Raimund Hoghe: Wenn keiner singt, ist es still. Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979 - 2019)

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Die Toten beginnen zu laufen

tig für die Seele: Sie ist das Kostüm des Butoh.‘‘ Als sei es ganz einfach, legt er sich das Kostüm an, steht vor der weißen Leinwand und macht sich mit seinem Körper auf die Reise, tanzt noch einmal zu den alten Walzern und zieht Kreise, in Erstaunen versetzend und selbst oft wie ein Kind erstaunt, wenn er plötzlich ganz weit weg getanzt ist – ein alter Mann, sehr nah dem Ungeborenen in Stanley Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum. Eine ältere Frau, die überlebt hat, träumt von einem Baum und will ein Lebenszeichen gegen den Tod setzen, sammelt Geld und lässt eine Kastanie vor das Krankenhaus pflanzen, in dem Aidskranke behandelt werden. Auch an Menschen wie Wanda, die Berliner Kneipenbesitzerin, die wie eine Braut aussieht, als sie, weiß gekleidet mit leuchtend blauem Haar, neben dem in die Erde gepflanzten Baum steht, erinnert Kazuo Ohno, wenn er auf der Bühne steht und von der Beharrlichkeit spricht, wieder und wieder aufzuflattern. „Der Augenblick äußerster Müdigkeit, wenn eine extreme Anstrengung den Körper wieder aufrichtet: Das ist der wahre Ursprung des Butoh. Tod und Wiedergeburt. Das Glück, trotz des hohen Alters in Gang zu bleiben wie ein Oldtimer. Die Toten beginnen zu laufen.“ Vor ein paar Jahren, beim Münchner Theaterfestival, nach einer Probe im Zirkuszelt, sah ich ihn auf einer Wiese vor dem Zelt zum ersten Mal: einen alten Mann, weiß geschminkt, mit blauen Augenlidern und nacktem Oberkörper, umgeben von Kindern, für die er schließlich noch einmal tanzte. In einem Gedicht heißt es: „Doch immer war’s ein Tanzen ohne Ende.“

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