von irgendwem erweckt zu werden. Dass sich diese Erweckung dann ausgerechnet einer Kunstform wie dem Figuren- und Objekttheater verdankte, ist nicht ohne Ironie. Und war zudem ein gutes Omen. Denn die Bühnenspiele, die sich Wilde und Vogel für dieses Haus vorstellten, waren und sind ja in all ihrer Unterschiedlichkeit immer auch das: Beschwörungs- und Erweckungs­ spiele, Séancen des Poetischen, die es verstehen, unbelebtes Material in einen eigentümlichen Zustand der Gegenwärtigkeit, der Lebendig­ keit zu versetzen, ja, man kann ruhig sagen: „beseelen“. Der Westflügel jedenfalls wurde in der Tat, was Wilde und Vogel sich erhofften: ein äußerst lebendiges Theaterhaus. Seit 2005 liegt es in den Händen des Lindenfels Westflügel e.V., seit 2011 bekommt es durch die Stadt Leipzig eine institutionelle Förderung. Was in den Anfangsjahren ein Publikumsgeheimtipp war, gehört heute zu den kontinuierlich f­ re­quentier ten Bühnen der Stadt. Und ist darüber hinaus als Figurentheater-­Pro­duk­ tionszentrum, als Koproduktionspartner und Gastspielbühne unbenom­ men eine der maßgeblichen Adressen für diese Kunst­form. Europaweit. Doch kein Namedropping jetzt! Denn will man eine Vorstellung des­ sen erwecken, was der Westflügel ist, darf man nicht beschreiben wer, sondern vielmehr was einem dort alles so begegnen kann. Ein „Kasperl­ theater über Mann nach Frau gespielt vom Krokodil“ etwa. Oder der „Tod und das Mädchen“ sowie „Empfindsame Giganten“. Und darin immer wieder all die Dinge und Undinge, die gleich einem traumverrückten Stühlerücken Leben behaupten. Mit Bildern und Szenen, in denen Pup­ pen Schimärentänze aufführen, dressierte Ratten ihren menschlichen Dompteur durch den Fleischwolf drehen, eine schöne Frau im weißen Kleid ihren Teufelsfuß im übergroßen feuer­roten Absatzschuh verbirgt oder durch das schlichte Verbrennen einer historischen Postkarte von Dresden eine beklemmende Allegorie auf den Krieg entsteht.

Es ist die oft große Wirkkraft einer vermeintlich kleinen, oft nur an der Wahrnehmungsperipherie rezipierten Kunstform, die sich im West­ flügel gleichsam als Enklave abseits des Zeitgeistes positioniert. Was einer der Gründe sein dürfte, dass das Publikum diese Enklave gern besucht. Der andere ist die künstlerische Kontinuität, die sich fraglos dem Umstand mit verdankt, dass städtische Förderung und Preis­ geldvergaben hier weitsichtig genug waren, den Blick auch auf Orte an der Peripherie zu richten. Das gilt nicht zuletzt für den Theaterpreis des Bundes 2015, der es dem Westflügel ermöglichte, sein Programm um ein als „Sessions“ apostrophiertes Format zu erweitern, das in loser Folge künstlerisch spartenübergreifende Kollaborationen als experimentell unmittelbares Aufeinandertreffen erprobt. In Ergänzung zu den oft detailliert aus­ gearbeiteten Inszenierungen des Hauses forcieren sie damit spieleri­ sche Spontanität – und fügen sich damit bestens in die WestflügelBühnenspiele ein. LINDENFELS WESTFLÜGEL Der Lindenfels Westflügel begreift sich als internationales Produktionszentrum für Figurentheater. Mit den zwei regelmäßig am Haus arbeitenden Ensembles Wilde & Vogel und Lehmann und Wenzel entstehen gemeinsam mit internatio­ nalen Künstler*innen und Ensembles bis zu sechs Eigen- bzw. Koproduktionen pro Jahr (2019), die um zahlreiche Gastspiele ergänzt werden. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit des Westflügels sind Festivals, wie etwa die jährlich stattfindende Expedition ins junge Figurentheater (2018/19) oder das für Ende 2020 geplante Showcase Westflügel – Das Beste aus 15 Jahren Westflügel Leipzig. An bis zu 130 Tagen im Jahr bietet der Lindenfels Westflügel seinen Zuschauer*in­ nen sein vielfältiges Programm.


18 D A S M A X I M G O R K I T H E AT E R I N B E R L I N

IM RESONANZRAUM DER GESCHICHTE

WER GESCHICHTE PERSÖNLICH NIMMT, der muss sie als Auftrag begreifen. Als Shermin Langhoff 2013 zusammen mit Jens Hillje das Maxim Gorki Theater übernahm, stellte sie das Haus als ­Pionierprojekt für die Gegenwart und die Zukunft komplett neu auf. Mit einem Ensemble aus Berliner Schauspieler*innen verschiedenster Herkünfte, die eine (Stadt-)Gesellschaft jenseits von Ausschlüssen repräsentieren. Später auch mit einem Exil-Ensemble, in dem geflüch­ tete Künstler*innen aus Syrien, Palästina und Afghanistan ihre Pro­ fession ausüben, angedockt an die Produktionen der großen Bühne. Ein solches Programm sendet nicht nur Zeichen an eine noch immer ziemlich monokulturelle Theaterlandschaft – sondern ist Teil einer Verortung des Gorkis im historischen Resonanzraum der Berliner ­Mitte. Verbunden mit der Frage, wie sich ein solidarisches Zusammen­ leben heute organisieren ließe. Das Gebäude des Gorkis gegenüber der Neuen Wache (von der aus 1914 die Einberufungsbefehle für den Ersten Weltkrieg verschickt wurden), in Sichtweite der neobarocken Portale eines wiedererrichte­ ten Stadtschlosses, hat vormals die Singakademie zu Berlin beher­ bergt. Eine Institution, die einen Felix Mendelssohn Bartholdy wohl wegen seines Jüdischseins nie als Leiter akzeptieren mochte. In der im 19. Jahrhundert die Kosmos-Vorträge Alexander von Humboldts Aufklärung über die Weltzusammenhänge versprachen. Wo am 9. November 1848 die erste frei gewählte Preußische Nationalver­ sammlung vertrieben wurde und wo 1988 Thomas Langhoffs Insze­ nierung von Volker Brauns „Übergangsgesellschaft“ den Mauerfall, ebenfalls an einem 9. November, vorwegnahm. Zwischen diesen Ereignissen spannt sich der weite Bogen des Kampfes um eine demokratisch verfasste, gerechte und offene Ge­ sellschaft. Von der Ausrufung der deutschen Republik 1918, über die Reichspogromnacht 1938 und die Verfolgung und Ermordung der ­europäischen Juden, bis zur Wiedervereinigung des Landes und der Stadt, die ja bis heute die Spaltungen nicht überwinden konnte. Mit Blick auf eine Historie, die sie persönlich nimmt, hat Shermin Langhoff auch zu Beginn ihrer Intendanz eine Institution mit dem ­Titel „Berliner Herbstsalon“ wiederbelebt. Eine Referenz an den „­Ersten Deutschen Herbstsalon“, den Herwarth Walden 1913 in Berlin organisiert hatte. Als mutige Zusammenführung avantgardistischer Ästhetiken der Epoche, außerdem als Feier des Kosmopolitischen, die Künstler*innen aus annähernd 100 Nationen versammelte und sich querstellte zu einer nationalistischen Bewegung, die erstmals den Begriff der „entarteten Kunst“ verwendete. Mit dem Herbstsalon als neuer Biennale befragt das Gorki die Verwerfungen der Gegenwart. Die dritte Ausgabe 2017 – die durch den Theaterpreis des Bundes mit ermöglicht wurde – stand unter dem

­ itel „Desintegriert euch!“. Eine Reaktion auf das Erstarken rechter, T ­nationalistischer Narrative (die das Gorki auch ganz persönlich treffen, denn freilich ist das Haus der Lieblingsfeind der AfD im Berliner Kultur­ ausschuss), auf die Jägerzäune des völkischen Denkens, die den viel­ beschworenen Ruf nach „Integration“ letztgültig ad absurdum führen. Am Brandenburger Tor ließ Manaf Halbouni mit seinem „Monu­ ment“ drei Busse aufragen, die Berlin mit dem syrischen Aleppo ­verlinkten. Henrike Naumann trug in ihrer Installation „Das Reich“ im Kronprinzenpalais Unter den Linden Artefakte aus dem ideologi­ schen Paralleluniversum der sogenannten Reichsbürger zusammen. Norbert Bisky zeigte eine zertrümmerte Kopie von Franz Marcs „Die blauen Pferde“, dessen Original 1913 im „Ersten Deutschen Herbst­ salon“ ausgestellt wurde. Historia magistra vitae est – mit diesem Satz hat Cicero das Prinzip beschrieben, aus der Geschichte Lehren zu ziehen, um zukünftiges Unheil zu vermeiden. Am Gorki Theater würden sich die Worte gut über dem Portal ausnehmen.

MAXIM GORKI THEATER Mit der Intendanz von Shermin Langhoff (seit 2013) und Jens Hillje (2013-2019) hat sich das Maxim Gorki Theater in Berlin als Stadttheater der Öffnung positioniert, das gezielt die ungehörten Stimmen der Gesellschaft in den Vordergrund trägt. Das vielfältige Programm erstreckt sich über die Hauptbühne, das Studio und den Container und wird durch ein reiches Festivalprogramm ergänzt, bei dem der reaktivierte, in dieser Form 2019 zum vierten Mal stattgefundene Berliner Herbstsalon heraussticht. Mit 24 Premieren, 416 Aufführungen und 78 000 Zu­ schauer*innen (SZ 2018/19) bildet das Gorki einen wichtigen Ankerpunkt in der Berliner Theaterlandschaft.

„In My Room“ von Falk Richter (Maxim Gorki Theater 2020). Foto Ute Langkafel

VON PATRICK WILDERMANN


19 D A S S TA D T T H E AT E R B R E M E R H AV E N

GESCHICHTEN AUS DER SEESTADT VON ANDREAS SCHNELL

„Der Feuervogel / Der Bolzen“ von Sergei Vanaev (Stadttheater Bremerhaven 2019). Foto Heiko Sandelmann

2001 KOPPELT DIE DEUTSCHE BAHN Bremerhaven vom ICE-

Netz ab. Knapp zehn Jahre später, im Jahr 2010 wird Ulrich Mokrusch Intendant des dortigen Stadttheaters. Und auch die infrastrukturelle Abkopplung Bremerhavens kann nicht verhindern, dass seitdem auch das überregionale Feuilleton immer wieder an die Nordseeküste reist. Ein deutliches Zeichen für die Qualität dessen, was Mokrusch und sein Team dort auf die Beine gestellt haben. Ich habe das sozusagen am eigenen Leibe erfahren. Ein Auftrag von nachtkritik.de führte mich erstmals dienstlich ans Stadttheater Bremerhaven. Und es war Liebe auf den ersten Blick: Für die Produk­ tion „Verzögerte Heimkehr – Einige Reisen nach Eldorado“ hatte das Stadttheater im Frühjahr 2011 im leerstehenden Nordsee-Hotel Quartier bezogen. Einst erstes Haus am Platz, wurde es nun unter der Regie von matthaei & konsorten Schauplatz eines inspirierenden Theaterprojekts, das Geschichten aus der Seestadt von Menschen aus der Seestadt erzählen ließ, in intimen Eins-zu-eins-Situationen, wobei im Verlauf des Abends einige veritable Überraschungen zu er­ leben waren. Und eine Premierenfeier in der Hotelbar, wo beseelte Bremerhavener*innen in Erinnerungen schwelgten, aber auch im Glück des Augenblicks, da sie entdeckt hatten, was ihr damals schon fast 100 Jahre altes Theater auf einmal konnte. Kurz: Es wehte ein neuer Wind in Bremerhaven. Eine beachtliche Reihe von Preisen und Auszeichnungen beglaubigt das eindrücklich: 2011 wird das Stadttheater in einer Kritikerumfrage der Deutschen ­Bühne zum besten Theater abseits der Zentren gewählt. Mehrfache Voten für das Haus gab es zudem in den folgenden Jahren in den jähr­ lichen Kritikerumfragen der Opernwelt für den Titel „Opernhaus des Jahres“. Die Wiederentdeckung der Oper „The Lodger“ von Phyllis Tate aus dem Jahr 1960 wurde im vergangenen Jahr gar für den Inter­ national Opera Award nominiert. Einen Innovationspreis gab es auch noch: Eine vierte Sparte, das Jugendtheater JUB!, stampfte Mokrusch mit viel Geduld und Überredungskunst aus dem Boden, gerade in einer Stadt wie Bremerhaven von unschätzbarem Wert. Und dann ist da natürlich auch noch der Theaterpreis des Bundes, den das Stadttheater 2015 als eines der ersten Häuser in Empfang nehmen durfte. Das Preisgeld von 80 000 Euro floss direkt ins Pro­ gramm des Festivals Odyssee Europa, das 2017 mit Gastspielen aus Polen, der Türkei, Bulgarien, Portugal und Belgien den Kontinent fei­ erte. Auch wenn der Versuch, Menschen mit Migrationserfahrung für das Theater zu begeistern, laut Mokrusch „nur teilweise geklappt“ habe, darf sich das Stadttheater ansonsten über die Zuneigung der Bremerhavener*innen freuen. Was auch daher rührt, dass Mokrusch und sein Team in den letzten zehn Jahren immer wieder in die Stadt hinausgegangen sind und mit dem Alfred-Wegener-Institut, dem

Schifffahrtsmuseum sowie dem Auswandererhaus kooperierten. Weshalb auch die Stoffe nah dran sind an der Stadt und ihren Bewohner*innen: Die jährlichen Festivals packen Themen wie Migra­ tion, Demenz, Klima oder eben Europa an. Auch im Repertoirebetrieb gelingt es dem Stadttheater immer wieder, mit einer gelungenen Mischung aus klassischen Formen und Stoffen einerseits, avancierten Regiehandschriften und zeitgenös­ sischen Stoffen andererseits, sein Publikum zu finden. Während das permanente Abwerbeinteresse größerer Häuser in Bezug auf Sän­ ger*in­nen, Schauspieler*innen und Dramaturg*innen – so sehr auch jeder Weggang schmerzt – ein gutes Händchen für künstlerisches Personal beweist. Kein Wunder, dass man in Bremerhaven Mokrusch nun ungern Richtung Osnabrück ziehen lässt …

STADTTHEATER BREMERHAVEN 230 Mitarbeiter*innen ermöglichen den Bürger*innen Bremerhavens ein Pro­ gramm mit bis zu 500 Vorstellungen jährlich, verteilt auf die Sparten Oper, Schauspiel, Ballett und Kinder- und Jugendtheater. Die Zuschauer*innen neh­ men das Ange­bot dankend mit bis zu 150 000 Besuchen pro Spielzeit an (2018/19). Die bis zu 25 Premieren pro Spielzeit (alle Sparten) werden ergänzt durch seit 2011 statt­findende Biennale-Festivals, die sich mit gesellschaftlichen Themen wie Heimat/­Migration, Klima, Demenz oder Europa auseinandersetzen.


20 D I E S TÄ D T I S C H E N B Ü H N E N O S N A B R Ü C K

VON DER STADT IN DIE WELT UND ZURÜCK VON CHRISTINE ADAM

ab der aufgeregten Metropolen, das es mit seinem Spielplan-Mix möglichst vielen Zuschauerschichten recht machen will? Das Vor­ urteil täuscht. Das Theater Osnabrück versucht, mit all seinen Kräf­ ten und fünf Sparten die Welt zu begreifen. Hellsichtige Weckrufe in die Stadtgesellschaft hinein gehen alle zwei Jahre von den Spieltrieben aus, einem Festival mit vielen Ur- und Erstaufführungen. Zu Beginn der Spielzeit 2019/20 beleuchtete es intel­ ligente Technologien und ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Gefah­ ren für den Menschen. Zwei Jahre zuvor ging es um das Ver­hältnis von Geschlechtsidentität und Gesellschaft, noch bevor die #MeToo-Debatte ihre weltweiten Wellen schlug. Und im Sommer 2015, kurz bevor Osna­ brück den Theaterpreis des Bundes erhielt, nahm das Festival apokalyp­ tische Stimmungen zum Anlass, Bilanz zu ziehen für unseren Globus. Damals fragte Thomas Köck mit „paradies fluten“, wie weit es denn die Menschheit gebracht hat. Und ließ noch einmal Epochen des Kolo­ nialismus und Kapitalismus, der Ausbeutung und Selbstaus­beutung Revue passieren – ein analytisch starkes Stück. Bereits 2013 hatte die Jury mit der Vergabe des ersten Osnabrücker Dramatikerpreises an Thomas Köck ihr sicheres Händchen bewiesen: Der damalige Nach­ wuchsdramatiker machte nach der Preisverleihung sofort steil Karriere. Das Theater holt nicht nur hochkarätige Künstler*innen ans Haus, sondern reist selbst inhaltlich an die neuralgischen Punkte der Welt. So belebte es 2016 mit dem deutsch-namibischen Rechercheprojekt ­„OshiDeutsch“ von Sandy Rudd und Gernot Grünewald ein fast verges­ senes Stück ­Geschichte. Jugendliche Laienspieler*innen erzählten be­ wegend vom Schicksal ihrer Eltern, die als Kinder während des Bürger­ kriegs zwischen Namibia und Südafrika 1978 von der sozialistischen SWAPO in die DDR evakuiert wurden und dort in zwei Internaten unter dem Einfluss einer sozialistischen Erziehung deutscher Prägung auf­ wuchsen, nur um nach der Wiedervereinigung nach Namibia abgescho­ ben zu werden – mit schwerwiegenden Folgen für ihre Identität. Im Frühsommer 2015 wuchs sich eine Gastspielreise des Osnabrü­ cker Symphonieorchesters nach Russland, in die Ukraine und nach Bela­ rus zur musikalischen Friedensmission aus angesichts der Ukraine­krise und der abgekühlten deutsch-russischen Beziehungen. Solche Missio­ nen sind auch der Osnabrücker Dance Company nicht fremd. Sie gastiert seit zwei Jahren regelmäßig in Sankt Petersburg und koo­periert sogar mit der Beijing Dance/LDTX-Kompanie in Chinas Hauptstadt Peking. In der Kritikergunst ganz oben steht seit Jahren das Musiktheater mit Opern­ ausgrabungen der zwanziger Jahre. 2015 beeindruckte die Oper „Solda­ ten“ von Manfred Gurlitt. Was die Sparte aber nicht hindert, regelmäßig Kompositionsstudent*innen der Hoch­schule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim für die Spieltriebe schreiben zu lassen.

Deutlich wird: In Osnabrück ist der Spagat Programm – zwischen Welt und Stadt sowie Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Und das wird konsequent und künstlerisch oft hochwertig von allen Sparten mitgetragen – auch von den am Theater angesiedelten Amateurthea­ tergruppen. Ein idealtypisches Beispiel ist eine der beiden Schauspiel­ produktionen, für die das Preisgeld von 80 000 Euro eingesetzt wur­ de. Rebekka Kricheldorfs Bearbeitung von Cervantes’ „Don Quijote“ fragt, ob ohne das „Große, Ehrenhaft, Zauberhafte, Wagemutige, Romantische“, das in Fiktion und Selbstinszenierung beheimatet ist, den Menschen noch genug Lebensenergie bleibt für die harte Realität um uns herum. Was für eine gute Frage – Annette Pullens Inszenie­ rung hat auf Anhieb die Herzen der Zuschauer gewonnen. So wie das Stadtprojekt „Remarque“, das 2015 die Theaterpreisjury beeindruckte: mit Lesungen, Schreibworkshops für Kinder und viel Theater an lokalen Lebensstationen des Schriftstellers. Kurz: Das Theater Osnabrück ist in der Intendanz Ralf Waldschmidts eine runde und immer kluge Sache. STÄDTISCHE BÜHNEN OSNABRÜCK Das Theater Osnabrück beeindruckt mit 43 Neuproduktionen in der vergangenen Spielzeit (2018/19), die sich auf die Sparten Schauspiel, Musiktheater, Tanz, Kinderund Jugendtheater sowie Konzert verteilten. Das Publikum setzt sich nicht nur aus der Stadtbevölkerung zusammen (60 Prozent der Zuschauer*innen); das Theater hat auch eine große Strahlkraft in die Region (40 Prozent der Zuschauer*in­ nen). Mit der Inszenierung des Preisträgerstücks des Osnabrücker Dramatiker­ preises fördert das Theater neue Dramatik. Ergänzt wird das Programm durch Festivals, wie Spieltriebe, das 2019 zum 8. Mal stattfand und neue Theater­ formen an ungewöhnlichen Orten erkundet.

„OshiDeutsch“ von Sandy Rudd und Gernot Grünewald (Theater Osnabrück 2016). Foto Uwe Lewandowski

EIN EHER KLEINES, BESCHAULICHES STADTTHEATER fern­


21 D A S T H E AT E R D E R A LT M A R K I N S T E N D A L

DAS KULTURELLE WIR-GEFÜHL VON DONALD LYKO

„Patricks Trick“ von Kristo Šagor in der Regie von Louis Villinger (Theater der Altmark 2019). Foto Nilz Böhme

MIT SEINEN 70 JAHREN gehört das Theater der Altmark zu den

Herren im besten Alter. Dass es ebenso zu den Junggebliebenen zählt, hat einen einfachen Grund: Das Haus an der Stendaler Karlstraße setzt seit Jahren mit zweien seiner drei tragenden Säulen auf Ange­ bote für Kinder und Jugendliche. „Das ist die Sparte, in der sich Thea­ ter neu erfinden kann und muss. Das halte ich für eine künstlerische Notwendigkeit“, sagt Intendant Wolf E. Rahlfs. Hier sieht er die große Chance, „das junge Publikum zu erreichen“. Das gelingt der Landes­ bühne Sachsen-Anhalt Nord seit Jahren erfolgreich mit dem Jungen TdA unter Leitung von Dramaturgin Cordula Jung mit Klassen­ zimmerstücken, Puppenspiel, Kita-Aufführungen, Jugend- und Fami­ lienstücken sowie anderen Formaten. Es gelingt aber auch über die Bürgerbühne, neben dem Jungen TdA und dem klassischen Abend­ spielplan (Rahlfs: „Ein zeitgenössisch-kantiger, wie man ihn in einer Region wie der Altmark wagen darf.“) die dritte Säule. Als Minimärker und Jungmärker bringen die Jüngsten eigene Inszenierungen auf die Bühne, die Jugendklubs Schauspiel und Musical füllen mittlerweile das Große Haus. Theaterchor, Club der Andersbegabten für Menschen mit und ohne Handicap, Club der Experten, Junggebliebene Altmärker und Geschichtenmärker, eine Gruppe für Theaterbegeisterte im Renten­ alter, steuern eigene Stücke bei oder sind Teil von TdA-Inszenierun­ gen. Das Konzept geht auf: Das TdA öffnet seine Türen nicht nur für Kunstkonsumierende, sondern ganz weit für alle, die selbst agieren möchten. Die Laienklubs haben schon eigene Fangemeinden. Sehr zur Freude von Wolf E. Rahlfs: „Die Bürgerbühne bringt Bürger*innen ins Theater.“ Vor allem in der Bürgerbühne sieht er die „Schnittstelle zwischen Kunst und Stadtgesellschaft“. In der Stadt ist das Theater der ­Altmark daher mit zahlreichen Projekten präsent. „Man staunt, wie weit ver­ netzt wir sind“, so Rahlfs. Mit der Arbeitsagentur zum Beispiel wur­ den in der Spielzeit 2014/15 die „Traumfrauen“ mit und für Langzeit­ arbeitslose umgesetzt. Das Projekt hatte, zusammen mit dem Club der Andersbegabten, 2015 die Jury des Theaterpreises des Bundes überzeugt. Für den damaligen Intendanten Alexander Netschajew stand gleich fest, wofür die 80 000 Euro Preisgeld ausgegeben wer­ den: für Projekte, die in die Stendaler Gesellschaft hineinwirken. Ein Teil ging an die zweite Auflage des 2014 in Stendal uraufgeführten Stückes „Ritter Roland“ über Stendals Wahrzeichen, die Roland-Figur auf dem Marktplatz, das dank vieler spielfreudiger Altmärker*innen als großes Open-Air-Spektakel mit rund 100 Mitwirkenden gezeigt wurde und das kulturelle Wir-Gefühl einen großen Schritt voran­ gebracht hat. Unter dem Titel „Roland rettet die Hanse“ soll es eine Fortsetzung geben – wieder als Theaterstück der Sten­daler*in­nen für

die Stendaler*innen. Geld gab es zudem für das Projekt „Traum­ fabrik“. Ein Schuljahr lang haben sich Berufsschüler*innen und Gym­ nasiast*innen auf verschiedenen Wegen ihren Träumen genähert. Mit einem öffentlichen Aktionstag präsentierten die rund 130 Akteur*in­nen ihre „Träumereien“ über Stendals Zukunft. Das dritte Vorhaben: das Projekt „Dehnungsfuge – auf dem Lande alles dicht?“, bei dem das interkulturelle Miteinander von jungen Migrant*innen und Deut­ schen gefördert wird, ob beim Aufbau eines Treffpunkts, beim Graffiti­ projekt oder beim Theaterspiel. Bei all diesen Projekten baut das TdA auf langjährige Partner, die vom Kindergarten bis zur Hochschule Magdeburg-Stendal, vom Ver­ ein bis zum Amtsgericht reichen. Dieses Miteinander ist für Intendant Rahlfs ein Muss: „Aus dem Elfenbeinturm hinauszuschauen, gehört einfach dazu.“ Das Hinausgehen zu den Menschen sei „der Schlüssel dafür, mit den Zuschauer*innen ins Gespräch zu kommen. Denn es bedeutet: Mein Publikum findet mich.“

THEATER DER ALTMARK Das Theater der Altmark bietet nicht nur dem Stendaler Publikum über 800 Auf­ führungen pro Spielzeit (867 in der SZ 2018/19), sondern ermöglicht als Landes­ theater auch den Einwohnern der Region mit über 450 Gastspielen pro Spielzeit ein vielfältiges Theaterangebot. Neben bis zu 14 Premieren (SZ 2018/19), die für das Junge TdA und das Abendprogramm produziert werden, entstehen in den Laienspielclubs des Theaters, zu dem auch die Bürgerbühne des TdA gehört, bis zu acht Produktionen pro Spielzeit (2018/19). Das Programm wird abgerundet durch Konzerte und Darbietungen der Kleinkunst.


