Surprise Strassenmagazin 231/10

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Musik als Therapie Im Rausch der Akkorde Jeden Dienstagabend verwandelt sich die Kontakt- und Anlaufstelle im Basler Industriegebiet in einen Proberaum. In der Band Stoffwechsel bedröhnen sich Suchtmittelabhängige mit lauter Musik statt mit harten Drogen.

Das Schlagzeug treibt, Bass und Gitarren spielen schleppende Akkordfolgen, das Keyboard setzt melancholische Tupfer. Beim Refrain schlägt die Stimmung um, die Musik wird passend zum Text aggressiver: «Seelenmord» skandieren die Sängerinnen immer wieder. Diese Szene könnte in irgendeinem Proberaum stattfinden. Doch Stoffwechsel, so heisst die Band, die nach Ladenschluss in den Räumlichkeiten der Kontakt- und Anlaufstelle (K+A) Basel übt, besteht aus Menschen mit schweren Suchtproblemen. Die Musik soll ihnen helfen, Selbstbewusstsein aufzubauen und die persönlichen Verhältnisse zu stabilisieren. Initiiert wurde das in der Schweiz einzigartige Projekt vom Sozialarbeiter und ehemaligen Profimusiker Carsten Meyer sowie von Baschi Hausmann, der vor seiner Anstellung bei K+A mit den Lovebugs und Fucking Beautiful national erfolgreich war. Anfangs dachten Hausmann und Meyer an eine Coverband, und sie hatten auch schon die Akkorde einiger bekannter Rocksongs besorgt. Doch die Musiker wollten von Beginn weg eigene Stücke spielen. «Wir haben ja genug zu erzählen», findet Bassist Manuele, der auch Texte verfasst. Die haben es in sich: Kindsmissbrauch, Gewalt, Abhängigkeit und Tod sind die Themen, die Texte ungeschönt und – was bei Profibands oft einen Promophrase ist, trifft hier die Tatsachen – direkt aus dem Leben gegriffen. Die Musiker berichten übereinstimmend, dass die wöchentlichen Proben einen wichtigen Platz in ihrem Leben einnehmen. Susan, eine der Sängerinnen, hielt vor einem Jahr das erste Mal ein Mikrofon in der Hand. Heute wirft sie sich mit grosser Selbstverständlichkeit in Pose und sagt: «Ich freue mich jeden Dienstag auf die Probe.» Für Dani, der bei Stoffwechsel nach 16 Jahren Musikabstinenz wieder Gitarre spielt, «war die Band meine Motivation ins Methadonprogramm zu gehen. Denn nur so komme ich zum Üben.» Manuele, der erst vor einem Jahr angefangen hat, Bass zu spielen, geht es ähnlich: «Ich konsumiere weniger, seit ich hier mitspiele.» Sex, Drugs und Rock’n’Roll bilden gemäss dem Klischee eine Einheit. Die Musiker von Stoffwechsel wissen, dass das Blödsinn ist. Konzentrierte Proben bedeuten schon im nüchternen Zustand eine Herausforderung. Sind die Musiker verladen, geht bald gar nichts mehr. Die Mitglieder von Stoffwechsel disziplinieren sich deshalb gegenseitig. «Möglichst nüchtern bei der Probe, kein Konsum bis auf vielleicht mal ein Bier – das haben sie unter sich abgemacht», erzählt Sozialarbeiter Meyer, der an diesem Abend an den Drums aushilft. Auch Hausmann spielt mit, den Takt geben aber die Drogenabhängigen an. «Wir unterstützen die Leute hauptsächlich bei Arrangement und Songwriting», erzählt Hausmann, dessen gute Kontakte in die Basler Musikszene beim Auftreiben von Instrumenten und Equipment von Nutzen waren. SURPRISE 231/10

BILD: ZVG

VON RETO ASCHWANDEN

Riffs statt Heroin: die Band Stoffwechsel.

Nur zum Plausch treffen sich die Musiker nicht. Im Winter wurde eine CD mit drei Songs eingespielt, im Juni fand vor der Anlaufstelle die Plattentaufe statt. Ungewohnt sei es schon gewesen auf der Bühne, erzählt Manuele grinsend: «Aber der Nervöseste von allen war Baschi.» Nun arbeitet man jeden Dienstag an neuen Songs. Weil zum Kern von sieben Leuten immer wieder neue Musiker stossen, nimmt das Repertoire nur langsam Gestalt an. Ihre Ideen verfolgen Stoffwechsel aber genau so entschlossen wie andere Bands. An diesem Abend spielen sie wieder und wieder zu einem wuchtigen Hardrockriff, das sich Gitarrist Dani ausgedacht hat. Irgendwann tritt einer, der sich bislang in eine Ecke gedrückt hat, entschlossen ans Mikrofon und steigt mit bluesigem Röhren ein. Die Musiker suchen Augenkontakt beim Spielen, lachen, tanzen, und wenn ein Song zu Ende ist, beklatschen sie sich gegenseitig. Auch wenn nur der Band wegen keiner von ihnen von den Drogen loskommen wird, so ist der Name Stoffwechsel doch Programm: In der Musik erleben die Beteiligten einen Rausch, der weder den Körper noch die Seele zerstört. Keyboarderin Julia sagt: «Die Musik ist einfach etwas, das gut tut, gerade wenn man sonst schlecht drauf ist.» ■ Für Konzertangebote und CD-Bestellung: www.suchthilfe.ch

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