WiSe 20/21_Luisa Mowitz

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ÜBER VORSTELLUNG-RAUM UND KAR-STADT-KULTUR


Luisa Kathleen Mowitz Bachelor Thesis msa | münster school of architecture Wintersemester 2020/21 Prof. Kazu Blumfeld Hanada Münster, März 2021


ÜBER VORSTELLUNG-RAUM UND KAR-STADT-KULTUR



PROLOG Diese Arbeit startete mit einem scheinbar sehr einfachen Thema und ohne Vorstellung in welche Sphären sie mich treiben würde. Durch die Bearbeitung eröffnete sich mir eine Welt die vermeintlich koexistiert zu dem was ich bislang kannte. Die Auseinandersetzung mit etwas so reduzierten wie einem einfachen Wort - und dann noch einem, dass das buchstäbliche Nichts in sich beschreibt - war für mich eine ganz neue und inspirierende Art über die Welt nachzudenken, in der ich lebe. Die Leere ist weit aus mehr als nur eine Beschreibung für einen räumlichen Zustand und hat sowohl in der Gesellschaft, als auch in uns selbst, ihre ganz eigene Dynamik. Um nun die Leere aufzuschlüsseln, geht der Weg dieser Arbeit über den Raum und seine Verbindung zu uns Menschen, um dann über uns - uns persönlich - unsere Vorstellung, als auch unsere kulturelle Prägung, auf dem größte gesellschaftliche Spielfeld angewendet zu werden: der Stadt. Die Fragen die sich dabei immer wieder stellen sind: WAS IST LEERE? WAS MACHT SIE MIT UNS? WAS MACHEN WIR MIT IHR?


VORSTELLUNG RAUM

MENSCHLICHER RAUM EIGENER RAUM RELATIONALER RAUM LEERRAUM

間 KLANGRAUM PAUSE VERGÄNGLICHKEIT TEEHAUS MALEN DURCH NICHT-MALEN 白 JEEWI LEE YOHJI YAMAMOTO HIMMEL ÜBER BERLIN JOHN HEJDUK

005–006 007–010 011–012 013–018

025–026 029–034 035–036 037–038 041–044 047–048 049–050 051–056 057–062 063–066 067–070


079–080 081–084 085–092

095–096 099–102 107–108 109–114 115–118

ABWESEN BYUNG-CHUL HAN SPRACHE MACHT TOKYO RIDE

DIE EUROPÄISCHE STADT DIE LEEREN BERLINS BERLIN: EIN GRÜNES ARCHIPEL DIE KONSUMIERTE STADT LEERE LÄDEN

DAS PHÄNOMEN KAUFHOF 127–132 DAS SINNBILD KARSTADT 133–142 INNENSTADT MÜNSTER 143-190 GALERIA KAUFHOF MÜNSTER 123–126

KAR- STADT KULTUR

075–078


RAUM

Ist von dem Raum die Rede, hat der Mensch meist eine erste schnelle Assoziation dazu. Vielleicht stellst du dir persönlich einen architektonischen Raum vor. Einfach, geordnet, leicht überschaubar - vielleicht ja sogar einen leeren Raum? Das Bilder in deinem Kopf ist genauso individuell wie du selbst und somit auch dein Verständnis von Raum. Um im ersten Schritt von der persönlichen Ebene Abstand zu gewinnen soll es weniger um den Raum gehen, als um Raum. Hierzu bedarf es von der Vorstellung des Raumes als ein Behältnis wegzukommen. Raum definiert sich hierbei weder schlichtweg durch seine äußeren Kanten - wie Boden, Decke, Wand - noch ist es hier als eine „reine Ordnung körperlicher Objekte“ zu verstehen, wie es einmal Albert Einstein formulierte. Logisch erschließbar und begrenzt. Um sich von diesen Denkmustern zu lösen, ist zu erkennen, dass es viel eher um das Dazwischen, die Zusammenhänge und die Bedingungen geht, die Raum erschaffen. Auf diese Weise kann sich die Bedeutung von Raum weiten und eröffnet so eine Vorstellung, dessen sich eher auf einer metaphphysische Ebene genähern werden kann und so einer universellen Bild von Raum gleich kommt. 003–004



MENSCHLICHER RAUM Um sich dieser Vorstellung von Raum zu näheren wird schnell klar: spricht man von Raum, so spricht man zwangsläufig auch von Mensch. Beide sind einander Ursprung als auch die Bedingung. Laut Martin Heidegger existieren sie weder nebeneinander, weder ineinander, noch sind sie des jeweiligen Gegenüber. 01 Der Mensch als solches ist nicht nur von Grund auf räumlich und auf ein räumliches Umfeld angewiesen, sondern er erschafft auch stetig Raum, eigenen aber auch relationalen. Diese Kausalität macht den Raum zunächst zu einem „Existential“ 02 der menschenlichen Existenz und zum Anderen zu einem menschlich geschaffenen Raum. Der Satz „wir sehen mit unseren Beinen“ 03 den der Philosoph und Neurobiologe Maturana geprägt hat, setzt hier das in einem Raum drin-stehen einem Raum ver-stehen vorraus. Erst diese aktive Einsicht, die Anwesenheit von Mensch also, erschafft einen Raum den wir benennen und aneignen können. 04 005–006


Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass alleine die Existenz eines leeren Raumes, die Wahrnehmung dessen durch zumindest einen Menschen voraussetzt und somit den vermeintlich absolut leeren Raum zu einem mit mindestens einem Menschen gefüllten Raum macht. Im Umkehrschluss ist Raum ein ständiges Produkt unseres Mensch-Seins. Raum ist das Resultat von Existenz, Bewegungen, Sinnzusammenhängen. Wir erzeugen Raum durch die Produktion von Distanz und Nähe, durch Zuordnung von Bedeutungen. Somti ist Raum weder als weltumspannendes, immer und überall vorhandenes Objekt zu verstehen, noch befindet sich alles ausnahmslos in dem Raum. Viel eher muss erkannt werden, dass es Raum - so wie wir ihn verstehen - nur so geben kann, wie wir ihn uns nahbar machen. Durch uns und unsere menschliche Art des Wahr-nehmens. 05 Hierbei können eigene Dimensionen unsere ganz eigene Welt aufspannen und bewirken bei jedem Menschen eine eigene Vorstellung von eben diesem Raum.

Yasuaki Onishi (2017): Reverse of Volume Foto: Neues Museum

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https://www.detail.de/artikel/von-der-kunst-ein-teehaus-zu-bauen-neues-museum-nuernberg-31321/ Martin Heidegger (1994): Bauen Wohnen Denken. Münster: Coppenrath Verlag, 20 Franz Xaver Baier (2000): Der Raum. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 19 Humberto R. Maturana (2005): Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. München: Goldmann Verlag Franz Xaver Baier (2000), 19 Vgl. ebd, 26

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EIGENER RAUM Wie vorangegangen erläutert, ist die Wahrnehmung unser Mittel um Raum zu schaffen. Raum den wir dann als die Wirklichkeit verstehen. Wahrnehmung als ein „aktives Hervorbringen von Welt“ 01 - unserer Welt. Doch es bleibt nicht beim einfachen wahrnehmen, denn das Wahrgenommene wird mit Sinn und Bedeutungen aufgeladen, persönlich-soziologischen ebenso wie kulturellen Ursprungs. Dies passiert zwangsläufig ein Leben lang, so dass die eigene Weltwahrnehmung zu einem wachsenden Sinnkonstrukt zusammengeführt wird. 02 Mit diesem Sinnkonstrukt machen wir uns die Wirklichkeit stückweit zu eigen, was zu neuen, ganz individuellen Wirklichkeiten führt. Hierbei entwickelt sich wiederum eine entsprechende Abhängigkeit, die voraussetzt, dass unsere erstellten Sinnzusammenhängen auch greifen. Auf ihnen baut sich unser Selbst auf. Die wahrzunehmende Wirklichkeit scheint allerdings stetig im Wandel zu sein, Dinge ändern sich, sind doch nicht immer wie gewohnt. Damit der Wirklichkeit eines jeweiligen Menschen nicht ständig in sich zusammenbricht muss Mensch sich stetig seiner Selbst ver-räumlichen und zeitlichen, um das Gesehene in neue Zusammenhänge einzuordnen zu können, und so einem Gefühl von Sicherheit und Ordnung gerecht zu werden. 03 Dies soeben besagte geschieht zunächst begrenzt in einem kleinen Rahmen - dem des eigenen Raumes.

007–008


Walter Pichler (1967): TV-Helmet. ©

https://www.vintag.es/2019/05/tv-helmet-bywalter-pichler.html, 15/12/20


Geht man davon aus, dass die Wahrnehmung von Anderen von der eigenen abweicht - sie zumindest nicht gleich verarbeitet - lässt sich auch schließen, dass es weder diese eine Wirklichkeit geben kann, noch dieses eine Raumverständnis. Erfahrungsgemäß lässt sich dies bei einem Gespräch über Farben, Geschmäcker, Klänge oder Gerüchen feststellen, die sich oft ähneln, aber doch bei fast allen andere Assoziationen, Gefühle oder teilweise auch Bilder hervorrufen. Beschäftigt man sich also mit dem Thema des Raumes so führt dies automatisch zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Wahrnehmung. Jeder Mensch lebt in seiner ganz eigenen Sinnkonstruktion und so sprichwörtlich in seiner eigenen Welt. Dieser eigene Raum ist allerdings niemals eindimensional. Es kann sich dehnen, raffen, stauchen - sich selbst einengen oder befreien: Bei einem Spaziergang am Meer, während eines wohlverdienten Urlaubs, sind uns die genauen Ausmaße des Strandes, des Meeres und die genaue Verortung unseres Selbst gleich. Der Blick auf das endlose Meer befreit und der Alltag scheint sich durch die Meeresbrise auf dem Ozean zu verteilen. Dastehen und in eine scheinbare Unendlichkeit schauen - atmen. Der Sand und das Wasser an unseren Füßen und ein Seeigel. Der stechende Schmerz der Stachel erreicht das Nervensystem und die eigene Wahrnehmung zieht sich schlagartig zusammen. Konzentriert auf dieses eine Gefühl, zurückgeworfen in einen sehr nahen eigenen Raum - aufgespannt zwischen Auge und Zeh. Bei dem Versuch den Seeigel so vorsichtig wie möglich zu entfernen, findet das Meer und die Endlosigkeit keinen Platz mehr. Der soeben, beim Be009–010


trachten des Meeres entstandene eigene Raum löst sich auf und wird ersetzt durch einen viel kleineren, engeren Raum den des Schmerzes und der Angst. Wie sich zeigt, ist die eigene Welt weder stabil noch statisch. Sie ist stets in Bewegung, abhängig von Lebenssituationen, Gefühlen, Umständen - meist allerdings fern der bewussten Wahrnehmung. Ähnlich wie Heidegger dies als die jedes Individuums eigene Art des In-der-Welt-Seins beschreibt, so fasst es Sloterdijk in seinem Begriff des „Weltkessels“ 04 bildhaft. Eine Art fluider Kapsel, in der wir Menschen, durch die Welt steuern. Die Form dieser Kapsel hängt von unserer Geschwindigkeit und der umgebenden Temperatur ab. Es liegt an uns ob wir die Geschwindigkeit senken und mit einem geweiteten Blick die Landschaft in uns aufnehmen oder halbkontrolliert mit Vollgas in einer engen Kapsel durch die Welt rauschen - ohne aktive Anteilnahme. 05

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Humberto R. Maturana (2005): Der Baum der Erkenntnis: Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. München: Goldmann Verlag Martin Heidegger, Sein und Zeit In: Franz Xaver Baier (2000): Der Raum. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 18 Vgl. ebd. Peter Sloterdijk, Medien-Zeit In: Franz Xaver Baier (2000): Der Raum. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 51 Vgl. ebd.


EIN FLIRT AKTIVIERT DEN ZWISCHENRAUM. WÄHREND DIE ANMACHE DIREKT AUFS ZIEL LOSSTEUERT UND DEN ZWISCHENRAUM VERNICHTET, WIRD BEIM FLIRTEN DIESER ALS MEDIUM BENUTZT. DER ZWISCHENRAUM WIRD ZU EINEM VORLÄUFIGEN, UNGEFÄHREN RAUM EINER VORLÄUFIGEN ÜBEREINSTIMMUNG. 01

RELATIONALER RAUM Im vorangestellten Kapitel war die Rede von dem mit mindestens einem Menschen gefüllten Raum, doch es gibt eine wesentliche Veränderung des Raum, sobald er zu einem „Medium“ wird in dem zwei oder mehr Menschen in Beziehung - Relation - zu einander treten. Der Soziologe Georg Simmel erkennt die Qualität eines Raumes erst durch eine, aus Interaktion von Menschen entstehende, Wechselwirkung an. Erst diese mache „den vorher leeren und nichtigen Raum zu etwas für uns“ 02. Die interagierenden Menschen spannen ihn quasi zwischen sich auf um ihn dann zu füllen - Gefühle, Gedanke Sinn in ihm unterzubringen. Ein lebhaftes Bespiel hierfür ist der Flirt: Das Flirten lässt uns die Distanz zwischen einem Selbst und der anderen Person deutlich spüren. Es geht dabei um den Raum der sich zwischen den beiden Flirtenden auftut 011–012


und vor allem um die zwischenmenschlichen Interaktionen, die in diesem gerade produzierten Raum stattfindet. Der Zwischenraum ist alles andere als neutral. Er wird mit Emotionen, Begierden, Unsicherheiten gefüllt. Er ist bestimmt und bekommt eine Art spürbares Wesen. Die durch den aufgespannten Raum entstandene Spannung - produziert durch ein beispielsweise kleines Lächeln - erfüllt ihn. 03 Die Benennung dieses Abschnittes als relationaler Raum, ist besonders spannend, da es eine gleichnamige physikalische Theorie 04 gibt. Die Aussage dieses Abschnittes stellt die eigentliche Bedeutung des, von Leibniz und Mach geprägten, Relationismus insofern in Frage, als das diese physikalische Theorie den menschlichen Aspekt außen vor lässt. Sie geht davon aus, dass Raum lediglich das Dazwischen sei, ohne eigenständigen Charakter, sich nur dich die Lage einzelner Objekte zueinander definieren lässt - Tisch, Stuhl, Teller. Weiter gedacht kann es also Raum ohne Objekt nicht geben, was sie Leere als existierenden Zustand ausschließt. 05 Wie allerdings schon festgehalten, kann für den Menschen der Raum dazwischen sehr wohl charakteristische Merkmale enthalten, die über Objektives hinausgehen. 01 02 03 04