22 D A S T H E AT E R D E R J U N G E N W E LT I N L E I P Z I G

JUNGE WILDNIS VON DIMO RIESS

Julius Hirsch und Gottfried Fuchs hießen wirklich so, jüdische Fußbal­ ler im deutschen Trikot. Fuchs emigrierte. Hirsch, genannt „Juller“, wurde in Auschwitz ermordet. In der Inszenierung „Juller“ des Thea­ ters der Jungen Welt in Leipzig treffen sie sich im Himmel wieder. Der Himmel dient als Metaebene, Reflexionsraum – und im Kontrast zur weiteren Handlung als komödiantische Spielfläche. Komik beim ­Thema Holocaust, darf man das? Regisseur und TdJW-Intendant Jürgen Zielinski sagt in Anlehnung an ein George-Tabori-Zitat: „Es soll gelacht werden – aber so, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt.“ Und das tut es. Die Insze­ nierung von 2017, ein Auftragswerk des TdJW, sagt viel über das Selbstverständnis des Hauses, das viele Stücke selbst entwickelt, um in die Lebenswirklichkeit seines Publikums vorzustoßen. Kunst und Botschaft gehen Hand in Hand. Historische Stoffe schielen in die ­Gegenwart, ergänzt mit Begleitmaterial einer Theaterpädagogik, die sich frech Junge Wildnis nennt und ungewohnte Konzepte ent­wickelt. Etwa das Klassenzimmer-Stück „Die Eisbärin“. Am Ende ­erfahren die irritierten Schüler*innen, dass es sich nicht um eine Youtuberin ­handelt, die den Unterricht kaperte, sondern um eine Schau­spielerin. Um Theater. Fake. Trutzig fast steht das Theaterhaus im Leipziger Westen, einst ­Industriequartier, heute Gentrifizierungsregion. Vor einigen Jahren konnte die Gegend ein NPD-Büro abschütteln, gegen das das TdJW stets Position bezog. Der Wandel und seine gesellschaftlichen ­Facetten lassen sich vor der Tür beobachten, und das TdJW nutzt die Reibungsflächen, thematisiert sie, geht mit Theaterformaten in den Stadtraum und vernetzt sich. Im Kleinen mit Vereinen wie der ­Lebenshilfe, um Menschen mit Behinderung zu integrieren. Im G ­ roßen mit der Kulturstiftung des Deutschen Fußballbundes, ohne die es „Juller“, geschrieben vom renommierten Jugendtheaterautor Jörg Menke-Peitzmeyer, mit seinen vielen Gastspielen nicht gegeben hätte. Nicht nur mit „Juller“ gelingt es beispielhaft, theaterfernes Publikum zu gewinnen. Gruppen aus Entzugskliniken kamen zur ­ ­Erfolgsproduktion „Crystal“ von Heike Hennig. Ein Stück, das Rausch und Ekstase tänzerisch reflektiert. Zielinski, seit 2002 Intendant und jetzt in seiner letzten Saison am Haus, hat Tanzstücke als Programm­ säule etabliert. Dabei half zuletzt das Preisgeld aus dem Theaterpreis des Bundes von 2015: Wenn auch „Bräute“, ebenfalls von Heike ­Hennig, bald wieder vom Spielplan verschwand, das dreisprachige „Rose Rose Rose“ von Malin Axelsson, Karin Serres und Marianne Ségol über die Zerrissenheit einer Teenagerin peilt seine 50. Au­fführung an. „Ermutigungspreis“ will die Auszeichnung des Bundes sein. Mut hat das TdJW indes schon immer bewiesen. In klammen Nachwende­

jahren wurde eine Puppenspielsparte aufgebaut. Das TdJW zählt zu den Vorreitern beim Kleinkindtheater ab zwei Jahren. Es traut seinem Publikum ästhetisch und inhaltlich viel zu von der Hirnforschung bis zum Holocaust. Internationale Kooperationen, regelmäßig mit Part­ nern aus Israel, sind Alltag. Und über allem flattert die Flagge der Toleranz und Vielfalt. Mit der Inszenierung „Brennpunkt X“ von ­Nuran David Calis gelang eine herausragende Begegnung der Kul­ turen mit Geflüchteten und Ensemblemitgliedern. Dafür erhielt das TdJW 2016 den Sonderpreis des Sächsischen Förderpreises für Demo­ kratie. Das TdJW, 1946 gegründet, ist zwar das älteste Kinder- und ­Jugendtheater Deutschlands, aber ganz am Puls der Zeit. Mit einem Etat von nur gut vier Millionen Euro erreicht das Haus weit über 50 000 Zuschauer*innen pro Saison. Und wenn es, wie beim Festakt zum 70. Geburtstag, mal wieder als „wichtig“ gelobt wird, schiebt Zielinski gern hinterher: „Wir sind nicht wichtig. Wir sind notwendig.“

THEATER DER JUNGEN WELT Das Theater der Jungen Welt ist das älteste professionelle Kinder- und Jugend­ theater Deutsch­lands, das mit seinem auf Vielfalt ausgerichteten Programm alle Leipziger*innen anspricht. Über 700 Vorstellungen können diese pro Jahr besuchen. Dabei ent­stehen in dem Stadttheater bis zu zehn Eigenproduktionen pro Spielzeit (2018/19). Die Spielzeiten werden durch Programmreihen begleitet, die sich einem bestimmten Thema widmen. In der gegenwärtigen Spielzeit wird unter dem Titel „Die unmögliche Begegnung“ das Zusammenfinden unter­ schiedlicher Perspektiven und Gäste erprobt und zum Beispiel die Aktualität von Werten wie Treue und Liebe untersucht.

„Rose Rose Rose“ von Malin Axelsson, Karin Serres und Marianne Ségol in der Regie von Jörg Wesemüller (Theater der Jungen Welt 2017). Foto Tom Schulze

DIE NAMEN KLINGEN wie ausgedacht: Hirsch und Fuchs. Aber


23 D A S T H E AT E R O B E R H A U S E N

VOM RINGEN MIT DER GEGENWART VON SASCHA WESTPHAL

„Glaube Liebe Hoffnung“ von Ödön von Horváth in der Regie von Florian Fiedler (Theater Oberhausen 2019) . Foto Katrin Ribbe

ES WAR EINE UNVERGESSLICHE ZEIT. Für gut zwei Wochen

hatte Oberhausen im März 2012 seine eigene Währung. Das Kollektiv geheimagentur hatte sie im Rahmen des Stadtprojekts „Schwarz­ bank. Kohle für alle“ ausgegeben. Die Oberhausener*innen konnten in einigen Geschäften und Restaurants mit Schwarzkohle statt mit Euro bezahlen. Es gab also ein paralleles Währungs- und Tausch­ system, das der Frage nach dem Wert der Dinge eine andere Bedeu­ tung verlieh. Sie bekam wieder eine greifbare lokale Dimension. So schärfte die Oberhausener Währung den Blick für die globalen wirt­ schaftlichen Verhältnisse. Dieses Projekt, das eine mehrjährige Zusammenarbeit des Thea­ ters Oberhausen mit der geheimagentur eröffnete, war typisch für Peter Carps von 2008 bis 2017 währende Intendanz. In jenen Jahren wurden die Grenzen zwischen der freien Szene und den Stadttheatern überall in Deutschland poröser. Aber Carp und sein Ensemble haben diese Entwicklung mit besonderer Verve vorangetrieben. Nicht ohne Grund heißt es in der Jurybegründung für die Vergabe des Theater­ preises des Bundes 2015: „Wenige Stadttheater öffnen sich derart kontaktfreudig der freien Szene wie das Theater Oberhausen.“ Diese Öffnung hatte von Anfang an eine sehr dezidierte Ausrich­ tung. Alle Kooperationsprojekte kreisten ganz direkt um Fragen und Probleme der Oberhausener Stadtgesellschaft, die nicht mehr nur von den Künstler*innen auf der Bühne bearbeitet und kommentiert wurden. Wie beim „Schwarzbank“-Projekt wurde das Publikum im­ mer wieder miteinbezogen. Es war selbst Akteur*in und konnte seine alltägliche Wirklichkeit aktiv hinterfragen. Mit der „Schwarzkohle“ verlor das bestehende Geld- und Kapitalsystem seine so oft beschwo­ rene Alternativlosigkeit. Bei „Escape the Universe“, einem vom ­dänischen Kollektiv by Proxy erarbeiteten „Rave der Reflektion“, konnte sich das Publikum fragen, wie es wäre, die Erde hinter sich zu lassen. Das zu einem Teil mit dem Preisgeld finanzierte Projekt war noch in einer anderen Hinsicht typisch für Peter Carps Arbeit. Er hat das Theater nicht nur der freien Szene geöffnet. In seiner Intendanz ­prägten internationale Regisseur*innen mit ihren Handschriften das Haus und machten es auch zu einem Labor höchst unterschiedlicher Ideen von dem, was zeitgenössisches Theater sein kann. Den an­ strengenden und doch befreienden Exzessen eines ­Andriy Zholdak stand das popkulturell geprägte psychologische ­ Theater Simon Stones gegenüber, dessen Triumphzug durch die deutschsprachige Theaterlandschaft mit der Oberhausener „Orestie“ begann. Mittlerweile sind fünf Jahre seit der Preisverleihung vergangen. Eine gar nicht mal so lange Zeit, die an einem Theater allerdings einer kleinen Ewigkeit gleichen kann, vor allem wenn wie in Oberhausen

die Leitung wechselt. Peter Carp hat das Haus im Sommer 2017 ver­ lassen. Seither hat sich vieles verändert. Das Ensemble, das Inten­ dant Florian Fiedler gemeinsam mit seinem Team zusammengestellt hat, ist j­ünger und diverser. Aber allen Unterschieden zum Trotz gibt es auch Linien, die sich weiter durch die Oberhausener Theaterarbeit ziehen. Fiedler setzt mit Projekten von Gruppen wie Technocandy und FUX die Kooperationen mit der freien Szene fort. Das Ringen mit den ­großen, oft strittigen Fragen unseres Alltags geht weiter. Nur die ­Ansätze haben sich etwas verschoben. Das Theater Oberhausen ­beschäftigt sich nun gezielt mit der Frage, wie sich die teils offen­ sichtlichen, teils verborgenen rassistischen und sexistischen Struk­ turen in unserer Gesellschaft überwinden lassen.

THEATER OBERHAUSEN Das Theater Oberhausen bietet einen vielseitigen Spielplan, der dem Anspruch gerecht werden soll, gesellschaftliche Themen auf sinnliche und lustvolle Weise zu verhandeln. Die dabei in den vergangenen zwei Spielzeiten entstandenen 47 Produktionen fanden nicht nur auf den zwei Hauptbühnen des Theaters statt; bespielt wurde unter anderem auch ein ehemaliger Kaufhof, der Oberhausener Ebertplatz, die ehemalige Kantine des Rathauses und das Jugendzentrum Druckluft. Von insgesamt vier Festivalformaten konnte vor allem „d.ramadan“ über­regional Aufmerksamkeit erregen. Mit einer Vielzahl an partizipatorischen Projekten öffnet sich das Theater weiter der Oberhausener Stadtbevölkerung.


24 GESPRÄCH

AND THE WINNER IS …

IM GESPRÄCH MIT DETLEF BRANDENBURG

­ egenüber einem anderen vergleichbaren Anbieter den zweiten Platz g gemacht. Möglicherweise traute die Jury den Bespieltheatern ja keine genügend starke künstlerische Profilierung zu.

Herr Haendeler, Herr May, Herr Schäfer, Sie alle haben es bei der ja durchaus heftigen Konkurrenz um den Theaterpreis des Bundes 2019 weit gebracht: Ihre Theater gehörten zum Spitzenfeld der Bewerber, die die Jury als mögliche Preisträger diskutiert hat. Aber am Ende hat es nicht ganz gereicht. Überwiegt die Enttäuschung oder der Stolz? Roland May: Ach, das sehen wir bei uns sportlich. Man kann sich ja nicht mit dem Anspruch bewerben, dass man den Preis auch sicher bekommt. Und es ist doch schön zu hören, dass man immerhin eine gute Chance hatte. Wolfgang Haendeler: Ich gebe zu: Wir waren schon enttäuscht. Aber als dann der Anruf von Michael Freundt vom Internationalen ­Theaterinstitut kam mit der Information, dass wir doch recht weit ­gekommen sind, verbunden mit einer Einladung zur Preisverleihung, da haben wir uns gefreut. Und ich habe auch gleich in die Stadtgesell­ schaft kommuniziert, dass unsere Arbeit gesehen und gewürdigt ­worden ist. Für uns hatte es eine gewisse Bedeutung, dass kein anderes Bespieltheater ausgezeichnet worden ist. Wir haben also nicht

Darauf kommen wir noch zurück. Aber wenn Sie sagen, Sie haben die Tatsache, dass Ihr Haus relativ weit oben mitdiskutiert wurde, gleich in die Stadtgesellschaft kommuniziert, dann deutet das ja auf einen Wirkungsaspekt dieses Preises hin: Er trägt zur Wahrnehmung und auch zur Anerkennung Ihres Theaters bei? Christian Schäfer: Ich habe das jetzt nicht gleich in die Stadtgesell­ schaft getragen, aber ich strebe eine Bewerbung bei der nächsten Preisvergabe an in der Hoffnung, dass es dann vielleicht noch etwas Erfreulicheres zu kommunizieren gibt. Auf jeden Fall würde die Ver­ leihung eines Bundestheaterpreises an uns eine Verbesserung unse­ rer Wahrnehmung und Wertschätzung bedeuten. Denn es ist schon so, dass wir immer um Aufmerksamkeit kämpfen müssen. Ich komme vom Ensembletheater und war früher Intendant am Zimmertheater in Tübingen. Und ich muss zugeben: Bis zu meiner Bewerbung dort hatte ich Gütersloh nicht auf meiner Theaterlandkarte. Diese NichtWahrnehmung der Bespieltheater versuche ich seit Amtsantritt zu ändern: mit einem Programm, das hoffentlich über die Stadtgrenzen Community Dance Project des Theaters Hameln (2020). Foto Bettina Stöß

Über die Wirkmächtigkeit des Theaterpreises des Bundes – Wolfgang Haendeler, Direktor des Theaters Hameln, Ulrike Kolter, Jurymitglied Theaterpreis des Bundes 2019, Roland May, Generalintendant des Theaters Plauen-Zwickau, und Christian Schäfer, Künstlerischer Leiter des Theaters Gütersloh


Community Dance Project des Theaters Hameln (2020). Foto Bettina Stöß

hinausstrahlt; mit Eigen- und Koproduktionen, die es erst gibt, seitdem ich da bin; und auf politischer Ebene, in dem wir gemeinsam mit mei­ nem Chef, Kulturdezernent Andreas Kimpel und anderen Mitgliedern des Kultursekretariates NRW beim Land und im Kulturausschuss des Landtages Nordrhein-Westfalens auf uns aufmerksam machen und beispielsweise die Förderschiene „Heimwärts“ miterfunden h ­ aben. Darüber hinaus sind wir von unserem Selbstverständnis ein Stadtthea­ ter, inklusive breitem theaterpädagogischem Angebot und Bürgerbüh­ ne, das im Übrigen mit einem vielfältig aufgestellten Spielplan ein durchaus diverses und großes Publikum erreicht. Für diese Theater­ arbeit einen Preis zu bekommen, würde die Aufmerksamkeit für uns zweifellos steigern und sich auch in der Stadt politisch gut m ­ achen. May: Auch wenn wir ihn jetzt nicht bekommen haben, finde ich es ­generell gut, dass es diesen Preis gibt. Denn er schenkt Theatern Auf­ merksamkeit, die sonst wenig wahrgenommen werden, deren Arbeit ich aber dennoch wertvoll finde. Wir bewerben uns auch immer ­wieder, obwohl wir uns bewusst sind, dass ein Haus wie unseres das Kriterium des „künstlerisch Herausragenden“ schwer erfüllen kann, weil unser Tagesgeschäft natürlich durch prekäre finanzielle Verhält­ nisse geprägt ist. Aber wenn wir dann die Aspekte unserer Arbeit für die Bewerbung zusammentragen, finde ich immer wieder, dass da eine Menge zusammenkommt, gerade hinsichtlich der Kommunika­ tion mit der Stadtgesellschaft. Aber uns ist völlig klar, dass eine Jury vor einer enormen Vielfalt von Theaterangeboten steht, und deshalb sind wir nicht gram, wenn’s nicht klappt. Sie reden alle über den Imagegewinn durch diesen Preis und nicht über das Preisgeld … Haendeler: Oh, wir wussten schon sehr genau, was wir mit dem Preisgeld hätten machen wollen. Es gibt an unserem Theater ja das Community Dance Project, ein partizipatives Tanz-Format unter der Leitung von Tiago Manquinho, Choreograf am Tanztheater des Staatstheaters Braunschweig. Wir hatten ganz schön Mühe, das zu

stemmen, jetzt machen wir es gerade zum zweiten Mal. Aber in der kommenden Spielzeit können wir das Projekt nicht wiederholen – mit dem Preisgeld indes wäre es möglich gewesen. Schaefer: Dem kann ich insofern beipflichten, als dass wir um ein sehr hohes Qualitätslevel bemüht sind und dadurch regelmäßig unsere personellen, terminlichen und finanziellen Möglichkeiten ausreizen. Der Erfolg gibt uns bislang recht, aber wir sind dafür tatsächlich per­ manent auf Drittmittel unterschiedlicher Partner angewiesen. Ein Preisgeld wäre hilfreich, um noch mehr Formate im Sinne der Preis­ kriterien umsetzen zu können.

Auf jeden Fall würde die Ver­leihung eines Bundestheaterpreises an uns eine Verbesserung unserer Wahrnehmung und Wertschätzung bedeuten. Christian schäfer Stichwort Preiskriterien: Offenbar nehmen Sie die Identität des ­Preises sehr genau wahr. Sie sehen die spezifische Ausrichtung des Preises, die ihn von anderen unterscheidet. Haendeler: Na klar, es geht zentral um die Rolle des Theaters in der Stadt. Und darin erkennen wir uns wieder, weil die Zeiten, in denen


Was jetzt mehrfach angeklungen ist, ist die unterschiedliche Orga­ nisationsform der hier versammelten Theater: Sie, Herr May, leiten ein fusioniertes Stadttheater. Die Städte Plauen und Zwickau sind ­sicher unterschiedlich, aber Sie sind mit einem kompletten Ensemble vor Ort. Sie können Ihre Dramaturg*innen, Sänger*innen und Schau­spieler*innen mit in die Außenkommunikation einbinden, Sie können sich stark auf diese beiden Städte fokussieren. Sie, Herr ­Haendeler und Herr Schäfer, haben gar keine Sänger*innen oder

Schau­spieler*innen oder Tänzer*innen fest am Haus. Und Sie müssen das, was richtig ist für Ihre Stadt, bei Anbietern anderswo finden, statt es selbst zu produzieren. Haendeler: Deshalb haben wir zwei Laienensembles, die Produktio­ nen bei uns machen. Und ich habe 2017 selbst ein Stück über wichtige Hamelner Persönlichkeiten geschrieben, das wir in einem histori­ schen Restaurant, dem Pfannekuchenhaus, uraufgeführt haben, mit einer Schauspielerin und einem Schauspieler aus Hannover. Aber mehr Eigenproduktion geht nicht, denn wir haben keine Proben­ räume. Bei uns macht es eben die Auswahl. Ich arbeite sehr bewusst mit fast allen Landesbühnen zusammen, die für uns infrage kommen, auch aus kulturpolitischen Gründen, denn das sind diejenigen, die für uns produzieren. Das sprichwörtliche Tourneetheater mit den Fern­ sehstars macht nur den kleinsten Teil aus, wobei: Das ist genau das, was unser Publikum möchte. Trotzdem haben wir unserem Publikum so etwas Sperriges wie Elfriede Jelineks „Am Königsweg“ zugemutet – da mussten sie durch! Schäfer: Auch wir haben immer wieder Landestheater bei uns zu Gast, insbesondere im Kinder- und Jugendbereich und im Musiktheater, wo wir uns nur punktuell so aufwendige Produktionen wie Andreas Kriegenburgs „María de Buenos Aires“ vom Theater Bremen mit über 100 Mitwirkenden leisten können. Wobei ich es als schwierig empfinde, die meisten Landestheater-Produktionen, die uns ange­boten werden, nicht sehen zu können, weil sie bei Redaktionsschluss unseres Spiel­ zeitheftes noch gar nicht produziert sind. Ich empfände es als sehr sinnvoll, wenn Landestheater für den Gastspielmarkt vermehrt mit Wiederaufnahmen arbeiten würden, um die Produktionen sichten, beurteilen und gemeinsam mit meiner Leitungskollegin ­Karin Sporer auf ihre Gütersloh-Kompatibilität überprüfen zu können. Genau da wird die Frage nach der Kommunikation jenseits der Bühne interessant. Herr May, Sie haben die Möglichkeit, eine Produktion durch begleitende Veranstaltungen mit dem Ensemble, dem Regie­

„Loreley (Sinking Ships)“ von Fink Kleidheu, Tilman Rammstedt und Svavar Knútur in der Regie von Christian Schäfer (Theater Gütersloh 2018). Foto Kai Uwe Österhelweg

die Bespieltheater nur nach Katalog kaufen, vorbei sind. Wir haben ein sehr junges Publikum, und wir haben Zuschauer über 50, aber ­dazwischen klafft eine Lücke. Um diese Menschen in der Lebensmitte zu erreichen, müssen wir etwas erzählen, was diese Altersklasse ­angeht. Wir müssen klarmachen, dass wir für die Stadt existieren. Deshalb arbeiten wir auch mit der freien und der alternativen Szene in der Stadt zusammen. In diesem Sinne wäre der Preis eine Motivation für uns gewesen. Schäfer: Ich glaube, diese Vernetzung in der Stadt wird sich jede neue Intendantin, jeder neue Intendant auf die Fahnen schreiben. Aber als ich nach Gütersloh kam, war da tatsächlich noch einiges zu tun, auch hinsichtlich von Feedback-Foren, Gesprächsangeboten, digitaler Ver­ triebskanäle. Wir sind in Gütersloh beileibe nicht nur Spielstätte für tourende Bühnen. Wir arbeiten sehr intensiv mit festen Häusern aus den Metropolen zusammen und bieten mit den über die Saison verteil­ ten Highlights fast so etwas wie ein ganzjähriges Festival. In unseren Eigenproduktionen setzen wir uns mit Themen und Persönlichkeiten der Stadt beziehungsweise der Region auseinander. So verstehe ich Stadttheater: ein Theater, das sich mit der Stadt auseinandersetzt, an dem die Stadtgesellschaft mitwirkt. Das findet enorme Resonanz. Aber ich muss ehrlich sagen: Es gibt gerade im Bereich der Bespieltheater Kollegen, denen dafür einfach die Mittel fehlen. Und auch da könnte das Preisgeld extrem hilfreich sein. Idealerweise ­ermöglicht es in länd­ lichen Gebieten Dinge, die man dort nicht erwarten würde.


