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Annerösli Zryd

4. Platz gehört ins Kapitel Kuriositäten. In Franconia (USA) wurde sie von einer gewissen Erika Schinegger vom Podest verdrängt. Wie sich später herausstellte, war Schinegger, AbfahrtsWeltmeisterin von 1966, keine Frau – ein aussergewöhnlicher Fall von Pseudohermaphroditismus, wie dieses biologische Phänomen in der Fachsprache heisst. Später startete Erika als Erik Schinegger bei den Männern.

... dann Verletzungspech ... Damals zählte nur eine Auswahl der sogenannten FIS-1/A-Rennen zum Weltcup. Auch entstand eine Diskrepanz zwischen Speed- und technischen Disziplinen. Oft figurierten nur vier, fünf Abfahrten im Kalender, dafür rund 20 Slaloms und Riesenslaloms. Obwohl Annerösli Zryd auch in den Technik-Bewerben TopTen-Klassierungen erreichte, war die Abfahrt ihre bevorzugte Disziplin. Immer wieder wurde sie durch Verletzungen zurückgeworfen, so auch vor den alpinen SkiWeltmeisterschaften im Val Gardena: «Ich stürzte im Sommer beim Ringturnen auf den Boden ohne Matte. Seither hatte ich ständig Rückenschmerzen.» Der Verband wollte sie gar nicht selektionieren und überhaupt niemanden des kriselnden Frauen-Teams nach Val Gardena schicken. Ihr stellte man praktisch ein Ultimatum: Wenn du in Garmisch nicht unter die ersten zehn fährst, bleibst du zuhause! Annerösli Zryd wurde Neunte. Damit sie nicht völlig allein war, gab man ihr mit Edith Sprecher-Hildbrand noch eine Begleiterin mit.

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... und das grosse Glück in Val Gardena «Ich wollte unbedingt nach Val Gardena», sagt heute Annerösli Zryd: «Die Strecke war auf mich zugeschnitten, ich gewann ein Jahr vorher schon die WM-Hauptprobe. Ich wollte dieses Rennen wieder gewinnen – ich hatte die Überzeugung in mir.» Aber eben – der Rücken. Mental befand sich Annerösli Zryd in Top-Verfassung, physisch weniger. Der Teamarzt bastelte ein improvisiertes Streckbett, Physiotherapie kannte man im Skisport noch nicht. Annerösli Zryd spürte: «Ich brauchte noch jemanden an meiner Seite, meinen Bruder.» Zusammen mit Fred Rubi, Kurdirektor in Adelboden, Gründer jener Rennen und eine respektierte Instanz im Skisport, reiste Bruno Zryd ebenfalls nach Val Gardena und betreute seine Schwester. «Es war», sagt Annerösli Zryd, «so etwas wie der Anfang von privater individueller Betreuung, wie sie heute gang und gäbe ist.» Auch auf andere Aspekte wie Skipräparation oder Aerodynamik achtete Annerösli Zryd sorgfältigst, wie es für ein kaum 20-jähriges Mädchen keine Selbstverständlichkeit ist. So burschikos sie sich zuweilen gab, so genau wusste sie, was sie wollte. Während die Story vom abgekratzten Wachs an den Ski von Bernhard Russi vor seinem WM-Start mittlerweile Teil der Schweizer Skigeschichte ist, dauerte es fast 50 Jahre, bis die noch spektakulärere Wachs-Geheimaktion von Annerösli Zryd öffentlich wird. «Ich darf gar nicht alles sagen», zögert Annerösli Zryd einen Moment und erzählt dann: «Am Tag vor dem Rennen herrschte schlechtes Wetter, es schneite. Damals wachste man die Ski immer am Vorabend des Rennens. Ein Wachsexperte einer Wachsfirma präparierte sie. Danach bekamen wir die Nachricht, dass die Temperaturen sinken werden und es aufklaren wird.»