05

Franz Xaver Baier (2000): Der Raum. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 57 Markus Schroer (2012): Räume, Orte, Grenzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 64 Vgl. Franz Xaver Baier (2000), 58f. „Relationalismus: versteht den Raum als eine Art Zwischenraum ohne eigenständigen Realcharakter, der nur in Folge aller möglichen Lagerrelationen von Körpern existieren kann... Metaphorisch kann man sich den relationalen Raum als die Löcher in einem Netz vorstellen, ohne das Netz bzw. ohne die Körper könnte es sie nicht geben. Die Existenz eines relationalen Raumes ist nur relational zur gleichzeitigen Existenz von Körpern denkbar“ In: https://www.philoclopedia. de/sonstiges/quantenwelt/relationale-und-absolute-raumkonzepte/ 26/03/21 Die vier Raumvorstellungen In: https://www.wadoku.de/wiki/display/BA/Die+vier+Raumvorstellungen 16/03/21


013–014


LEERER RAUM Laut der physikalischen Definition kann es somit keinen leeren Raum geben, wenn Raum lediglich Resultat von Objekten und deren Lage zu einandner sei. Dies mag im abstrakten Sinne richtig sein, doch es beschreibt nicht unsere menschliche Wahrnehmung von Raum. Wie bereits festgehalten, setzt Wahrnehmung ein im Raum sein voraus, was wieder rum unumgänglich durch die Anwesenheit des Menschen eben diesen oder neuen Raum aufspannen würde. Aus diesem Gedankengang heraus wird klar, dass wir es bei dem Begriff der Leere nicht mit etwas Handfestem zu tun haben, sprich nicht physisch erfahrbar und vor allem nicht fest in ihrem Sein, sondern viel mehr etwas fluides, nicht greifbares. Es handelt sich hierbei um etwas was man zwar wahrnehmen kann, aber nicht als der Seins-Zustand selbst, sondern nur als - die für uns augenscheinliche - Veräußerung dieses Zustandes. Leere ist ein Gefühl, eine Ahnung, eine Vorstellung. DER WISSENSCHAFTLICH, ABSTRAKTE RAUM ENTSTEHT ERST DURCH DIE ENTWELTLICHUNG (HEIDEGGER) UND EINE WELT OHNE MENSCHEN (SARTRE), WO DAS LEBEN AUSGETRIEBEN IST. 01


Die komplette Leere werden wir also in unserem irdischen Leben nicht erleben, da sie uns nicht zugänglich ist, alleine die Vorstellung der kompletten Leere ist uns so fern, dass sie den meisten Menschen nicht gelingt, als bald sie möglich scheint. Die geistige Ebene - Leere durch Meditation, Bewusstseinserweiterung, Gebet oder ähnliches - wird in dieser Arbeit nicht direkt bearbeitet. Da sie jedoch untrennbar mit diesem Thema verbunden zu sein scheint, hält diese Arbeit ausreichend viel Raum vor, diese mitzudenken. Viel spannender an diesem Punkt ist nun, wann wir also dieses Gefühl von Leere empfinden, wann wir das Wort nutzen und was wir für Assoziationen hiermit haben. So wie wir uns Sinnkonstruktionen für Raum angeeignet haben so haben wir auch unser ganz eigenes Bild davon wie wir Leere für uns einzuordnen haben. Leere bekommt dadurch eine gewisse Bestimmtheit, meist definiert durch den Kontext - den Rahmen - in dem wir sie wahrnehmen. Versucht man den Begriff der Leere, so wie sie alltäglich gebrauchen, mit anderen Worten zu umschreiben, dann könnte die Beschreibung eines Raumes so klingen: „HIER IST ES NICHT LEER, HIER IST ES NUR NICHT VOLL VON DEM RICHTIGEN. „ Doch was ist für uns nun das Richtige? 02 Bei der Beantwortung dieser Frage geht es erneut um eigenst oder auch gesellschaftlich produzierte Sinnkonstruktionen, die gewisse Erwartungen an den uns umgebenden Raum erzeugen. Räumen, vor allem städtebauliche Räumen, wird eine gewisse Bestimmtheit zugesprochen, wir wissen in der Regel was zu erwarten ist, wie sie auszusehen haben, dadurch, dass wir wissen als beziehungsweise zu was sie gedacht sind. 015–016


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Andreas Göx. In: Hannes Wanderer (2003): Time Out. Leere Läden in Berlin, Berlin: peperoni Books


Als Beispiel hierfür dienen die beiden Fotos auf der vorigen Seite. Beide zeigen einen objektiv gleich gefüllten, beziehungsweise ungefüllten, Raum. In beiden befinden sich eigentlich nur zwei bis drei Objekte. Doch man würde nicht intuitiv beide als leer bezeichnen. Zwei ähnlich große Räume, beide weiß gestrichen, heller Boden, kein Fenster und doch sind sie anders. Das eine Foto zeigt einen ausgeräumten Laden in Berlin zur Jahrtausendwende, das andere zeigt das Innere eines Ausstellungsraum des Museums Voorlinden in Wassenaar, Niederlande. Die Beschreibung des ersten Bildes als einen ehemaligen Laden, setzt eben schon jene Bestimmtheit voraus. Das noch vorhandene Mobilar - zwei Schaufensterpuppen, und eine Warensicherung - liegt die Assoziation nahe, dass es sich hierbei um einen Ort handelt, der noch vor kurzem als Laden gedient hat und in dem jetzt niemand mehr Grund hat zu sein. Vermutlich war er gefüllt mit Waren, es hingen Klamotten an den Wänden, Schuhe standen in Regalen. Jetzt ist es leer - sprich nicht mehr voll von dem Richtigen. Das Foto des Museums hingegen irritiert nicht, es sieht aus wie ein Museum und ist so gefüllt wie eins. Viel weiße Wandfläche, die so wenig behangen sind wie möglich, und so viel Raum der Kunst und den Besuchenden lässt, die sich, fast andächtig schreitend, durch diesen Raum bewegen. Eben so wie man es von einem Museum erwartet. Leer. Hier fehlt das Richtige nicht, alles was erwartet wird ist da. Dieses Beispiel zeigt, dass es bei der Wahrnehmung von Räumen nicht nur um die äußeren Kanten geht, sondern vor allem um das was wir diesen Räumen zusprechen. Es geht dabei viel um die Definition von Rahmen und deren Außengrenzen, innerhalb dieser Rahmen können wir defineren ob 017–018


sich etwas für uns leer oder gefüllt anfühlt. Sie teilen uns unsere Wirklichkeit ein und fungieren fast wie eine Sprache in der wir gewisse Formulierungen und Ausschmückungen als unpassend oder ungewohnt empfinden können. Diese Rahmen, man könnte sie auch als Kontext bezeichnen, sind in der westlichen Welt was den Raum und vor allem den städtischen Raum betrifft, oft klar gesteckt. Darum soll es aber zu einem späteren Zeitpunkt gehen.

FAZIT Vorerst lässt sich einiges festhalten. Die Leere, beziehungsweise die absolute Leere im physikalischen Sinne, gibt es nicht. Jedenfalls nicht in unserer wahrnehmbaren Welt, womit Leere zwangsläufig das Phänomen einer empfundenen Wahrnehmung wird. Sie ist demnach eine flüchtige Bewohnerin unseres Inneren, unseres eigenen Raumes, produziert und reproduziert aus Sinneskonstruktionen, nicht erfüllten Erwartungen oder einer spürbaren Unbestimmtheit. Also somit als etwas nicht Verwertbares, etwas Störendes womit unser Kopf zeitweise nichts anderes anfangen kann, als Gefühle wie zum Beispiel Angst oder Verwirrung zu empfinden. Erkennt man allerdings dass sie, sobald sie in einem anderen Kontext gesehen wird, sich in ihrem Wert komplett ändern kann, so kann sich auch die Wahrnehmung ihrer durch uns verändern. Nehmen wir ihr die Notwendigkeit einer Bestimmtheit, so ändert sich vielleicht ihre Anwesenheit in eine Notwendigkeit - ein Potenzial - einen Vorstellungsraum. 01 02

Franz Xaver Baier (2000): Der Raum. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 19 Christine Dissmann (2011): Die Gestaltung der Leere. Bielefeld: transcript Verlag, 21


VORSTELLUNG



WIE LEER IST ES, DA, WO ETWAS WAR WO WAS WAR? ETWAS, WAS NICHT MEHR DA IST UND ES IST NICHT MEHR DA? WARUM NICHT? UND WIRKLICH NICHT? KANN ES NICHT WIEDER DA SEIN? DARF ES NICHT WIEDER DA SEIN? WIE GROSS MUSS ES GEWESEN SEIN, WAS DA WAR, DASS ALLES JETZT, WENN ES VIELLEICHT NICHT MEHR DA IST ODER VIELLEICHT NICHT MEHR DA SEIN WIRD SO LEER IST, DASS LEERE IN LEERE ÜBERGEHT ODER UNTERGEHT ODER RUHT ?


MÜSSTE RUHE NICHT EIGENTLICH ANDERS SEIN ALS DAS, WAS LEER IST UND DOCH KALT IST OBWOHL DAS LEERE NICHT KÄLTER SEIN KANN ALS DAS, WAS LEER IST UND DOCH NOCH BRENNT, OBWOHL DAS LEERE NICHT BRENNEN KANN ALS DAS, WAS LEER IST UND DOCH DEN HALS ZUSCHNÜRT, OBWOHL DAS LEERE DEN HALS NICHT ZUSCHNÜREN KANN.

WAS IST ES ALSO? 01

01

Erich Fried - Diese Leere


023–024


Im folgenden wird es eine Zusammenstellung von Themen und Motive aus Kunst, Musik, Schauspiel, sowie der Stadt und der Architektur geben. Diese sind als Fragmente und Inspirationen zu sehen und nicht als zusammenhängende Texte zu lesen. Es handelt sich dabei um eine Mixtur aus westlichen und fernöstlichen Quellen und Bezüge, die durch ihre gemeinsame Erwähnung versuchen eine neue Zugänglichkeit zueinander und somit ein Verständnis über Kulturen hinaus zu erwecken. Denn eins eint diese Kunst(-schaffenden) miteinander: ein besonderes, inspirierendes und vor allem positives Spiel mit der Leere.


間 DAS SCHRIFTZEICHEN STELLT EIN TOR DAR, INDEM SICH EINE SONNE ODER EIN MOND BEFINDET. DAS TOR ALS UMRAHMENDES ELEMENT DEFINIERT HIER NICHT DEN BEGRIFF, SONDERN DER EINGERAHMTE RAUM IN FORM DES LICHTS, DASS IN IHM PLATZ FINDET. Das Wahren von Abstand gehört in der japanischen Kultur zum alltäglichen Umgang. Wenn du dies nicht tust, bist du schnell mal ein „ma-nuke“, ein Dummkopf, dem das ma abhanden gekommen ist. Du argierst rücksichtslos, takt-los, dann bist du in diesem Moment „ma mo naku“ - ohne das geringste ma. Das Wort ma meint in diesem Zusammenhang so etwas wie einen Zustand, der sich einem Dazwischen nähert, einer gewissen Distanz oder auch ein gewissen Raum den man sich gegenseitig frei lässt. Für Menschen aus Japan eine Form von Respekt. Mit ähnlicher Bedeutung werden auch die Wörter gen und kan verwendet, die sich in Zusammensetzungen spannenderweise auch auf den leeren Raum (kukan), die Zeit (jikan) und vor allem auf den Mensch (ningen) beziehen. Hier werden durch die Sprache drei besonderen Aspekte der fernöstliche Kultur wiedergespiegelt und in einen philosophischen Zusammenhang gebracht. So wie wir die Bedeutung des ma nur erahnen können, so diffus ist für uns auch die Definition des ningen. 01 Es geht auch hier weder um den Men025–026


schen - so wie wir ihn benennen - noch um die Gesellschaft. Es handelt sich hier eher um einen Zwischen-Menschen, der sich durch das Dazwischen definiert, seine Beziehungen, die Art und Weise des In-der-Welt-Sein. 02 Für das Wort 間 (ma) findet sich in keiner westlichen Sprache keine Übersetzung, weshalb es zwar umschrieben werden kann, aber allein durch Sprache nie klar erfasst werden. Bei dem Versuch einer Annäherung geht es in Richtung Zwischenraum, Zwischenzeit, also außerhalb des Kontextes von Raum und Zeit um das Zwischen. Auf die Zeit bezogen eher als Intervall und räumlich als Distanz, Differenz, Abstand zu verstehen. 03 Durch die fast komplette Abschottung des Landes über mehrere Jahrhunderte hat sich aus den chinesischesn und koreansischen Einflüssen eine neue Form der Kultur entwickelt. Diese manifestiert sich in ihrer Art Raum wahrzunehmen, Kunst zu verstehen und vor allem die Ästhetik des Nichts zu verstehen. 04 Dies entwickelte sich - gefestigt durch das ma - zu einem respektvollen, bewussten Sein und kulturellen Miteinander, dass sich in jeglicher traditioneller Form der Kunst, des Theaters, des Bauens, wiederspiegelt. 01 02 03 04

Ingrid Fritsch, Distanz, Aura, Differenz, „Zwischenräume“ in der japanischen Kultur, 1 Martin Heidegger, in sämtlichen Schriften von ihm geprägte Beschreibung des Zustandes des Menschen Ingrid Fritsch, 2 Wolfgang Fehrer (2005): Das japanische Teehaus. Zürich, Verlag Niggli AG, 15


ES WAR EINMAL EIN LATTENZAUN, MIT ZWISCHENRAUM, HINDURCHZUSCHAUEN.

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Christian Morgenstern - Lattenzaun

EIN ARCHITEKT, DER DIESES SAH, STAND EINES ABENDS PLÖTZLICH DA UND NAHM DEN ZWISCHENRAUM HERAUS UND BAUTE DRAUS EIN GROSSES HAUS. DER ZAUN INDESS STAND GANZ DUMM, MIT LATTEN OHNE WAS HERUM. EIN ANBLICK GRÄSSLICH UND GEMEIN. DRUM ZOG IHN DER SENAT AUCH EIN. DER ARCHITEKT JEDOCH ENTFLOG NACH AFRI - OD - AMERIKO.01



DAS DASEIN IN DER STILLE DER WELT IST EINE SAITE, DIE UNTER IHRER EIGENEN SPANNUNG VIBRIERT. MAG SEIN, DASS DIE MEDITIERER ALLER ZEITEN STILLE UND SCHWEIGEN GESUCHT HABEN, WEIL DAS SICH-HÖREN DES DASEINS BEIM VERSTUMMEN DES LÄRMS HILFT, DIE SAITEN ZU SPANNEN.01

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KLANGRAUM Die traditionelle Japanische Musik folgt dem menschlichen Maßstab des Atemrythmus der Mundorgel. So ist die Schlagzeit beim letzten, dem vierten, Schlag länger, da hier die Zeit für das Einatmen mitgedacht wird und der Musik so ihren besonderen Charakter verleiht und macht somit den Klang dessen von den Interpretierden abhängig. 02 Anders als in der klassischen, europäischen Musik bei der die Atempausen der Blasinstrumente zwar auch mitgedacht werden, aber der großen übergeordenten Melodie unterliegen und sich somit keine charakteristische Rolle spielen. Die Faszination für Musik und für die Wirkung ihrer auf den Menschen beschäftigt uns seit dem es Musik gibt. Vor allem ihre Wirkung auf unser Bewusst-Sein interessierte unter anderem den Philosophen Peter Sloterdijk, der das Selbst in der Stille fand. Und den Sinn Hören, als ein Mittel des Selbsterkennens setzt. Die Erkenntnis der irdischen Leere, das Nichts, durch das bewusste Ausschalten eines Sinnes. 03 ICH HÖRE NICHTS MEHR, ALSO BIN ICH.