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team und der Dramaturgie zu unterstützen. An einem Bespielhaus ist das schwieriger. Haendeler: In gewisser Weise sind wir schon im Nachteil. Aber damit kann man ja umgehen. Inzwischen bieten viele der Bühnen, die wir einladen, Einführungen an. Das nehmen wir sehr gerne an. Für die Sinfoniekonzerte habe ich einen jungen Musikwissenschaftler aus Hannover engagiert, der macht sonntags vor den am Dienstag statt­ findenden Konzerten eine 75-minütige Einführung. Bei den Theater­ freunden gibt es viermal pro Saison Einführungen zum Programm. Und wir stellen immer mal wieder einen Gast vor, die Schauspielerin oder den Schauspieler einer Produktion zum Beispiel. So wird dem­ nächst Klaus Köhler, Schauspieler in Penelope Skinners „Aggro Allan“, das vom Staatstheater in Mainz zu uns kommt, den Theater­ freunden nach der Vorstellung für ein Gespräch zur Verfügung stehen. Und ich versuche, mit bestimmten Gruppen regelmäßig zusammen­ zuarbeiten, zum Beispiel mit dem Neuen Globe Theater in Potsdam. Von dort habe ich jetzt Bertolt Brechts Bearbeitung von Christopher Marlowes „Leben Eduards des Zweiten“ eingeladen. Das ist so eine Produktion, wo ich sage: Okay, da sind jetzt nur 180 Zuschauer*innen im großen Theatersaal, wo eigentlich 650 Plätze wären, das tut mir schon weh … Aber das möchte ich setzen! Was einem Haus wie dem unseren fehlt, ist die Nachhaltigkeit, mit einer solchen Inszenierung die Stadt und das Publikum zu prägen. Denn es konzentriert sich ja alles auf die eine Aufführung, die die erste und die letzte ist. Schäfer: Richtig, das macht die Sache schwierig: Die Werbung und die Vermittlung, alles muss im Vorfeld stattfinden, bevor das Stück über­ haupt zu sehen war. Wir können nicht auf die gute Kritik nach der ­Premiere hoffen, weil eine Produktion bei uns oft nur zweimal gezeigt wird. Auch wir bieten allerdings oft nach der Vorstellung Gespräche mit den Ensembles an und bemühen uns darum, dass dann und wann eine Regisseurin oder ein Regisseur mit dabei ist. Wir hatten beispiels­ weise schon wunderbare Publikumsgespräche mit Christopher ­Rüping, Martin Schläpfer, Dada Masilo und vielen anderen. Das ist ein wichtiges Instrument, um das Theater als lebendigen Ort zu eta­ blieren. Ulrike Kolter: Genau das ist natürlich etwas, was wir auch in der Jury viel diskutiert haben: Wie schaffen es die Bespielbühnen, wirklich Theater für eine Region zu zeigen? Insofern war es für uns ein wichti­ ges Signal, dass das Theater Gütersloh auch Eigenproduktionen macht und gerne noch mehr machen würde. Was mich interessieren würde: Registriert Ihr Publikum überhaupt, dass ein bestimmter Abend eine Eigenproduktion ist? Wird das honoriert? Schäfer: Ich glaube schon. Der Begriff „Eigenproduktion“ klingt für den nicht-fachkundigen Theatergänger ja erst mal etwas seltsam. ­Insofern ist es schön, dass er inzwischen auch von unseren Zuschauern verwendet wird: „Ihre Eigenproduktion hat mir gefallen!“, so in der Art. Diese Produktionen sind meist sehr gut besucht, obwohl wir da hauptsächlich Uraufführungen machen. Wir setzen nicht auf Komö­ dien oder Boulevardstücke, sondern geben wirklich Dramen in Auf­ trag für diese Schiene. Und diese Uraufführungen laufen zum Teil im Großen Haus. Dabei hilft auch das Abonnement: Wir verkaufen über 4000 Abonnements pro Spielzeit. Das gibt uns die Sicherheit, auch sperrige Produktionen nicht vor leeren Rängen spielen zu müssen. So, jetzt mache ich die Herren aus Gütersloh und Hameln mal nei­ disch. Herr May spielt pro Saison etwa 1500 Aufführungen in 65 Insze­

nierungen, alles Eigenproduktionen, an seinen Häusern arbeiten 299 Mitarbeiter*innen aus 20 verschiedenen Nationen. Und mit dieser Logistik und Manpower fokussiert er sich – abgesehen davon, dass er natürlich auch Gastspiele macht – im Wesentlichen auf zwei Städte. Herr May, inwieweit beteiligt sich Ihr Ensemble jenseits der Bühnen­ auftritte an Ihrer Kommunikation in die Stadt hinein? May: Ensemble, Dramaturgie und Theaterpädagogik sind daran in einem sehr großen Umfang beteiligt. Und sie begleiten auch unser Gastspielprogramm jenseits von Plauen und Zwickau intensiv. Man darf ja bei uns nicht vergessen, dass unser Theater nicht nur von den beiden Städten finanziert wird, sondern auch vom umliegenden „Kul­ turraum“, wie das bei uns in Sachsen heißt. Das heißt: Es gehört zu unserem Auftrag, auch die umliegenden Städte und Dörfer zu bespie­ len. In diesem gesamten Kontext wird die Liste der sogenannten ­Sonderveranstaltungen immer länger. Das sind nicht nur Einführungen

gerade im Osten ist es wichtig, dass wir uns um die jungen Leute kümmern, ihnen Werte vermitteln, sonst machen das andere. Roland May

und Publikumsgespräche. Wir wirken auch bei Jubiläumsveranstal­ tungen mit, vernetzen uns mit Laiengruppen, das ist ein Riesen­ programm geworden. Besonders sind bei uns die jungen Zuschauer*in­ nen im Fokus. Wir haben mit den Schulen Verträge geschlossen, sie kommen in unsere Vorstellungen und erhalten dazu passgenaue ­theaterpädagogische Angebote, Nachbereitungen – das klappt sehr gut. Dazu haben wir Jugendclubs, Studentenclubs, Erwachsenen­ clubs, wir bieten in den Ferien sogenannte Theaterlabore an, wo Schüler*innen mit unseren Profis zusammenarbeiten, wir haben eine Vernetzung mit den Konservatorien … Ich frage mich wirklich manch­ mal, wo wir die Manpower dafür noch hernehmen sollen, das ist ein Dauerthema bei uns. Trotzdem bin ich sehr froh drüber. Denn gerade im Osten ist es wichtig, dass wir uns um die jungen Leute kümmern, ihnen Werte vermitteln, sonst machen das andere. Das bekommen wir auch zu spüren, beispielsweise, wenn Eltern kommen und wissen wollen, ob wir die Schüler*innen womöglich indoktrinieren. Jetzt könnte man natürlich sagen: Ist ja unfair, dass sich zwei so ­unterschiedliche Theatertypen – Bespielhäuser mit überwiegend Gast­ spielen auf der einen, Stadttheater mit eigenem Ensemble auf der an­ deren Seite – auf ein und denselben Preis bewerben. Aber die deutsche Theaterlandschaft ist eben vielfältig. Und wenn man das Haus von


gerade kleinere oder mittlere Städte sind viel weniger als Großstädte gesegnet mit gesellschaft­lichen Treffpunkten und Orten der poli­tischen Auseinandersetzung. Wolfgang haendeler

ten in der Regel länger sind als bei den Solist*innen, verteilen sich auch aufs Land. So können wir uns auch individuell auf die Städte be­ ziehen. Trotzdem ist klar: Die großen Produktionen in Schauspiel, Oper, Tanz, auch die Konzerte müssen für beide Städte taugen, sonst wird’s schlicht und einfach zu teuer für uns. Und sie müssen die ver­ schiedenen Altersgruppen erreichen, damit die Häuser dann auch voll sind. Man kann natürlich den Fokus immer ein bisschen hin und her verschieben. „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ zum Beispiel ­haben wir bewusst mit Blick auf ein jüngeres Publikum gemacht. Und wir haben spezifische Angebote für die jeweilige Stadt. Das sind dann beispielsweise Formate für die kleinen Bühnen, unter anderem die „Nachtschicht“, die in Zwickau primär vom Tanz gemacht wird und in Plauen primär vom Schauspiel. Wir haben mal versucht, das aus­ zutauschen zwischen den beiden Städten, aber das hat nicht gut ­geklappt. Für Zwickaus 900-jähriges Jubiläum haben wir ein ganzes Portfolio von Eigenproduktionen und Gastspielen entwickelt, wo ­Robert Schumann im Mittelpunkt stand. Und wenn Plauen 2022 ebenfalls den 900. Geburtstag feiert, sind wir natürlich wieder dabei – nur wird das ganz anders aussehen. Ulrike Kolter, inwieweit und wie haben Sie die Unterschiede der Theater­typen in der Jury reflektiert? Kolter: Dass der Preis vor allem für kleine und mittlere Häuser konzi­ piert ist, in der Folge aber auch für kleine und mittlere Städte, ist eine klare Setzung. Es bestand die Regel, dass nur drei der Preise an Städte mit über 300 000 Einwohner gehen dürfen. Und wir haben natürlich versucht, die Vielfalt der Fläche abzubilden, von den Theatertypen her, aber auch regional. Natürlich kommt man damit an Grenzen –

„Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Bertolt Brecht in der Regie von Roland May (Theater Plauen-Zwickau 2019). Foto André Leischner

Herrn May mit einem Produktionshaus vergleicht, das sich in einer Großstadt passgenau auf ein bestimmtes schmales Publikumssegment fokussiert, dann kommt einem das Theater Plauen-Zwickau wie ein ­Gemischtwarenladen vor, der in seiner Region alles abdecken muss. May: Das versuchen wir, ja. Auch dadurch übrigens, dass wir unser Ensemble auf diese beiden sehr unterschiedlichen Städte verteilen. In Zwickau sitzen das Musiktheater und das Ballett, das das Publi­ kum dann auch mal beim Bäcker und im Supermarkt trifft. Das ist für unsere Zuschauer*innen wichtig! In Plauen dagegen sind die Schauspieler*innen. Und Chor und Orchester, wo ja Vertragslaufzei­


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trotz der sehr klar formulierten programmatischen Kriterien, die für diesen Preis gelten. Wir haben uns schwer damit getan, das Pro­ gramm eines Bespieltheaters zu vergleichen mit dem eines Stadt­ theaters oder einer Landesbühne, weil das Fehlen eines eigenen ­Ensembles es für diese Häuser enorm schwer macht, einen regiona­ len Identitätskern auszubilden. Und weil auch die Kommunikations­ kanäle, die Herr May gerade beschrieben hat, hier zwangsläufig nicht im gleichen Maße ausgebildet werden können. Gütersloh und H ­ ameln fanden wir in dieser Gruppe wirklich herausragend, aber letztlich doch nicht ganz auf Augenhöhe. Ein Bespielhaus aus rein politischen Gründen hineinzuwählen – das wollten wir nicht, weil wir die künstle­ risch-programmatischen Kriterien, die für diesen Preis formuliert sind, doch ausschlaggebender fanden. Aber es war eine schwierige und knappe Entscheidung. Haendeler: Natürlich haben wir wegen des fehlenden Ensembles tatsächlich nur vier fest in der Stadt verortete „Botschafter“ des Theaters: die beiden Theaterpädagogen, die Dramaturgin und mich selbst. Ich war ja selbst lange an Ensembletheatern tätig und weiß, wie wirkungsvoll man die künstlerische Ressource „Ensemble“ im Diskurs mit der Stadt einsetzen kann. Aber umso größer ist bei uns die Anstrengung, das Theater in den demokratischen Diskurs der Stadt einzubringen. Diesen Wunsch haben wir genauso wie Herr May oder andere Häuser. Wenn ich hier ein Ensembletheater mit al­ lem Drum und Dran hätte, wäre die Stadtgesellschaft viel eher da­ von überzeugt, dass in so einem Haus ein gesellschaftlich relevan­ tes Theater stattfinden muss. In einem Haus wie unserem dagegen gehen die Städte viel eher davon aus, dass wir für ein Unterhal­ tungsangebot zu sorgen hätten. Das finde ich befremdlich und auch falsch. Denn gerade kleinere oder mittlere Städte sind viel weniger als Großstädte gesegnet mit gesellschaft­lichen Treffpunkten und Orten der poli­tischen Auseinandersetzung. Deshalb sollte man ge­ rade den ­Bespieltheatern einen Beitrag zur p ­ olitischen Bewusst­ seinsbildung abverlangen. Und es wäre toll, wenn das durch so ei­ nen Preis wahrgenommen würde! Wie ist es denn mit dem Kriterium der überregionalen Ausstrahlung? Man macht ja nicht Theater, um einen Preis zu gewinnen, sondern um das Publikum in seinem Umfeld zu erreichen – oder? May: Uns sind die Zuschauer*innen vor Ort das Wichtigste. Aber auch beim Publikum hilft es uns, wenn so ein Preis signalisiert: Das, was bei uns zu sehen ist, wird überregional wahrgenommen und anerkannt. Und natürlich ist es auch für die Künstler*innen wichtig, Anerken­ nung von einer überregionalen Jury zu bekommen. Oder von einer überregionalen Fachzeitschrift. Wir können unseren Künstler*innen nicht viel Geld zahlen – und wir verlangen viel von ihnen. Denen ­bedeutet es sehr viel, wenn sie von außen anerkannt werden. Auch übrigens, weil sie sich damit anderswo bewerben können. Das wird im Ensemble wahrgenommen, bei den Zuschauer*innen und auch in der Politik. Und es hilft uns sehr. Haendeler: Das kann ich nur bestätigen. Was uns mitunter zu schaf­ fen macht, ist die räumliche Nähe zu Hannover. Es gibt in Hameln Leute, die sagen: Also – bevor ich in Hameln ins Theater oder ins Kon­ zert gehe, setze ich mich lieber ins Auto und fahre nach Hannover. Allein in dem Kontext hilft überregionale Anerkennung immer. Schäfer: Wir sind ja umgeben von Ensembletheatern. Aber als Thea­ ter mit kuratiertem Gastspielprogramm aus dem gesamten deutsch­

sprachigen Raum, ergänzt durch internationale Produktionen, das vom durch Drittmittel ermöglichten Hollywoodstar, über das zum freien Eintritt zu erlebende Musikensemble aus Afghanistan bis hin zum Tanztheater aus São Paolo ein sehr vielfältiges Programm zeigt, bieten wir auch eine Ergänzung für Theaterfreund*innen aus Biele­ feld, ­Paderborn oder Münster. Wir versuchen, das Regionale mit dem Überregionalen zu verbinden. Bei unseren Eigenproduktionen koope­ rieren wir mit den Ruhrfestspielen oder mit dem Theaterhaus Stutt­ gart. Und wenn dann eine „unserer“ Produktionen dort Erfolg hat, freuen wir uns natürlich darüber – das ist ja auch eine überregionale Anerkennung. Wie wichtig das ist und was noch fehlt, hat man wieder gesehen, als in Nordrhein-Westfalen die Theatermittel des Landes aufgestockt worden sind. Da wurden die Bespieltheater beziehungs­ weise Programmtheater, wie wir uns seit Neuestem betiteln, weil wir eben nicht nur „bespielt“ werden, bisher nicht berücksichtigt. Auch in solchen Verteilungskonkurrenzen würde es uns helfen, wenn durch so einen Preis anerkannt würde, dass auch Bespieltheater einen wesent­ lichen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs in der Stadt leisten kön­ nen. Es ist natürlich wichtig, vor Ort das Richtige zu tun. Aber es ist ebenso wichtig, dass das auch anderswo wahrgenommen und aner­ kannt wird.

Wolfgang Haendeler, Direktor des Theaters Hameln. Das Theater Hameln ist ein 1951/52 erbautes, im Januar 1953 eröffnetes Bespieltheater mit 658 Plätzen im Großen Haus. Foto Reinhard Winkler

Ulrike Kolter, Jurymitglied Theaterpreis des Bundes 2019 und Redakteurin des Theater­ magazins Die Deutsche Bühne. Foto Cornelis Gollhardt / Deutscher Bühnenverein

Roland May, Generalintendant und Schauspiel­ direktor des Theaters Plauen-Zwickau. Das Thea­ter Plauen-Zwickau ist ein gemeinsam von den Städ­ ten Plauen und Zwickau betriebenes Theater in Sachsen mit den Sparten Musiktheater, Schau­ spiel, Ballett und Konzert. Es entstand im Jahr 2000 aus den bis dahin selbständigen kommuna­ len Theatern der beiden Trägerstädte. Foto André Leischner Christian Schäfer, Künstlerischer Leiter des Thea­ ters Gütersloh. Das Theater Gütersloh ist ein Pro­ grammtheater mit Gastspielen aus allen Sparten sowie Eigenproduktionen, dessen Neubau des Hamburger Architekten Jörg Friedrich mit 530 Sitz­ plätzen und einer Studiobühne mit bis zu 130 Plät­ zen 2010 eröffnet wurde. Foto Kai Uwe Österhelweg


THEA TER PRE IS

2017

ETA Hoffmann Theater, Bamberg Lichthof Theater, Hamburg Tanzhaus NRW, Düsseldorf Theater Naumburg Theater Altenburg Gera Theater Junge Generation, Dresden Schaubude Berlin Sophiensæle, Berlin


DES BUN DES

„Ein Bericht für eine Akademie“ nach Franz Kafka in der Regie von Stefan Neugebauer (Theater Naumburg 2018). Foto Torsten Biel


32 D A S E TA H O F F M A N N T H E AT E R I N B A M B E R G

MARKTPLATZ DER IDEEN

EIN ALTDEUTSCHER MYTHOS als Denkkonstrukt darüber, wie Gewalt in die Welt kommt: Als Sibylle Broll-Pape im Oktober 2015 mit Hebbels „Nibelungen“ ihre erste Spielzeit als Intendantin und Regis­ seurin am ETA Hoffmann Theater in Bamberg begann, setzte sie ­sogleich ein Zeichen. Von nun an sollten Klassiker neu gewendet und unter einem gemeinsamen Spielzeitmotto in vielfältige Bezüge zur Gegenwart gebracht werden. Von Beginn an weitete sich der Blick auf eine Gesamtschau: Die Stücke wiesen alle untereinander Verbin­ dungslinien auf, das Theater in der Frankenstadt hatte erkennbar ­einen Plan, Haltung und Anspruch. Gleich in der ersten Spielzeit ging es um Deutschland, um den ­Nationalismus und den Begriff Heimat. Themen, die in einer histo­ risch gewachsenen Weltkulturerbestadt inmitten sichtbarer deut­ scher Geschichte zwangsläufig eine Rolle spielen. Da wurde in den „Nibelungen“ herausgearbeitet, dass Gewalt gerne im Beet der Dummheit wuchert, gleich darauf zeigte Konstantin Küsperts Auf­ tragsarbeit „rechtes denken“, wie köderbar immer schon der*die „be­ sorgte Bürger*in“ durch exkludierende „Vaterlandsliebe“ war. Auf­ klärung mit den Mitteln der Unterhaltung ist eines der Leitprinzipien dieses Theaters. Eine Haltung, die schnell eine überregionale Sicht­ barkeit generierte, ein Zuhausesein in der bundesweiten Debatte über die politische Bedeutung des Theaterschaffens, den Stand der Regiekunst und die Bedeutung des Theaters als Marktplatz der Ideen vor Ort. Insofern war die Tür zum Theaterpreis des Bundes ohnehin schon weit geöffnet, als die Auszeichnung im Jahr 2017 den Bamberger*innen zuerkannt wurde: für das ETA Hoffmann Theater im lokalen Standing ein Gewinn, ein Schub. Denn wiewohl vor allem das jüngere Publikum das Haus längst für sich entdeckt hatte, zeigte sich mal wieder, dass die Aufmerksamkeit von außen auch die vor der eigenen Haustür stei­ gern kann. So wurden die gesteigerte Wahrnehmung und das mit dem Preis verbundene Geld eingesetzt, um besagte Leitlinien punktuell weiter auszubauen. Von Anfang an etwa gab das Team um Sibylle Broll-Pape Schreibaufträge an junge Autor*innen heraus, weil so die theatrale Gegenwartserkundung besonders gut gelingen kann. Solche Stück­ aufträge aber wollen bezahlt sein in einem Haus, in dem zwar die künstlerischen, nicht aber die kommunalen finanziellen Mittel immer ausreichend vorhanden sind. Durch das Geld des Bundes waren ein verstärkter Fokus auf die Gegenwartsdramatik, der Anschub eines knallbunten Festivals der bayerischen Jugendclubs sowie der Einsatz von Live-Musik (unter anderem in der Produktion „Utopia? Was fehlt“) möglich. „Ist doch auch mal schön, sich so etwas leisten zu können“, sagt Chefdramaturg Remsi Al Khalisi.

Die Wahrnehmung und Akzeptanz des Hauses wachsen seitdem ­weiter und weiter. Es gedeiht die Zusammenarbeit mit der örtlichen Universität, sozialen Vereinen, den Schulen. Es gibt Spielclubs und Diskussionsveranstaltungen, jede Menge „tolle Begegnungen“, sagt Broll-Pape. Und es gebe sehr viel Arbeit „in der Stadt, für die Stadt, mit der Stadt“. Nicht nur Uraufführungen, auch Familiengeschichten und Dramatisierungen von Romanen gehören zu den Spezialitäten eines Hauses, das erkennbar viel Wert darauf legt, erste Karrierestufe für begabten Schauspielnachwuchs zu sein. Das alles garantiert eine überregionale Ausstrahlung, die man braucht und für die der Preis des Bundes als Schwungrad ausgiebig genutzt worden ist. Wünschens­ wert für die Zukunft wäre eine grundsätzlich bessere finanzielle ­Ausstattung für das Haus. Den Weg, den das Theater geht, nämlich Mittelpunkt der Stadtgesellschaft zu sein, wird es jedenfalls weiter verfolgen.

ETA HOFFMANN THEATER Das ETA Hoffmann Theater wurde bereits 1802 im Zentrum von Bamberg ­gegründet und bildet seitdem eine Säule des Bamberger Kulturlebens mit überregiona­ler Strahlkraft. Es begreift sich als Austauschpunkt zwischen den I­ nstitutionen, den Künstler*innen und den Bürger*innen seiner Stadt. Das Ein­spartenhaus bietet bis zu 250 Aufführungen pro Jahr bei zwölf Eigen­produktionen (beides SZ 2018/19). In der vergangenen Spielzeit war das Theater Austragungsort des 13. Treffens der bayrischen Theaterjugendclubs.

„Der Westen“ von Konstantin Küspert in der Regie von Sibylle Broll-Pape (ETA Hoffmann Theater 2018). Foto Martin Kaufhold

VON CHRISTIAN MUGGENTHALER


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BEBENDER BODEN VON FALK SCHREIBER

„Cum-Ex Papers“ von Helge Schmidt (Lichthof Theater 2018). Foto Anja Beutler

BRIGITTA SCHIRDEWAHN UND PAULINE PAYEN tanzen.

Murmeln. Berühren einander. Schirdewahn ist 75 und Payen ist 35, das Duett in Antje Velsingers „Dreams in a Cloudy Space“ ist nicht nur ein Dialog zwischen zwei Tänzerinnen, es ist ein Dialog zwischen den Generationen, ein Dialog, der Alter, Wahrnehmungsverlust, gebrech­ liche Körper verhandelt, geprägt von hintergründigem Humor und langsamen, ruhigen Passagen. Ein kluges Stück, ein berührendes Stück. Das es im Hamburger Lichthof Theater nicht leicht hat: Die ­Klimaanlage rauscht, ohne wirklich gegen die steigenden Temperatu­ ren anzukommen. Ein Scheinwerfer knackt. Störgeräusche dringen aus einem Lautsprecher. Das Stück ist toll, die Aufführung hakt. Das Lichthof residiert seit 2000 im zweiten Stock eines Misch­ gewerbehauses, zwischen Tanzschule, Yogastudio und KampfsportTrainingszentrum. Nicht ganz optimal: Wenn die Nachbarmiter*innen ­trainieren, bebt der Boden, aufwendige Absprachen sind nötig, ge­ spielt werden kann nur an einzelnen Tagen pro Woche. Außerdem befindet man sich in Bahrenfeld, ein Stück weit außerhalb: Vorort. Im aufs Zentrum orientierten Hamburg ist das eigentlich ein Todesurteil. Auch wenn die 100 Plätze der 1994 von Maryn Stucken gegründe­ ten Bühne zu beachtlichen 63 Prozent ausgelastet sind: Der Ort ist das große Manko des Theaters, seit Jahren suchen Stadt und Lichthof nach neuen Räumen. Vielleicht weniger hellhörig, vielleicht zentraler, vielleicht auch ein bisschen größer. Dass die Kulturpolitik die Unhalt­ barkeit der Raumsituation erkannt hat, zeigt, welche Re­levanz das Lichthof mittlerweile hat. Dass sich die Suche nach neuen Räumen schwierig gestaltet, zeigt, wie groß das Platzproblem für die Kunst in Hamburg ist. „Hamburg fehlt im Grunde eine mittelgroße Spielstätte im freien Theater“, beschreibt der seit 2008 amtierende Künstlerische Leiter Matthias Schulze-Kraft die Gemengelage: Momentan spielt man in einer Liga mit den 100-Plätze-Bühnen Sprechwerk und monsun.thea­ ter, die nächstgrößeren Räume in der Stadt befinden sich im riesigen Freie-Szene-Tanker Kampnagel, dazwischen gibt es nichts. Hier be­ wegt sich allerdings das Lichthof, bezüglich des Publikums­interesses, aber auch bezüglich des Standings, in der überregionalen Fachwelt. Man ist ja keine kleine Butze, man ist das Haus, das 2017 den Theater­ preis des Bundes gewann und 2018 den Barbara-Kisseler-Theater­ preis. Tatsächlich verändert habe sich die Ausrichtung durch den ­Theaterpreis des Bundes nicht, erklärt Schulze-Kraft: Die postdrama­ tische Schiene sei ausgebaut worden, und es sei leichter gefallen, alte, aus der Zeit gefallene Kooperationen abzuschließen, zum Bei­ spiel mit der Impro-Theater-Szene. Als Beweis für die kontinuierlich gute Arbeit folgte 2019 der Faust-Preis für die vom Lichthof verant­ wortete Produktion „Cum-Ex Papers“ von Helge Schmidt.

Schmidt ist dem Lichthof eng verbunden, ähnlich wie unter anderem Henri Hüster oder Charlotte Pfeifer. Alles Künstler*innen, die jenseits der klassischen Abgrenzung freie Szene versus Stadttheater arbeiten. Aber auch Künstler*innen, die sich ästhetisch nicht so recht kate­ gorisieren lassen – Tanz, Performance, neue Musik, Sprechtheater, ­irgendwie sitzt man hier zwischen den Stühlen. „Vielleicht zeichnet uns das ja aus, dass wir uns nicht leicht einordnen lassen“, stimmt Schulze-Kraft zu. „Aus unseren vielfältigen Interessen entsteht eine Vielfalt im Programm, inhaltlich, aber auch ästhetisch.“ Freilich ­immer unter postdramatischen Vorzeichen. In der Politik hat sich zuletzt ein Bewusstsein für die Qualitäten der Szene entwickelt, was sich auch in einer erhöhten ­Förderung nie­ derschlägt, zudem gibt es durch die Etablierung des Studiengangs Performance Studies an der Universität Hamburg einen steten ­Nachschub an Szeneprotagonisten. Das freie Theater wirbelt. Und das Lichthof wirbelt mit. Vielleicht irgendwann unter besseren Rahmenbedingungen.­

LICHTHOF THEATER Bis zu 130 Aufführungen pro Spielzeit können die Hamburger*innen im Lichthof­ besuchen. Ein Schwerpunkt des freien Produktionshauses liegt dabei auf der Nachwuchsförderung, etwa durch den Wettbewerb Start Off oder mit dem Festival We present: Junge Hamburger Performance, welches jungen Aktuer*innen der freien Szene ein Experimentierraum bietet. Die 2017 etablierte Bürger*innen-Bühne geht diese Spielzeit unter dem Titel „Rübermachen“ in die dritte Runde. Aus intensiven Begegnungen zwischen Hamburger und Hallenser Bürger*innen werden zwei Produktionen entwickelt.


