tango – magazin für schule und studium – 2013/2

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essay

Ich werde erwachsen Erwachsen zu werden heisst, Verantwortung zu übernehmen. Für sich selbst. Für das, was man tut. Erwachsenwerden heisst, sein Leben in die Hand zu nehmen. Heisst es. Estella Studer

I

ch erinnere mich ungern an meinen 18. Geburtstag. Ich verkrachte mich mit mei-

Dies geschieht immer öfters, je äl-

nen Eltern, musste mir an meinem

ter man wird. Es tun sich einem

Tag Vorwürfe anhören, wie ich sei

mehr Möglichkeiten auf, grössere,

und wie ich zu sein hätte. Wie soll

einem Aufhänger zu versehen, in

schwerwiegendere Entscheidungen

ich denn sein? Manchmal heisst es,

Schubladen zu stecken und mit Auf-

müssen getroffen werden, die das

ich soll selbstbewusster sein, dann

schriften («Vegetarier», «Atheist»,

Leben

wird wieder auf mehr Mitarbeit im

«Familienmensch» oder «Alkoholi-

können. Als Kind wurde einem vie-

Haushalt gepocht, andere wiederum

ker») zu versehen. Aber Kategori-

les durch die Eltern abgenommen,

verlangen, dass ich öfters mit ihnen

sieren ist eine zu einfache Lösung

jetzt stehen sie einem im besten Fal-

etwas unternehme, statt mich in

auf dem Weg der Selbstfindung.

le noch mit gutgemeinten Ratschlä-

meinem Zimmer zu verschanzen.

Natürlich muss man seine Einstel-

gen zur Seite.

grundlegend

beeinflussen

Wieso sollte ich anders sein, als

lungen auch immer mit guten Argu-

Erwachsen zu werden heisst

ich bin? Und wer bin ich überhaupt?

menten untermauern können. Wa-

umgekehrt auch, weniger Hilfe zu

Ich glaubte, die Wer-bin-ich-

rum esse ich kein Fleisch? Warum

erhalten. Es wird mehr erwartet.

glaube ich nicht an

Wenn ich krank bin, ist es nicht

Gott? Warum liebe

mehr meine Mutter, die Termine für

ich meine Familie,

mich absagt, ich selbst muss zum

Frage würde sich mit dem Erreichen eines gewissen Al-

Wer bin ich überhaupt?

und warum verfalle

Hörer greifen. Niemand bindet mir

wäre plötzlich glasklar; ein Blick

ich dem Alkohol? Es muss alles gut

mehr die Schnürsenkel, streicht mir

in den Spiegel würde genügen, um

durchdacht sein, damit man glaub-

Pausenbrote, trägt mich auf den

mein eigenes Wesen in all seinen Ei-

würdig ist. Aber wer sich und ande-

Schultern. Ich kann, also muss ich.

genheiten zu erkennen. Aber noch

re in Schublade steckt, verschliesst

Erwachsen sein heisst, ein Indi-

immer bewegen sich meine Gedan-

andere Optionen. Wer Vegetarier

viduum zu sein. Irgendwie anders

ken einmal in die eine, einmal in

ist, kann nicht gleichzeitig Steaks

als seine Mitmenschen. Wollte man

die andere Richtung. Ich fühle mich

brutzeln.

in der sechsten Klasse noch unbe-

ters

lösen.

Alles

manchmal wie eine sanft über dem

Genauso ist es mit Taten. Dau-

dingt so sein wie alle anderen, die

Himmel des Lebens dahinschwe-

ernd muss man sich entscheiden,

gleichen Spiele spielen, die glei-

bende Wolke.

und mit der Entscheidung für etwas

chen Kleider tragen, so sucht man

Gibt es wirklich Menschen, die

stellt man sich gleichzeitig gegen

jetzt Abgrenzung, will einzigartig

wissen, wer sie sind? Zwar tendie-

andere Möglichkeiten. Man verbaut

sein. Obwohl sich Jugendliche in

ren wir dazu, Mitmenschen mit

sich laufend die eigene Freiheit.

ihrem Drang nach Andersartigkeit

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