031–032


James Ewing In: https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/igor-levit-marina-abramovic-goldberg-variationen-100.html 15/12/20 ©

Die Auseinandersetzung mit der Stille fand in dem letzten Jahrhundert oftmals im musikalischen Kontext statt. Der wohl bekannteste Komponist, der sich mit dem Thema der Stille in der Musik beschäftigt hat hieß John Cage. Mit seinem Werk 4‘33 empörte er bei der Uraufführung im August 1952 sein Publikum, als der Pianist David Tudor sich an das Klavier in der Maverick Concert Hall in New York setzte und nicht spielte. In dem Stück, das in drei Akte unterteilt war, wurde kein einziger Ton angeschlagen. Nur das Öffnen und Schließen des Klavierdeckels machte den Beginn und das Ende eines Aktes deutlich. Pause - Pause - Pause. Die Zuschauenden sollten in diesem Stück selbst erfahren, was man hört, wenn es eigentlich nichts zu hören gibt. 04 John Cage hat früh erkannt, dass es den komplett stillen - von Geräuschen geleerten - Raum nicht gibt und das es darum geht, wie der Mensch sich auf diese Erfahrung einlassen kann um die Spannung dessen zu erfahren.


https://www.thepiano.sg/piano/read/john-cages-433-defies-silence 15/12/20 ©

Eine ähnliche Inszenierung der Stille gab es bei der 2015 aufgeführten Goldberg Variation von Igor Levit in Zusammenarbeit mit der Performance-Künstlerin Marina Abramović. Hier wird zwar das gesamte 75-minütige Stück von Bach gespielt, allerdings erst nach dem alle Beteiligten komplett „auf null gefahren“ sind. Mit Schallschutzkopfhörern auf Liegestühlen konzentrisch um ein leeres Podest auf welchem kaum merklich Levit mit Klavier eingefahren kommt. 30 Minuten lang. Keine Handys, keine Uhren, nur die Zuschauenden mit sich und ihrer eigenen Stille. Man soll das eigene Blut unter den Kopfhörern pochen gehört haben. Ein Gongschlag gab das Zeichen, die Kopfhörer abzunehmen und - wie gereinigt von den tosenden Geräuschen der New Yorker Straßen - der Musik zuzuhören. 05 Aktiv und mit einem unbeirrten Bewusstsein. Unbeirrt von äußeren Einflüssen und der Technik, durch die wir Menschen laut Abramović verlernt haben zuzuhören. 06

WENN DICH ETWAS NACH ZWEI MINUTEN LANGWEILT, VERSUCHE ES FÜR VIER. WENN ES IMMER NOCH LANGWEILIG IST, DANN ACHT. DANN 16. DANN 32. IRGENDWANN WIRD BEMERKBAR, DASS ES ÜBERHAUPT NICHT LANGWEILIG IST. 07 01 02 03 04 05 06 07

Peter Sloderdjik (1994) Weltfremdheit, Frankfurt am Main: surkamp Verlag, 137 Ingrid Fritsch, Distanz, Aura, Differenz, „Zwischenräume“ in der japanischen Kultur, 3 Peter Sloderdjik (1994), 135 Vgl. John Cage: 4‘33 - sein berühmtestes Musikstück In: https:// beruehrungspunkte.de/artikel-john-cage-433 06/12/20 Kai Clement (2015) Igor Levit und Marina Abramović inszenieren Goldberg-Variationen In: https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/ igor-levit-marina-abramovic-goldberg-variationen-100.html 06/12/20 Rebecca Lentjes (2018) Marina Abramović über das Musikhören In: https://van.atavist.com/abramovic 06/12/20 John Cage (engl.), John Cage: 4‘33 - sein berühmtestes Musikstück In: https://beruehrungspunkte.de/artikel-john-cage-433 06/12/20

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PAUSE Bei der traditionellen Form des japanischen Theaters - dem Nō-Theater - vollzieht sich der Akt des Spielens in sehr langsamen Bewegung, jede hiervon ritualisiert. Dazu wird mit Trommeln und Klangstäben im Hintergrund der Takt der Bewegungen angegeben. Alles vollzieht sich auf einer fast leeren Bühne, ohne Requisiten oder Bühnenbild. Auch hier gibt es den Begriff des ma, allerdings als senu-hima, und bezeichnet die Zeit zwischen den Aktionen der Schaupielenden. Die Thaterform äußert sich durch ihren besonderen Umgang von Aktion und Nicht-Aktion. Genau durch diese gesetzten Intervalle entsteht die Spannung des Spiels, die es zeit- und ortlos wirken lässt. Der Regisseur Jerzy Grotowski benennt diese Form als „die Gewalt des Bremsens“. 01 Diese bewusste Pause im Spiel sei nicht nur der Moment in dem schlicht nicht agiert wird, sondern „der Moment der größten Konzentration“ 02. ES IST DER MOMENT IN DEM NICHTS DARGESTELLT WIRD UND DOCH ALLES PASSIERT. 03

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https://www.wagnergenootschap.nl/artikelen/139-chikako-kitagawaanmerkungen-zum-noh-theater/file (25/11/20)

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Wolfgang Fehrer (2005): Das japanische Teehaus. Zürich, Verlag Niggli AG, 17 ebd. Dr. Chikako Kitagawa, Anmerkungen zum Nō-Theater, In: https://www. wagnergenootschap.nl/artikelen/139-chikako-kitagawa-anmerkungenzum-noh-theater/file (25/11/20)

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Yasuaki Onishi (2017) Reverse of Volume, Foto: Anette Kradisch

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In: https://www.detail.de/artikel/von-der-kunst-ein-teehaus-zubauen-neues-museum-nuernberg-31321/ 27/01/21 Wolfgang Fehrer (2005): Das japanische Teehaus: Zürich, Verlag Niggli AG, 17 ebd.

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VERGÄNGLICHKEIT RAUM UND ZEIT WURDEN IN JAPAN NIEMALS ALS VONEINANDER UNABHÄNGIGE TATSACHEN BEGRIFFEN, SONDERN FLIESSEN SEIT JEHER IN EINEM KONZEPT ZUSAMMEN, WELCHES DIESE DUALITÄT ZU ÜBERWINDEN VERSUCHT. 01 Nach Buddha ist Nichts der Vergänglichkeit entzogen. Im Grunde ist es die Zeit, verbunden mit der Erkenntnis ihrer Prozesshaftigkeit und der Annahme, dass - dadurch dass sich eben Nichts ihr entziehen kann - alles im stetigen Wandel ist. Buddha manifestierte somit die Annahme, dass das Wesen aller Dinge nicht nur leer ist, sondern eben auch vergänglich. In der japanischen Weltsicht sind also Raum und Zeit immer als eine ineinander fließendes Konzept zu verstehen und denken somit räumliche auch immer als zeitliche Erfahrung - untrennbar voneinander - was sich auch in den räumlichen Strukturen des japanischen Teehauses oder eben einer fernöstlichen Stadt beobachten lässt. Diese lassen sich meist eher als ein fluides Kontinuum verstehen, die „dynamischer Veränderungen und einer permanenten Modifikation“ 02 ausgesetzt sind und diese auch selbstlos in sich aufzunehmen bereit sind.


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Ryoan-Ji Japanischer Zen-Garten bei Kyoto https://www.fotocommunity.de/photo/ryoan-ji-japanischer-zen-garten-bei-kyoto-pmuest/19224584 25/01/21


TEEHAUS DER TEERAUM SUKIYA WILL NICHTS ANDERES SEIN ALS EIN EINFACHES HÄUSCHEN (…) DIE URSPRÜNGLICHEN SCHRIFTZEICHEN FÜR SUKIYA BEDEUTET STÄTTE DER PHANTASIE. SPÄTER HABEN DIE VERSCHIEDENEN TEEMEISTER VERSCHIEDENE ANDERE ZEICHEN DAFÜR EINGESETZT, DIE IHREM BEGRIFF VOM TEERAUM ENTSPRACHEN. SUKIYA KANN STÄTTE DER LEERE ODER STÄTTE DES UNSYMMETRISCHEN BEDEUTEN. ER IST STÄTTE DER PHANTASIE INSOFERN, ALS ER ERRICHTET WIRD, EINE VORÜBERGEHENDE HEIMSTATT DICHTERISCHEN GEFÜHLS ZU SEIN. ER IST STÄTTE DER LEERE, INSOFERN ER OHNE SCHMUCK IST, MIT AUSNAHME DER WENIGEN DINGE, DIE GEBRAUCHT WERDEN (…) ER IST STÄTTE DES UNSYMMETRISCHEN INSOFERN, ALS ER DER VEREHRUNG DES UNVOLLKOMMENEN GEWEIHT IST, WOBEI MIT VORSICHT IRGEND ETWAS UNVOLLKOMMEN GELASSEN WURDE, UM IM SPIEL DER PHANTASIE VOLLENDET ZU WERDEN. 01 Das Teehaus gilt als ein Schnittpunkt der Ästhetik der japanischen Kultur und Kunst, durch dessen Verständnis man sich der Philosophie dieser nähert. Der klassische Teeraum selbst bietet mit seiner Größe von 4½ Tatami-Matten maximal fünf Personen gleichzeitig Platz. Trotz seiner geringen Größe und Schlichtheit steckt in jedem Detail und jeder Fügung jahrhundertelange Entwicklung und suggeriert hierbei doch keine Perfektion, sondern strahlt ein Bewusstsein für dessen Vergänglichkeit aus. Alles ist getaucht in eine Art rituelle Patina.


Die Lichtverhältnisse der Räume bekommen durch die Papiere und Bambusrollen vor den Fenstern eine diffuse Gleichmäßigkeit, in dem nur Schatten und kein direktes Licht zugelassen wird. So entsteht in dem - meist - absolut leeren Räumen auch tagsüber eine gedämpfte Stimmung. Durch die Verschiebbarkeit der einzelnen Wände ist es den Veranstaltenden der Teezeremonien überlassen, die Atmosphäre genau zu bestimmen. Durch sie wird der Teeraum mit Leben gefüllt. Nur zur Vorbereitung und Durchführung einer Teezeremonie werden die gebrauchten Utensilien in das Teehaus gebracht. Nach einer gründlichen Säuberung der Raumes vorher swie nachher - werden alle Gebrauchsgegenstände wieder mit herausgenommen und nur der im Boden eingelassene Wasserkessel verbleibt. 02 Ein Ort, der durch nichts als seine Funktion, als Ort der Leere, seine Bedeutung bekommt. Ähnlich wie bei den kare-san-sui, den japanischen Trockengärten. Die Gestaltung derer folgt einer Komposition, in der die großzügigen Leerräume, die meist mit perfekt geharkten Kieselsteinen bedeckt sind, als maßgebliches Gestaltungselement dienen. Die vereinzelt gesetzten Felsen scheinen im Kontext dieser Leere jegliche Dimensionen zu verlieren.

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Hasegawa Tōhakus, Kiefernwald-Stellschirm links + rechts (folgend)

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https://de.wikipedia.org/wiki/Hasegawa_Tōhaku#/media/Datei:Hasegawa_Tohaku_-_Pine_Trees_(Shōrin-zu_byōbu)_-_right_hand_screen.jpg 06/01/21 Wolfgang Fehrer (2005): Das japanische Teehaus: Zürich, Verlag Niggli AG, 20 ebd., 18

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MALEN DURCH NICHT-MALEN Die meisten der japanischen Kunstwerke, wie Kalligrafien und traditionelle Tuschmalerein verkörpern in sich die Ausgewogenheit von Form und Leere. In ihnen ist nicht nur das gedacht, dass auch wirklich dargestellt ist, sondern auch das was nicht da ist. Dies heißt nicht, dass es nicht genauso wichtig ist für die Wirkung des Gemäldes. THIS IS NOT ABOUT THE NEGATIVE SPACE THAT HELPS DEFINE THE FOREGROUND RATHER ITS ABOUT THE NEGATIVE SPACE BEING ONE CONTINUOUS PIECE WITH THE IMAGE ITSELF. 01 HIER GEHT ES NICHT UM DEN NEGATIVEN RAUM, DER HILFT DEN VORDERGRUND ZU DEFINIEREN, ES GEHT UM DEN NEGATIVEN RAUM ALS TEIL DER GESAMTEN KOMPOSITION. Wichtig zu erkennen ist hierbei, dass es weder um das Negative, Nicht-gemalte, als um das Positive geht, denn die Verbindung und die Coexistenz beider Qualitäten ergeben die Vollkommenheit des Kunstwerks, und vor allem die 047–048


zu erfahrende Spannung, die dem zugrunde liegt. Es geht um Erfahrung, aber auch um Vorstellung, denn durch das NichtMalen im Kontext des Gemalten, wird gemalt - und zwar im Kopf der Betrachtenden selbst. In den Leerräumen des Kiefernwaldes ist jede Geschichte vorstellbar. Es entsteht außerdem eine ganz eigene Ästhetik, die schwer zu beschreiben sind, so schwer wie die Beschreibung des Wortes ma. 01 02

Bliss Foster (2020): The Yohji Yamamoto Problem, In: https://www. youtube.com/watch?v=QkP8PEuir8g&t=630s Vgl. Wolfgang Fehrer (2005): Das japanische Teehaus: Zürich, Verlag Niggli AG, 17


DAS NICHT-SEIN STREBT NACH SEIN, DAHER KANN NICHTSEIN GELEGENTLICH EIN GEFÜHL VON SEIN AUSLÖSEN, DAS STÄRKER IST ALS DAS SEIN SELBST. 01

白 Die Kapitel des Buches Weiss des Grafikers Kenya Hara beginnen mit Aussagen wie: „Wenn ich über Weiss spreche, spreche ich nicht über Farbe“ 01 oder „weiss als solches gibt es nicht“ 02. Das Buch ist - entgegen der Erwartungen die beim Lesen des Titels entstehen - keine Hommage an die Ästhetik von Weiss, sondern es öffnet die Wahrnehmung für eine viel grundlegendere Bedeutung. Hier wird deutlich, dass es sich bei weiss viel eher um ein Konzept handelt, als nur um eine Farbe unter vielen Farbe. Weiss ist - wie die Leere auch - subjektiv zu empfinden. Es gibt lediglich eine persönliche Empfänglichkeit für die Empfindung von weiss, und so kann man auch hiernach nicht direkt suchen, sondern man nähert sich diesem Thema nur dadurch, in dem wir erkennen, wie wir weiss empfinden. Das Wort der Empfänglichkeit 03 beschreibt die Wirkung von Weiss sehr passend. Zum Einen, da wir, empfänglich sein müssen um sie uns zu eigen zu machen, doch zum Anderen, zum viel entscheidenderen und offensitlicheren Punkt; da weiss die Empfänglichkeit an sich ist. An dem Beispiel des weissen Papiers, wird dies gut deutlich. Es stellt für uns nicht ein fertiges, definiertes Objekt dar, sondern ist etwas, dass beschrieben oder umgestaltet