Die Sache mit dem Wachs Sie sei nervös gewesen wie verrückt. «Morgens um sechs ging mein Bruder mit dem Trainer auf die Piste. Das war die Zeit, wo man Schneetemperaturen zu messen begann. An drei verschiedenen Messpunkten stellten sie fest, dass der Schnee kälter wurde. Sie hatten Funkkontakt mit Männer-Chef Paul Berlinger, der nach diesen Informationen den Wachs an meinen präparierten Ski abkratzte «wie später an Russis Ski». Berlinger, der sich als Wachs-Spezialist GuruStatus erworben hatte, wachste um und schloss nachher die Türe zum Skiraum ab. Etwas später kam der Wachsmann und konnte nicht rein. «Dieser hatte», so Annerösli Zryd, «eine Neigung zur Tobsucht, brach die Türe gewaltsam auf und verschaffte sich so Zutritt zum Skiraum. Und ich tigerte auf der Terrasse hin und her und wurde immer nervöser.»

Mit der (angenähten) Nummer 5 Währenddessen wurde es immer kühler, Annerösli Zryd begab sich an den Start. Die Startnummer 5 hatte sie entzwei geschnitten und links und rechts vom Reissverschluss des Rennkombis angenäht: «Die Jacke zog ich erst 30 Sekunden vor dem Start aus, so fiel das nicht auf.» Annerösli Zryd fuhr Bestzeit, eine halbe Sekunde vor der Top-Favoritin Isabelle Mir, und zwei Sekunden vor der aufstrebenden Österreicherin Annemarie Moser, die später 62 Weltcuprennen gewann. «Noch heute», sagt Annerösli Zryd, «bewegen mich die Erinnerungen an jenen Tag. Ich habe noch jede Kurve im Kopf und könnte das Rennen praktisch blind fahren.» Noch drei-, viermal kehrte sie als Touristin auf die «Cir»- Piste oberhalb Wolkenstein zurück. Nur zwei Rennen fanden dort statt, beide gewann Zryd. Es ist und bleibt «ihre» Strecke, ihr «Wohnzimmer», wie man seit Boris Becker zu sagen pflegt. Inzwischen ist der oberste Teil von einem Felssturz verschüttet worden. Im letzten Dezember, als das OK von Val Gardena zur 50-Jahr-WM-Feier einlud, verzichtete sie auf den Besuch ihres Wohnzimmers. Seit einer Operation an beiden Hüften vor drei Jahren fährt sie nicht mehr Ski: «Ich habe jetzt wenigstens keine Schmerzen mehr und möchte nichts riskieren.»

Das grosse Wiedersehen Fast alle 70er-WM-Medaillengewinner waren nach Val Gardena gekommen, von Schranz über Russi, Thöni, Cordin, Bleiner bis zu fast allen Französinnen, die damals das Mass aller Dinge waren, Florence Steurer, Michèle Jacot, Ingrid Lafforgue usw. Nur eine fehlte: Isabelle Mir, die Zweite hinter Zryd. «Ich habe mit ihr telefoniert», schüttelt Annerösli Zryd irritiert den Kopf. «Sie wollte nicht kommen, weil sie es immer noch nicht überwunden hat, dass ich sie geschlagen habe.» Nach 50 Jahren!? Unmittelbar nach den alpinen Ski-Weltmeisterschaften in Val Gardena trat Annerösli Zryd zurück, im Alter von nicht einmal 21 Jahren. Der Rücken liess keinen Spitzensport mehr zu. Selbst fürs Konditions-Training benötigte sie Schmerztabletten, in den Rennen erst recht. Während fast vier Jahrzehnten arbeitet sie in Adelboden in einem Sportgeschäft, in den letzten Jahren nach der Pension des Inhabers führte sie das Geschäft in eigener Regie. Jetzt, im letzten Mai 70 geworden, tritt sie kürzer: «Ich nehme es gemütlich, pflege Freundschaften, geniesse das Leben.» Trotz der ungewöhnlich kurzen Karriere hat Annerösli Zryd nachhaltige Spuren hinterlassen. Vor ihr ist 14 Jahre lang (Madeleine Berthod 1956) keine Schweizerin AbfahrtsWeltmeisterin geworden. Und auch nach ihr dauerte es 15 bis 20 Jahre, ehe Michela Figini und Maria Walliser wieder Abfahrts-Gold gewannen – als letzte Schweizerinnen. Seit Val Gardena 1970 ging es mit dem Schweizer Skisport aufwärts. Und dort gewann eben nicht nur Bernhard Russi. Das vergisst man zuweilen. Annerösli Zryd siegte vier Tage vorher. In Wahrheit war sie es, die die Initialzündung auslöste. Auch in Adelboden. Seither war immer mindestens eine Adelbodnerin oder ein Adelbodner in der Nationalmannschaft bis zu Marlies Oester. Und Oester ist immer noch die letzte Schweizer Slalomsiegerin im Weltcup. RICHARD HEGGLIN