34 D A S TA N Z H A U S N R W I N D Ü S S E L D O R F

GOODBYE NORMSCHÖNHEIT VON ELISABETH NEHRING

zender Fußboden, viele Türen. Hell und licht, aber unscheinbar; nichts Besonderes, würde man meinen – und doch fließt hier die ­Lebensader des tanzhauses nrw. An diesem funktionalen Ort kreuzen sich alle Wege: professionelle Tänzer*innen auf dem Weg zum klassi­ schen oder zeitgenössischen Training, Dozent*innen, tanzbegeister­ te Laien aller Generationen und Parkinson-Erkrankte, die zu ihren Kursen wollen oder Künstler*innen, die ihre Stücke proben. Jede*r, der am tanzhaus arbeitet, tanzt, guckt, denkt, plant, unterrichtet, probt oder präsentiert, kommt hier entlang. Dass man sich – trotz der 4000 Quadratmeter, die das alte ­Straßenbahndepot misst – nicht aus dem Weg gehen kann, sondern sich auf die eine oder andere Art hier immer wieder trifft, macht die­ sen Gang zum Sinnbild der tanzhaus-nrw-Philosophie: Verbindungen schaffen – zwischen Künstler*innen und Besucher*innen, Hoch- und Subkultur, lokalen und (inter-)nationalen Themen und Kontexten. Nicht Exklusivität ist das Leitmotiv, sondern ihr Gegenteil: Unter ­Direktorin Bettina Masuch versteht sich das tanzhaus nrw im Kern als inklusives Haus. Ob die Verbindungen zwischen Mensch und Maschine (wie beim Festival Hi, Robot! 2019), die Programmserie und Kam­ pagne Real Bodies (2016), mit der man sich von einer den Tanz immer noch dominierenden Hochleistungsphysis verabschiedete und statt­ dessen echte Körper in den Mittelpunkt rückte, oder die Einladung an eine Künstlerin wie Claire Cunningham als Factory Artist mit Behin­ derung – das Haus an der Erkrather Straße, 1998 eröffnet, setzt sich ganz aktuell mit verschiedenen Körpern, Körperbildern und ihren ­gesellschaftlichen Rollen auseinander. Und lässt sich wiederum von ihnen mitgestalten: Mit der Schottin Claire Cunningham zog 2017 nicht nur eine in Deutschland bis dato ungewohnte Ästhetik und ein neuer Begriff von Inklusion in das tanzhaus nrw ein, auch die ganz praktische Zugänglichkeit wurde auf den Prüfstand gestellt, was in Überlegungen zur Umgestaltung von Räumlichkeiten, dem Aufbau einer neuen Website und dem Einsatz von Gebärdendolmetscher*innen resultierte. Goodbye Normschönheit, Perfektion und Exklusivität, hallo Realität, Diversität und Pluralität – so könnte das Lied des tanz­ hauses nrw gesungen werden. Zugleich international bekannter Präsentations- und lokal hoch­ frequentierter Ausbildungsort, offener Community Space und krea­ tiver Thinktank – unter Bettina Masuch und ihrem Team ist Nord­ rhein-Westfalens älteste große Tanzinstitution tief in der Stadt Düsseldorf und dem Bundesland verwurzelt und zugleich national und international bestens vernetzt. Die künstlerischen Aktivitäten gleichen Bewegungen, die in alle Richtungen streben und gleichzeitig den Tanz in die Mitte der Gesellschaft bringen. Welche Körper werden

auf der Bühne präsentiert und warum? Was kann der Tanz über die Gesellschaft von heute erzählen? Wie kann er sie verändern? Fragen wie diese befeuern die Programmgestaltung und werden im Großen und Kleinen erforscht und verhandelt: in den Bühnenproduktionen genauso wie in den Veranstaltungen des Jungen Tanzhauses oder der Arbeit der für die Dauer von zwei Jahren eingeladenen Factory Artists. Seit 2020 sind es mit Reut Shemesh, dem Kollektiv nutrospektif und Alfredo Zinola drei in Nordrhein-Westfalen ansässige Künstler*innen. Sie stehen, so Bettina Masuch, „exemplarisch für die große Kreati­ vität der hiesigen Tanzschaffenden“ – und deren Internationalität. Auch sie werden, wie ihre Vorgänger*innen, das tanzhaus nrw als moderne Kulturinstitution mitgestalten und – zusammen mit der Vielzahl von Dozent*innen – in eine bewegte Gemeinschaft ver­ wandeln. ­

TANZHAUS NRW Das tanzhaus nrw ist mit über 160 000 Besucher*innen jährlich eine der größten Spielstätten für zeitgenössischen Tanz in Deutschland. Auf zwei barrierefrei aus­gestatteten Bühnen werden pro Spielzeit bis zu 200 Performances geboten. Das Programm wird von drei Factory Artists geprägt, die für zwei Jahre eine künstlerische Schwerpunktsetzung bestimmen. Darüber hinaus sind das Junge Tanzhaus, ein Kompetenzzentrum für künstlerische Arbeit mit jungem Publikum und die Akademie mit bis zu 700 Kursen und Workshops im Jahr die tragenden Pfeiler der freien Kulturinstitution in Düsseldorf.

Tanzcamp am tanzhaus nrw (2019). Foto Katja Illner

EIN GANG: GRAUE UND BRAUNE BACKSTEINWÄNDE, glän­


35 D A S T H E AT E R N A U M B U R G

THEATERMÄRCHEN AUS DER PROVINZ VON WOLFGANG SCHILLING

„Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe in der Regie von Stefan Neugebauer (Theater Naumburg 2015). Foto Torsten Biel

ES WAR EINMAL. So beginnen Märchen. Und ein solches kann

man nun schon seit einigen Jahren in der kleinen Stadt Naumburg ­erleben, wo das kleinste Stadttheater Deutschlands zu Hause ist. ­Eigentlich in einem alten, in die Jahre gekommenen Gasthof. Der machte, als Stefan Neugebauer im Jahr 2015 hier sein Intendanten­ amt antrat, bereits einen recht verwunschenen Eindruck. Nun ist der engagierte Theatermacher in einem Alter, in dem man ihm die Prinzenrolle nicht mehr unbedingt übertragen würde. Und Spielen ist auch nicht so sein Ding. Dafür hat er ja auch vier (!) – wir sind am kleinsten Stadttheater Deutschlands – hauseigene Schau­ spielerinnen und Schauspieler. Aber wachgeküsst, um im märchen­ haften Bild zu bleiben, hat er die kleine Bühne schon. Bereits nach zwei Jahren gab es den Theaterpreis des Bundes für die anspruchsvolle Arbeit dieser kleinen Truppe. Insgesamt arbeiten hier zwölf Menschen auf und hinter der Bühne, deren Jahresetat nicht einmal eine Million Euro beträgt. Da waren die 115 000 Euro, die der Preis in die Kassen spülte, mehr als genug, um sich die berühmten drei Wünsche aus dem Märchen zu erfüllen. Zum ersten konnte Neugebauer mit einem neuen, fest engagier­ ten Kollegen, Gerolamo Antonio Fancellu, den es aus seiner Heimat Italien in das Land der Dichter und Denker verschlagen hatte, einen Solo-Abend machen. Mit Kafkas „Bericht für eine Akademie“ eroberte man eine neue, bis heute für solche Soloprojekte genutzte Spiel­ stätte, das Nietzsche-Dokumentationszentrum. Der große Erfolg brachte es mit sich, dass nun jeder der vier Spielerinnen und Spieler einmal im Jahr an diesem besonderen Ort sein Solo bekommt. Zum zweiten gestaltete man in der Marien-Magdalenen-Kirche, der säkularisierten Probebühne des Theaters, die Ausstellung „Holz­ köppe und Strippenzieher“, in der die eigene Vorgeschichte als P­uppentheater mit Handpuppen, Figuren und Marionetten aus dem großen Fundus des kleinen Hauses aufgearbeitet wurde. Zum dritten zog man gemeinsam mit dem Theater Das Letzte Kleinod auf dem Schienenweg ins nahe gelegene Weißenfels, um dort die Geschichte einer Industriebrache mit einem Spaziergang durch deren Historie vom Kaiserreich bis in die Wendejahre nachzuverfolgen. Apropos, mit solchen Theaterspaziergängen nähert sich die ­Truppe regelmäßig Publikum an, das nicht von selbst ins Theater kommt – dann aber immer begeistert ist. Vom unkonventionellen Spiel in den Gassen Naumburgs, im Schwurgerichtsaal des alten Landgerichts, am historischen Marientor, in einer Turbinenhalle oder zuletzt im berühmten Dom der Stadt. Hier setzte Stefan Neugebauer im August 2019 mit jungen Opernsängern und -sängerinnen aus aller Welt, die er mit Hilfe von Wolfgang Katschner von der Berliner lautten compagney gecastet hatte, das Händel-Oratorium „Susanna“ in

­ zene. Mit dem bekannten Berliner Barockorchester und dem Kam­ S merchor des Naumburger Doms. Das Ergebnis war eine erfrischende Aufführung mit jungen Stimmen und alten Instrumenten. Mehr als nur ein Hauch von Welt im Weltkulturerbe. Zustande gekommen war dieses Projekt aufgrund des guten Rufs, den sich das kleine Theater erarbeitet hat – flankiert von den medialen Nebenwirkungen des Theaterpreises des Bundes. Und da im Märchen meistens alles gut ausgeht, zum Schluss noch diese Information: Wenn alles läuft wie geplant, zieht das kleinste Stadttheater Deutschlands im Jahr 2023 in ein neues Traumschloss um – das früher einmal ein Schlachthof war.

THEATER NAUMBURG Das Theater Naumburg ist als kleinstes Stadttheater Deutschlands (80 Sitzplätze, vier feste Ensemblemitglieder) faktisch eine Neugründung, die aus einem alten Puppentheater hervorging. Vielleicht nur bedingt aus der Not geboren, sondern eher aus künstlerischer Neugier, eignet sich das Theater verschiedene Orte der Stadt mit Inszenierungen in Kirchen, in einer Turbinenhalle oder im Nietzsche Dokumentationszentrum spielerisch an. Ein wichtiger Aspekt dieser räumlichen Ausrichtung ist auch der Naumburger Theaterspaziergang, der 2019 zum vierten Mal stattfand.


36 D A S T H E AT E R A LT E N B U R G G E R A

EINE BÜHNE DES LEBENS VON WOLFGANG HIRSCH

schen betrachten. Der Zufall hat ihn auf eine künstlerische Laufbahn gestoßen, und gleich beim ersten Auftritt machte er einen mörde­ rischen Eindruck – was ihm seitdem zu vermeiden gelingt. Zumal ­heute, da der gebürtige Berliner zwei der schönsten deutschen Stadt­ theater, in Altenburg und in Gera, erfolgreich leitet. Ein Ensemble, vier Spielstätten, acht Bühnen, fünf Sparten und mehr als 900 Veranstal­ tungen pro Jahr verantwortet der Intendant, obschon man ihn – sei­ nes Büros halber – eher nur in die Mittelklasse taxieren würde. Protzen zählt zu Kuntzes Künsten nicht. Bei ihm zeugt bloß die Grö­ ße des mit Noten, Akten und Skizzen nebst Blumenstrauß ­befrachteten Schreibtisches von der Dimension seiner Arbeit. Das Büro, gesteht er, war früher Probenraum und wurde zu seinem Einzug 2011 auf die Hälfte verkleinert. Denn gleich zu Beginn hat Kuntze das Fürchten gelernt: Der Sequester stand schon vor der Tür. „Insolvenzvermeidung hieß das Thema der Stunde“, erklärt der 53-Jährige mit leiser, fester Stimme. Er musste sparen, wo es nur ging, holte die F­ inanzbuchhaltung zurück ins Haus und ließ dafür zwei Büros vom eigenen abtrennen. Mit verein­ ten Kräften schaffte man es, das Theaterschiff flottzukriegen. Der Künstler-Intendant liebt süffiges Erzähltheater und insze­ niert auch so. Mit Regiearbeiten im Musical hat er die Herzen des ­Publikums erobert, mit solchen im Opernfach weiß er es intellektuell zu faszinieren. Zum Glück lasse sich schwer vorhersagen, wie eine Produktion ankomme, sagt er. Dann huscht ein Strahlen über sein ­Gesicht. „Bei ,Oedipe‘ waren fast alle Vorstellungen ausverkauft.“ Die Georges-Enescu-Oper gilt als unspielbar; mit dem Beweis des Gegenteils haben die Gera-Altenburger*innen sich Respekt verdient. Finanziert wurde ihr Mehraufwand mit einem Teil der 115 000-EuroDotierung für den Theaterpreis des Bundes, den das Haus 2017 erhielt. Weitere Tranchen halfen, die „Cabaret“-Produktion im Schauspiel zu pushen oder Dominique Horwitz als Stargast eines Open-Air-­ Konzerts zu engagieren. Alle fünf Sparten haben vom Preis profitiert. Gemeinsam verdient, gerecht geteilt. Kuntze legt Wert darauf. Ähnliche Triumphe wie mit „Oedipe“ feierte er mit Mieczysław Weinbergs „Passagierin“, einer KZ-Oper, die deutsche Schuld thema­ tisiert. Ob AfD-Wähler*innen sich das wohl ansehen? „Das Wahlver­ halten wird ja an der Kasse nicht abgefragt“, antwortet der Inten­ dant. „Aber ich fände es gut, wenn sie ins Theater gingen.“ Die Geraer*innen machen Angebote für alle Publikumskreise, ihre Büh­ nen gelten als Institution des Gemeinwesens. „Theater“, sagt Kunt­ ze, „ist auch ein Instrument der Demokratie.“ Nur agitieren will er die Leute nicht. Sondern zum Selberdenken anregen. Wie er selbst zur Bühne kam? Er lacht. Durch einen Bekannten habe er erfahren, dass man als Statist eine schnelle Mark verdienen könne,

und so sprach er als 19-Jähriger an der Deutschen Oper Berlin vor. Das erste Mal vergisst man nie: Kuntze hatte in Achim Freyers „Messias“ ein abgeschlagenes, blutiges Haupt über die Bühne zu tragen. So gestählt, kann ihn seitdem nichts erschüttern. Auch nicht der bittere Abschied seines Schauspieldirektors Bernhard Stengele, der nach rassistischen Anfeindungen gegen einige seiner ausländischen Schauspieler*innen in Altenburg das Handtuch warf. Gerade hatte man mit dem „Hauptmann von Köpenick“ deutschlandweit Aufsehen erregt – da rief ein „Bürgerforum“ zum Boykott auf. Die Wogen sind heute geglättet. Ostthüringen werde nur im Klima eines aufgeschlossenen, toleranten Miteinanders prosperieren. Die Theaterleute arbeiten daran mit, unermüdlich leidenschaftlich. Denn das Glück, weiß Kay Kuntze, ist mit den Tüchtigen. Der Text erschien in längerer, modifizierter Form zuerst in der Thüringer Allgemeinen (Erfurt).

THEATER ALTENBURG GERA Das Theater Altenburg Gera (früher: Theater&Philharmonie Thüringen) ist mit acht Spielstätten, fünf Sparten (Musiktheater, Ballett, Schauspiel, Puppentheater, Konzert), 300 Mitarbeiter*innen, ca. 25 Premieren, ca. 900 Vorstellungen und Konzerten und über 150 000 Besucher*innen jährlich eines der bedeutenden Theater Thüringens. Biennal findet im Theater Altenburg Gera die Thüringer Ballettfestwoche mit inter­natio­nalen Gästen statt, die 2020 um ein Ballettfest­ wochen-Intermezzo ergänzt wurde. Mit der TheaterFABRIK bietet das Haus eine vielfältige theaterpädago­gische Programmarbeit mit unter­schied­lichen Theater­ projekten, regelmäßig stattfindenden Kursen oder einmaligen Workshops.

„Der Kaiser von Atlantis“ von Viktor Ullmann in der Regie von Kai Anne Schuhmacher (Theater Altenburg Gera 2019). Foto Ronny Ristok

EIGENTLICH MÜSSTE KAY KUNTZE sich als glücklichen Men­


37 D A S T J G . T H E AT E R J U N G E G E N E R AT I O N I N D R E S D E N

MITTENDRIN VON TOBIAS PRÜWER

„Besuchszeit vorbei“ von Ariel Doron (tjg 2016). Foto Marco Prill

KLINKER UND STAHL der Gründerzeit treffen auf modernes Glas

und Beton. Im ehemaligen Maschinenhaus findet der Anspruch des Theaters, Tradiertes mit Neuem zu verbinden, bereits architektoni­ schen Ausdruck. Von der Peripherie ins Zentrum ist das tjg. theater junge generation aufs Ex-Industrieareal Kraftwerk Mitte gezogen und macht hier seit zwei Jahren auch durch seine räumliche Lage deutlich, wohin es gehört: mitten in die Stadtgesellschaft Dresdens. Erreichbarkeit ergibt sich hier nicht allein aufgrund guter Verkehrs­ anbindung, sondern auch durch den Zugriff des Theaters, Menschen allen Alters und aller Couleur anzusprechen. Mit drei Bühnen hat das tjg im neuen Gehäuse endlich Platz. Denn das 1949 nach sowjetischem Vorbild gegründete Kindertheater ent­ wickelte sich zum generationsübergreifenden Haus. Was jedoch nicht seine Verantwortlichkeit für das junge und jüngere Publikum verwässert. Das verdeutlicht zum Beispiel die Eigenständigkeit, die die Thea­ter­ pädagogik mit der Intendanz von Felicitas Loewe 2008 erhielt. Dass das Haus dabei Fragen der Gegenwart mit Kunst begegnet, ist eine Besonderheit des tjg ebenso wie seine Lust am Experiment. Da darf etwa Jo Fabian seine erste Inszenierung für Kinder als ­unkonventionelles Gothic-Gesamtkunstwerk aus Licht­installation, bildlichem Spiel und Werwolfheulen gestalten. Ohne zu verharm­ losen vermittelt eine quietschbunte „Sonnenallee“-Version nach dem Roman von Thomas Brussig (Regie Mareike Mikat) den Nach­ geborenen den DDR-Alltag jenseits von Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Auch – nicht nur in der Pegida-Stadt – schwierigste Themen packt das tjg mutig an. Zur Auseinandersetzung mit Neonazis zogen sie den aufgrund gewalttätiger Darstellung viel diskutierten Roman „Cherryman jagt Mr. White“ von Jakob Arjouni heran. Ania Michaelis übersetzte den Stoff als rasantes Kopfkino mit schnellen Schnitten und ComicSzenerien zur ästhetisch überzeugenden Antwort auf die Frage, wie man Nazitum jenseits ausgelatschter Pädagogikpfade darstellen kann. Als wäre das nicht genug, birgt das tjg eine weitere Besonderheit: Hier bildet ein Ensemblepuppentheater eine eigene Sparte. Dieses hat sich aus der DDR-Tradition, wo Puppentheater für Klein und Groß im Gegensatz zur BRD kommunal gefördert wurden, gehalten – und entwickelte sich zu einer Kunstform mit eigenem Zugriff. Eine Spezia­ lität des Ensembles sind die Gliederpuppen, die in ihrer Führung, in Detailreichtum und Realismus oft verblüffen. Dabei hauchen jeweils zwei bis drei Spieler*innen einer Figur Leben ein, deren Bewegungen sich höchst natürlich ansehen. Mit diesen Mitteln kann man sich wie in „Doing it“ von Ivana Sajević auch so sensiblen Teenagerthemen wie erste Küsse und Fummeln behutsam nähern. Der geschützte ­Zuschauerraum ermöglichte hier ohne Erwachsene eine schamlosfröhliche Heranwachsenden-Suche.

In diese Sparte investierte das tjg schließlich auch das Preisgeld des Theaterpreises des Bundes, den es 2017 erhielt. Weil für die Regie der animierten Theaterformen keine Ausbildungsstätten existieren, schuf man in Dresden eine solche einfach selbst. Das Preisgeld finan­ zierte die erste Werkstatt Regie und Objekt, zu der in der Spielzeit 2018/19 acht Regieführende regelmäßig ans Haus kamen, um sich vom Ensemble fördern, fordern und inspirieren zu lassen. Zur Eröffnung seiner neuen Residenz in der Stadtmitte rief das tjg sein Publikum zur Rettung der Puppen auf. Denn diese sprangen an dem existenziellen Abend buchstäblich über die Klippe. In dem von Ariel Doron konzipierten Setting „Besuchszeit vorbei“ konnten die Zuschauer*innen interaktiv darüber meditieren, was das tote Material so lebendig macht. Dabei beließen es einige nicht. Sie intervenierten, nahmen den Spieler*innen Puppen aus der Hand oder stellten sich schützend vor sie. Solche Wirkung bei seinem Publikum muss Theater erst einmal auslösen können.

THEATER JUNGE GENERATION Das tjg. theater junge generation ist mit seinen drei Sparten - Schauspiel, Puppen­ theater und Theaterakademie - und mit rund 600 Vorstellungen im Jahr eines der größten Kinder- und Jugendtheater der Bundesrepublik. Auf den drei Bühnen des im Jahr 2016 neu eröffneten Kraftwerk Mitte und an diversen Sommertheater­ spielstätten zeigt das tjg bis zu 520 Vorstellung pro Spielzeit und hat mehr als 82 000 Besucher*innen (SZ 2018/19). Im Rahmen des Förderprogramms 360° wird das Theater in den kommenden Jahren an seiner diversitätsorientierten Öffnung arbeiten.


38 DIE SCHAUBUDE BERLIN

NEUES DENKEN AN UNSCHEINBAREM ORT DIE SCHAUBUDE befindet sich dort, wo Berlin sich bereits branden­ burgisiert: Kurz hinter dem S-Bahn-Ring liegt das Theater. Das Laden­ geschäft daneben stand längere Zeit leer. Die Kneipe gegenüber ist kein Hipster-Territorium, sondern eine Post-Proletarierstampe, in der Hartz IV in Flüssiges umgesetzt wird und Debatten über das Abge­ hängtsein zu hören sind – und das, obwohl jeder Gast im Minutentakt des öffentlichen Nahverkehrs eintreffen kann. Die Schaubude liegt im alten, weniger durchgestalteten Berlin. Sie war lange eine Insel der Kunst, umbrandet von der mürrischen Rastlosigkeit des Berufsverkehrs. 1993 als Gastspielhaus gegründet, wurde sie schnell zur wichtigen Anlaufstation für experimentelles Puppentheater aus aller Welt. Dieses traf hier auf die Tradition des ostdeutschen Ensemblepuppenspiels – und löste mal produktive ­Reibung aus, war mal explosive Mischung, führte gelegentlich auch zu betonter Distanz. Wenn das Hebbel Theater unter Nele Hertling die internationale Theateravantgarde in ein Berlin der in Selbst­ gewissheit badenden Intendantenalphatiere brachte und damit an den Alphamännchen vorbei neue Horizonte erschloss, so lässt sich Ähnliches auch über die langjährige Schaubuden-Intendantin Silvia Brendenal sagen. Sie holte die Welt des avantgardistischen Puppen-, Figuren- und Objekttheaters an die Spree. Tim Sandweg, seit 2015 Intendant, führte die Modernisierung der Brendenal-Ära auf eine neue Stufe: Nicht mehr nur zu schauen, was die anderen jenseits der Landesgrenzen machen, und diese Positionen nach Berlin zu holen, ist das Ziel, sondern eben auch zunehmend selbst zu produzieren und eigene Akzente zu setzen. „Wir entwickeln uns immer mehr zu einem Produktionshaus“, sagt Sandweg. Für diesen Prozess war das Preisgeld des Theaterpreises des ­Bundes hilfreich. Internationale Koproduktionen wurden möglich. Die selbst kreierte Reihe „Der dystopische Salon“ konnte fortgesetzt werden. Es handelt sich dabei um ein neues Format: den Versuch, Atmosphären für neue Begegnungen zu schaffen, Diskurse von ­ ­Digitalität und händischem Basteln miteinander zu verknüpfen und generell neue Perspektiven auf das Denken und Tun zu entwickeln. Das Dystopische, das Bild der schwarzen Utopie, wich dabei immer mehr aus dem Salon. Ob es an der Förderung lag oder ob aus anderen Gründen der Blick auf die Zukunft hoffnungsvoller wurde, bleibt im Ungewissen. Aktuell zeichnet sich die von elf festen und fünf freien Mitarbei­ ter*innen betriebene Schaubude als ein Haus aus, das Künstler*innen auf verschiedene Arten an sich bindet. Neben der klassischen Gast­ spieltätigkeit gibt es Forschungsresidenzen. Immer stärker wird koproduziert und eigene ungewöhnliche Formate wie die Lange ­ Nacht der freien Puppen- und Figurentheater Berlins entwickelt. Das

traditionsreiche Festival Theater der Dinge wird mittlerweile jährlich ausgerichtet und führt weiterhin die lokale und internationale Szene zusammen. Vor allem hat die Schaubude das Biotop des herkömmlichen ­Puppen- und Figurentheaters verlassen und öffnet sich Perfor­mer*in­ nen und Klangkünstler*innen, Projektions­experimentator*innen und Roboterentwickler*innen. All dies erfolgt in der wissenden Ahnung, dass gerade auch die Elemente des Internets der Dinge künstlerisch animiert werden können. Dass diese Suchbewegung nicht im Zentrum Berlins, sondern in der Rand- und Übergangszone zur Vorstadt erfolgt, ist vielleicht ­sogar typisch. Denn oft entsteht das Neue ja nicht in den Zonen von Macht und Repräsentation.