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werden muss, um seinen Sinn zu erfüllen. Das japanische Wort kizen beschreibt einen Zustand des Noch-Nicht-Seins und bindet sich so an ein zugesprochens Potential dieses Zustandes. Das weisse, leere Papier ist Medium, dass bereit hält mit anderen Farben, Zeichen oder Inhalt gefüllt zu werden. Es ist Anfang menschlicher Kreativität für Kunst, Mathematik oder Gedanken und somit auch Plattform von Kommunikation. 04 Die Parallelen von Weiss und Leere sind eindeutig. Auch Hara widmet ein Kapitel seines Buches dem leeren Raum und spricht die Potentiale eines weissen Papiers ebenso einem leeren Raum zu, welcher nur in den Köpfen der Betrachtenden nicht als leer, sondern als noch-nicht-gefüllt erkannt werden muss. Darin stecke seine gesamte, kraftvolle Energie. 01 02 03 04

Vgl. Kenya Hara(2015): Weiss: Zürich, Lars Müller Publishers, 42 ebd.,Vorwort ebd., 2 ebd., 16f


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JEEWI LEE Jeewi Lee ist eine in Seoul geborene Künstlerin die sich mithilfe verschiedenster Materialien (Ausstellungs-)Räume zu eigen macht und meist ortsspezifische Installationen entwickelt. Ihre Arbeiten werden als sehr persönliche Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Biografie beschrieben. Lee musste als Kind und junge Frau sehr oft umziehen, ihr Umfeld wechselte ständig zwischen Deutschland und Südkorea, zwischen armen Viertel und Reichen, Großstädten wie Seoul oder Regionen wie dem Schwarzwald. Aus dem heraus ist ihre Kunst als eine Auseinandersetzung mit Spuren zu lesen. Was bleibt von mir, was lasse ich zurück? und was bin ich wenn ich weg bin? Die Spuren beschreiben sowohl den Prozess der Zeit als auch die Überbleibsel der Vergangenheit und sind somit Abbild anwesender Abwesenheiten. Sie spannt in ihren Werken vor allem die zeitlichen Ebene auf als Abbild eines vorherigen Ereignisses und einer eventuellen Veränderung in der Zukunft. Sie macht die Besuchenden zu Spurenlesenden, die so in ihren Phantasie- und Vorstellungsräumen selbst die Entstehungsgeschichte konstruieren können, anhand dessen was blieb. Dies gibt den Räumen eine eigene, ganz (un-)bestimmte Spannung.

EINE VISUELLE ALLEGORIE FÜR GELEBTE ERFAHRUNG, ORT UND ERINNERUNG. 053–054


Ausstellung Ich_No_Gramm, Zönotéka Berlin (2015) http://www.jeewi.de/works/ looking-glass-self/ich-nogramm

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http://www.jeewi.de/works/looking-glass-self/fraktur

Ausstellung Blinder Beifall, Zirkusmanege mit abgehängetm Trampolin, Cirusaufführung vor der Eröffnung, Sexauer Gallery Berlin (2018) ©

Ausstellung Fraktur , 15x15m, Sexauer Gallery Berlin (2018)

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http://www.jeewi.de/works/looking-glass-self/blinder-beifall


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Ready-to-wear Look 15

Spring

2017,

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Ready-to-wear Look 1

Spring

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Ready-to-wear, Look 44

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Winter

2017,

All In: https://www.vogue. com/fashion-shows/yohji-yamamoto


https://www.dazeddigital.com/fashion/article/19283/1/inside-the-head-of-yohji-yamamoto

Er gilt als einer der bekannteste japanischen Modedesigner in Europa. Seine Arbeit würden allerdings für lange Zeit in dem Pariser-Fashion-Kosmos hart kritisiert und teils mit unsensiblen Beschreibungen diskreditiert. Sein Stil gilt als Mixtur aus klassischer, hochwertiger Mode aus hochwertigen Stoffen und avantgardistischen Designansätzen. Für viele Modekritisierenden ist es schwer zu beschreiben, was genau Yohji Yamamotos Kleidung auszeichnet. Plakativ natürlich seine Farbwahl, beziehungsweise der bewusste Verzicht auf Farbigkeit, denn er arbeitet fast ausschließlich in schwarz und weiß. Der androgyne Stil und die Wahl von flachen Boots, anstatt der - zu der Anfangszeit seines Schaffens üblichen Absatzschuhe - zieht sich kontinuierlich durch seine Kreationen, doch beschreiben allein nicht die Spannung die er mit seinen Shows erzielt.

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YOHJI YAMAMOTO

Bei der Recherche stoße ich auf eine Interpretation die diese Spannung versuchte mit dem Begriff des ma zu erläutern. 01 Ein Zitat, mit welchem versucht wird diese Verbindung her zu stellen ist von Lawrence Abrahamson:

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WHEN WE THINK OF BOUNDARIES, WE THINK OF LINES. BUT WHAT IF WE THOUGHT INSTEAD ABOUT SPACE? 02 WENN WIR ÜBER GRENZEN NACHDENKEN, DENKEN WIR AN LINIEN. DOCH WAS WÄRE, WÜRDEN WIR AN RAUM DENKEN?


Auch wenn Yamamoto viel mit klassischen Motiven arbeitet, wie beispielsweise typischen Mantelmotiven mit Reverskragen oder Taschen, sind diese meist nicht zu Ende gedacht und der Saum des eigentlichen Mantels verliert sich in einem Stoff, welcher ebenso Teil eines Kleides sein kann, der wiederum Hosenbeine besitzt. Es gibt keine definierten Grenzen und die einzelnen Kleidungsstücke sind nicht konkret bestimmbar. Andersherum scheinen, durch die häufige Asymmetrie, Kleidungsteile zu fehlen und kreieren so direkte oder indirekte Leerstellen. Dieses Ineinanderübergehen, ohne klare Grenzen macht eine ganz neue Sphäre der Kleidung auf und lässt sie auf ihre Art und Weise inhaltsleer, ohne dabei zu fehlen. Die Farblosigkeit verstärkt diese Wirkung, und lässt die Grenzen immer weiter verschwimmen. 01 02

Bliss Foster (2020): The Yohji Yamamoto Problem, In: https://www.youtube.com/watch?v=QkP8PEuir8g&t=630s Lawrence Abrahamson (2019): Short essay by Lawrence Abrahamson, In: https://www.mascontext.com/issues/17-boundary-spring-13/the-potential-in-nothing/

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HIMMEL ÜBER BERLIN Der Film des Regisseurs Wim Wenders wurde 1987 im geteilten Berlin gedreht. Er zeigt eine Stadt, die wie überzeichnet aussieht, durch politischen Einfluss und kriegerischen Zerstörungen. Eine Stadt an ihrem Nullpunkt, wie Wenders es retrospektiv beschreibt. Die Handlung des Filmes, die ohne konkretes Drehbuch entstand, ist hier weniger wichtig als die Bilder die es den Zuschauenden liefert und durch die der Film spricht. Die Leeren Berlins werden einem hier, eindrucksvoll, still und farblos vermittelt. Sie haben eine ganz besondere Wirkung, da sie faszinieren, doch im Kontext der Geschichte Berlins und der Menschen die dort wohnen, Betrachtenden in eine Art Melancholie versetzen. Hier verkörpern die Szenen dieses Film eine Dualität von Abwesenheit und Leere, in einer Stadt, die am Anfang eines Wiederauferstehens steht.


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Wim Wenders (1987): Himmel über Berlin, Produktion: Anatole Dauman, Drehbuch: Peter Handke, Richard Reitinger, Wim Wenders In: https://www.youtube.com/watch?v=zlsbHk_FvMM 12/10/20


JOHN HEJDUK Die Arbeit Victims des Architekten John Hejduk bezieht sich weniger auf das Thema der Leere, als auf den Aspekt der Zeit und des Zeit-Gebens. Seine Entwürfe für das Gelände Topographie des Terrors auf dem Grundstück des ehemaligen Gestapo-Hauptquatiers bestehen aus einzelnen Objekten, die alle in sich komplett sind, doch erst in - von vornherein geplanten - Zeitabständen aufgebaut werden sollten. Durch diese bewusst gestreckte Zeitebene erlaubt Victims eine stetige Interaktion der Besuchenden mit den „Monstern“ und erlaubte ihnen die Weiterentwicklung dieser Ausstellung mit zu bestimmen.

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A PLACE TO BE CRATED OVER TWO 30-YEAR PERIODS. A GROWING, INCREMENTAL PLACE - INCREMENTAL TIME. THIS CATALOGUE OF 67 STRUCTURES IS PRESENTED TO THE CITY AND TO THE CITIZENS OF BERLIN. ONE POSSIBILITY IS THAT ALL 67 STRUCTURES CAN BE BUILT OVER TWO 30-YEAR PERIODS, THE OTHER POSSIBILITY IS THAT NONE OF THE STRUCTURES IS BUILT. A THIRD POSSIBILITY BEING THAT SOME STRUCTURES ARE BUILT. THE DECISION LIES WITH THE CITY AND CITIZENS OF BERLIN. 01 069–070


∆∆ ∆ Skizzen, Zeichungen von John Hejduk (1986) © 01

John Hejduk (1986): Victims.,London: Architectural Association ebd., Introduction



KULTUR



Das Bewusstwerden von Leere kann in einem ganz diverse Gefühle auslösen. Es kann beängstigen, befreien, deprimieren oder reinigen. Unabhängig davon wie wir sie wahrnehmen, fällt sie uns und ist allein dadruch präsent, dass wir erkennen, dass sie an die Stelle tritt wo nichts anderes ist. Die Tatsache, dass so etwas zu fehlen scheint, erweckt in uns nicht die Erfahrung der Leere, sondern die eines anderen Phänomens, die der Abwesenheit. Oft wird auch von einer anwesenden Abwesenheit gesprochen, die man in räumlichen oder auch emotionalen Momenten verspüren kann. Dieses Paradoxon scheint sich gegenseitig zu wiedersprechen, und doch kann es eine enorm starke Präsenz von Dingen geben, die eben nicht da sind. Meist ist dies eine Erfahrung, die man negativ und als eine Art Verlust wahrnimmt. Dies scheint ein kultureller Denkansatz zu sein, der sich in der westlichen Welt durchsetzt und mit Leere in Verbindung steht. Die Bedeutung des Wortes Abwesen spielt hier eine entscheidende Rolle.


ABWESEN Um die Varianz des Themas Abwesen im Sinne Byung-Chul Hans zu klären bedarf es zuerst dem Verständnis des Wesen. Interessanterweise findet sich dieser bereits in seiner Etymologie. Der Ursprung des deutschen Wortes Wesen ist wesan, welches so viel wie Verweilen an einem Ort, Aufenthalt, Hauswesen, Wohnen und Dauer bedeutet. Abgeleitet von der römischen Göttin vesta - die Göttin des häuslichen Herdes - beschränkt sich das Wesen auf einen Aspekt der Dauerhaftigkeit, und zwar die eines Hauses, eines Haushaltes. Es weist auf Besitz hin, auf gefestige Ansprüche. In der westlichen Kultur verbinden wir mit dem Wesen und der Vorstellung, die wir davon haben, etwas Schönes. Früh definiert durch das, was für Platons Eros als das Unveränderliche, das Dauernde, beschrieb. 01 Versteht man das Wesen nun als das Sein, somit auch als das Mensch-Sein, ist der Kern dessen das Begehren, und zwar begehren nach Eigentum, Wohnen, Innerlichkeit und Standfestigkeit. An dieser Stelle findet sich einer der bedeutenden Unterschiede der westlichen und der fernöstlichen - durch den daoistisch geprägten - Weltsicht.


SEIN 存 (you) ist die chinesische Bedeutung für Sein und stellt eine Hand dar, die ein Stück Fleisch hält. Es bedeutet zwar ebenso haben und besitzen, und man könnte meinen, dass sich somit das Sein in der fernöstlichen Kultur ebenso durch Besitz und Anspruch definiert. Allerdings muss das Stück Fleisch in der Hand ganz nüchtern als Mittel der SelbstErhaltung gesehen werden, als Mittel des Sich-Nähren. Das Existieren entzieht sich hier einer Begierde, die über dem banalen Befüllen des eigenen Bauches hinausgeht. Der daoistische Philosoph Laozi forderte: „Das Herz leeren, den Bauch füllen. Den Willen schwächen und den Knochen stärken.“02 Natürlich sind dies nicht die einzigen Ziele des Daoismus, doch hier wird unmittelbar deutlich, dass sich das Sein auf ein Minimum zu beschränken hat und vor allem, dass es sich durch den eigenen Körper begrenzt. Wie im Abschnitt des Wesen beschrieben, verhält sich die Bedeutung des Sein in der westlichen Welt anders. Heidegger der das Wort Wesen fast inflationär in seinen Schriften verwendet, bringt dies immer wieder mit dem Begriff des Wohnens zusammen. „Mensch sein, heißt: als Sterblicher auf der Welt sein, heißt: wohnen“03. Buchstäblich scheint es als wohne die Begierde nach dem Dauerhaften, dem Schutz und dem Eigentum dem Wort inne.

