A World Stage – auf Kohle geboren. Die Ruhrfestspiele Recklinghausen unter Frank Hoffmann

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Michael Propfe

2005 bis 2010 Intendant Deutsches Schauspielhaus in Hamburg,

2005 bis 2010 stellv. Intendant und geschäftsf. Dramaturg Deutsches

seit 2014 Intendant Württembergische Landesbühne Esslingen

Schauspielhaus in Hamburg, 2011 bis 2015 Dramaturgischer Berater

Was tun wir hier eigentlich? Dem Vergänglichen Dauer verleihen? Verweile doch …? Dem alljährlich über Jahre hin neu gefüllten, neu gedruckten, neu gespielten Füllhorn, diesem Kaleidoskop theatralischen Reichtums den nüchternen Kassenbon, den Rechenschaftsbericht, die Bestätigung, das Testat hinterherreichen? Hält das Vergänglichkeit auf? Ach, mitnichten. Aber es ist eine schöne Herausforderung, sich zu erinnern, sich dessen zu vergewissern, was war. Und aus dieser freundlichen Nötigung entsteht etwas, das wert ist, festgehalten zu werden. Antwort auf die Frage: War da was? Für wen? Für uns? Gewiss. Für die Veranstalter, an der Spitze Frank Hoffmann? Allerdings, und voller Dankbarkeit erinnern wir uns. Viel mehr aber für den Ort/die Orte und seine/ihre Menschen, die sich im Brennpunkt einer Reflektion wiederfinden, die ihnen im Nachhinein noch einmal bestätigt, was sie, was der Ort anderen war, und was auch sie verwandelt hat, ob sie (die) Vorstellungen nun gesehen haben oder nicht. Alljährlich war, für zwei Monate: Hoch-Saison. Nur eines kann es gewiss nicht sein: ein Versuch, den Lauf der Zeit aufzuhalten, die Vergänglichkeit zu stoppen. Herr, es ist Zeit. Die Geschichte der Ruhrfestspiele ist immer auch eine Gefühlsgeschichte. Das ist die Geschichte ihrer Gründung. Und eine Geschichte ihrer Entwicklung. Den ersten Spatenstich zum Bau des neuen Festspielhauses tat Theodor Heuss, der erste Bundespräsident (schon außer Diensten), die Grundsteinlegung vollzog sein Nachfolger Heinrich Lübke. Staatstheater. Die private Geschichte war die eines Verlustes: des wunderbarsten Hügels zum Rodeln. Einer, der diesen Verlust schmerzlich empfand, war Schüler der Händelschule: Friedrich Schirmer. So schließen sich Kreise. Aber auch, was die Kunst betrifft: Seine beiden älteren Brüder wirkten als Statisten bei „Wallensteins Lager“ mit, noch im alten Saalbau. 2 Mark 50 pro Vorstellung und ein halbes Hähnchen gab‘s. Auch so entstehen Geschichten. Natürlich leben wir nicht im Land der Einzelkämpfer oder unter absoluten Monarchen. Einer ist keiner. Es sind immer mehrere, die den Erfolg eines Projekts ermöglichen, und die haben Namen. Der Name eines weiteren Recklinghäusers muss unbedingt erwähnt werden: Franz Peschke. Die unangemessen-herablassende Benennung für ihn wäre Strippenzieher, die zutreffende ist: Netzwerker. Das Netz in Recklinghausen hat vierzehn Jahre gehalten.

Aus der Registratur: 9 Koproduktionen 7 Musikalische Werke 9 Ur- und Erstaufführungen 1 Szenische Lesung

Foto: Roberto Bulgrin und Michel Propfe

Friedrich Schirmer

Die Autoren: Barnes / de Bont / Bukowski / Camus / Goethe / Hornby / Ibsen / Kleist / Kluck / Löhle / Kögl / Mankell / Rostand / Schiller / Shakespeare / Steets (nach Grissemann, Strunk u. a.) / Visconti.

2007

Die Musiker: Leonard Cohen / Erik Gedeon / Rio Reiser / Franz Wittenbrink. Die Titel: Sweet Hamlet / Faust I / Jan Plewka singt Rio Reiser / Bowling Alone / High Fidelity / Fressen, Kaufen, Gassi gehen / NippleJesus / Haram / Songs from a Room / Trostpreis für Deutschland / Ein Volksfeind / Das Wunder von Schweden / Die Helden auf Helgeland / Immer nie am Meer / Warteraum Zukunft / Penthesilea / Robert Guiskard / Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen / Die Hermannsschlacht / Das Ding / Cyrano de Bergerac / Kabale und Liebe / Der Zigeunerjunge / Der Fall der Götter / Die Gerechten / Eltern / Darüber reden / Aida. Die vielleicht größte Pointe, sozusagen eine Begegnung der dritten Art, ist der Beginn dieser wunderbaren Freundschaft. Das erste gemeinsam verabredete Projekt war ein Text von Henning Mankell, eine Uraufführung, sie wurde inszeniert von einem jungen Regisseur, Dominique Schnizer, es war also ein Scheck auf die Zukunft, nicht immer selbstverständlich, nicht in diesem Gewerbe, und erzählte die Geschichte einer Geflüchteten aus Uganda, die bei der Vorbereitung zu einem Fernsehinterview bemerkt, dass sie nur mehr medial verheizt werden soll, und sich verweigert. Das Stück trug den lapidaren Titel „Lampedusa“ – ja, genau aus diesem Grunde, und wir schrieben nicht 2015, nicht 2016, nicht 2017 … Es geschah im Jahr 2007.

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