SCHAUBUDE BERLIN Die Schaubude Berlin, Produktionshaus für Theater der Dinge, hat sich in den vergangenen Jahren zu einer wichtigen Spielstätte ihres Genres entwickelt. Mit bis zu 50 Premieren pro Spielzeit und einem vielfältigen Angebot an Festivals und Pro­gramm­reihen zieht die Schaubude ihr Berliner Publikum an. Das jährlich stattfindende internationale Festival Theater der Dinge zählt zu den wichtigsten deutschen Festivals des zeitgenössischen Figuren- und Objekt­theaters. Mit Formaten wie dem „Dystopischen Salon“ werden performativ-diskursive Gren­ zen des Figurentheaters ausgelotet.

„Cubix“ von Mathieu Enderlin (Schaubude Berlin 2018). Foto Jean-Yves Lacôte

VON TOM MUSTROPH


39 DIE SOPHIENSÆLE IN BERLIN

FREIRAUM ZWISCHEN KIEZKANTINE UND THEATERTREFFEN

„Tanz“ von Florentina Holzinger (Sophiensæle 2020). Foto Eva Würdinger

VON ANJA QUICKERT

NUR WENIGE SCHRITTE abseits des touristischen Hochbetriebs rund um die Hackeschen Höfe liegt eine der ältesten Straßen in Mitte. In historisch anmutender Beschaulichkeit scheint sich die Sophien­ straße dem rasanten Wandel der Innenstadt zu verweigern. Nur manchmal verirren sich Touristengruppen in den Hof des ehemaligen Berliner Handwerkervereins, hinter dessen roter Backsteinfassade sich die Sophiensæle eingerichtet und als einer der wichtigsten Orte der freien Szene etabliert haben. Aus dem unbürokratischen Geist der Zwischenutzung im Nach­ wende-Berlin geboren, eröffnete Sasha Waltz’ legendäres Tanzthea­ ter „Allee der Kosmonauten“ hier im Herbst 1996 den Spielbetrieb. Die prompte Einladung zum Theatertreffen 1997 verschaffte nicht nur der Choreografin überregionale Aufmerksamkeit, sondern auch der von ihr mitgegründeten Produktionsstätte – die seitdem um Produk­ tionsmittel und künstlerische Freiräume kämpft. „Als freie Spielstätte haben wir keinen eigenen Etat für Kunst“, erklärt Franziska Werner, die seit 2011 Künstlerische Leiterin ist. „Unser Programm hängt von vielen einzelnen Förderentscheidungen unter­ schiedlichster Jurys ab. Insofern hat uns der Theaterpreis einen gro­ ßen, ungewohnten Gestaltungsfreiraum eröffnet.“ Genutzt haben sie ihn vor allem für Formate, Schwerpunkte und international wichtige Koproduktionen, die aus dem regulären Förder­ kanon rausfallen. Damit konnten die Sophiensæle auch ihr Profil schärfen, das programmatisch – aber auch durch ihr vielfältiges kul­ turpolitisches Engagement – für feministische, antirassistische und queere Themen und Ästhetiken steht. Die Wiederaufnahme von Florentina Holzingers Produktion „Apollon“ beispielsweise oder die aktuelle, ebenso aufsehenerregende Koproduktion „Tanz“ mit der österreichischen Choreografin beim letz­ ten Teil ihrer Trilogie über den weiblichen Körper wäre ohne die ­zusätzlichen Mittel nicht möglich gewesen. „Dass wir die Arbeit von Künstler*innen durch echte finanzielle Ressourcen unterstützen ­können und sie insofern auch an uns binden, ist eine Ausnahmesitua­ tion“, bedauert Werner. Auch Formate wie das „Academy“-Programm des feministischen Kollektivs Henrike Iglesias hat der Theaterpreis ermöglicht. Auf dem alternativen Lehrplan finden sich neben „Modeinszenierungen zwi­ schen Feminismus, Body Positivity und Selbstermächtigung“ auch das „Krisenzentrum für weibliche Komik“ der Performerin Vanessa Stern. „Frauen und Komik kommt in Fördergremien allgemein ganz schlecht an“, ärgert sich Franziska Werner, „obwohl Humor natürlich ein sehr wirksames und niedrigschwelliges Tool ist, um sich mit ­gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen.“ Mit den Eigen­ mitteln konnten die Sophiensæle gleich mehrere Ausgaben von

Sterns Kultshow „La Dernière Crise – Frauen am Rande der Komik“ finanzieren oder die Reihe „Projekt Schooriil“ von Melanie Schmidli und Anne Haug, die auch andere Frauen zu ihrem komischen Talent ermutigen sollen. Dem gesamtgesellschaftlich derzeit vieldiskutierten Problem, dass Institutionen oder Diskurse immer dazu tendieren, andere Grup­ pierungen auszuschließen, sind sie in ihrer unmittelbaren Nachbar­ schaft mit dem (Theaterpreis-)Format „Kiezkantine“ nachgegangen – und auf unerwartet großes Interesse gestoßen. „Wir möchten wirklich, dass die Menschen verstehen, dass wir uns mit ähnlichen Themen beschäftigen wie sie selbst. Nur vielleicht auf eine andere Art. Und dafür wollen wir Zugänge schaffen.“ Auf die Frage, ob ­„Theaterermutigungspreis“ nicht auch ein bisschen paternalistisch klingt, muss Franziska Werner lachen. „Wir haben uns schon ermutigt gefühlt. Aber für uns war es vor allem ein Theaterermöglichungs­ preis.“

SOPHIENSÆLE Die Sophiensæle gehören mit ca. 50 Koproduktionen und 300 Aufführungen pro Spielzeit zu einer der wichtigsten Spielstätten der freien darstellenden Künste im deutschsprachigen Raum. Experimentelle Ästhetiken und innovative inhaltliche Zugriffe werden in den Genres Tanz, Performance, Theater, neues Musiktheater und in diskursiven Formaten entwickelt und erprobt. Ein wichtiger Schwerpunkt ist die Nachwuchsförderung. Mit Festivals und Schwerpunkten wie The Future is Female*, After Europe oder Access all Areas stehen unter anderem queer­ feministische und postkoloniale Programmlinien sowie die Förderung von mehr Sichtbarkeit für Künstler*innen mit Behinderung im Fokus der Arbeit.


40 GESPRÄCH

GEMEINSCHAFT, KUNST UND EIGENSINN Janina Benduski, Erste Vorsitzende des Bundesverbands Freie Darstellende Künste, INTHEGAPräsidentin Dorothee Starke und Bühnenvereinspräsident Ulrich Khuon über Bewerberfeld und Kriterien des Theaterpreises des Bundes

IM GESPRÄCH MIT DORTE LENA EILERS

Janina Benduski, Dorothee Starke, Ulrich Khuon, Sie sitzen hier als Vertreter unterschiedlichster Institutionen, die allesamt zum Bewer­ berfeld des Theaterpreises des Bundes zählen. Das sind Stadt- und Landestheater, freie Theater und Produktionshäuser sowie seit 2019 auch Gastspieltheater. Diese Theaterorte sind strukturell grund­ verschieden, was man in der heutigen Situation, in der Kultureinrich­ tungen wegen der Coronakrise geschlossen sind, umso drastischer merkt: Die Gehälter für festangestellte Künstler*innen an Stadt-, Staats- und Landestheatern fließen zunächst weiter. Freie Künst­ ler*innen sehen sich mit einem sofortigen Verdienstausfall konfron­ tiert. Sind diese Orte in ihrer strukturellen Vielfalt im Sinne eines Wettbewerbs überhaupt vergleichbar? Können sie miteinander in Konkurrenz treten? Dorothee Starke: Diese Frage haben wir uns als Gastspielhäuser na­ türlich auch gestellt. 2019 durften wir das erste Mal dabei sein. Bei einem Preis, bei dem es um Theater abseits der Metropolen geht, ist das auch richtig so. Wobei die Vergleichbarkeit in der Tat schwierig ist. Was auch die Jury, zu der ich selbst 2019 zählte, feststellte. Es waren zwei Gastspielhäuser, Hameln und Gütersloh, auf unserer Shortlist, ausgezeichnet haben wir nach intensiven Diskussionen schlussendlich keines, weil andere Häuser, natürlich auch aufgrund ihrer ganz ­anderen Arbeitsstruktur, in der Lage sind, ein individuelleres Profil auszubilden. Starke: Was uns natürlich sehr enttäuscht hat. Da muss man sich noch einmal sehr genau die Kriterien des Preises ansehen. Und auch die Kompetenz der Jury. Mein Eindruck war, dass die Beurteilung sehr auf den Produktionsprozess fixiert war. Das ist ein Aspekt, der an den Gastspielhäusern überhaupt nicht greift. Alle anderen produzie­ ren selbst, Gastspielhäuser hingegen müssen weitestgehend das ­nehmen, was sie angeboten bekommen. Sie können nur in geringem Maße im Bereich von Bürgerbühnen, Seniorenbühnen, Jugend­ theaterclubs selbst produzieren. Selten gibt es die eine oder andere Eigenproduktion. Diese Häuser versuchen, auf andere Art und Weise in die Städte hineinzuwirken. Das ist der Knackpunkt! Sie leisten extrem viel für die Städte und Regionen. Man muss nur genau hinschauen. Ulrich Khuon: Ich finde auch, dass die Unterschiedlichkeit der Häuser ein Problem ist, aber ein lösbares Problem. Es braucht möglicherweise

eine geschärfte Sensibilität der Jury. Man hat durchaus den Eindruck, dass die Journalist*innen, Intendant*innen und Theaterwissen­ schaftler*innen in der Jury ein Sensorium für bestimmte Theaterformen haben, für freie Theater, kleinere und mittlere Landes-, Stadt- und Staatstheater. Ebenso wird gesehen, wie diese, wie es im Ausschrei­ bungstext heißt, in die Stadt hineinwirken, Debatten anstoßen. Aber das tun eben auch Gastspielhäuser, die mit großen Ambitionen die Eigenart ihres Programms stärken und dadurch ein starkes Profil ent­ wickeln. Hätten Sie da ein Beispiel? Khuon: Ja, das Apollo-Theater in Siegen beispielsweise oder das Schlosstheater Fulda, das Theaterforum Gauting, die Neue Bühne Bruck in Fürstenfeldbruck oder das Stadttheater Landsberg. Ich ver­ folge deren Arbeit seit einiger Zeit mit großem Interesse. Auch diese Häuser hätten, da auch sie es nicht leicht haben, im Sinne der Aus­ schreibung einen „Ermutigungspreis“ des Bundes verdient. Janina Benduski: Die Frage ist auch: Über welche Ausschreibung­ reden wir? Sie wurde im Verlauf der drei Preisvergaberunden 2015, 2017 und 2019 ja mehrfach überarbeitet. Auch wir als Bundesverband Freier Darstellender Künste waren an mehreren Treffen mit dem ­zuständigen Referat im Ministerium für Kultur und Medien beteiligt. Ich finde insbesondere die letzte Ausschreibung für den Theaterpreis 2019 gar nicht so schlecht, weil sie nämlich explizit nicht versucht,

Ich finde insbesondere die letzte Ausschreibung für den Theaterpreis 2019 gar nicht so schlecht, weil sie nämlich explizit nicht versucht, strukturelle Unterschiede im Vorfeld klar zu definieren. Janina Benduski


„Das neue Wir“ am Theater Minden (2020). Foto Paul Olfermann

strukturelle Unterschiede im Vorfeld klar zu definieren. Beispiels­ weise sind formale Kriterien wie die Anzahl der Premieren gestrichen worden, weil sie viele freie Theater ausschlossen, aber auch, damit sich die Jury wirklich auf die inhaltliche Qualität der jeweiligen Arbeit konzentrieren konnte. Gefragt war besonders auch das Kriterium der Einbindung in die Zivilgesellschaft, also der gesellschaftlichen Rele­ vanz eines Hauses. Die Jury brauchte nicht darüber zu urteilen, wie ein Haus ausgestattet ist, unter welchen Bedingungen es produziert. Wenn man jetzt die Ausschreibung das nächste Mal überarbeitet, denn man kann sie ja immer nur noch besser machen, wäre genau die­ ser Punkt zu klären: Sind die formalen Hindernisse, die bestimmte Bewerber*innen behindern, wirklich alle getilgt? Was ist die inhaltli­ che Zielsetzung, nach der man für das nächste Mal sucht? Die Idee des Preises ist es ja, die Chance zu haben, Theaterorte zu highlighten, die aktuell besonders gute und relevante Arbeit machen, ohne diese Orte nur über Kategorien wie Stadttheater, Gastspieltheater, freie Theater zu definieren. Das Kriterium der Profilbildung, also die Frage, was unterscheidet ein Haus vom anderen, welches wollen wir highlighten, bringt auf künstlerischer Ebene aber auch immer wieder Stadttheater und Pro­ duktionshäuser der freien Szene in starke Konkurrenz. Ein Produkti­ onshaus wie das FFT Düsseldorf ist, da es in der Stadt mit dem Schau­ spielhaus eben auch ein Stadttheater gibt, gar nicht unbedingt gezwungen, ein ästhetisch breitgefächertes Programm anzubieten. Es kann, anders als beispielsweise ein Stadttheater wie in Plauen und Zwickau, von den Gastspieltheatern ganz zu schweigen, viel mutiger und experimenteller programmieren.

Starke: Das ist eine Sache des Blickwinkels. Ich habe mir die Gast­ spielhäuser, die sich für den Theaterpreis 2019 beworben haben, noch einmal angesehen. Einzelne Häuser zeigen durchaus ein sehr eigenes und scharfes Profil. Das Theater Minden zum Beispiel macht ein ­exzellentes Kinder- und Jugendprogramm, auch mit Eigenproduk­ tionen. Zudem hat es unter dem Titel „Das neue Wir“ einen Prozess angestoßen, bei dem es mit 2500 Menschen aus Minden die Stadt­ gesellschaft neu zu definieren sucht. Gütersloh wurde eben genannt, in Hameln gibt es die Tanztheatertage und das Auswärtsspiel … ­Wobei ein Problem sicher auch die generelle Wahrnehmung der Gast­ spielhäuser in der Presse ist. Wenn dort kaum Premieren stattfinden, stehen sie weniger im Fokus der überregionalen Theaterpresse und sind so auch einer Jury weniger vertraut. Tatsächlich ein generelles Problem: Viele der rund 130 Bewerberhäu­ ser kennen die Juror*innen – und sind sie auch noch so kundig – nur aus der Bewerbung, die zwar zunehmend Videomaterial umfasst, aber einen Besuch im Zweifelsfall nicht ersetzt. Daher wurde es der Jury 2019 bereits ermöglicht, zwecks Sichtung zu reisen, allerdings innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne, was für jede*n Berufstätige*n nicht einfach zu organisieren ist. Daher soll der Reisezeitraum für die nächste Runde erweitert werden. Starke: Herr Khuon wiegt sein weises Haupt (lacht). Khuon: Na ja, Mut heißt eben auch in Berlin etwas anderes als in ­Gütersloh. Und in die Stadt hineinzuwirken, Widerspruch auszuhal­ ten, ein Publikum zu gewinnen, benötigt in Siegen einen längeren Atem als in Hamburg. Das genau zur Kenntnis zu nehmen, ist für eine Jury gar nicht einfach.


42 GESPRÄCH

Benduski: Abgesehen davon, dass wir als freie Szene sowieso nicht so ein Freund von Preisverfahren sind, da es eben immer heißt, dass die Mehrzahl diesen Preis nicht bekommt, sehen wir natürlich den Vor­ teil, den es bringt, wenn ein solcher Preis die Aufmerksamkeit auf die Arbeit von Leuten zieht. Nur im Zuge dessen ist immer die Frage, was man als preiswürdig erklärt. Bislang war natürlich die Idee, ein inhaltlich und künstlerisch qualitatives Profil auszuzeichnen. Und das ist ganz richtig. Es gibt im gesamten Förderwesen derzeit aber auch bewusst die Tendenz zu ­sagen, man fördert auch etwas anderes, zum Beispiel kontinuierliche, langfristige Arbeit in Regionen, in denen sonst nicht so viel passiert. Das ist eine Frage der Kriterien. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass wir angesichts der aktuellen Situation im nächsten Jahr einen Überlebenspreis noch aus ganz anderen Gründen brauchen könnten. Einen Preis, bei dem also das langfristige Retten von schwächeren Strukturen ausgezeichnet wird, ohne nur auf die künstlerische Arbeit zu schauen. Das betrifft nicht nur die Frage nach der Zusammen­ setzung der Jury, sondern auch die Ausschreibungskriterien: Nach wem suchen wir in der nächsten Ausschreibung? Denn was man jetzt merkt ist, dass die Orte von Öffentlichkeit, die Theater bilden, und zwar egal in welcher strukturellen Form, jetzt, da sie nicht zugänglich sind, noch einmal anders gefragt sind. Ich würde es interessant fin­ den, Strukturen auszuzeichnen, die weiterhin Begegnungsorte schaf­ fen, auch in so einer herausfordernden Situation wie jetzt.

Frau Starke, haben Sie Verbesserungsvorschläge für die Ausschrei­ bung im nächsten Jahr? Starke: Ich möchte Frau Benduski insofern recht geben, dass auch ich es gerade jetzt und auch nach dieser Zeit als ein schlechtes Signal empfinden würde, wenn wir uns wieder auseinanderdividieren. Im Moment rücken wir alle doch eher zusammen, wir spüren, wie sehr wir einander brauchen. Ich finde, ähnlich wie Herr Khuon, die

Gerade jetzt und auch nach dieser Zeit würde ich es als ein schlechtes Signal empfinden, wenn wir uns ­wieder auseinanderdividieren. ­ Im Moment rücken wir alle doch eher zusammen. Dorothee Starke

­ usschreibung, so wie sie ist, gut und schlüssig. Sie war ja schon A ­daran angepasst, dass sich die Gastspielhäuser mitbewerben dürfen. Beachten bei der Abwägung der Kriterien sollte man jedoch, dass Gastspielhäuser personell ganz anders aufgestellt sind. Da gibt es, wenn man Glück hat, drei Menschen, die einen künstlerischen Hinter­ grund haben: die Theaterleitung, der*die Dramaturg*in und even­ tuell eine*einen Theaterpädagog*in. Dann gibt es noch fünf Verwal­ tungskräfte und ein Technikteam, und das war’s. Mehr Personal haben Produktionshäuser aber meist auch nicht. Starke: Die haben immerhin Künstler*innen! Benduski: Nicht notwendigerweise. Viele freie Häuser und Spiel­ stätten haben eine ähnliche personelle Besetzung und produzieren gar nicht selbst, sondern sind eine Spielstätteninfrastruktur für Grup­ pen, die von außen kommen. Es gibt noch weitere Aspekte, die wir uns aufgeschrieben hatten, um die Ausschreibung zu verbessern. Zum Beispiel einen größeren Fokus auf die Formatentwicklung zu l­egen, was in dieser Situation der Coronakrise heißen könnte, einen künstlerisch mehr als nur akzeptablen Notbetrieb anzubieten. Ein

Stadtlabor des FFT Düsseldorf im Rahmen der Konferenz Claiming Common Spaces II (2019). Foto Dirk Rose

Wie könnten sich diese Überlegungen in der nächsten Ausschreibung konkret manifestieren? Khuon: Ich finde, dass diese Aspekte in der jetzigen Ausschreibung eigentlich gut gefasst sind. Die Energie der Selbstbehauptung und des gemeinsamen Platzes in einer Stadt haben ja auch jetzt schon eine große Bedeutung.


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weiterer Aspekt ist das nachhaltige Anlegen von Arbeitsstrukturen, sodass durchaus auch Leute zu würdigen sind mit jahrzehntelanger Ge­ schichte in kleineren Orten unter eher widrigen Grundbedingungen. Khuon: Wobei auch da unter den bisherigen Preisträgern schon zahl­ reiche Theater dabei sind, die mit Nachhaltigkeit, Geduld und einer ­Unbeirrbarkeit über Jahre hinweg gearbeitet und aussagekräftige For­ mate entwickelt haben. Der Ringlokschuppen in Mülheim beispielsweise, das Theater Rampe in Stuttgart, das Puppentheater Magdeburg. Benduski: Die haben aber auch explizit ein künstlerisches Profil ent­ wickelt. Und das ist auch eines ihrer Hauptziele. Die Idee ist es, das Kriterium der Nachhaltigkeit in der Ausschreibung stärker zu akzen­ tuieren, um überhaupt mehr Theater anzusprechen und auch eine andere Gewichtung bei den Entscheidungsprozessen zuzulassen. Einen Preis für Steffen Mensching in Rudolstadt für sein Lebenswerk! Aber trotzdem würde man auch in diesem Fall immer betonen, dass er in seiner Stadt künstlerischen Mut beweist. Starke: Auch ein gelungener Neuanfang kann preiswürdig sein, wenn ein Team gerade versucht, das Theater neu aufzustellen. Da kann ein

Preis als Signal an eine Stadt, das Experiment weiter zu stützen, sehr klug gesetzt sein. Hat bei der Oper Halle leider nicht so funktioniert. Khuon: Trotzdem sind die Oper Halle oder das Landestheater Mem­ mingen gute Beispiele dafür, dass da jemand mal etwas anderes ver­ sucht. Ich fand schon, dass es in den vergangenen Jahren eine kluge Mischung bei der Auswahl der Preisträger*innen gab aus Theatern, die künstlerisch etwas wagen, und Theatern, die vor Ort mehr kämp­ fen müssen und eine Ermutigung gut gebrauchen können. Denn um das Künstlerische sollten die Theater immer kämpfen! Deshalb bedarf es auch bei der Auswahl und Preisvergabe einer Balance zwischen ge­ sellschaftlicher Wirksamkeit und künstlerischer Qualität. Benduski: Unsere Vorschläge, um das nicht misszuverstehen, waren auch nicht so gedacht, dass sie dann für alle Zeiten gelten sollen. Aber wenn der Preis jetzt hoffentlich alle zwei Jahre verliehen wird, gibt es eben die Chance, in jedem Jahrgang etwas Spezifisches zu akzentuie­ ren. 2019 haben wir zum Beispiel lange die Frage diskutiert, ob die Außenbezirke von Großstädten auch irgendwie kleinere Orte sind.


Kritiker des Preises empfinden es ja teils als zynisch, dass der Bund punktuell Finanzspritzen setzt, wo er doch durch die Schuldenbremse mit für die angespannte Situation in den Kommunen verantwortlich ist. Die Grundsituation für die Theater, etwa in Mecklenburg-Vor­ pommern, bleibt schwierig. Khuon: Aber zuständig sind nun einmal die Länder und die Gemein­ den. Diese föderale Struktur hat sich bewährt und viele Theater bei allen Schwierigkeiten auch erhalten. Der Bund setzt mehr und mehr starke Signale. Die sind natürlich ergänzend. Da finde ich einen Preis, der für Aufmerksamkeit sorgt, ermutigt und zu einer stärkeren Sicht­ barkeit einzelner Theater führt, überhaupt nicht zynisch. Zudem ist die Anzahl der Preisträger nicht klein. 31 in den vergangenen drei Durchgängen. Khuon: Gleichzeitig hat man alle zwei Jahre einen neuen Fundus. Es ist eben eine echte Auszeichnung. Das andere wäre eher so eine Art Gütesiegel im Sinne von „Hebt sich ab vom Mainstream“, wie die ­Gilde-Kinos. Ich glaube auch, der Theaterpreis des Bundes tut gut ­daran, wirklich auszuwählen und dadurch einen starken Akzent zu setzen. Benduski: Stichwort Gütesiegel: Ein Punkt, der uns als Kriterium für eine Auspreisung noch interessieren würde, wäre das soziale Be­ wusstsein für die Arbeitsverhältnisse und ein Interesse an Diversi­ tätsentwicklung am eigenen Haus. Zudem würden wir gerne stärker fordern, dass die Preisträger*innen dauerhaft sichtbarer werden, dass das BKM auch die Aufgabe übernimmt, die Gewinner*innen zum

„Nebel im August (Der Fall Ernst Lossa vor Gericht)“ nach der Romanbiografie von Robert Domes von John von Düffel in der Regie von Kathrin Mädler (Landestheater Schwaben 2018). Foto Karl Forster

Es gab 2015 und 2017 die Kritik, dass der Preis, der sich ja vorrangig an ­kleine und mittlere Theater jenseits der Metropolen wenden soll, doch wieder in Großstädte gegangen ist, allerdings an sehr kleine, prekäre Häuser. Benduski: Ich finde das nach wie vor ein Argument, weil bestimmte Theater hinter Spandau definitiv andere Themen haben als die In­ nenstadttheater. Für 2019 haben wir dann aber eine gute Lösung ge­ funden: Es sollten nicht mehr als drei Theater aus Städten mit über 300 000 Einwohner*innen ausgezeichnet werden. Das ist für viele Fragestellungen gar kein falscher Ansatz, dieses „auch, aber nicht mehr als …“. Es ist zwar ein bisschen Proporz, aber es lässt sich eine Bandbreite abbilden. In diesem Zusammenhang haben wir uns auch gefragt, ob der Theaterpreis des Bundes nicht vielmehr so verteilt werden sollte wie der Bundespreis an die unabhängigen Buchhand­ lungen und Büchereien. Da gibt es viel mehr Auszeichnungen pro Jahrgang, natürlich auch weniger Geld. Dennoch könnte man sich beim Theaterpreis mehr Preisträger durchaus vorstellen und mehr Preisgeld auch. Starke: Ich bin ehrlich gesagt keine große Freundin davon, Preise zu weit zu streuen. Ich finde, zehn Preisträger*innen schon eine ganze Menge, gerade so viel, dass der Preis eine Ausstrahlung hat, aber eben auch so wenig, dass er eine wirkliche Auszeichnung darstellt. Khuon: Die Einschätzung teile ich. Die Frage ist ja auch: Wie spürbar ist das Preisgeld? Die Auszeichnung soll ja nicht nur eine Belobigung sein, sondern auch hilfreich. Und da ist die Summe des Preisgelds ­momentan schon sehr kräftig.