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ES IST DAS BEGEHREN, DIE APPETITION, DIE EINEN ZU JEMAND MACHT. WER JEMAND IM EMPHATISCHEN SINNE IST, HAT KEINEN ZUGANG ZUM WANDERN. JEMAND WOHNT. NUR WER SICH ZU EINEM NIEMAND ENTLEERT, VERMAG ZU WANDERN. DER WANDERER (...) BEGEHRT NICHTS UND HÄLT AN NICHTS FEST. DARUM LÄSST ER AUCH KEINE SPUREN ZURÜCK. NUR IM SEIN BILDEN SICH SPUREN DES BEGEHRENS UND FESTHALTENS. DER WEISE ABER BERÜHRT DAS SEIN NICHT. 04

WEG Vor allem die Bedeutungsdifferenz des Wortes Weg macht hier grundsätzliche Unterschiede deutlich. 道 (dao), der Weg, ist namensgebend für den Daoismus und beschreibt einen Zustand zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein 05, es ist ein Zustand ohne jede Festigkeit. Der Weg ist eine Reise die nirgends hinführt, die Wandernden wandern ohne Ziel. 06Platons Lehre die auch von dem Schönen im Dauernden spricht, prägte das Wort poros (wörtl. Weg), welches einem gewissen Ziel unterstellt ist und zwar den Besitz. Platon personalisiert ihn in Poros und seinem Sohn Eros, der die Schönheit im Dauernden sieht. Aufgrund des Sohnes wird Poros jedoch zu einem Jäger, der von Macht und Besitz beseelt ist und dessen Antrieb und somit Ziel des Weges die Begierde sei. 07


WANDERN Das Wandern ist Ausdruck der Leitidee des Daoismus. Es findet sich allerdings auch mit verwandter Bedeutung in dem buddhistischen Nicht-Wohnen und dem NirgendsWohnen des japanischen Zen-Meisters Dôgen wieder. Das dao entzieht sich, wie bereits erwähnt, einem Ziel und somit tun die Wandernden es dem Weg gleich. Es heißt „sie halten mit den Dingen schritt“ 08. Somit hinterlassen sie keine Spuren, denn nur das Sein kann Spuren hinterlassen, als Abdrücke des Begehrens und Festhaltens, doch die Weisen haben dem Sein abgeschworen 09 und wird allein zum Spiegel des Umfeldes. 10 Genauso wie sie nirgends-wohnen, wandern sie nirgends-hin. HIMMEL UND ERDE - DAS GANZE ALL - IST NUR EIN GÄSTEHAUS, ES BEHERBERGT ALLE WESEN INSGESAMT. SONNE UND MOND SIND DARIN AUCH NUR GÄSTE, LAUFGÄSTE EWIGER ZEITEN. 11

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FREMDE Um Zugang zu dem Fremden zu erlangen, heißt es, so müsse man das Sein hinterfragen. Denn das Sein, oder viel eher das Wesen, suggeriert Standfestigkeit, es subsistiert. Substantialität ist eine Entschlossenheit zu sich, bei dem lateinischen Wort substare geht es um das sich-behaupten. Behauptung bezieht sich vor allem auf die Anderen, ihnen gegenüber standhaft zu sein, sich mit einem starken Eigen hervorzubringen. Das Wesen ist somit alles andere als freundlich, es definiert sich über die Abgrenzung zu anderen. 12 Das Fremde war im Westen für lange Zeit der Grund für Ausschließung und Vereinnahmung 13, wurde deklariert als feindlich. Es wurde dem Bild des Eigen nicht zugesprochen. So ist in der abendländischen Kultur die des fernen Ostens die Kultur des Abwesens - ebenso fremd wie fern. Eine Kultur die dem subsistierenden Sein abschwört und so Platz lässt, für das Fremde, und es in das eigene Innere aufzunehmen. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13

Vgl. Byung-Chul Han (2007) Abwesen. Berlin, Merve Verlag, 8 ebd., 16 Martin Heidegger (1994): Bauen Wohnen Denken. Münster: Coppenrath Verlag, 20 Byung-Chul Han (2007), 18 Christoph Eydt, Daoismus (Taoismus), In: taiji-forum.de, https:// taiji-forum.de/glossar/daoismus/ (30/11/20) Byung-Chul Han (2007), 14 ebd., 9 Vgl. ebd., 14 Byung-Chul Han (2007), Klappentext Vgl. Byung-Chul Han (2007), 19 Zitat chinesischer Dichter Li Bo In: Byung-Chul Han (2007),34 Vgl. ebd., 9 Vgl. ebd., 7

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http://www.byungchulhan.de/buecher.html


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http://www.byungchulhan.de/buecher.html. 16/12/20

BYUNG-CHUL HAN Byung-Chul Han, geboren in Seoul, ist Autor und Philosoph. Er studierte zunächst in Korea Metallurgie, dann Philosophie, Germanistik und Theologie in Freiburg, Breisgau und München. Nach seiner Habilitation lehrte er Philosophie, Medientheorie und Kulturwissenschaften an der Universität in Basel, HFG Karlsruhe und der Universität der Künste Berlin. Er schrieb über 20 Bücher, die sich hauptsächlich mit der westlichen als auch fernöstlichen Kultur und Philosophie beschäftigt, unter anderem wissenschaftliche Arbeiten über Heidegger bis hin zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen im Hinblick auf den Menschen und die Wahrnehmung. Seine Bücher wurden mittlerweile in mehr als 20 Sprachen übersetzt. 01 079–080


SPRACHE MACHT Sprache und Macht - eine Dialektik die oft zusammen gedacht wird. Worte können Kriegserklärungen sein, diskriminieren, manipulieren. Sie sind politische Instrumente, derer sich auf verschiedenste Weise bedient werden kann. Doch frei von der Idee Sprache sei Macht gilt zweifellos Sprache macht. Sprache macht Kultur, Sprache macht Beziehungen, Sprache macht Wirklichkeit - sie macht Welt. Durch sie erschließen wir uns die Wirklichkeit, sie „bringt die Welt auf den Begriff“ 01. Sie ist immer eine ungenaue - scheinbar präzise - Darstellung von dem was wir meinen, denken, fühlen oder machen. In der stetigen Abhängigkeit von den Worten, die wir dafür finden, was wir ausdrücken wollen. Vor allem abhängig von den Worten, die uns unsere bediente Sprache für uns bereit hält. Sprache als Instrument zu betrachten, welches wir nutzen um uns zu äußern - unsere Wahrnehmungen, Erfahrungen, Wissen zu teilen - ist dennoch wieder reziprok zu denken. Sprache bestimmt nicht nur unseren Ausdruck, sondern auch unsere Wahrnehmung. Die Sprache steckt uns mit ihren Wörtern ebenso eine Art Rahmen durch die wir Dinge benennen als auch verstehen können, wenn sie uns in Form von Begrifflichkeiten benannt werden. Wenn dir etwas ein Begriff ist, dann ist es dir vertraut, du verstehst es, vor allem aber bist du mit dem sprachlich konstruierten Rahmen vertraut, der dir hilft das Gehörte einzuordnen. Wie abertausende einzelne Gucklöcher, die versuchen, die gesamte Welt zu erfassen, so aber auch Standpunkte festhalten, die nicht immer alles - durch eben eine Sprache - beschreiben können.


Besonders auffällig ist dies, wenn sich der fernöstlichen Sprachraum - in diesem Fall der japanischen Sprache - beschäftigt. Die bildhafte Sprache der japanischen Schriftzeichen macht eine ganz neue Welt der Bedeutungen auf. Sie beschreiben Dinge, Zustände, Gefühle, die sich nicht in eine westliche Sprache übersetzen lassen. Es werden Beziehungen und Zusammenhänge benannt die in den westlichen Sprache keinen Platz haben, da sie nicht in einen Begriff passen. Der entscheidenede Punkt hier ist allerdings, dass dies nicht zu heißen hat, dass diese deswegen nicht existieren. Es bezieht sich hierbei weniger auf konkrete Benennungen von physischen Gegenständen, als auf Beziehungen, Haltungen, Sichtweisen. Ein sehr anschauliches Beispiel ist der japanische Begriff 間 (ma). Für ihn gibt es eine Vielzahl an deutschen Wörtern, die versuchen sich diesem Begriff zu nähern, doch kein Wort erfasst ihn in seiner eigentlichen Bedeutung. Ein Wort, dass sich auf Raum und Zeit gleichermaßen bezieht und die ganze japanische Sprache und Kunst durchströmt. 02 Es ist ein Wort, durch dessen Verständnis sich ein neue Welt der traditionelle, japanische Kunst öffnen kann, einem vertraut wird, allein durch die Auseinandersetzung mit einer Begrifflichkeit.

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Bevor der Begriff des ma nähere Erläuterung findet soll an dieser Stelle die Brücke geschlagen werden zu dem Thema des Raumes und der Architektur. Um diese Funktion der Sprache als Rahmen zu verstehen, kann man die Sprache beispielhaft mit einem Raum, einer Architektur, gleichsetzen. Bildhaft gesprochen, greifen die Wörter einer Sprache nach der Wirklichkeit, so wie die Architektur versucht Raum zu fassen, zu rahmen. So abstrakt, subjektiv und flüchtig wir die Wirklichkeit in diesem Zusammenhang sehen, so fällt es eventuell auch leichter das Bild von Raum zu verstehen und somit auch die Leere. Das Benutzen und Verstehen von Sprache, Raum und auch Leere als eine erlernte Sinnkonstruktionen zu verstehen, und als vieldimensional zu verstehen, führt zu einer tiefgründigen Hinterfragung der eigenen Wahrnehmung und öffnet das Sichtfeld für Fremdes. Als Grundlage einer solchen Abstraktion in der westlichen Philosophie, spannte Martin Heidegger eine neue Theorien zu diesem Thema auf. Er entfernte sich bewusst von den gängigen Begriffen, wie beispielsweise Platon, welcher laut Heidegger versuchte „die Welt im Ganzen immer nur mit anderen Namen [zu] bezeichnen [...], anstatt die Erfahrung von Weltlichkeit zu denken“.03 Sprich weg von den Kategorisierungen und den Schubladen, hin zu einer „universellen Abstraktion“. Heidegger hatte eine besondere Sichtweise, die für die Menschen im Westen oft schwer zu verstehen ist. Durch seine frühe Auseinandersetzung mit den fernöstlichen Philosophien, denkt er diesen ultimativen Raum und nennt ihn Weltlichkeit. In Japan wurden dagegen seine Texte intuitiver verstanden. Der Japaner Tana-


be Hajime - der erste Übersetzer Heideggers Werke - erklärte in einem Buch es würde ihn verwundern, dass die Europäer in Heideggers Theorien ein nihilistischen Gedankengut sehen, wobei für ihn klar ist, dass er hier von der Leere spricht. Er sagte Leere sei der „höchsten Namen für das, was Sie [Martin Heidegger] mit dem Wort Sein sagen möchten“. 04 Heidegger schlug mit seinen Philosophien also die Brücke zwischen dem Westen und dem Fernöstlichen, verband diese allerdings immer wieder mit dem sehr westlichen Begriff des Wohnens worauf diese Arbeit zwar nicht genauer eingehen wird - doch bezogen auf die Sprache wird dies sehr spannend. Er sagte die Sprache sei das „Haus des Seins“. Beeinflusst hier durch das Altgriechische in dem es heißt: „[D]ie Griechen wohnten in diesem [versammelten] Wesen der Sprache. Wohnen sei demnach immer schon Sprache und Sprache immer schon Raum, weil gemeinschaftsstiftend.“ 05 Es wird erkannt, dass Sprache sich wie Raum verhält und das sie macht. Und unter der Annahme, dass man eine neue Sprache sprechen lernen kann und muss um sie zu verstehen, so kann man vielleicht auch ein neues Raumverständnis erlernen, um anders auf die Welt zu schauen.

ZWISCHENFAZIT Eins ist bei diesem Zusammenhang klar und das erkannte auch Heidegger: „Wenn der Mensch durch seine Sprache im Anspruch des Seins wohnt, dann wohnen wir Europäer vermutlich in einem ganz anderen Haus als der ostasiatische Mensch.“ 06 An diesem Punkt stellt sich natürlich die Frage, wie denn wohl unser Haus aussieht - nicht nur sprachlich, sondern auch räumlich - und ob sich Raum übersetzen lässt. 083–084


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Josef Klein (2010) Sprache und Macht In: https://www.bpb.de/ apuz/32949/sprache-und-macht 06/12/20 Ingrid Fritsch, Distanz, Aura, Differenz, „Zwischenräume“ in der japanischen Kultur, 1 Jörg Dünne + Staphan Günzel (2006) Raumtheorie - Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: suhrkamp Verlag, 116 Rolf Elberfeld, Heidegger und das ostasiatische Denken Annäherungen zwischen fremden Welten In: Dieter Thomä (2013) Heidegger Handbuch - Leben - Werk - Wirkung: Stuttgart + Weimar, Verlag J.B. Metzler, 470 Jörg Dünne + Staphan Günzel (2006), 120 Rolf Elberfeld, In: Dieter Thomä (2013), 469

Mitschrift aus dem Film Tokyo Ride von Ila Bêka + Louise Lemoine

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TOKYO RIDE Ryue Nishizawa, der in Tokyo Ride ebenfalls die Paralelle von Sprache und Architektur zog, erklärte anschaulich, was für ihn die kulturellen Unterschiede zu japanischer, beziehungsweise - wie er es nannte - ozeanischer Architektur und kontinentaler Architektur (Europa als auch China) sind. Er sprach den Beiden von Grund auf ein andere Erscheinung zu, in dem er sie zweier unterschiedlicher Wortfamilien zu teilte, den Nomen und den Verben. Die kontinentale Architektur beschrieb er schon zuvor, als sehr stark und brutal, und die Art des Bauens sei, wie als wenn man Nomen auf einander stabelt. Als würde er von einer Art Standhaftigkeit sprechen, die eines starken Wesens. Sehr logisch sei alles aufgebaut, ablesbar, klar definiert. Das Japanische indes strebt nach dem Vergänglichen, alles sei in Bewegung, wie der Ozean, fließend, unbestimmt, grenzenlos. Diese - für die Menschen in Japan so wichtigen - natürlichen Prozesse, lassen sich nicht durch Nomen, sondern nur durch Verben, beschreiben. Die nachfolgenden Seiten sind Mitschriften aus dem Dokumentarfilm Tokyo Ride in dem Louise Lemoine und Ila Bêka den Mitbegründer von SANAA Ryue Nishizawa interviewen während sie mit ihm eine Spazierfahrt durch seine Heimatstadt Tokyo machen, und ihm seine Sicht auf die Stadt und das Leben seine Wahrnehmung erklären lassen. 085–086


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Ila Bêka + Louise Lemoine, „tokyo ride“ with ryue nishizawa, 42:33 bis 43:35 In: https://www.designboom.com/architecture/interview-beka-lemoine-tokyo-ride-ryue-nishizawa-12-04-20,20/, 13/12/20



DO YOU ENJOY? ARE YOU HAPPY? OLD JAPANESE PEOPLE FEEL SOME DIFFICULTY WHEN THEY MEET THIS SITUATION, WHEN PEOPLE EAT DINNER, AND EUROPEAN PEOPLE ASK TO JAPANESE: „DO YOU ENJOY? ARE YOU HAPPY?“ WE DON‘T HAVE THIS KIND OF CONCEPT. IN EUROPE PEOPLE NEED TO EXPRESS THEIR FEELINGS ALL THE TIME. HAPPY OR NOT HAPPY. 80% HAPPY OR NOT. BUT JAPANESE DON‘T HAVE THIS KIND OF SENSE. I APPRECIATE VERY MUCH EUROPEAN CULTURE, BECAUSE PEOPLE ARE STRONG. AND VERY BRUTAL. THE WAY PEOPLE BEHAVE AND THEN THE CITIES.....VERY STRONG, AND THE ARCHITECTURE TOO IS VERY STRONG. LIKE LE CORBUSIER. I‘M REALLY AMAZED BY HIS WAY TO CREATE ARCHITECTURE. IT‘S VERY BRUTAL. IT‘S A KIND OFF ADDITION. HE ADDS ON..... IT‘S LIKE..... HISTORY OFF.....ROMAN CITY. THE EUROPEAN HISTORY IS ABOUT NEW THINGS BUILT ON OLD THINGS. IT‘S LIKE THE HISTORY OFF ADDITION. THE WAY THEY ADD THINGS ON SOMETHING OLD, IS VERY STRONG AND BRUTAL. AND ARCHITECTURE IS VERY MONUMENTAL IN EUROPE. THIS IS SOMETHING I AM REALLY IMPRESSED BY. THE CITY IS MADE OF MONUMENTS. WHEN A HISTORICAL POET APPEARS IN THE CITY, PEOPLE CELEBRATE HIM GIVING HIS NAME TO A STREET. EACH STREET, EACH TEMPLE OR HOUSE IS A KIND OF MONUMENT, IN THE


EUROPEAN CITY. SO WHEN YOU WALK IN A CITY IN EUROPE, THEY UNDERSTAND THE HISTORY, THEY UNDERSTAND HOW THE CITY HAS BEEN MADE. THAT´S A REALLY GREAT WAY TO MAKE A CITY. WE BELONG TO ANOTHER CULTURE, COMPARED TO YOU. YOU MAKE WALLS TO DEFINE A CITY..... IN OUR CASE, THERE IS NO BORDER BETWEEN CITY AND NATURE. IT‘S ALL TOGETHER. THAT‘S REALLY DIFFERENT, I THINK.