Legenden-Party im Weltcup-Dörfli

«Oesch’s die Dritten» brachten das Party-Zelt zum Kochen, aber im Zentrum standen die Legenden. Zum 90. Lauberhorn-Jubiläum hatte das OK alle ehemaligen Sieger und Schweizer Medaillengewinner eingeladen. Die weiteste Anreise hatte «Crazy Canuck» Ken Read, dessen Söhne Erik und Jeffrey aktuell im Einsatz standen. Doyen war einmal mehr Karl Schranz, mit 81 mehr als doppelt so alt wie die jüngste Legende, Patrick Küng (36), der in diesem Monat Vaterfreuden entgegensieht.

01 Das gut gefüllte Festzelt zum Jubiläumsanlass in Wengen. 02 Karl Schranz, viermal Abfahrts- und zweimal Kombi-Sieger zwischen 1959 und 1969, mit seiner Tochter Anna. 03 Patrick Russel mit Gattin Christiane.

Mit moderner Technik setzte er im Slalom neue Massstäbe (13 Siege und 27 Podestplätze von 1968–1972). 04 Gemischtes Doppel: Patrick Küng,

Anna von Grünigen, Küngs Freundin Bianca, Mike von Grünigen. 05 Didier Cuche, dreimal Zweiter: «Ich habe beim Brüggli den Schlüssel nie gefunden, aber auch die zweiten Plätze waren Highlights.» Immer noch enorm beliebt, brauchte in Wengen für 50 Meter eine halbe Stunde. 06 MvG hört den beiden Lauberhornsiegern Bruno Kernen I (1983, im Ersatzrennen in Kitzbühel) und Bruno Kernen II (2003) aufmerksam zu. 07 Ken Read, Sieger 1980, mit dem abtretenden

Lauberhorn-Geschäftsführer Markus Lehmann.

32 SNOWACTIVE FEBRUAR 2020 08 Bruno Kernen II mit Ex-Swiss-Ski-Direktor und Lauberhorn-Ehrenmitglied Josef Zenhäusern. 09 Michael Veith (De), Abfahrtscrack der

70er-Jahre und 1980 sogar Kombi-Sieger. 10 Markus Lehmann mit Christian Haueter, seinem Nachfolger als Geschäftsführer. 11 Peter Frei, Slalom-Dritter 1969; Edith SprecherHildbrand, dreifache Schweizer Meisterin; Gatte Söre Sprecher, an Lauberhornund Hahnenkamm-Rennen auf dem Podest, mit Didier Défago, Abfahrtssieger 2009. 12 Henri Duvillard, Abfahrtsieger 1970, von

1968–1973 20 Podestplätze in allen Disziplinen. Wurde wie Russel und drei weitere Athleten 1973 als «Rebell» aus dem Team ausgeschlossen. Danach ging es mit der «Equipe tricolore» über Jahre bergab. 13 Alte Rivalen: Walter Tresch, am Lauberhorn sechsmal auf dem Podest, René Berthod, ewiger Zweiter und später Hotelier in Wengen, und Karl Schranz. 14 Urs Räber, zwei Weltcupsiege, in Wengen

(3. beim Ersatzrennen in Kitzbühel) als Athlet und Trainer (mit bösem Sturz auf der Touristenpiste) ein fester Wert. 15 Karl Alpiger, 5 Weltcupsiege und LauberhornZweiter 1987, mit Gattin Gerlinde. 16 Markus Wasmeier (De, rechts) schnappte Alpiger den Sieg weg, mit Slalom-Crack Bojan Krizaj (8 Weltcupsiege, 1980 und 1981 in Wengen). 17 Dumeng Giovanoli (erster Schweizer Slalom

sieger 1968 in Wengen und immer noch einziger Schweizer Sieger in Kitzbühel), begleitet von seinem Sohn Gian. 18 Wengen-Chef und Gastgeber Urs Näpflin. 19 Ivica Kostelic (5 Siege und 9 Podeste in Wengen) greift gerne selbst in die Saiten.