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Beispiel in Form von redaktionellen Porträts stärker in die Öffentlich­ keit zu bringen. Khuon: Die Preisträger*innen über diesen Einzelakzent des Preises hinaus sichtbar zu machen, finde ich total hilfreich und gut. Die Frage nach den Arbeitsbedingungen ist hingegen wahnsinnig schwer nach außen hin zu beantworten. Wobei es durchaus positiv ins Gewicht fällt, wenn in einer Bewerbung steht, dass beispielsweise die Mindestgage erhöht wurde. Khuon: Aber das Arbeitsklima eines Hauses ist in der Selbstdarstel­ lung nach außen hin leichter beschönigt als nach innen hin verwirk­ licht. Man sollte schon darauf achten, was für eine Jury lesbar und beurteilbar ist. Kommen wir zum Schluss auf die politische Wirksamkeit des Preises. Frau Starke, in einem Text in einem der jüngsten INTHEGA-Journale zitieren Sie den Präsidenten des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle Reint Gropp mit einer Aussage, die einen durchaus fassungslos macht: „Natürlich ist es hart, zu sagen, wir müssen den ländlichen Raum aufgeben, aber nur so haben wir eine Chance, den Unterschied zwischen Ost und West irgendwann auszugleichen.“ Das ist genau das Gegenteil dessen, was der Theaterpreis des Bundes will: Wert­ schätzung des ländlichen Raums mitsamt seiner Infrastruktur, zu der auch Theater gehören. In Stendal indes wäre das Preisgeld für das Theater der Altmark fast für das Stopfen von Finanzlöchern im ­Theateretat entfremdet worden. Kann der Preis die Wertschätzung für die Theater in den Städten, Kommunen und Ländern tatsächlich erhöhen? Starke: Die INTHEGA-Häuser werden alle in unterschiedlicher Höhe von den Kommunen finanziert, erhalten also keine Landesmittel. Ich glaube schon, dass dieser Preis ein ganz starkes Signal an die Kom­ munen ist, die vielleicht an der einen oder anderen Stelle tatsächlich überlegen, ob ein Haus, das in Nachbarschaft zu anderen Großstäd­ ten steht, wirklich gehalten werden muss. Zudem hat Kulturstaats­ ministerin Monika Grütters das Thema „Kultur im ländlichen Raum“ zum Thema dieser Legislaturperiode ausgelobt, insofern ist der Preis eine gute Ergänzung. Wenn wir von verschiedenen Seiten daran ar­ beiten, wird, so meine Hoffnung, deutlich, dass wir den ländlichen Raum gerade nicht abhängen dürfen, sondern dass der ländliche Raum eine große Chance bietet. Zumal die Städte teilweise vor dem Kollaps stehen. Khuon: Den ländlichen Raum aufzugeben, ist tödlich. Ihn aber nicht zu verlieren, dazu braucht es unterschiedliche Akteur*innen und Be­ mühungen. Seine Stärke ergibt sich nicht von selbst. Bundesländer wie Sachsen und Thüringen haben erkannt, dass in Regionen, die man aufgegeben hat und die sich aufgegeben fühlen, wo es Fluchtbewe­ gungen gibt, auch die Radikalisierungstendenzen am stärksten sind. Kulturelle und künstlerische Aktivitäten zu initiieren, indem man die Orte selbstbewusst behauptet, wird zunehmend wertgeschätzt. Kul­ tur heißt ja auch, dass man miteinander zu tun hat, das, glaube ich, ­kapieren im Moment sehr, sehr viele. Deswegen ist es auch gut, wenn sowohl der Bund wie auch die Bundeskulturstiftung wie auch die Län­ der wie auch die Regionen mit zusätzlichen Mitteln agieren. Man kann die Dinge nicht immer nur beschwören und dann nichts tun, sondern man muss auch fragen: Wie kriegt man das jetzt hin? Denn Sie haben ja recht: Jede Gemeinde hat ihre eigenen Finanzprobleme.

Den ländlichen Raum aufzugeben, ist tödlich. Ihn aber nicht zu ­verlieren, dazu braucht es unterschiedliche Akteur*innen und Bemühungen. Ulrich Khuon

Aber deswegen müssen wir mit vielen verschiedenen Instrumenten agieren. Sich dabei immer wieder zu erinnern, welch hohe Qualität unsere Kulturlandschaft hat, ist essenziell. Da ist der Preis ein weite­ rer, richtig wertvoller und bisher klug gelenkter Baustein in so einer Wertschätzungskette. Benduski: Die politische Wirksamkeit des Preises ist unbestritten, denn Politik mag Preise. Und insbesondere, wenn eine Preisverlei­ hung wie jetzt schon – und zukünftig vielleicht noch mehr – durch eine offene Diskussion zu Ausschreibung und Kriterien, durch ein Symposium und eine erhöhte Sichtbarkeit der Ausgezeichneten be­ gleitet wird, hat so ein Preis natürlich die Chance, die vielen verschie­ denen Arbeitsweisen und Produktionsstrukturen in ihrer Heterogeni­ tät ­besser sichtbar zu machen. Und da gehören Theaterstrukturen, die klug und kontinuierlich und für ihr Umfeld richtig im sogenannten ländlichen Raum arbeiten, eben genauso dazu wie andere auch. Es sollte eigentlich gar nicht notwendig sein, dies extra zu betonen – nur bis es so weit ist, muss es sicher noch öfters gesagt werden. Janina Benduski ist seit 2015 Erste Vorsitzende des BFDK – Bundesverband Freie darstellende Künste sowie seit 2012 kooptiertes Mitglied des Vorstands des LAFT – Landesverband freie dar­stel­­lenden Künste Berlin. Zudem ist sie Mit­begrün­ derin und Gesellschafterin von ehrliche ­arbeit – freies Kultur­büro, einem Produktionskollektiv für die freien dar­ stellenden Künste. Foto Dorothea Tuch Ulrich Khuon ist seit der Spielzeit 2009/10 Intendant des Deutschen Theaters in Berlin sowie seit 2017 Präsident des Deutschen Bühnenvereins. Zuvor war er Intendant am Stadttheater Konstanz, am Nieder­ sächsischen Staatsschauspiel Hannover sowie am Thalia Theater in Hamburg. Foto Klaus Dyba Photography Dorothee Starke ist seit 2019 Präsidentin der ­INTHEGA – der Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen e. V. und leitet seit 2016 das Kulturamt in Bremerhaven. Zuvor war sie ­25 Jahre lang an verschiedenen Theatern engagiert, davon 19 Jahre in leitender Funktion, zuletzt von 2008 bis 2016 als Direktorin des Theaters Hameln. Foto Rainer Berthin


„Kreise“ von Marko Werner und Michael Lurse (Helios Theater 2019). Foto Walter G. Breuer

THEA TER PRE IS / 46 /

protagonisten

/ 1. Schweizer Theatertreffen 2014 /


/ 1. Schweizer Theatertreffen 2014 /

protagonisten

2019

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Boat People Projekt, Göttingen Helios Theater, Hamm Landestheater Schwaben, Memmingen Oper Halle Piccolo Theater Cottbus Puppentheater Magdeburg Ringlokschuppen Ruhr, Mülheim an der Ruhr Theater Erlangen Theaterwerkstatt Pilkentafel, Flensburg Theater Rampe, Stuttgart Theater Thikwa, Berlin

DES BUN DES


48 D A S B O AT P E O P L E P R O J E K T I N G Ö T T I N G E N

TRANSKULTURELLES NOMADENTUM

ZEHN JAHRE ist es her. Da hatten die Regisseurin Nina de la Chevallerie und die Autorin Luise Rist den Stadttheaterbetrieb satt. Sie kündig­ ten ihre Jobs am Deutschen Theater Göttingen und machten sich „auf die Suche nach anderen Möglichkeiten, politisches Theater zu machen“, erzählt Nina de la Chevallerie. boat people projekt nannten sie sich, nach den „Boat People“, die in den sechziger und siebziger Jahren vor dem Vietnamkrieg flohen. Denn de la Chevallerie und Rist starteten – inspiriert von einem Stadtprojekt, das noch fürs DT Göttingen ent­ standen war – mit einem Fokus auf die Themen Flucht und Migration in ihre neue Karriere als freie Theaterschaffende. Randthemen, die ab 2015 auf einmal eine riesen Öffentlichkeit hatten und gleichzeitig ­begannen, die Gesellschaft zu polarisieren. Das boat people projekt (bpp) residierte zu dieser Zeit noch in ­einem ehemaligen Supermarkt in der Göttinger Innenstadt. Dort probten sie und gingen mit ihren Produktionen an verschiedene Orte in der Stadt. 2016 zogen sie an einen ersten festen Ort in den vornehmen Nordosten, wo zwischen Professorenvillen und Kleingartenanlagen das ehemalige Institut für den wissenschaftlichen Film der Universi­ tät (IWF) lag. Mittlerweile ist es abgerissen; der Investor, der es erwor­ ben hatte, stellte es dem bpp für zwei Jahre zur Zwischennutzung zur Verfügung. Im zentralen ehemaligen Filmstudio bauten sie damals ihre Bühne auf. In die Seitenflügel des geräumigen Gebäudekomple­ xes zog eine Notunterkunft für Geflüchtete ein. In den Bewohner*innen fand das bpp ein neues Stammpublikum. Außerdem erweiterten sie ihr soziokulturelles Angebot, boten Musik-, Tanz- und Filmprojekte an, und kamen über projektweises Arbeiten hinaus in ständigen Kontakt mit der Lebensrealität geflüchteter Men­ schen aus vielen verschiedenen Ländern und Regionen. Aus dieser Arbeitserfahrung ergab sich der Anspruch, so Nina de la Chevallerie, „eine Gegenöffentlichkeit herzustellen für dieses Reizthema, indem wir Geflüchtete eben nicht als solche labeln“. Wo das Theater andern­ orts das neue Großthema mit viel Eifer entdeckte und Geflüchtete gern auf die Bühne bat, um dort authentisch für ihr schweres Schick­ sal zu stehen, verlegte sich das bpp darauf, nach Theaterschaffenden unter den Geflüchteten zu suchen und sie zu fragen, welche Themen sie selbst auf die Bühne bringen wollen. Die Gruppe, die 2009 mit Rist, de la Chevallerie und vier weiteren Kolleg*innen rein „biodeutsch“ gestartet war, verwandelte sich und wurde zu einem transkulturellen Geflecht, das heute im Kern aus sieben Mitarbeiter*innen besteht und mit 15 bis 20 assoziierten Künstler*innen kooperiert, die regel­ mäßig in Göttingen arbeiten. Nachdem die Notunterkunft dicht gemacht worden war, musste auch das bpp im Frühjahr 2018 aus dem ehemaligen IWF ausziehen. Im Sommer 2018 eröffnete es mit dem Werkraum einen neuen Ort.

Er liegt in der Göttinger Weststadt, einer Gegend, deren Charme zwi­ schen Gewerbegebiet und sozialem Brennpunkt oszilliert. Der Werk­ raum ist eine ehemalige Lagerhalle, die ihnen wieder zur Zwischen­ nutzung überlassen wurde und in die sie eigenhändig einen Black Cube für etwa achtzig Zuschauer*innen gebaut haben. Vom Preisgeld des Theaterpreises des Bundes, der ihnen 2019 ­verliehen wurde, werden dem inklusiven Geist der Gruppe folgend alle derzeit geplanten Projekte gleichermaßen unterstützt. Der Themen­ schwerpunkt der kommenden Produktionen liegt auf Sprache und Übersetzung. Man wolle mit Augmented-Reality-Brillen als LiveÜbersetzungsinstrument experimentieren, bei dem jede*r die Über­ titel in ihrer*seiner eigenen Sprache einstellen kann. Außerdem plant das bpp, seine neue Umgebung in einem Stadtteilprojekt zu erkun­ den, in das möglichst viele Akteur*innen aus der Weststadt ein­ gebunden werden sollen – um dem transkulturellen Geflecht einen lokalen ­Anknüpfungspunkt zu verpassen. BOAT PEOPLE PROJEKT Das boat people projekt, 2009 als freie Theatergruppe gegründet, bespielte zwischen 2015 und 2018 das Tonstudio des ehemaligen Instituts für den wissen­ schaftlichen Film Göttingen und ist im Februar 2019 in seine neue Spielstätte, den Werkraum gezogen. Mit einem künstlerischen Team, das die Diversität unserer Gesellschaft repräsentiert und diese für sein ebenso diverses Publikum erlebbar macht, entstanden in der Spielzeit 2017/18 sieben Eigenproduktionen und drei Koproduktionen, die zu insgesamt 60 Aufführungen führten. Ein wei­ terer Schwerpunkt liegt auf der als „Soziokultur“ betitelten theaterpädagogi­ schen Arbeit, die in Form von mehreren Kinder- und Jugendtheaterclubs reali­ siert wird.

„Schattenboxer“ von Nina de la Chevallerie, Xolani Mdluli und Sonja Elena Schroeder (boat people projekt 2015). Foto Reimar de la Chevallerie

VON SOPHIE DIESSELHORST


49 D A S H E L I O S T H E AT E R I N H A M M

DIE KRAFT DER BEHUTSAMKEIT

„Kreise“ von Marko Werner und Michael Lurse (Helios Theater 2019). Foto Walter G. Breuer

VON STEFAN KEIM

EIN EIMER KREIST durch die Luft. Er ist an einem Faden aufge­ hängt, durch ein kleines Loch rieselt feiner Sand auf den Boden. Erst entsteht ein Kreis mit zartem Rand, dann wird er immer dicker. Diese Aktion dauert fast die gesamte Aufführung, die auch einfach „Kreise“ heißt. Es ist Theater für Menschen ab zwei Jahren. Die beiden Spieler arbeiten mit sinnlichen Eindrücken, nicht mit Text. Wenn schrundige, einfache Puppen ins Spiel kommen, entstehen angedeutete, kurze Geschichten. Doch sie bekommen nie die Oberhand in dieser Auffüh­ rung, sondern sind Teil eines Gesamtkunstwerks. Theater für die Kleinsten ist ein Kernthema des Helios Theaters. Lange bevor fast alle größeren Kindertheater den Trend bemerkten und ebenfalls solche Stücke in die Spielpläne nahmen, experimentier­ te das kleine Ensemble in Hamm mit Materialien wie Holz und Erde. So unterschiedlich die Stücke auch sind, gibt es einige Gemeinsam­ keiten. Stets ist ein großer Respekt spürbar. Die Spieler*innen neh­ men sich nicht einfach, was da ist, um ihre Fantasien zu verwirklichen. Sie ­nähern sich behutsam den Dingen, mit denen sie arbeiten. Die Konzentration und Zugewandtheit überträgt sich auf die ­Kinder im Publikum. Sie werden neugierig, weil die Spielerinnen und Spieler diese Stimmung vorgeben. Auch die Erwachsenen werden von dieser Atmosphäre gefangen. In den Stücken für die Kleinsten wird das Thea­ter immer wieder neu erfunden. Weil es keinen Konsens gibt, keine Vorkenntnisse, auf denen sich aufbauen ließe. Die Grenzen zwischen Theater, bildender Kunst und Musik müssen hier nicht überschritten werden. Weil sie gar nicht existieren. Die Aufführungen des Helios Theaters haben für alle Altersgruppen einen hohen ästhetischen Reiz. Gegründet haben die Regisseurin Barbara Kölling und Spieler ­Michael Lurse das Helios Theater 1989 in Köln. Acht Jahre später zog es ins westfälische Hamm, wo es zuvor kein professionelles Theater gab. 2004 wurde die eigene Spielstätte im Hauptbahnhof eröffnet, ein variabler Raum, der sich für intime Stücke verkleinern lässt, aber auch bis zu 150 Leute fassen kann. Hier wird geprobt und gespielt, es gibt Workshops und andere pädagogische Angebote. Das Konzept des Helios Theaters geht allerdings weit über Hamm hinaus. Von Anfang an suchten Barbara Kölling und Michael Lurse Kontakte zu internationalen Theaterschaffenden. Auch das lange ­bevor fast alle anderen Ensembles und Produktionshäuser ähnliche Projekte starteten. Und bevor es regelmäßige Fonds gab, aus denen internationale Theaterarbeit gefördert wird. Heute ist das Helios Theater sehr gut vernetzt. Egal ob man mit Kinder- und Jugendthea­ terleuten aus Nigeria, Südafrika, Indien oder Russland spricht – das Helios Theater ist bekannt. Schon achtmal gab es das Theaterfestival hellwach mit internationalen Gruppen, die nicht nur in Hamm, ­sondern in vielen umliegenden Städten spielen.

Längst kann das Helios Theater nicht mehr alle Anfragen erfüllen. Mit dem neuen Stück „Kreise“ wird es wieder auf Festivals touren, doch viele Gastspielangebote muss es ablehnen. Fest angestellt sind übri­ gens nur zwei Menschen für Organisation und Technik. Alle anderen arbeiten auf Honorarbasis. Der Theaterpreis des Bundes 2019 ermög­ licht nun eine Koproduktion mit einem Theater aus Neu-Delhi, zu dem lange Bindungen bestehen. „Ein längerfristiger Traum“, sagt Barbara Kölling, „ist es, ein internationales Ensemble zu werden.“ In einem ersten Schritt spielen zwei Menschen aus Iran in verschie­ denen Stücken mit. „Das ist natürlich auch ein politisches State­ ment“, ergänzt Barbara Kölling. „Zusammenarbeit ist die einzige Möglichkeit.“

HELIOS THEATER Das Helios Theater in Hamm nimmt als Kinder- und Jugendtheater eine Vorreiter­ rolle im Theater für die Allerkleinsten (ab zwei Jahren) in Deutschland ein. Von den über 200 Aufführungen pro Spielzeit sind mehr als die Hälfte Gastspiele in der Region und in der ganzen Welt. Dabei entstehen bis zu drei Eigenproduk­tio­ nen pro Spielzeit. Als Ausrichter des Festivals hellwach, das 2018 bereits zum achten Mal stattfand, ist das Helios Theater ein wichtiger Begegnungspunkt in der inter­nationalen Szene für Kinder- und Jugendtheater.


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MIT SCHIRM, CHARME UND QUOTE VON CHRISTOPH LEIBOLD

Schwaben ist keine reiche Bühne. Mit attraktiven Gagen kann es gute Künstler*innen also nicht locken, wie Intendantin Kathrin Mädler freimütig bekennt. „Die meisten haben dann aber doch Lust, auf un­ sere Energie mit aufzuspringen.“ Die 43-Jährige ist seit 2016 Inten­ dantin des Landestheaters mit Hauptsitz im bayerischen Memmin­ gen und verkörpert die Energie, mit der sie das Haus aufgeladen hat, selbst eindrucksvoll: ansteckend fröhlich im Auftreten, überzeugend ernsthaft im Verfolgen ihrer Anliegen. Als eine der nur 21 Prozent Intendantinnen an deutschen Thea­ tern hat Mädler das Landestheater Schwaben nach fast zwei Jahr­ zehnten unter der eher patriarchalen Führung ihres Vorgängers ­Walter Weyers von Grund auf umgekrempelt. An der Spitze der ­Dramaturgie steht nun mit Anne Verena Freybott ebenfalls eine Frau. Im zwölfköpfigen Ensemble halten sich Frauen und Männer exakt die Waage. Und auch bei den Regisseurinnen wird die Fünfzig-Prozent­ quote locker erfüllt. Übrigens „ohne dass wir uns das als strukturelle Aufgabe gestellt hätten“, wie die Intendantin betont. Vielmehr habe sich das aus inhaltlichen Interessen quasi von selbst ergeben. Wer sich heute mit dem klassischen Kanon befasse, dem stelle sich automatisch die Frage nach dem Frauenbild in diesen Texten, ist Mädler überzeugt. Das fordert dann auch zu adäquatem Umgang ­damit heraus. So hat sie selbst zum Beispiel vor zwei Jahren ein femi­ nistisches „Käthchen von Heilbronn“ (Heinrich von Kleist) mit einer ungewohnt selbstbewussten Titelfigur inszeniert. Und die junge ­Regisseurin Julia Prechsl besetzte die Brüder Franz und Karl Moor aus Friedrich Schillers „Räubern“ zu Beginn der aktuellen Spielzeit mit zwei Frauen. Für das Memminger Publikum ist das nach den eher ­biederen Weyers-Jahren immer noch so ungewohnt wie die Vielzahl von Ur- und Erstaufführungen, die jetzt auf dem Spielplan stehen. Das Landestheater vergibt Stückaufträge an Autorinnen wie Katja Hensel oder kooperiert mit freien Gruppen wie dem PerformanceKollektiv geheimagentur und setzt nicht nur auf verlässliche Stück­ titel, was ja gerade bei Landesbühnen gern der Fall ist, die oft nicht nur Klein-, sondern auch Kleinststädte mitbespielen. Das Landes­ theater Schwaben beispielsweise macht unter anderem Abstecher nach Mindelheim, Sonthofen oder Füssen. Angst vor der eigenen Courage ob der mutigen Spielplangestal­ tung haben Mädler und ihre Mannschaft (oder sollte man besser ­sagen: Frauschaft?) bisher noch nicht bekommen. Das zupackende, optimistische Auftreten (Logo des Hauses ist ein Stern, der Strahl­ kraft verheißt) hat etwas Gewinnendes, das Publikum und auswär­ tige Künstler*innen gleichermaßen anzuziehen scheint. Für „Nebel im August“, ein Stück über die NS-Euthanasie, konnte der Dramatiker

John von Düffel als Autor gewonnen werden (ja, auch Männer sind in Memmingen willkommen). Ein Drama von Christoph Nusbaumeder über die Tiroler Landesfürstin Margarete Maultasch, sozusagen die Angela Merkel des ausgehenden Mittelalters, brachte das Landes­ theater Schwaben zur Uraufführung. Kathrin Mädler war mit ihrer Uraufführungs-Inszenierung für den Faust Theaterpreis 2019 nomi­ niert. Mit solchen Erfolgen wird sie weiter für ihr Theater werben, um hochkarätige Künstler*innen nach Memmingen zu locken. Und nicht mit dem Aufstocken von Regiegagen. Die 75 000 Euro für den Thea­ terpreis des Bundes 2019 jedenfalls sollen den Grundstock für den Aufbau einer eigenen Kinder- und Jugendtheatersparte bilden.

LANDESTHEATER SCHWABEN Mit einem Fokus auf Themen der Region, große Stoffe der Weltliteratur, neue Dramatik und junge Autoren, die in Ur- und Erstaufführungen auf die Bühne gebracht werden, entstehen am Landestheater Schwaben bis zu 16 Eigenproduk­ tionen pro Spielzeit (2018/19). Zusätzlich zu den 219 Vorstellungen auf den drei Bühnen im Stammhaus in Memmingen werden in der Funktion als Landes­ theater bis zu 80 Gastspiele in der Region gegeben (SZ 2017/18). Das Angebot des Theaters wird abgerundet durch zahlreiche Theater-Extras, wie den Frauen­ salon, die Podiumsgespräche „Die Zukunft unserer Region“, die Reihe „Theater und Kirche“ und das Angebot der Bürgerbühne Schwaben.

