WIE KOMMT DER MENSCH ZUR SPRACHE?
tät und Dauer der Schreie und drücken bereits differenzierte Emotionen aus. Unmittelbar nach der Geburt reagieren Neugeborene auf die mütter liche Stimme und können bereits einzelne Sprachlaute differenzieren. Die Variabilität von Sprachsignalmerkmalen ist hoch, keiner weiß das besser als der Sprecherzieher. Trotzdem können Neugeborene Sprachlaute von einander abgrenzen und kategorisieren. Bei einer schier unendlichen Anzahl von Klangvarianten verfügen wir über eine begrenzte Zahl von Wahrnehmungskategorien. Das auditive System vereinfacht auf diese Weise die akustische Wahrnehmung. Die relevanten Eigenschaften des Sprachschalls können bis zum ersten Lebensjahr unabhängig von der Muttersprache wahrgenommen werden. „Beispielsweise konnten sechs bis acht Monate alte Säuglinge, die in einer englischsprachigen Umge bung aufwuchsen, phonetische Unterschiede des Hindi wahrnehmen, die das Englische nicht macht.“133 Die Fähigkeit zur kategorialen Wahrneh mung ist demnach angeboren, die Spezialisierung auf die Muttersprache ein erlernter selektiver Vorgang, der auf Nachahmung beruht. Ab der zweiten Lebenswoche werden neben dem Schreien auch ruhige Grund laute geäußert, und ab der achten Woche beginnen die Babys zu gurren. In der dritten bis vierten Woche setzen soziales Lächeln und Mimik ein und entwickeln sich innerhalb des dritten Lebensmonats zum Lachen und zu ersten Zeigegesten. Die anatomischen Voraussetzungen für das Hören sind vorgeburtlich angelegt, lediglich die Funktion entwickelt sich weiter. Die Voraussetzungen für die Sprachschallproduktion bilden sich erst ab dem zweiten Lebensmonat heraus. Der Entwicklungsprozess ist zum Ende des ersten Lebensjahres abgeschlossen, wenn sich der Kehlkopf auf Höhe des vierten bis siebenten Halswirbels abgesenkt hat. Da beim Säugling die Öffnung des Kehlkopfes höher liegt als der Eingang zum Magen, kann er gleichzeitig die Nase mit der Luftröhre verbinden und den Mund mit der Speiseröhre. Der Säugling kann also parallel schlucken und atmen. Die Möglichkeiten der Resonanzbildung sind durch den Kehlkopfhochstand allerdings eingeschränkt. Durch das Absenken des Kehlkopfes vergrößert sich das Ansatzrohr bestehend aus Rachen-, Mund- und Nasenraum. Die Zunge, die vorher praktisch die ganze Mundhöhle ausfüllte, kann nun besser bewegt werden. Die Voraussetzungen, unterschiedliche Vokale zu 229
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