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Ila Bêka + Louise Lemoine, „tokyo ride“ with ryue nishizawa, 45:20 bis 46:02 In: https://www.designboom.com/architecture/interview-beka-lemoine-tokyo-ride-ryue-nishizawa-12-04-20,20/, 13/12/20

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IN EUROPE, WE BUILT THE SOCIETY AROUND THE INDIVIDUAL. YES, EXACTLY! INDIVIDUALISM. BUT, HERE WE ARE NOR INDIVIDUALISTS. WE ARE MORE..... HOW DO YOU SAY?

COMMUNITISM? (LAUGHING) IT‘S NOT COMMUNISM BUT..... COMMUNISM NEEDS LAWS AND REGULATIONS. HERE, WE DON‘T NEED REGULATIONS. MORE NATURE, HERE, I THINK. THAT‘S A NATURE THING. THE CITY IS LIKE A LANDSCAPE..... IT‘S LIKE A JUNGLE, GROWING SO MUCH. (45:22 - 48:39)

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Moriyama Houses by Ryue Nishizawa Ila Bêka + Louise Lemoine, „tokyo ride“ with ryue nishizawa, In: https://www.designboom.com/architecture/interview-beka-lemoine-tokyo-ride-ryue-nishizawa-12-04-20,20/, 13/12/20


OCEAN ARCHITECTURE. VERSUS CONTINENT ARCHITECTURE. OCEAN ARCHITECTURE MEANS LIKE ARCHIPELAGO..... COUNTIRES LIKE JAPAN OR INDONESIA, THESE ARE COUNTRIES AND CULTURES OF THE OCEAN. THE EUROPEAN ARCHITECTURE BELONGS TO THE CONTINENT CULTURE. CHINESE TOO..... THEY ARE REALLY FOR ME, LIKE NOUN..... NOUN. THEIR LANGUAGE IS REALLY MADE OF NOUNS, LIKE BRICKS STUCK ON EACH OTHER. IT‘S VERY LOGICAL, THE RELATION BETWEEN EACH PART. IT‘S REALLY.....NOUN. BUT JAPANESE AND SOUTH ASIAN ARCHITECTURE, IS MORE LIKE VERB, I THINK. IN THE LANGUAGE THAT THEY USE. MORE..... HOW DO YOU SAY? ELUSIVE. MORE LIKE..... MOVING. A MOVING FEELING. THIS IS REALLY..... I‘M ALWAYS AMAZED..... BY EUROPEAN AND CHINESE ARCHITECTURE, WHEN I SEE SOME. BECAUSE OF THE WAY THEY CONSTRUCT ARCHITECTURE. IT‘S REALLY....NOUN! (LAUGHING) A NOUN STUCK ON IT. YOU KNOW WHAT I MEAN? THIS IS VERY IMPRESSIVE FOR ME. JAPANESE PEOPLE, LIKE JAPANESE POETS, TRY TO DESCRIBE SOMETHING MOVING. LIKE SEASONS. THEY TRY TO DESCRIBE THE SEASONS, BECAUSE IT‘S GOING AWAY. IT NEVER STAYS THE SAME. IT‘S NOT POSSIBLE TO DESCRIBE IN A NOUN WAY. SO VERB IS ONE OF THE MOST IMPORTANT INVENTIONS, FROM THE OCEAN CULTURE. LIKE THE OCEAN....THERE IS MOVEMENT AND A WAVE IN THE CLIMATE. IT‘S LIKE A BIG ROTATION. (1:21:54 - 1:24:59)

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STADT


DIE EUROPÄISCHE STADT Als Mensch mit westlicher Sozialisierung, der sich bislang nur in europäischen Städten aufgehalten hat, wird man unsensibel für kulturelle Unterschiede und Prägungen. Umso bereichernder war für mich die Meinung des in Japan lebenden Ryue Nishizawa aus Tokyo Ride. Es offenbarte für mich, wie europäische Stadt auch zu verstehen ist und wie bestimmend wir mit unserem städtischen gebauten Raum umgehen. In dem Interview beschreibt er seine Faszination für die Stadtarchitektur in Europa und seinen Vergleich zu der japanischen Stadt. Ein hervorragendes Beispiel, um die europäische Stadt zu verstehen, ist Berlin. Vor allem aber die Diskussion um den Städtebau nach der Wende. Hans Stimmann war zu dieser Zeit Senatsbaudirektor in Berlin und entwickelte mit seinem Gutachter Dieter Hoffmann-Axthelm ein „Normalisierungsprogramm“ für Berlin. Das folgende Zitat von Hoffmann-Axthelm von 1992 beschreibt anschaulich, welcher Kurs zu der Zeit in den Berliner Stadtplaungsämtern gefahren wurde und was dort als normal für eine europäische Stadt angesehen wurde, was Berlin allerdings, aufgrund der teils gigantischen Freiflächen durch Krieg und Teilung, nicht entsprach. Er hielt also fest: DAS BERLINER ZENTRUM IST WEITGEHEND EINE LEERSTELLE. [...] WIR MÜSSEN SIE [...] WIEDER MIT GESCHICHTE FÜLLEN, MIT PRÄZISEN ERINNERUNGEN. 01 Mit ihrem Planwerk Innenstadt kritisierten sie die Stadtplanung der Nachkriegszeit als „geplante Abschaffung der historischen Stadt“ und fordern eben diese „Rückkehr


zu einem Minimum europäischer Normalität“. Die Norm der europäischen Stadt, die Berlin zu dieser Zeit zu erfüllen hatte um das Potential einer neuen, einenden Hauptstadt zu haben, berief sich also der Mittel der kritischen Rekonstruktion. Auf gebaute Geschichte, die versucht Erinnerungen mit dem (neu) gebauten wach zu rufen, die es allerdings so nie gab. 02 „Die Herstellung einer gegenwartsgerechten Vergangenheit“03. Es geht also viel um Gedankenkonstrukte, die einen ablesbaren (historischen) Wert suggerieren sollen. Offensichtliche Zuweisungen von Legitimation durch Bestimmtheit der Architektur. Es scheint nach Ryue Nishizawa extrem auffällig zu sein, dass in einer europäischen Stadt alles einer Bestimmung zugesprochen bekommt. Es ist der ständige Umgang mit historischem Kontext, der das Planen, aber auch das Begehen und Wahrnehmen, einer Stadt prägt. Die Geschichte der Stadt ist ablesbar und zwar in jeder Straße die den Namen einer wichtigen Person trägt, die hier geboren ist, jedes ehemaligen Klostergebäudes, das eine Informationstafel an der Hauswand trägt. Alles hat Bedeutung (zu haben). 01 02 03

Michael Falser (2020): Stadtumbau Berlin nach 1990 und der Neomythos der Geschichte. In: Arch+ Nr. 241, 12/2020, 24-35, hier:29 Vgl. ebd. ebd.

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Retrospektive Gebäude in Berlin, Bildessay Daniel Poller (2019), Berlin nach `89

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https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Ausstellung_zur_Stadtentwicklung_ seit_1989_6996256.html 17/03/21


BERLIN IST EINE STADT DER LEERRÄUME, EINE ANSAMMLUNG DES VERGANGENEN UND DES ZUKÜNFTIGEN. 01


DIE LEEREN BERLINS Berlin gilt als Schauplatz der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts. Durch den Zerfall des Kaiserreiches und des wilhelminischen Bürgertums um 1918 öffnete sich der Platz für die Moderne, die eine Vorstellung eines neuen, gesunden Stadtlebens versprach. Dieser architektonische Fortschritt wurde jedoch rasant von dem Nationalsozialismus überrollt und zerstört. Das dritte Reich ließ in jeglicher Form einen Trümmerhaufen zurück. Es produzierte Leere auf der schlimmsten Form von Abwesenheit. Die Leere Berlins 1945 muss eine der schmerzlichsten und bedeutungsgeladensten Erfahrungen von Leere sein, die einer Konfrontation glich und sich im geteilten Berlin zu einem monumentalen Zustand festigte. 02 Wim Wenders zeigte in Himmel über Berlin (063– 064) die Stadt zur Zeiten der Teilung. Die Weite der Leerräu-

me durchfrisst die Stadt und steigert sie auf einen unmenschlichen Maßstab. Die temporäre Aneignung der Leerräume durch das Zelt eines Wanderzirkus, in dem ein Großteil des Filmes abgedreht wurde, ist mit einer gewissen Melancholie verbunden. Die Leere scheint hier nicht ermutigend, sondern ernüchternd - unbefüllbar, aufgrund anwesender Abwesenheit. 099–100


Mit dem selben Gefühl der Lähmung durch diese Abwesenheit, gründete sich in den 1980er-Jahren die Gruppe 9. Dezember mit Mitgliedern wie Dieter Hoffmann-Axthelm, die mit der Charta für die Mitte Berlins eine neue „Zulassung von Normalität“ forderten. Und die - für sie - nicht zu erkennenden Potenziale mit gründerzeitlichen Stadtentwürfen zu überbauen versuchten. Diese gegenwartsgerechte Vergangenheit wurde für eine „vielvergewaltigte Stadt“03 gesucht und in den öffentlichen Diskurs geholt, anstatt an einer Heilung der Wunden und einer Akzeptanz der „Vergewaltigung“ zu arbeiten. 04 Die Situation hat sich verlaufen, Berlin ist gewachsen, oder eher gewuchert. Die Leerräume wurden besetzt. Berlin versucht Metropole zu sein, eine in der durch ihrer Diversität alles möglich erscheint. Das was sie ihren Besuchenden vermittelt scheint sie auch noch zu sein, jung und auf der Suche nach sich selbst. 05 In ihr brodeln noch immer ungelöste Konflikte von verschiedensten stadtplanerischen Entwürfen. Aber auch das stetige Schrumpfen und Wachsen und der Wechsel aus Beschleunigung und Verlangsamung der Stadtentwicklung, geschuldet durch diverse Strukturwandel und einem hin und her aus Land- und Stadtflucht in dem letzten Jahrhundert tragen ihre Verantwortung an der fehlenden Kontinuität dieser Stadt. 06 So erschließt sich Richard Shustermans „Idee, dass Abwesenheiten ein wesentliches Strukturprinzip von städtischer Ästhetik im Allgemeinen sein könnten, ein paradoxer Teil ihrer Ökonomie der Fülle“ 07 als eine logische Erkenntnis aus dem heutigen Zustand einer so prozess-unterliegenden Stadt wie Berlin.


Es sollte in ihrer „Selbstverständlichkeit von Leere als organisatorisches Zwischenstadium innerhalb eines Transformationsprozesses“ 08 gesehen werden. Ein Nebenprodukt von sozialen - aber auch ökonomischem - Wandel, das meist auch unvermeidlich ist. In der heutigen Situation ist die Leere allerdings immer mehr zum Problem geworden. Produziert und zu gleich problematisiert durch die ökonomische Situation unserer Gesellschaft, in der Leere meist mit wirtschaftlicher Schwäche verbunden wird, als auch der generelle Drang nach Bestimmtheit und klaren Sinnzusammenhängen in einer europäischen Stadt, lässt die Angst vor der Leere in uns eindringen. 09

01 02 03 04 05 06 07 08 09

Philipp Oswalt (2000) Berlin_Stadt ohne Form, Strategien einer anderen Architektur. München: Prestel Verlag, 59 Vgl. ebd., 59 Zitat Dieter Hoffmann-Axthelm In: Michael Falser (2020): Stadtumbau Berlin nach 1990 und der Neomythos der Geschichte. In: Arch+ Nr. 241, 12/2020, 24-35, hier: 27 Vgl. Michael Falser (2020): Stadtumbau Berlin nach 1990 und der Neomythos der Geschichte. In: Arch+ Nr. 241, 12/2020, 24-35, hier: 27 Vgl. Philipp Oswalt (2000), 59 ebd, 60 Richard Shustermann (1998): Ästhetik der Abwesenheit. Der Wert der Leere. Pragmatische Überlegung zu Berlin, In: Lettre International, Winter 1998, S.30ff Christine Dissmann (2011): Die Gestaltung der Leere. Bielefeld: transcript Verlag, 30 Vgl. ebd. 31

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Topographie des Terrors, Berlin 2019 ∆ 1948 ∆ John Davies, In: The Freedom Of Berlin (2019) In: https://www.michaelhoppengallery.com/usr/library/documents/main/123/john-davies-berlin-ft-3-.pdf, 18/01/21


© „Polenmarkt“ am Potsdamer Platz, 1990 http://www.thomasgrenz-fotografie. de/2016/11/11/bilder-sammeln-0128/

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Gemüsegärten im Tiergarten, Berlin 1947 https://www.pinterest.de/ pin/626844841870904583/, 18/01/21


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BERLIN: EIN GRÜNES ARCHIPEL Entgegen dem Weg der Rekonstruktion gab es auch Ideen, die mit der Krise Berlins anders umgehen wollten. Eines der jüngsten großräumlichen Visionen unserer Zeit lieferten 1977 Oswald Mathias Ungers zusammen mit Rem Koolhaas. Sie erkannten Berlin als ein polyzentrales Konstrukt, bestimmt durch ihre Frei - beziehungsweise Grünflächen. Sie stellten sich Berlin als ein „Städtearchipel in einer grünen Naturlagune“ 01 vor. Die Grünflächen, die Berlin durchziehen werden hier als abstrakte Objekte dargestellt, die an Spielzeuge erinnern. Diese Darstellung macht das Potenzial dieser Freiflächen als Spielräume deutlich und lässt so eine neue Lesart einer Stadt und eine andere Betrachtungsweise zu. 01