„Das große Heft“ nach Ágota Kristóf in der Regie von Max Claessen (Landestheater Schwaben 2019). Foto Karl Forster

GELD IST NATÜRLICH immer ein Thema. Das Landestheater


51 DIE OPER HALLE

MUSIKTHEATER DER ZUKUNFT VON JOACHIM LANGE

„L‘Africaine“ von Thomas Goerge, Lionel Somé und Daniel Angermayr nach Giacomo Meyerbeer (Oper Halle 2018). Foto Falk Wenzel

DAS OPERNHAUS IN HALLE ist einer jener schmucken deutschen

Theaterbauten aus dem vorvorigen Jahrhundert. Es steht mitten in der Altstadt, einen Steinwurf vom Universitätsplatz entfernt, an den ­wiederum die Theater-Kulturinsel grenzt. Alles im Herzen einer Kom­ mune, der in den vergangenen 30 Jahren ungefähr ein Drittel ihrer ­Einwohner abhandenkamen, inklusive potenzieller Opern- und Thea­ ter­ besucher*innen. Den in jungen Jahren abgewanderten, zum ­Barockstar aufgestiegenen Georg Friedrich Händel haben sich die Hallenser*innen schon lange „zurückgeholt“. Seine Festspiele sind die größten ihrer Art und ein Fundament der Händel-Renaissance. Halle ist auch sonst eine Kulturstadt mit langer Tradition. Mit mentalitäts­ bedingter Neigung, das eigene Licht unter den Scheffel zu stellen. Die Politik laborierte (zu) lange an einer überlebensfähigen Struktur für die Hochkultur-Leuchttürme der Stadt. Zur Fusion des Opern­ orchesters und der Philharmonie zur großdimensionierten Staatskapelle kam die organisatorische Zusammenführung von Thalia Theater, Neu­ em Theater, Puppentheater, Orchester, Oper und Ballett unter das Dach einer GmbH hinzu. Deren Struktur, die Ambitionen des ­aktuellen Ge­ schäftsführers Stefan Rosinski und manche Entscheidungen des Auf­ sichtsrates konterkarieren leider zu oft die künstle­rischen Leistungen der Oper und auch des Theaters. Zumindest wird dies von Teilen der Stadtgesellschaft so wahrgenommen und verdunkelt die überregionale Anerkennung, die auch durch den Theaterpreis des Bundes erfolgte. Die einst so mutige Personalentscheidung, den jungen Florian Lutz 2016 zum Opernintendanten zu machen, hat der Institution Oper tatsächlich in kurzer Zeit den Stellenwert verschafft, den sie rein geogra­ phisch per se hat: ein Ort der Selbstverständigung der Bürger*innen, mitten in der Stadt zu sein. Wie grundsätzlich dieses programmati­ sche Durchstarten gelang, zeigt sich daran, dass das Fachmagazin Die Deutsche Bühne im November 2019 ein ganzes Themenheft zum ästhetischen Neustart an der Oper Halle unter der Intendanz von Flo­ rian Lutz h ­ erausbrachte. Titel: „Musik-(Stadt-)Theater der Zukunft“. Präziser lässt es sich kaum formulieren. Das mit dem Theaterpreis Faust honorierte Raumbühnenprojekt ­Heterotopia und sein Nachfolger Babylon von Sebastian Hannak ­waren nur die sichtbarsten Zeichen des Durchstartens mit ungewöhnlichen ­Projekten. Wagners „Fliegender Holländer“ als Rauminszenierung mit Publikumseinbindung, Verdis „Requiem“ als dräuend-immersives Welt­ untergangsszenario, eine spektakuläre Jelinek-Inszenierung (des Schau­ spiels) und die Uraufführung der Oper „Sacrifice“ von Sarah Nemtsov und Dirk Laucke über den Lockruf des Dschihad waren nur die markan­ testen Nutzungen einer theatralen Situation, die die so­genannte vierte Wand bewusst irgnorierte. Daneben riskierte das ­Leitungsteam der Oper, zu dem neben Lutz noch Michael von zur Mühlen und Veit Güssow gehö­

ren, neue Formen wie das zehnteilige kleinformatige „Kunstwerk der Zu­ kunft“, scheute die Konfrontation mit tradierten Erwartungshaltungen nicht, ja riskierte sogar (wenige Male) krachendes Scheitern, stellte sich aber stets mit offenem Visier der Diskussion. Auch aus dem Grund gelang es, neue Zuschauer*innen zu gewinnen und viele von den bisherigen zu halten – und das quer durch die Generationen. Hier gaben sich renom­ mierte ­Regiegäste wie J­ ochen Biganzoli, Tatjana Gürbaca, Tobias Kratzer, selbst Altmeister Peter Konwitschny die Klinke in die Hand. Der „Fidelio“ von Florian Lutz überblendete nicht nur Beethovens Freiheitspathos mit den Erfahrungen der Hallenser*innen von heute. Er ­­thema­­­tisierte auch, quasi selbstreferenziell, den sich zuspitzenden ­Konflikt zwischen Opernleitung und Geschäftsführung: Der gefan­gene Florestan war ein Wiedergänger des Intendanten, sein Gegenspieler Don Pizarro war unschwer als der des Geschäftsführers zu entschlüs­ seln. Hier obsiegt bekanntlich Florestan. Beim ganz realen, alle ener­ vierenden Machtkampf zog der Intendant den Kürzeren. Pech für Halle. Und eine Erfahrung für den gerade nach Kassel berufenen Florian Lutz. OPER HALLE Als Teil der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle hat die Oper Halle wäh­ rend der Intendanz von Florian Lutz mit ihrem neuen ästhetischen Pro­ gramm überregionale Strahlkraft gewonnen. Sein experimentelles Musik­ theater hat dem jungen Leitungsteam um Florian Lutz, Michael von zur Mühlen und Veit Güssow schnell die Aufmerksamkeit des Fachpublikums und etliche Aus­zeichnungen beschert. In der Spielzeit 2018/19 entstanden elf Neuproduk­ tionen, angesiedelt zwischen bekannten Kanonstücken, Uraufführungen und zeitgenös­sischen Tanz- und Ballett-Performances. Ergänzt wird das Programm durch Diskurs­reihen wie „These zur Gegenwart“ oder „Agitation und Revolte“.


52 D A S P I C C O L O T H E AT E R I N C O T T B U S

GRETA AUS DER LAUSITZ VON THOMAS KLATT

lernte, mich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen und sie zu tolerieren“, sagt Lena Reimer. Die 38-Jährige spielte mehrere Jahre lang Theater im Kinder- und Jugendtheater Piccolo in ihrer Heimat­ stadt Cottbus. Da war sie noch Schülerin, etwa 16, 17 Jahre alt. Heute wohnt sie in Hamburg und erinnert sich gern an diese Zeit. Wer auf einer Bühne stehe, sei selbstbewusster und lerne, sich zu artikulieren, so Reimer. Als der Liedermacher Reinhard Drogla gemeinsam mit anderen Gesellschaftern im Jahre 1991 das Piccolo in Cottbus gründete, war wohl nicht vorauszusehen, dass daraus einmal eines der größten, profiliertesten Kinder- und Jugendtheater des Ostens werden würde. Zwei Bühnen gibt es mit 127 und 70 Plätzen, auf denen Schauspiel, Puppenspiel und Tanz gezeigt werden. Etwa zwanzig Mitarbei­ter*in­ nen sind es, die jährlich – gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen der Stadt – 300 Veranstaltungen auf die Bühne bringen. Die Kinder und Jugendlichen entwickeln viele Ideen selbst. Drogla will kein Erwachsenentheater für Kinder, sondern ein Theater, in dem Kinder und Jugendliche selbst zu Wort kommen und sich mit ihren Sehnsüchten und Freuden, aber auch Ängsten aufgehoben fühlen. „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ ist ein Märchen für Kinder im Grundschulalter, in denen sie ihre Sorgen und Probleme wiederfinden. „Was heißt hier Liebe“ ist ein Aufklärungsstück für Jugendliche. Es läuft bereits seit 1994. Fast jede*r (ehemalige) ­ ­Jugendliche der Stadt kennt es. Mit dem Stück „Greta“ ist nicht Greta Thunberg gemeint, wohl aber das Mädchen Annegret und ihre vielen Lausitzer Schwestern, die sich Sorgen um die Zukunft machen. In „KRG.“ (sprich Krieg), das im Jahre 2018 Premiere hatte, fragen die J­ugendlichen, die das Stück zum Teil selbst entwickelt haben: Was passiert eigentlich, wenn hier bei uns zu Hause Krieg ist? Wohin ­fliehen wir, wenn uns keiner haben will? Und: Was ist Heimat? Das Stück, das sich mit humanistischen Grundfragen der Gesellschaft ­befasst, hat die im brandenburgischen Landtag vertretene AfD mit einer Kleinen Anfrage auf den Plan gerufen, worin unter anderem die Fördermittelpolitik infrage gestellt wurde. Die Jugendlichen hatte dies zu einer Wiederaufnahme des Stücks inspiriert, die überaus ­erfolgreich war. Aber auch mit anderen Projekten hat sich das Piccolo in die städ­ tische Gesellschaft eingeschrieben. Das Stück „Zusammenhalten“ wurde gemeinsam mit Schüler*innen aus dem Stadtteil Sachsendorf, einem sozialen Brennpunkt, produziert. Kontakte gibt es zu 15 Schulen der Stadt. Auch das jährliche internationale Cottbuser Puppenspiel­ festival Hände Hoch hat im Piccolo seine Heimstatt gefunden. Und Drogla plant weiter: Unter dem Arbeitstitel „Wenn die Kinder schlafen“

gibt es zwei- bis dreimal im Jahr einen Jazzabend, der junge Talente aus der Region, Spieler*innen des Hauses und prominente Musi­ ker*in­nen vereint. Der erste Abend war bereits ausverkauft. Die 75 000 Euro des Theaterpreises des Bundes sollen nicht in die laufenden Produktionen fließen. Vielmehr ist geplant, den internatio­ nalen Kinder- und Jugendtheateraustausch (KJT) auszubauen; dem­ nächst solle etwa die Arbeit der Cottbuser Partnerstädte im Fokus stehen, sagt Drogla, der als Liedermacher einst mit Gerhard Gunder­ mann, Reinhold Andert und Gerulf Pannach auf der Bühne stand, und der das Haus seit einigen Jahren alleine leitet. Lena Reimer würde gern nach Cottbus zurückkehren. Ihr Lebens­ partner, IT-Spezialist einer Hamburger mittelständischen Firma, würde in Cottbus jedoch wohl keinen passenden Job finden. Schade. Denn ein schönes Theater für die zwei Kinder wäre vorhanden.

PICCOLO THEATER Das Piccolo Theater bietet als größtes Kinder- und Jugendtheater Brandenburgs seinem Publikum bis zu 300 Aufführungen pro Spielzeit (2018/19). In zwei Spiel­ stätten mit je 127 und 70 Plätzen werden Schauspiel, Tanz und Puppenspiel gezeigt. Prägend für das Programm sind zudem die Festivals. Dazu zählt das Hände Hoch, welches die Faszination des Puppenspiels in den Mittelpunkt rückt. Zudem ist das Theater über das Festival interTWINed, bei dem jährlich 170 Jugendliche zusammenkommen, um sich gegenseitig ihre Arbeiten vorzu­ stellen, mit Theatern und Gruppen aus ganz Europa verflochten.

„KRG.“ von Matthias Heine (Piccolo Theater 2017). Foto Michael Helbig

„DAS SPIELEN IM PICCOLO THEATER hat mich geprägt. Ich


53 D A S P U P P E N T H E AT E R M A G D E B U R G

ENSEMBLETHEATER IN BEWEGUNG

„König Kolossal“ von Nis Søgaard nach Mitsumasa Anno (Puppentheater Magdeburg 2019). Foto Viktoria Kühne

VON TOM MUSTROPH

„SO ETWAS KANNTEN WIR NICHT aus Hannover“, stellte Claus Mangels, lange Jahre Vorstandsvorsitzender der Sparkasse Magdeburg, gleich bei einem seiner ersten Besuche in der Stadt an der Elbe Anfang der 1990er Jahre fest. Was er nicht kannte, war ein Puppentheater, das längst den Ästhetiken von Kasperle-Theater und Augsburger Puppenkiste entwachsen war. Mangels ging später oft mit seiner Familie ins Theater, auch längst berentet sieht man ihn im Zuschauerraum, stets neugierig, was an Geschichten erzählt und an Ästhetiken entwickelt wird. Mangels ist das Beispiel einer Führungskraft aus dem Westen, die dem Osten offen gegenüberstand und Neues entdeckte, auch außer­ halb der unmittelbaren Berufssphäre. Fördergelder der Sparkassen­ stiftung flossen später in das Puppentheater und halfen in der Um­ bruchszeit dem Haus beim Überleben. Die Personalie ist erwähnenswert, weil im gegenwärtigen Diskurs des Abgehängtseins gern die vergessen werden, die Strukturen ­sichern halfen und Neuem den Weg bereiteten. Sie ist auch Beispiel für eine funktionierende Beziehung von Privatwirtschaft und öffent­ lich geförderter Kultur. Und nicht zuletzt ist die inzwischen langjähri­ ge Beziehung zwischen Sparkasse und Theater ein Beleg für den Res­ pekt, der in Magdeburg auch über die engeren Zirkel der Kultur hinaus dem Wirken des Puppentheaters entgegengebracht wird. Das 1958 gegründete Haus nutzte den Umbruch nach 1989 zu ­einem neuen Aufbruch. Es führte das Alte aus dem Osten – die ­Ensemblestruktur mit gegenwärtig acht Spieler*innen und die soli­ den handwerklichen Fähigkeiten – mit den neuen Möglichkeiten zu­ sammen. Neugier auf andere Spielformen führte bereits 1991 zum ersten Festival. Sie war auch Antrieb für die Ausrichtung von UNIMA 2000, dem Weltkongress der internationalen Theaterorganisation UNIMA und dem daran angeschlossenen Weltpuppentheaterfesti­ val. Die Welt war zu Gast in Magdeburg, und das Magdeburger Publi­ kum wie auch die Magdeburger Spieler*innen sahen, was alles mög­ lich war im Umgang mit Objekten, mit Raum, mit Narrationen und mit Körpern. Manche der internationalen Künstler*innen kamen wieder zu Workshops mit dem Ensemble. Daraus entwickelten sich neue ­Arbeitspraxen und auch immer wieder ganze Produktionen. Einige kamen in den Repertoirebetrieb, manche tourten auch, was das Haus international bekannt machte. Andere gingen in „La Notte“ auf, der große Puppen- und Figurentheaternacht in immer neuen Open-AirLocations, die an das Festival Blickwechsel angedockt war. Teilweise drängten sich mehr als 6000 Besucher*innen allein bei diesen ­Nächten. Sie waren nach außen ein Erfolg, gemessen an den Zu­ schauerzahlen, und auch nach innen, weil die Spieler*innen Neues ausprobieren konnten. „Wir wollen ein Ensemble aus individuellen

Künstler*innen bilden“, lautet der Leitsatz des Künstlerischen Leiters des Theaters, Frank Bernhardt. Mit dem Symposium „Aufbruch“ erweiterte das Puppentheater ­seinen Wirkungskreis und lud die anderen ostdeutschen Ensemble­ puppentheater zum Austausch ein. Das Preisgeld des Theaterpreises des Bundes, den das Haus 2019 erhielt, fließt in die weitere EnsembleEntwicklung. „Das gesamte Ensemble wird zu Workshops ans TJP in Straßburg fahren“, kündigt Bernhardt an, dem einzigen Puppenthea­ ter unter den Centres Dramatiques in Frankreich. „Daran werden sich Labor- und Produktionsphasen anschließen bis hin zu einer Kopro­ duktion.“ Die künstlerische Entwicklung auch über die engen Grenzen des Repertoirebetriebs hinaus geht also weiter. Das Theater ist inzwi­ schen derart geschätzt, dass sogar der Investor eines benachbarten Immobilienprojekts mit dem Namen „Areal am Puppentheater“ wirbt – ein Puppentheater als Standortfaktor!

PUPPENTHEATER MAGDEBURG Das Ensemble-Puppen-Stadttheater mit dazugehöriger Jugendkunstschule brachte in den Spielzeiten 2017/18 und 2018/19 mit 43 Mitarbeitern*innen für 106 200 Besucher*innen 28 Repertoire-, 13 Neuinszenierungen und eine Koproduktion mit 1510 Vorstellungen auf die Bühne. Es war mit 22 Gastspielen national und international erfolgreich, be­herbergt mehr als 1000 Theaterfiguren in der Figu­ rensammlung Villa p., spielt in der Reihe „nah dran“ Theater im Museum, ver­ anstaltet biennal die KinderKulturTage und das internationale Figurentheater­ festival Blickwechsel mit 27 eingeladenen Theatern, Gruppen und Solist*innen aus elf Ländern in 15 deutschen Erst- und einer Uraufführung in 2018.


54 DER RINGLOKSCHUPPEN RUHR IN MÜLHEIM AN DER RUHR

SO VIELFÄLTIG WIE DIE GESELLSCHAFT

WO EINST DIE DAMPFENDEN ZUGMASCHINEN der Schwer­ industrie im 154-Grad-Winkel rangierten, entwickelt sich seit 1992 aus der Soziokultur heraus ein Gravitationszentrum der freien darstellenden Künste, das Modellcharakter angenommen hat. Die Stadt Mülheim ist ohnehin in den vergangenen Jahrzehnten zum Theaterhotspot der Ruhrregion geworden: mit Roberto Ciullis weltweit agierendem ­Theater an der Ruhr, mit den Mülheimer Theatertagen Stücke als Leis­tungs­ schau des deutschsprachigen Theaters und dem Pendant der freien Szene, dem auch in Düsseldorf und Köln stattfindenden Impulse ­Theater Festival. Letzteres wird mitgetragen vom ­Ringlokschuppen Ruhr, der als die ehrgeizigste, profilierteste und ­ erfolgreichste ­Ko­produktionsstätte unter gut 50 freien Theater­ensembles und -häu­ sern des Ruhrgebiets gelten kann und heute ein republikweit aner­ kanntes Metropolenformat aufweist. Seit 2006 profiliert sich „der Schuppen“, wie er vor Ort genannt wird, mit derzeit 14 festen Mitarbeiter*innen zunehmend als Spiel­ stätte der freien Szene – und als Störfaktor einer Stadtgesellschaft, deren Selbstbild immer weniger Schnittmengen mit der rasant verän­ derten Wirklichkeit hat. Stilbildend wurde die enge Zusammenarbeit des Ringlokschuppens mit Künstler*innengruppen wie kainkollektiv, vor­schlag:­ham­mer, Gintersdorfer/Klaßen, LIGNA, CocoonDance Com­ pany und internationalen Größen wie Marta Górnicka und Boris Niki­ tin und den Theatern in Oberhausen und Essen sowie Gelsenkirchens Musiktheater im Revier. Immer wieder sprengt das Haus den Theater­ raum und dehnt ihn in die gesamte Stadt aus, von der „Eichbaumoper“ von raumlabor berlin in einer U-Bahn-Station über die „Ruhrtrilogie“ von René Pollesch bis hin zum Langzeitprojekt Silent University Ruhr, die 2015 mit den Impulsen auf den Weg gebracht wurde: In einem ehe­maligen Ladenlokal der Innenstadt vermitteln geflüchtete Aka­ de­miker*innen ihr verstummtes Wissen; das Projekt hat auch den Diversi­fizierungsprozess des Hauses beschleunigt. Die Fatzer Tage trieben zwischen 2011 und 2017 als Festival die Ent­ wicklung des politischen Theaters auf Grundlage der Brecht-Fragmente voran. Sie wurden in einer Reaktion auf gesellschaftliche Prozesse vom HundertPro-Festival abgelöst: Hier agieren Künstler*innen der zwei­ ten und dritten Einwanderergeneration auf den Feldern Performance, Comedy, Tanz, Neuer Zirkus und Poetry Slam und zeigen, dass sich ­Diversität nicht nur aus sprachlichen, sondern auch aus unterschied­ lichen sozialen und kulturellen Herkünften heraus ausdrückt. Als Stärke des Ringlokschuppens hat sich seine Themen- und Darstellungsvielfalt herausgebildet, die das Neue, noch Ungedachte ebenso einschließt wie eine hochgradige Flexibilität und Kooperatio­ nen mit den unterschiedlichsten Akteur*innen, von der Hochschule Ruhr West bis zu den Urbanen Künsten Ruhr. Alles in allem treibt das

Haus als intellektueller Dynamo in Ruhr Themen wie Digitalisierung, Diversität, Migration und Inklusion im Rahmen von Theater- und Popkultur voran; es ist die kraftvollste experimentelle Triebfeder für die freien darstellenden Künste in der Region, auch wenn das Haus 2014 sogar an den Rand einer Insolvenz geriet. Aus der Krise aber ging der Schuppen gestärkt hervor: Unter der Leitung von Matthias Frense erreichte das Haus als Anerkennung seiner Leistungen eine deutlich erhöhte Landesförderung, schärfte sein Profil und konsolidierte auch den Publikumszuspruch auf beachtlichem Niveau. Der Theaterpreis des Bundes, den der Ringlokschuppen 2019 ge­ wann, hat in Gestalt des neuen Festivals HundertPro bereits sicht­ bare Folgen gezeitigt. Ferner floss das Preisgeld in eine Verbesserung des Vorhangsystems, die den Aufführungs- und Probensituationen zugutekommt, in Hausgruppenproduktionen sowie in Gastspiele, die zuvor nicht möglich gewesen wären wie das der Cooperativa Maura Morales aus Jekaterinburg. RINGLOKSCHUPPEN RUHR Der Ringlokschuppen Ruhr ist eine Koproduktionshaus für Theater, Tanz und Performance mit ca. 18 Neuproduktionen pro Jahr. In einem um 1875 errichteten Lokschuppen sind heute vier Bühnen mit Gastronomie beheimatet, die pro Spielzeit bis zu 170 Darbietungen zeigen (SZ 2017/18). Neben einer Vielzahl von Arbeiten im Theater initiiert das Haus regelmäßig partizipatorische Projekte im Stadtraum. Zudem präsentiert das Team populärkulturelle Programme mit Kabarett, Comedy und Konzerten sowohl im Ringlokschuppen als auch in der Mülheimer Stadthalle. In 2019 konnte das HundertPro-Festival initiiert werden, ein Nachwuchsfestival für postmigrantische Künstler*innen aus den Bereichen Theater und Performance über Stand-Up bis zu Cirque Nouveau.

„Die Hamletmaschine“ von Heiner Müller in der Regie von Martin Ambara (Ringlokschuppen Ruhr 2019). Foto Stephan Glagla

VON JENS DIRKSEN


55 D A S T H E AT E R E R L A N G E N

MIT THEATERBUS UND BAROCKER BÜHNE

„paradies spielen (abendland. ein abgesang)“ von Thomas Köck in der Regie von Katja Ott (Theater Erlangen 2018). Foto Jochen Quast

VON WOLF EBERSBERGER

SIE KOMMT SOGAR IN DIE WOHNUNG und kocht – nur einge­ kauft sollte man freundlicherweise schon haben. Eine Theaterinten­ dantin kann ja nicht alles leisten. Katja Ott leistet schon genug, und einen Service wie diesen auch sehr gern. „Theater-Gerüchteküche“ nennt sich das Format, bei dem man das Team des Theaters Erlangen persönlich zu sich nach Hause holen kann. „Dann kochen wir gemeinsam und reden“, so Ott, und natürlich soll es da nicht nur um Kulinarik gehen, sondern auch um Kunst. „Ein Gastgeber hatte auch schon mal selbst gekocht, drei Tage lang. Das ganze Wohnzimmer war eine gedeckte Tafel!“ Sicher, eine Ehre, über die man sich freut. Sonst ist Vermittlungs­ arbeit nicht so bequem, und kein anderes Theater der Metropolregion Nürnberg nimmt die Herausforderung, in die Stadt hineinzugehen, sich als Institution zu öffnen, so ernst. Ott, 57 Jahre alt und in ihrer elften Spielzeit am Haus, steht für Innovation, junge Ideen und den intensiven Wunsch, in die Gesellschaft zu wirken. „Wir müssen die Leute irgendwie hereinholen, sie einladen und einbinden.“ Mit einem überregional ambitionierten Großbetrieb wie dem Staatstheater in Nürnberg mit seinen drei Spielstätten, mit einem Gastspielhaus wie Fürth, das sich im rotgoldenen Rahmen erfolgreich der bürgerlichen Unterhaltung widmet, will sich das kleine Markgrafentheater (mit der noch kleineren Garage) nicht messen. „Das ist nicht vergleichbar.“ Umso stärker der Drang, dort anzusetzen, wo für Katja Ott und Chef­ dramaturgin Karoline Felsmann, 41, das Stadttheater der Zukunft ent­ steht: draußen, im werbenden Dialog mit dem Publikum. Das beginnt damit, dass Schauspieler*innen aus dem zehnköpfigen Ensemble in ihrer Lieblingskneipe aus ihren Lieblingsbüchern lesen: ­„Tresenlesen“ eben. Es geht weiter in den Bürgertreffs der Stadt, wo etwa mit Kindern ein Floß gebaut wird und alle Pirat*innen spielen – „oder wir beim Gartenfest gleich ein mobiles Stück zeigen“, so Felsmann. Kinder sind wichtig, klar. Seit vier Jahren zieht das Theater, gemeinsam mit dem städtischen Kunstpalais, sich seine kleinen „Kulturfüchse“ heran: Die Theaterpädagogik dockt an zwei Grundschulen an und lässt die Schü­ ler*innen in den Betrieb schnuppern, von der Probe bis zur Vorstellung. 300 Jahre alt wurde das Markgrafentheater 2019: ein schöner An­ lass für Ott, zum Jubiläum auch die Bürger*innen auf die barocke Bühne zu holen. Als Bürgerbühne, die im Sommer ihre erste Premiere präsentieren konnte. Das in offener Gruppe erarbeitete ­Thema: „Wo wohnen?“ Bei den hohen Mieten der Siemens-Stadt durchaus ein hei­ ßes Eisen. Auch die Zuschauer*innen waren – performativ – beteiligt und durften ihr Traumhaus planen. Für die nächste Runde ist nun gar eine Autorin und Regisseurin angestellt, Daniela Dröscher, die zum „Grenzort Erlangen“ recherchiert. 30 Jahre deutsche Einheit sind der Aufhänger.

Und auch noch einen Regienachwuchswettbewerb schreibt das Thea­ ter aus, nun schon zum vierten Mal. „Bei dem geht es nicht um fertige Arbeiten, hier gewinnt man die Arbeit“, so Ott. Mitunter mit Folgen: Helge Schmidt, der erste Preisträger, der vor Ort eine eigene Produk­ tion gestalten durfte, gewann 2019 den Theaterpreis Der Faust. Neben dem Kerngeschäft – groß wie Orwells „Farm der Tiere“ mit Musik und Live-Videos, klein und langlebig wie „Die Leiden des ­jungen Werther“ – investiert Erlangen also viel Zeit, Geld und Neugier in das Publikum von morgen. Mit dem Theaterpreis des Bundes, den das Haus 2019 gewann, geht es verstärkt weiter: Katja Ott will einen Theaterbus kaufen, in dem überall gespielt, gelesen und geredet ­werden kann. Was sagt man da? Gute Fahrt!