Vgl. Casper Cepl (2013) Die Stadt in der Stadt. Berlin: ein grünes Archipel Bauwelt.de In: https://www.bauwelt.de/themen/ buecher/Die-Stadt-in-der-Stadt-Ungers-2112316.html 30/03/21

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DIE KONSUMIERTE STADT Die Frage nach der Zukunft der Stadt, hier besonders bezogen auf die der Innenstädte, steht derzeit vor einem großen programmatischen Umsturz. Die Innenstädte in ganz Deutschland leben von der Präsenz von großen Mode- und Einzelhandelsketten, die das innerstädtische Bild maßgeblich prägen. Ein Besuch in der Innenstadt beschränkt sich meiste auf dem Kauf von neuwertigen Waren oder einem Schaufensterbummel in Kombination mit dem eventuellen Besuch eines Cafés oder eines Schnellrestaurants. Es bleibt wenig bezahlbarer Raum für andere Nutzungen. In manchen Städten haben sich die Quadratmeterpreise in den letzten zwanzig Jahren fast verzehnfacht. 01 Parallel ist jedoch, schon seit längerem, zu beobachten, dass das Bedürfnis nach Konsum immer mehr durch Online-Shopping und erfolgreiche Versandhäuser abgelöst wird. Die großen Modeketten haben dies schon längst wahrgenommen und sich frühzeitig in die Online-Vermarktung ihrer Produkte eingebracht. Die Ladenlokale, an meist sehr präsenten Orten, folgen so vorrangig einer Marketingstrategie und versprechen mit ihren vielen Sonderangeboten, wie Winter-/Sommerschlussverkäufen, ein Ort für besonderes gute Angebote zu sein. Dieses Vorgehen der sogenannten „off-price-strategy“ 02 scheint derzeit noch lukrativ, da selbst OnlineKetten wie Zalando, innerstädtische Verkaufsräume für sich


zu nutzen, um die Kundschaft noch direkter zu erreichen. Das Konzept einer Outlets in der Stadt geht auf, doch verdrängte, durch die somit enorm günstigen Preise, mit ihrem Angebot lokale Warenhäuser immer weiter. Die Innenstädte werden immer mehr zu Showrooms der Big-Player und der Besuch einer Einkaufsstraße zu einem Schnäppchenmarathon. Es stellte sich also schon länger die Frage, wie sich die Innenstädte unter der Konkurrenz des breiteren Angebots des Online-Marktes noch Tragen können und wie diese Entwicklung wohl weiter gehen wird, angenommen der Handel entweicht immer weiter in das Digitale. Vielleicht irgendwann sogar vollkommen. Doch geht das überhaupt?

(CORONA) - KRISE Die Lockdowns des Einzelhandels während der Corona-Pandemie zwang uns - zwangsläufig - diese Erfahren zu machen. Alle Formen von Konsum, der nicht als (über-) lebenswichtig oder systemrelevant galt, wurden ausnahmslos geschlossen. Die Innenstädte wurden stillgelegt. Die Menschen mussten herausfinden Was brauche ich gerade wirklich?, Was nicht? und vor allem Was kann ich alles im Internet bestellen?. Die Versandhandel steigerte deren Umsätze um zusätzliche 32 Prozent alleine von April bis Juni 2020 03 und das versandte Paketvolumen überstieg bisherige Rekorde. 04 Dies machte zwar auf viele Probleme und die Arbeitsbedingungen von Paketliefernden in der Versandbranche aufmerksam, doch zeigt auch was eigentlich alles online erledigt werden kann und welche Produkte wirklich die direkte, physische Interaktion mit ihnen in einem Laden erfordern. 109–110


ZUKUNFTSKONZEPTE Der Soziologe Klaus Schmierl, der eine nahezu vollkommene Transformation zum Online-Handel als realistisch hält, malt in dem Podcast der tagesschau „mal angenommen“ wie man sich den Handel dann vorzustellen hat. Auch er geht davon aus, dass nicht jedes Produkt nur online zu vermarkten ist und ein physischer beziehungsweise sinnlicher Kontakt erforderlich ist, beispielsweise Parfum oder Wein. Doch dies sollte eher als eine Art Verkostungsraum oder Beratungsstelle zu sehen sein mit einem eventuell ergänzten Lagerraum, von dem aus die Produkte dann versand werden können. Das Konzept einer überdimensional teuren Ladenfläche, deren Preise derzeit unaufhaltsam zu steigen scheinen, in dem „die Produkte in großer Anzahl brach liegen“ würden, sei extrem ineffizient. Diese Depots würden sich daher auch sehr viel eher in die umliegenden Wohngebiete zerstreuen und die großzügigen Ladenflächen hätten im Laufe dieser Entwicklung ihre Berechtigung verloren. 05 Mit den möglichen programmatischen Zerfall der Innenstadt als Konsumort, müssen sich ganz neue Fragen gestellt werden und vor allem das Phänomen Innenstadt neu gedacht werden.

HANDEL ALS URSPRUNG Doch ist dies so einfach? Geschichtlich gesehen, hat sich die Stadt seit jeher um den Handel und die Warenproduktion herumgebaut, Metropolen entstanden aufgrund der günstigen Kombination aus Produktions- und Kaufkraft, welches sich in der Nachkriegszeit zu einer Akkumulation um


die Bedürfnisse einer Konsumgesellschaft entwickelte. Mit dem Kaufhaus als Sinnbild dieser Gesellschaft, was nicht nur Konsum, sondern auch Geschlechterrollen betrifft, wie es in „Paradis der Damen“ von Émile Zola schon Ende des 19ten Jahrhunderts reproduziert wurde. 06 So kann sich - wie es Niklas Maak tut - die Frage gestellt werden: WIE BAUT MAN EINE STADT UM EINE FORM VON PRODUKTIVITÄT UND HANDEL HERUM, DIE GRÖSSTENTEILS ONLINE STATTFINDET UND SICH IM STADTBILD NUR IN KLEINEN LIEFERWAGEN UND GESTRESSTEN PAKETBOTEN MANIFESTIERT, DIE MORGENS BRAUNE KARTONS AN DIE TÜR LEGEN? WAS SOLL IN ZUKUNFT IN DEN GROSSEN UND KLEINEN LEEREN LÄDEN STATTFINDEN? 07 Wozu wir zu einem weiteren Nebeneffekt der Corona-Krise kämen. Durch den Lockdown im Frühjahr 2020 blieben eben nicht nur die Läden in den Innenstädten dicht, sondern auch Kulturort - wie Museen oder Bühnen -, Begenungsräume - wie Cafés oder Sporthallen -, sowie jegliche Abendunterhaltungen. Das Leben verzog sich hier schon - wie von Niklas Maak beschrieben - immer weiter ins Internet. Doch für viele, die die Möglichkeit hatten, eben auch aufs Land, raus aus der Stadt. Denn es stellte sich hier nicht nur die Frage Was kann ich alles im Internet bestellen?, sondern auch Was bietet mir die Stadt eigentlich? Und Was bietet sie mir, was ich nicht im Internet konsumieren kann? Und genau das ist es, was sehr viele Menschen in der Zeit von Verzicht auf soziale Kontakte, kulturelle Bildung 111–112


und abendlichen Alkoholkonsum, merken. Es fehlt ihnen, das, was für sie Stadt ausmacht, und warum sie hier, statt auf dem Land, sind. Ohne dies erscheint die zeitgenössische Stadt nur eng und potenziallos, während das Land die Weite und die Chance auf Aneignung widerspiegelt.

DIE ERLEBNIS-LÖSUNG Als Lösung des Problems der verödenden Stadt spricht die Politik - konkret der deutsche Wirtschaftsminister Altmaier - von der neuen Innenstadt als Ort der „Erlebnisräume“ 08. Hierdurch soll die innerstädtische Gastronomie gestärkt werden und ein Besuch das „Erlebnis der Urbanität“ vermitteln. Doch leider scheint dieses Konzept nur wie eine Umrüstung auf die vermeintlich noch starke wirtschaftliche Struktur, des Gastronomiegewerbes. Es soll ein „Ort der Begegnung“ werden. Doch wer soll sich hier begegnen in einer Ansammlung aus Café-Stühlen? Es geht hierbei auch um eine Stadtplanung die mit Zuordnungen und -teilung von Stadt umgehen muss. Doch wer entschiedet hier, dass Innenstadt weiterhin ein Konsumort bleiben soll statt Wohnraum, Arbeitsplatz, Produktionsstätte, Sportplatz, Spielraum...?


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Niklas Maak, Die Läden dicht, alle Fragen offen, Frankfurter Allgemeine 28/08/20 In: https://www.faz.net/-gsf-a2t5q 29/08/20 Jack G. Kaikati, Don‘t Discount Off-Price Retailers, Harvard Business Review, 05/85 In: https://hbr.org/1985/05/dont-discount-offprice-retailers, 16/01/21 Statistisches Bundesamt, Online-Handel ist klarer Krisengewinner, Tagesschau.de, 05/10/20 In: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/ online-handel-109.html 11/01/21 Lea Wertheimer, Corona + Cyber Week = Paketrekord, Post-Medien, 06/11/20 In: https://post-medien.ch/corona-cyber-week-paketrekord/ 11/01/21 Vgl. ARD-Hauptstadtstudio Sophie von der Tann + Marcel Heberlein, tagesschaupodcast - mal angenommen, Interview mit Klaus Schmierl, 28/05/20 In: https://www.tagesschau.de/multimedia/podcasts/malangenommen-online-shopping-101.html, 11/01/20 Vgl. Niklas Maak, Die Läden dicht, alle Fragen offen, Frankfurter Allgemeine 28/08/20 In: https://www.faz.net/-gsf-a2t5q 29/08/20 Zitat. Niklas Maak, Die Läden dicht, alle Fragen offen, Frankfurter Allgemeine 28/08/20 In: https://www.faz.net/-gsf-a2t5q 29/08/20 Thorsten Mumme, Wie Altmaier die Innenstädte zu „Erlebnisräumen“ machen will, Der Tagesspiegel 20/10/20 In: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/gegen-die-veroedung-der-stadtzentren-wie-altmaier-die-innenstaedte-zu-erlebnisraeumen-machen-will/26292378. html 16/01/21

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WAS IST EIGENTLICH MIT DEM LAND? Vor allem ist dieses Phänomen der konsumierten Innenstadt in ländlichen Regionen abzulesen. HIer werden die Kleinen nicht von den Großen verdrängt, sondern es gibt einfach Keine mehr, die Potenzial in den aussterbenden Innenstädten sehen. Dafür gibt es die Einkaufszentren am Rande der Städte, neu, schnell zu errreichen. Während die innerstädtische Straßenzüge teilweise zur Hälfte leer stehen und Schaufenster nur notdürftig als Werbefläche für bevorstehende Veranstaltungen genutzt werden oder sie werden mit einem Gemälde dekoriert um einer Art „broken-windows“Phänomen entgegenzuwirken. Dies ist eine Theorie die in den 80er-Jahren in amerikanischen Städten wie Detroit angewendet wurden und eigentlich einen exponentiellen Anstieg an Kriminalität durch eingeschlagene Fensterscheiben beschreibt, bei denen noch nicht mal ein Versuch gewagt wird, diese zu reparieren. Gab es nur eins dieser Glasscheiben, konnte in kürzester Zeit ein gesamter Straßenzug wie nach einem Raubzug aussehen. Das Phänomen von eingeschlagenen zerbrochenen Fensterscheiben, ist eins der plakativsten Symbole für die negativste Form der Leere, die Abwesenheit. Eine stark anwesende Abwesenheit, die in Städten wie Detroit, nach dem dortigen Verfall der Automobilindustrie, die gesamte Stadt in ein neues, gedämpftes Licht warf und so zu einem Zeichen von wirtschaftlichen Ruin und abnehmender Kaufkraft wurde. Gegen eine solche Entwicklung helfen zwar kleine Gemälde in Schaufenstern, doch sie sind keine Lösung für eine Entwicklung, die sich in den hinterländlichen Kleinstädten vermutlich mehr abzeichnet als irgendwo sonst.

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KAR-



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Karstadteröffnung Osterstraße, 1951 In: https://www.mopo. © Kaufhaus Rudolph Hertzog 1882 (Illustrirte Zeitung 78, 269) de/hamburg/horten--hertie---co--aufstieg-und-fall-von- In: https://uwe-spiekermann.com/tag/eisenbahn/ (20/01/21) hamburgs-kaufhaeusern-37196698 (24/01/21)

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DAS PHÄNOMEN KAUFHAUS Das Kaufhaus ist seit seiner Entstehung 1852 Sinnbild für die ökonomische Entwicklung in Europa. 01 Gewachsen durch die Mechanisierung und der beschleunigten Produktion von Waren. Durch ein neues Verständnis für erfolgreiche Vermarktung, war es nicht nur Abbild der Ökonomie, sondern vor allem der Gesellschaft - die sich zu einer Konsumgesellschaft entwickeln sollte. Mit der Industrialisierung entwickelte sich in Europa eine neue Schicht, die der bürgerlichen Mittelschicht, die sich immer mehr die Städte zu eigen machte. Meist waren es die Männer, die durch Fabriken oder Handel zu Reichtum gelangen. Die Geburtsstunde des moderne Unternehmers. Für Frauen gehörte es sich zu Hause zu bleiben und sich als patriotische Pflicht den Kindern zu widmen, nicht mal ein Spaziergang zum Friedhof oder zur Kirche war ihnen ohne Begleitung gestattet. 02 Diese konservative Rollenverteilung, ist der Ausgangspunkt des Erfolges des Kaufhauses. Es sollte - wie Émile Zola es in seinem Buch genannt - „Das Paradies der Damen“ werden. Und das wurde es auch. 03


EIN GESELLSCHAFTLICHER WANDEL Die Vermarktungsstrategie war von je her die selbe, es sollte ein Ort geschaffen werden, der das Verlangen selbst verkauft. Dem Gründer des ersten Kaufhauses Europas - dem Bon Marché in Paris - wurde früh klar, wie der Markt funktioniert und dass man die Preise drücken muss um mehr zu verkaufen. Ebenso muss es die freie Entscheidung der Kund:innen sein, ob sie kaufen wollen oder nicht, die offene Bepreisung der Waren durch Schilder weckte Begierden, da einem, nicht mehr wie zuvor, die Waren nach dem gesellschaftlichen Stand angeboten wurden. Jede:r konnte alles kaufen und alles haben. Der sich entwickelnde Reichtum in der Gesellschaft, welcher nicht mehr auf einen Stammbaum oder großzügigen Landbesitz fußte, musste zur Schau gestellt werden. I BUY, THEREFORE I AM. Und die Kaufhäuser wurden zum Aufenthaltsort, zum Safespace für Frauen, Spielplatz der Kinder, Zeitvertreib der Männer, hier wurde ein perfektes Leben verkauft. Was die Kleidung betraf, kam zu einer Demokratisierung der Mode, denn auch die Preise entwickelten sich. Kleidung konnte durch die Erfindung der Nähmaschine immer günstiger produziert werden. Konfektionsgrößen entstanden um mehr vorproduzieren zu können, die Individualität nahm ab. SaisonMode suggerierte den Kund:innen, dass sie alle paar Monate ein neues Kleidungsstück benötigten, da sie sonst „aus der Mode“ seien. Und schließlich ließ die Erfindung der saisonalen Schlussverkäufe die Umsätze auch in den verkaufsschwachen Monaten steigen. 04

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BIS HEUTE Zola beschrieb dies als Metapher der Moderne: eine Maschinerie der Gelderzeugnis. Vieles von diesen Strategien hat sich bis in die heutige Zeit so gehalten, das Kundenklientel hat sich erweitert, die Märkte ins Digitale verschoben, aber die (Globalisierungs-)Maschinerie läuft weiter.

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Economic Sociology and Political Economy Community @EconSociology


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Vgl. Der Tagesspiegel (2009): Geschichte der Warenhäuser, Kathedralen des Handelns In: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/ geschichte-der-warenhaeuser-kathedralen-des-handels/1797958.html 17/01/21 SRF (2014): Die Geburt des Shoppings In: https://www.youtube.com/ watch?v=3cXU059yDRk 17/01/21 Vgl. Helmut Krausser, Émile Zola: Das Paradies der Damen In: https://www.buecher-magazin.de/magazin/besondere-buecher/wiederentdeckte-klassiker/emile-zola-das-paradies-der-damen Vgl. SRF (2014)

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DAS SINNBILD KARSTADT Die Erfolgsgeschichte der deutschen Kaufhäuser entwickelt sich aus der selben gesellschaftlichen Dynamik, wie die des Bon Marché in Paris. Selbst die Lebensgeschichten der beiden Gründer ähneln sich. Beide fingen an mit einem einfachen kleinen Geschäft für Tuch- und Stoffwaren, bis sie erkannten, dass sie erfolgreicher sind als ihre Konkurrenz, indem sie günstigere Ware anbieten, aber dafür mehr verkaufen. 01 1881 öffnete der erste „Karstadt“ in Wismar und expandierte schnell in ganz Norddeutschland. Parallel entwickelten sich auch Kaufhäuser anderer Familien - wie Wertheim, Tietz und die KaDeWe-Gründer Jandorf - die sind in den darauffolgenden Jahrzehnten in ganz Deutschland ausbreiteten und vor allem in Berlin, wo sie die goldenen Zwanzigern berauschten. 02 Durch den Aufstieg des Nationalsozialismus änderte sich allerdings die gesamte Situation. Die Wirtschaftskrise hatte schon einige Unternehmen in den Ruin getrieben und durch die „Arisierungen“ der neuen Besitzer, wurden jüdische Unternehmensfamilien ihres Besitzes enteignet und mussten ins Exil flüchten. Nach dem Wiederaufbau sah die KaufhausDiversität in Deutschland überschaubarer aus. Im Grunde gab es nur noch zwei große Ketten, die heute als Karstadt und Kaufhof bekannt sind. In den 1970ern gab es für diese zwar


einen erneuten Boom, der seit dem allerdings langsam, aber stetig abflachte und zu der heutigen Situation in einer konsumierten Stadt führte. 03

HEUTE Für viele sind die Kaufhäuser noch immer erste Anlaufstelle, wenn es um eine schnelle unkomplizierte Besorgung in der Stadt geht. Der Gedanke eines großen Geschäftes in dem alles zu finden ist - von Nagel bis Bettwäsche - bleibt gewünscht und Grund für einen Besuch. Doch das Angebot kann der Nachfrage oft nicht standhalten. Durch den anhaltenden Konkurrenzdruck von Billigwaren-Häusern in den Innenstädten, entwickelten sich die Kaufhäuser oft zu einer Aneinanderreihung von kleineren Marken-Abteilungen, und verkamen so eher zu einem Ort des Marketings als des Kauferlebnisses. Das Angebot wurde kleiner, die Konsumoase berechenbarer und somit nahm auch immer mehr die Faszination für die Kaufhauskultur ab. Wieder stellt sich die Frage was kann ich alles im Internet kaufen?. Da die Antwort hierauf meist alles! ist, bzw. alles was ich auch im Kaufhaus kaufen kann!, verlor die Idee Kaufhaus immer mehr Strahlkraft.

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EIN SCHUTZSCHIRM ALS DECKMANTEL? Seit 2018 haben sich Karstadt und Galeria Kaufhof zu Galeria Karstadt Kaufhof zusammengeschlossen und wurden von zwei der größten Handelsunternehmen aufgekauft. Zum einen von der Hudson’s Bay Company aus Kanada mit einem Anteil von 49,99 % und der österreichischen Firma Signa Holdings mit dem dominierenden Anteil von 50,01%. Im März 2019 verkaufte HBC allerdings auch komplett an Signa, die nun im Besitz von 79 Warenhäusern, 2 SchnäppchenCentern, 28 Karstadtsports und den jeweiligen Online-Handel-Plattformen galeria.de und karstadtsports.de sind. 04 Signa ist allerdings nicht nur Handels-, sondern auch Immobilienunternehmen und so lässt sich erahnen, dass es hier nicht nur um die scheinbare Rettung eines riesigen Unternehmens geht, sondern primär um die extrem wertvollen, riesigen, innerstädtischen Grundstücke auf denen die Kaufhäuser meist in extrem präsentester Lage stehen. Am 1. Juli 2020 meldete Galeria Karstadt Kaufhof Insolvenz an. Bei diesem Verfahren, dass auch in den Meiden in diesem Kontext als Schutzschirm-Verfahren benannt wird, wird versucht zu retten, was zu retten ist. Doch auch eigentlich profitable Kaufhäuser kündigen Schließungen bis zum Januar 2021 an, nach langfristigen Verhandlungen insgesamt 35 Filialen. Fehlkalkulation wird dem Management vorgeworfen, aber auch der Vorwurf von anderweitigen finanziellen Interessen scheint hier nicht weit. Für viele Standorte gibt es schon neue Pläne, wie Hotels, Büros, kleinere Läden. 05 Investitionsprojekte, von denen sich viel versprochen wird, vor allem neue Einnahmequellen.


Ob das Konzept - ein innerstädtischer Ort an dem alles zu bekommen ist - wirklich überholt ist und keinen Platz in einer Stadt der Zukunft hat oder ob es einfach an einem rückschrittigen Management lag, ist für mich nicht ganz eindeutig.

SINNBILDHAFT Was aber immer klarer wird, ist die Problematik der jetzigen Situation von Einkaufsstraßen mit ihren Ansammlung von Ketten und die Vereinnahmung der Innenstädte durch den Konsum. Die Kaufhäuser hier als Sinnbild. Sinnbild für die heutige Zeit, doch auch Sinnbild für die Geschichte. Die anfängliche Entwicklung ist hier spannend, doch auch der Status den sie in der Zwischenzeit einnahm. Für die ältere Generation war der Besuch einer Großstadt wie Hamburg, dadurch so besonders, dass man selbstbestimmt , mobil mit dem eigenen Auto direkt in das Karstadt-Parkhaus fahren konnte. Über eine Brücke ging’s in die riesige Shopping-Welt, in der man innerhalb der riesigen Auswahl auf die Suche nach sich selbst gehen konnte, definiert durch den eigenen Konsum. Alles effizient, alles schnell. Es war die Vermarktung einer neuen Vorstellung von Stadt und erschien zukunftsweisend. Also heute auch Sinnbild für eine unerwartete Entwicklung von Stadt, eine kollabierende Vision, wie eine Blase die nun zu platzen scheint. Es ist Sinnbild, für einen neuen Abschnitt der Stadtplanung und für eine neue Kultur des Konsums. Doch wie soll sich Stadt entwickeln, was ist nun unsere neue Utopie der Innenstadt, wenn die Autos erstmal verbannt sind und die Geschäfte aus den riesigen Ladenflächen raus rationalisiert sind. Hotels und Restaurants? Für wen? Erlebnis-Ort? 129–130


Was soll man erleben? Urbanität, okay! Aber was ist für uns urban? Es stellen sich enorm viele Fragen, die nicht nur die zukünftige Stadt definieren, sondern auch unsere Kultur und die Art wie wir in Zukunft zusammen leben wollen. Es ist Zeit dafür Raum zu geben, Raum den Menschen, die ihn durch ein drin-sein, durch ein wahrnehmen, erfahren müssen. Leere erfahren müssen, um zu wissen was Abwesenheit bedeutet und was bei der Erfahrung von nicht voll mit dem Richtigen überhaupt das Richtige ist. Raum der zugänglich gemacht werden muss. Aneignung ermöglich. Der Entwicklung Zeit gibt. Für eine Pause, für Stille, für Respekt. Bedenkzeit vor taktlosen Überplanung. ANWESENDE ABWESENHEIT. BESTIMMTE UNBESTIMMTHEIT. VORSTELLUNGSRAUM

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SRF (2014): Die Geburt des Shoppings In: https://www.youtube.com/ watch?v=3cXU059yDRk 17/01/21 Thomas Thieme (2018): Die Pioniere der Kaufhauskultur In: stuttgarter-nachrichten.de, https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt. die-historie-von-karstadt-und-kaufhof-die-pioniere-der-kaufhauskultur.91fe880c-12df-420f-b71b-d4d3f4b58e82.html 18/01/21 Vgl. Thomas Thieme (2018) Brigitte Scholtes (2020): Der Niedergang von Karstadt Kaufhof In: zdf. de, https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/galeria-karstadt-kaufhof-chronologie-100.html 19/01/21 Vgl. Heike Löhrer (2020): Mode-Kette „Sinn“ löst Karstadt-Kaufhof ab In: https://meine.rheinische-anzeigenblaetter.de/bruehl/c-lokales/mode-kette-sinn-loest-karstadt-kaufhof-ab_a8692


... AUF ZEIT.

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INNENSTADT MÜNSTER Mit dem Wiederaufbau der Innenstadt, welche während des zweiten Weltkrieges beinahe komplett zerstört wurde 01, baute sich Münster eine alte-neue Identität. Der Prinzipalmarkt ist mit seinen repetitiven Bogengängen und seinem einheitlichen Bild aus sandsteinernen, spätmittelalterlichen Giebelhäusern beliebtes Fotomodell und schmückt seither die Postkarten der kleinen Ladenlokale im Erdgeschoss. Es wirkt - genau wie der Rest des Innenstadtkerns Münsters in sich geschlossen und final. Die alten Stadtmauern sind zu einer begrünten Fahrradpromenade umgeplant und umspannen eine engbebaute und lückenlose Stadt, in der ein bedeutungsgeladenes Gebäude das Nächste ablöst. Die Historie der Stadt ist in jedem Winkel ablesbar.


Neben den unzähligen Kirchen, strahlen auch kulturelle Einrichtungen, wie das LWL und das Picasso-Museum, oder die Stadt- und die Universitätsbibliotheken, eine Präsenz aus. Trotz der großen Beliebtheit und Aufenthaltsqualität, ist abends die Innenstadt doch meist wie leer gefegt. Der Aufenthalt beschränkt sich meist nur auf ein Schlendern oder das Einkaufen und lädt an wenigen Stellen zu einem Verweilen ein. Der größte Teil der Innenstadt macht der Einzelhandel aus und ist somit nur mit Kaufwillen - oder nach Ladenschluss gar nicht mehr - betretbar. Der öffentliche Raum besteht so mit aus Kirchen, die ohne entsprechenden Glaubensbezug für eventuell einen einmaligen Besuch einladen, und Museen, die Kunst ausstellen, die nicht alle Menschen gleich interessieren und nicht kostenlos zugänglich sind. ES GIBT ALSO WENIG RAUM, DER NICHT VORBESTIMMT IST, ODER ÜBER KEINE FINANZIELLE ODER SOZIALE SCHWELLE VERFÜGT.

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St.-Paulus-Dom

6.195 m2

LWL-Museum

5.344 m2 3.574 m2

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Stadtbibliothek

2.243 m2

Philosophikum

1.636 m2

Durchschnittswohnung

86 m2

Durchschnitt-WG-Zimmer

15 m2



Galeria Kaufhof Münster

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GALERIA KAUFHOF MÜNSTER Anstelle der Stadthauptkasse wurde in den 1960ern das Gebäude des heutigen Galeria Kaufhofs mit einer der prominentesten Adressen Münsters - Ludgeristraße 1 - ursprünglich als ein neuer Standort des Horten-Kaufhauses errichtet. Als das Kaufhaus zu einem Galeria Kaufhof wurde, fanden einige bauliche Veränderungen statt. Vor allem wurden die einheitliche Waben-Fassade, die als ein Erkennungsmerkmal des Unternehmens Horten galt, durch ein Filtermauerwerk ersetzt, bis auf das Schild über dem Eingang änderte sich am Konzept wenig. 143–144



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BESTAND


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LEERSTAND


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DEKONSTRUKTION


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EIN SKELETT IN DER STADT Durch ein schrittweises Abbauen des fünf-geschossigen Gebäudes, mit seiner markant-schweren Klinkerfassade, eröffnet sich in jeder daraus resultierenden Konzeption ein neues Erscheinungsbild. Das Öffnen der Türen als Zeichen der individuellen Aneignung, nimmt dem ehemaligen Kaufhaus symbolisch seine Bedeutung. Architektonisch verliert es jedoch erst die Assoziation des Konsumtempels, mit dem Abbau des Fassade. Als ein Skelett in der Stadt bietet es vorerst Raum. Es gibt Raum um Raum zu geben. Für Licht, für Pflanzen, für Leere. Es bietet vorerst nichts, um alles in ihm möglich zu machen. Die etymologische Bedeutung des Wortes Raum beziehungsweise des Verbes räumen findet sich in der Interpretation des „Platz schaffen“, im Sinne davon etwas frei zu machen, leer zu räumen. Die Erfahrung dieser Leere durch das aktive Begehen und Drin-stehens in den Dimensionen eines leeren Kaufhauses, als Inbegriff der Loslösung von dem scheinbar alles bestimmenden Konsums, hin zu einem Raum für die Stadt, für die Menschen, für die Vorstellung.

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GSEducationalVersion

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foto


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neue Perspektiven


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DANKE an Alle, die mir neue Denkweisen und Perspektiven aufgezeigt haben und immer ein offenes Ohr für mich hatten. Ganz besonders möchte ich hiermit allerdings Euch danke: HANNES JUSTEN VINCENT MÜLLER JONAS FELDER Ohne euch wäre diese Arbeit nie so geworden, wie sie ist! für die inspirierende Betreuung, danke ich Ihnen: PROF. KAZU BLUMFELD HANADA

©

Alle Abbildungen, deren Quelle nicht genannt wurden, sind eigenhändig erstellt oder fotografiert worden.



Luisa Kathleen Mowitz Bachelor Thesis msa | münster school of architecture Wintersemester 2020/21 Prof. Kazu Blumfeld Hanada Münster, März 2021


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