THEATER ERLANGEN An seinen zwei Spielstätten, dem Markgrafentheater (490 Sitzplätze) und der Garage (82 Sitzplätze), bietet das Theater Erlangen 13 Neuinszenierungen und insgesamt bis zu 290 Vorstellungen pro Spielzeit (2018/19). Unter dem Titel „Mit­­ machen & Mitreden“ öffnet es sich und seinen künstlerischen Entstehungsprozess seinem Publikum. Das Stadttheater bietet zudem ein breites Programm für Kinder- und Jugendtheater an, das durch Theaterspielclubs ergänzt wird. Ein Vorreiter ist das Theater auch in der Arbeit mit Regisseurinnen und der Nach­ wuchsförderung.


56 D I E T H E AT E R W E R K S TAT T P I L K E N TA F E L I N F L E N S B U R G

STADTTHEATER MIT WELTBLICK

DIE THEATERWERKSTATT PILKENTAFEL ist eines der ganz ­ enigen freien Theater in Schleswig-Holstein, die professionell w ­arbeiten. Gelegen nur einen Steinwurf vom Hafen der Fördestadt Flensburg entfernt, in einer Kopfsteinpflastergasse namens Pilken­ tafel, wird hier in einer ehemaligen Werkstatt seit Jahrzehnten kleines Theater mit großen Ideen und ebensolchen Emotionen gemacht. Die Pilkentafel, wie sie in der Fast-Großstadt Flensburg nur heißt, ist ­fester Bestandteil der lokalen Kulturszene, aber gleichzeitig ein kul­ tureller Akteur, der weit über die Grenzen der Stadt, des Landes und sogar des Kontinents hinaus wirkt. Kern des Theaters sind Elisabeth Bohde und Torsten Schütte, die sich 1984 bei einem Workshop in Bremen kennengelernt hatten. Es begann eine kreative Lebenspartnerschaft, die bis heute anhält und der über 50 Stücke, ungezählte Touren und Gastspiele sowie ­etliche Projekte entsprangen. Zu den bis heute erfolgreichsten ­Stücken zählt „Waschtag“, ein Beziehungs-Pas-de-deux zweier Schau­spieler*innen zwischen hängenden Wäschestücken – und eine Ikone des modernen ­Kindertheaters, das mit seiner einfachen Ausstattung wie gemacht ist für weltumspannende Tourneen. „Waschtag“ führte die Pilkentafel in die USA, nach Kanada, Mexiko, Korea, Italien, Frankreich, Irland, Schottland, Luxemburg und in die Schweiz. „Wir haben es in Israel und in Palästina gespielt“, berichtet Bohde, „und in Sarajevo kurz nach Ende des Krieges.“ Der Kontrapunkt zu den Reisen in benachbarte und ferne Länder ist die Arbeit in der Stadt Flensburg, enge Verflechtungen mit dem Stadtteil und einigen der Pilkentafel nahestehenden Institutionen eingeschlossen. „Wir sind das Stadttheater!“, hatte Elisabeth Bohde anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Pilkentafel proklamiert. Im­ mer wieder wurde mit Laien gearbeitet, wurden markante Orte im Hafen und in der Altstadt in Bühnen und Schauplätze verwandelt. Zu nennen sind das Stadtteilstück „Ein ganzes Viertel unter Verdacht“, bei dem Akteur*innen aus der Nachbarschaft involviert waren und typische Ecken des Quartiers bespielt wurden, „Das Glück der Sterb­ lichkeit“, bei dem ein alter Friedhof Schauplatz war, sowie Theater­ projekte in der dem Abriss geweihten Stadtbücherei und dem leer geräumten und trockengelegten Hallenbad. Besonders hervorzuheben ist das Stück „Westliche Höhe“, benannt nach einem Stadtteil Flens­ burgs, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg ehemalige Nazi-Größen untertauchten und ein von Nachbarn behütetes bürgerliches Leben führten. Ein älteres Kapitel der Flensburger Stadtgeschichte beleuch­ tet das Stück „Vom Reisen in ehemalige Kolonien“ über den Rum- und Zuckerhandel mit den ehemaligen dänischen Kolonien in Westindien. Die meisten Stücke entstanden vor Ort in dem kleinen Hofensemble direkt unterhalb des östlichen Fördehangs. Nur ganz selten griffen Boh­

de und Schütte auf vorhandene Stücke – zum Beispiel Becketts „Glückli­ che Tage“ – zurück, ließen stets die Hände von Bühnenklassikern. Statt­ dessen inszenierten sie Prosatexte und entwickelten eine ganz eigene Theatersprache, um Prosa – unter anderem von Franz Kafka, Jenny Er­ penbeck oder auch Oskar Pastior – sowie Lyrik zu ­dramatisieren. In der Geschichte der Pilkentafel gab es immer wieder Kooperatio­ nen. Die kleine Bühne wurde und wird stets offen gehalten für Kolleg*in­ nen, die ­unter ähnlich schwierigen Bedingungen Theater machen wie Bohde und Schütte, die 2009 mit dem Kulturpreis der Stadt ausge­ zeichnet wurden und 2019 den Theaterpreis des Bundes erhielten. Das Preisgeld stecken die beiden in neue künstlerische Projekte, bei denen sie jetzt auch mal größere Besetzungen auflaufen lassen kön­ nen. Geplant ist eine Produktion anlässlich der deutsch-dänischen Volksabstimmung 1920, eine Arbeit über Narzissmus und ein lang an­ gelegtes Projekt mit dem Arbeitstitel „Das Amt“, das sich mit den De­ mütigungen der Bürokratie des Sozialstaats befasst. ­Außerdem wird ein kleiner Teil des Preisgeldes für eine weitere Forschungsreise nach Ghana und Togo auf den Spuren deutscher Kolonien verwendet. THEATERWERKSTATT PILKENTAFEL Die Theaterwerkstatt Pilkentafel, 1983 gegründet, kann als nördlichster Vertre­ terin der freien Theaterszene Deutschlands bezeichnet werden. Bespielungen des öffentlichen Raums, politische Aktionen, Klassenzimmerstücke und partizi­ pative Formate sind Kernelemente ihrer Arbeit, welche den Hausbetrieb von bis zu 100 Aufführungen (SZ 2018/19) bei fünf Eigen- und Koproduktionen ergänzen. Kooperierenden Künstler*innen wird der Freiraum gegeben, selbstbestimmt zu Arbeiten und das Programm des Theaters aktiv mitzugestalten.

„Vom Reisen in ehemalige Kolonien“ von Elisabeth Bohde und Torsten Schütte (Theaterwerkstatt Pilkentafel 2014). Foto Ina Steinhusen

VON JOACHIM POHL


57 D A S T H E AT E R R A M P E I N S T U T T G A R T

SPIELEN, ZOCKEN, DEBATTIEREN

„Volks*theater“ unter der Leitung von Nina Gühlstorff (Theater Rampe 2019). Foto Dominique Brewing

VON ELISABETH MAIER

MASSSTÄBE SETZT DIE STUTTGARTER RAMPE im Autor*in­ nentheater. Im Stadtraumprojekt „The European House Of Gamb­ ling“ agiert das Publikum an Spieltischen. Beim Würfeln oder beim Melonen-Wettessen mit Regisseurin und Performerin Tanja Krone werden die Gäste zu Zockern. Sie bestimmen den Verlauf des partizi­ pativen Projekts mit. Spielerisch loten die Performer*innen aus, wie Besitz und Kapital Menschen verändern. Seit der Premiere auf dem Marienplatz in Stuttgart macht die innovative Produktion in europäi­ schen Städten Station. Diese mobile Spielhölle bringt den Ansatz der Intendantinnen Marie Bues und Martina Grohmann auf den Punkt. Nicht allein neue Dramatik ist ein Schwerpunkt der erfolgreichen Künstlerinnen, die 2019 mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichnet wurden. In Performances und Interventionen bringen sie Menschen zum Sprechen. „Die Vielfalt gesell­ schaftlicher Diskurse“ will die Dramaturgin Martina Grohmann abbilden. Jeder und jede wird Teil dieses Theaters, in dem Fragen der Gegenwart verhandelt werden. Mit dem Anspruch, „den Autor*innen­begriff zu wei­ ten“, gingen die Theaterchefinnen vor sieben Jahren an den Start. 2015 machte das interdisziplinäre Theaterkollektiv Herbordt/Mohren gar ein ganzes Dorf zum Schauplatz einer inszenierten Landpartie. Im ersten Jahr versammelten Bues und Grohmann auf ihrer Bühne im Depot der Stuttgarter Zahnradbahn „Zacke“, die hier abends ein­ fährt und im Foyer parkt, Kunstaktivist*innen und Wissenschaft­ ler*innen aus Europa, die über Formen des kreativen Widerstands nachdachten. Inspiriert hatte sie der Vagabundenkongress, zu dem Gregor Gog 1929 nach Stuttgart gerufen hatte. Im Betriebshof zwi­ schen Gemüsepflanzen des Urban-Gardening-Projekts diskutieren Theatermacher*innen und Publikum über ästhetische Formate oder über den Klimaschutz. Vernetzen ist die Stärke der erfolgreichen Intendantinnen. Beide sind oft auf Reisen, suchen junge Talente und tun Kooperations­ partner*innen auf. „Mit dem begrenzten Etat eines städtisch geför­ derten Privattheaters ist es schwer, größere Produktionen zu realisie­ ren“, weiß Bues. Die Intendantin ist als Regisseurin neuer Dramatik an großen Häusern gefragt. Am Nationaltheater Mannheim insze­ nierte sie Thomas Köcks „paradies spielen. abendland ein abgesang“, mit dem der österreichische Autor 2018 den Mülheimer Dramatikerpreis gewann. Im Dezember 2019 inszenierte sie am Schauspiel Hannover die Uraufführung von Köcks neuem Stück „antigone. ein requiem“. Autorinnen und Autoren kontinuierlich zu begleiten, liegt ihr am Herzen. Auch mit Felicia Zeller, Sivan Ben Yishai und Nicoleta Esinencu arbei­ tet sie seit Jahren. Dem experimentierfreudigen Nachwuchs wie auch der freien Szene ein Forum zu bieten, findet Grohmann wichtig. In der Rampe arbeiten

Kollektive wie die apokalyptischen tänzer*innen, die sich mit kolonia­ len Strukturen in der globalisierten Wirtschaft ausein­ander­setzen. Das Projekt ist entstanden im Rahmen von Freischwimmen, einer Plattform von Häusern der freien Szene in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Beim Festival 6 Tage frei zeigt das Rampe-Team ­jedes Jahr in Stuttgart bemerkenswerte Arbeiten der freien Szene. ­Besondere Projekte werden mit dem Theaterpreis der Stadt und des Landes gefördert. Dass die Rampe nun den Theaterpreis des Bundes bekommen hat, macht die Intendantinnen glücklich. Wie wollen sie das Preisgeld von 75 000 Euro verwenden? Ganz oben auf der Liste steht ein ­bescheidener Wunsch. „Nach sechs Jahren leisten wir uns einen ­Betriebsausflug“, sagt Grohmann. Außerdem laden sie mit „Kanon“ die neue Produktion des Frauenkollektivs She She Pop ein. Für die Bühne, die mit knappem Etat kalkulieren muss, schafft das Geld Spielräume, wie Grohmann sagt: „Nun können wir auch unser Volks­ theater-Projekt ausbauen.“ THEATER RAMPE Das Theater Rampe begreift sich als Produktionshaus für zeitgenössisches Autor*innentheater, freie darstellende Künste, Tanz und Populärmusik. Neben elf Eigen- und Koproduktionen (SZ 2018/19) bietet es dem Stuttgarter Publikum zahlreiche international bekannte Größen der freien Szene. Neben den über 300 Aufführungen pro Spielzeit stellt der Festivalbetrieb einen entscheidenden Faktor in der Arbeit der Rampe dar. Als Austragungsort von 6 Tage frei, dem wichtigsten Festival für freie darstellende Künste in Baden-Wüttemberg, von Made in Stuttgart oder Stadt der Frauen* ist das Theater zudem wichtiger Angelpunkt des kulturellen Lebens im Südwesten Deutschlands.


58 D A S T H E AT E R T H I K WA I N B E R L I N

VON UTE BÜSING

IHREM SELBSTVERSTÄNDNIS NACH machen sie, kleine Provo­ kation inklusive, „einfach nur Theater“. Und das seit bald 30 J­ ahren. Über 40 professionelle Performer*innen mit überwiegend geistiger Behinderung begeistern in unterschiedlichen Formationen mit ihrer ganz eigenen, unmittelbaren Präsenz in eigenwilligen Spielformen zwischen Theater, Tanz, Performance und Happening. ThikwaAkteur*innen, das sind wiedererkennbare, eigensinnige Charakter­ typen wie die langjährigen Ensemblemitglieder Torsten Holzapfel, Corinna Heidepriem und Peter Pankow. Alle bindet darüber hinaus ein ansteckender, selten gewordener Ensemblegeist. Thikwa, im Hebräi­ schen „Hoffnung“, das ist immer auch ein kathartisches Gemein­ schaftserlebnis von Ensemble und Publikum. Theater in seiner Urform. Regelmäßig entstehen so bemerkenswerte Produktionen wie zu­ letzt etwa die surrealistische Tanzperformance „Die Butterblumen des Guten“ in der Regie von Gerd Hartmann, neben Nicole Hummel zustän­ dig für die innovative künstlerische Ausrichtung. Das ausgeprägte Spiel­ vermögen in Kombination mit dem Mut zum künstlerischen Experiment zieht dabei immer häu­figer auch Gastkünstler*innen an. Ein besonders gefeiertes char­mant-selbstironisches „unmoralisches Songplay“ ent­ stand in Zu­sam­men­arbeit mit der Musikerin Susanne Betancor: „Sie­ ben … aber einmal auch der helle Schein“. Der freie Performer Martin Clausen bewies in „Möchten Sie noch? Nein Danke!“ im Restaurantset­ ting, dass auch „Menschen mit Behinderung“ sich zwangsläufig von ähn­lichen Strukturen „nähren“ wie alle anderen auch. Dass ein Stück, in

dem auch zwei Rollstuhlfahrer in Turbulenzen geraten, ungeheuer ­komisch sein darf, wurde dabei ebenfalls unter Beweis gestellt. Ob Thikwa als integratives, inklusives, diverses oder Theater der besonderen Fähigkeiten gelabelt wird, spielt für die Macher*innen letztlich keine Rolle mehr. „Wir sind nicht inklusiv, wir sind mitten drin“, formulierte es die Künstlerische Leiterin Nicole Hummel in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Martin-Linzer-Theaterpreises 2018, einem „ganz normalen Theaterpreis“, verliehen von Theater der Zeit. Längst hat Thikwa nämlich mit zwischen 60 und 80 Vorstellungen, darunter rund sechs Premieren und drei bis fünf Wiederaufnahmen pro Jahr, das Produktionsvolumen eines mittleren Stadttheaters erreicht. Hinzu kommen Gastspiele und eigene Produktionen auf Tour im In- und Ausland. In der barrierefrei ausgebauten Spielstätte in der Fidicin­ straße 40 in Berlin-Kreuzberg werden im Jahr im Schnitt 2600 Zu­ schauer*innen erreicht. Preisgelder wie der Theaterpreis des Bundes 2019 sowie die Aufnahme in die vierjährige Konzeptförderung des Berli­ ner Kultursenats ab Januar 2020 helfen bei der Erweiterung des Radius. Schon jetzt sorgt Thikwa immer wieder für Aufsehen. Wenn die Schauspielerin Anne Tismer zarte Szenenfolgen erarbeitet, wie bei „Zwillinge“ im Duett mit Corinna Heidepriem, oder große Ensemble­ nummern, wie in „Der diskrete Schwarm der Bourgeoisie“, dann zie­ hen diese Produktionen eben auch ein Publikum an, das sonst nur an sogenanntem „normalen“ Theater interessiert ist. Wenn Monster Truck mit Darsteller*innen mit Down Syndrom nach Authentizität und Verantwortung fragt, sorgt das Performancekollektiv wiederum für Zulauf aus der freien Szene. Die regelmäßigen Zusammenarbeiten mit Choreografinnen wie Modjgan Hashemian oder Yuko Kaseki fal­ len in der Tanzszene auf fruchtbaren Boden. Thikwa strahlt längst auch überregional aus und will seine Aktivi­ täten als „Kulturbotschafter*in“ durch die Zusammenarbeit mit aus­ tralischen und japanischen Partnern verstetigen. Das in Zusammen­ arbeit mit dem Moskauer Theaterstudio Kroog II. entstandene inklusive Performanceprojekt „Entfernte Nähe“ wurde 2014 mit dem wichtigsten Theaterpreis Russlands, der Goldenen Maske, ausge­ zeichnet. Ein Novum, das in Russland anhaltende Debatten über Kunst, Behinderung und Marginalisierung auslöste. „Und die wollen wir auch hierzulande weitertreiben!“, unterstreichen Nicole Hummel und Gerd Hartmann Thikwas hoffnungsvolle Zukunft. THEATER THIKWA Das Theater Thikwa ist eines der wichtigsten Theater in Deutschland, in dem Künstler*innen mit und ohne Behinderung gemeinsam Theater spielen, und seit 30 Jahren ein Pionier der Diversität. In der eigenen barrierefreien Spielstätte in den Kreuzberger Mühlenhaupthöfen präsentiert Thikwa Performances, Tanz-, Text- und Musiktheater ohne Scheu vor Experimenten. Sechs Produktionen entstehen pro Jahr (2018), die (zusammen mit Gastspielen bei Festivals) bis zu 80 mal zur Aufführung kommen. Das Thikwa entwickelt sich in puncto Inklusion immer weiter und erkundet dabei stets neue Möglichkeiten der Barrierefreiheit.

„ur.kunft“ von Yuko Kaseki (Theater Thikwa 2017). Foto David Baltzer. Rechte Seite: „Dschingis Khan“ von Monster Truck (Theater Thikwa 2012). Foto Ramona Zühlke

DER GRANDIOSE CHARME DER DIVERSITÄT



60 E I N E U M F R A G E Z U R W A H R N E H M U N G U N D W I R K U N G D E S T H E AT E R P R E I S E S D E S B U N D E S

IM JAHR 2015 wurde der Theaterpreis des Bundes von Kulturstaats­

ministerin Monika Grütters zum ersten Mal ausgelobt und gemein­ sam mit dem Zentrum Deutschland des Internationalen Theaterinsti­ tuts (ITI) realisiert. Er richtet sich an kommunale Theaterhäuser und (in der Regel öffentlich geförderte) freie Spielstätten jenseits der Me­ tropolen und würdigt diese für ihre Programmarbeit. In den ersten beiden Runden 2015 und 2017 stand unter anderem die Ensemble­ arbeit im Fokus, seit 2019 können sich auch Gastspieltheater bewer­ ben. In den drei Runden 2015, 2017 und 2019 wurden 31 Theater ausge­ zeichnet. Insgesamt haben sich 440 Theater beworben – auch wenn es einige Mehrfachbewerbungen gab, so stellt diese Zahl doch einen großen Teil der Theaterhäuser, der Stadt- und Staatstheater und frei­ en Spielstätten in Deutschland dar.

Der Theaterpreis bedeutet nicht nur bundespolitische Aufmerksamkeit, das Preisgeld wird auch als Förderung der künstlerischen Arbeit wahrgenommen.

Nach drei Ausgaben sollte nun unter anderem die Frage untersucht werden, wie der Theaterpreis des Bundes unter Theaterschaffenden wahrgenommen wird und welche Wirkungen dem Preis in der Thea­ terwelt beigemessen werden. Hierzu startete das ITI Ende 2019 eine Online-Befragung. 650 Theaterhäuser und Theaterschaffende wur­ den angeschrieben, 128 Antworten trafen ein. Folgt man den Antworten dieser Umfrage, dann ist der Theater­ preis in weiten Teilen der Theaterszene bekannt, 90 Prozent der Be­ fragten kennen den Preis, ein Drittel hat sich selbst schon beworben. Zwei Drittel sagen: Der Preis hilft, die Theater in der Fläche zu fördern, er verschafft ihnen mehr Präsenz in der Theaterlandschaft, bringt me­ diale und kulturpolitische Aufmerksamkeit vor Ort.

Zudem wirkt die Auszeichnung mit dem Theaterpreis langfristig, über das Jahr der Vergabe und die mit dem Theaterpreis realisierten künst­ lerischen Projekte hinaus. Diese Wirkung sehen nicht nur die Preis­ trägertheater selbst, sondern auch gut die Hälfte aller Befragten, weniger zustimmend sind nur ein Fünftel, und niemand stellt diese Aussage ganz infrage. Darüber stärkt der Theaterpreis auch die Wahrnehmung der The­ ater in der Kulturlandschaft. Eine langfristige Wirkung für die kleinen und mittleren Theater – also der wichtigsten Zielgruppe des Theater­ preises – sehen immerhin zwei Drittel. Und auch eine positive Wir­ kung für die Region erkennen 60 Prozent der Befragten, insbesondere die freien Spielstätten und die Gastspielbühnen. Der Theaterpreis bedeutet nicht nur bundespolitische Aufmerk­ samkeit, das Preisgeld wird auch als Förderung der künstlerischen Arbeit wahrgenommen. Zwei Drittel aller Befragten stimmen dem zu. Auch wenn einige Häuser sechs-/siebenstellige Budgets haben, bei den eng kalkulierten künstlerischen Anteilen ist das Preisgeld hoch willkommen. Hier entstehen Spielräume für Experimente, für neue künstlerische Formate, für Beispiele dessen, was Projekte mit einer guten Finanzierung leisten können. Aber natürlich ist diese Wirkung nur eine punktuelle, ein wirkliches Förderinstrument ist der Preis nicht. Den Dialog mit der Stadtgesellschaft führen viele Theater schon lange, intensiv und vielfältig. Seit einiger Zeit sehen sie sich dabei auch populistischen Infragestellungen ausgesetzt. In dieser Situa­ tion, in der viele Häuser ihre gesellschaftliche Haltung und die künst­ lerische Freiheit ihrer Arbeit verteidigen müssen, setzt der Theater­ preis des Bundes – so sieht es die Mehrheit der Befragten – ein Zeichen für mehr Selbstbewusstsein der Theater und wird auch als kulturpolitische Rückendeckung wahrgenommen. Michael Freundt Projektleitung Theaterpreis des Bundes

Die Auswertung der Umfrage finden Sie unter www.iti-germany.de.

„Scary Beauty“ von Keiichiro Shibuya und den Japanischen Philharmonikern Düsseldorf (tanzhaus nrw 2019). Foto Monika Rittershaus

THEATERN DEN RÜCKEN STÄRKEN



Verleihungen Theaterpreis des Bundes 2015/17/19. Fotos Eva RadĂźnzel




2. Dresdner Zukunftskonferenz der Kinder (tjg 2018). Foto Marco Prill


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Autor*innen Christine Adam, Theaterredakteurin, Osnabrück Detlef Brandenburg, Chefredakteur, Köln Ute Büsing, Autorin und Kulturredakteurin, Berlin Angela Dietz, freie Journalistin und Kulturwissenschaftlerin, Hamburg Jens Dirksen, Kulturredakteur, Essen Sophie Diesselhorst, Theaterredakteurin, Berlin Wolf Ebersberger, Feuilletonredakteur, Nürnberg Jens Fischer, Theaterkritiker, Bremen Steffen Georgi, Theaterkritiker, Dresden Wolfgang Hirsch, Reporter, Weimar Stefan Keim, Journalist, Wetter Thomas Klatt, Journalist, Cottbus Sema Kouschkerian, Kulturjournalistin, Düsseldorf Joachim Lange, freier Journalist, Halle Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München

Donald Lyko, Redakteur, Stendal Elisabeth Maier, Kulturredakteurin, Esslingen Andreas Montag, Kulturredakteur, Halle Christian Muggenthaler, freier Journalist und Autor, Regensburg Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Elisabeth Nehring, freie Journalistin und Kritikerin, Berlin Joachim Pohl, Journalist, Flensburg Tobias Prüwer, Journalist und freier Autor, Leipzig Anja Quickert, freie Autorin, Berlin Dimo Rieß, Theaterkritiker und freier Kulturjournalist, Leipzig Andreas Schnell, Journalist, Bremen Falk Schreiber, Kulturjournalist, Hamburg Wolfgang Schilling, Journalist, Rabutz Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Patrick Wildermann, freier Autor, Berlin

Impressum Stadt Land Kunst Theater im Dialog mit der Gesellschaft an den Rändern der Städte und jenseits der Metropolen. Theaterpreis des Bundes 2015–2019

Herausgegeben vom Internationalen Theaterinstitut – Zentrum Deutschland Präsident: Joachim Lux Geschäftsführender Direktor: Dr. Thomas Engel Projektleitung Theaterpreis des Bundes: Michael Freundt www.iti-germany.de In Kooperation mit Theater der Zeit Verlag: Theater der Zeit GmbH Winsstraße 72 10405 Berlin

Redaktion: Dorte Lena Eilers, Michael Freundt, Felix Sodemann Korrektorat: Annette Dörner Gestaltung: Gudrun Hommers Bildbearbeitung: Holger Herschel Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH Gefördert aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Programm und Geschäftsführung: Harald Müller, Paul Tischler www.theaterderzeit.de © an der Textsammlung und den Einzeltexten: Internationales Theater­institut, Theater der Zeit, Autorinnen und Autoren, Berlin 2020


Preisträger*innen 2015–2019. Fotos Eva Radünzel


„Von der Begierde Burgen zu bauen“ von Elisabeth Bohde (Theaterwerkstatt Pilkentafel). Foto Ina Steinhusen


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