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Simon Deckert

Das Gespenst im Duschkopf

TEXT SIMON DECKERT

Der Tag, an dem das Gespenst im Duschkopf zum ersten Mal zu ihm sprach, war ein Samstag. Lins war mit seinen Eltern und seiner grossen Schwester Ina bei ihrem Lieblingsitaliener gewesen und hatte es zum ersten Mal geschafft, die Pizza dort bis zum letzten Brösel allein aufzuessen. Als sie nach Hause kamen, hatte er furchtbares Bauchweh, aber sein Vater war im Restaurant so stolz auf ihn gewesen, dass Lins sich nichts anmerken liess. Er schloss sich im Badezimmer ein und setzte sich aufs Klo. Nichts passierte. Fast kamen ihm die Tränen, so weh tat ihm der Bauch und so wütend war er auf seine Schwester, die dauernd geträllert hatte, die ganze Pizza würde er nie im Leben schaffen. In diesem Moment hörte er in seinem Kopf eine Stimme, genau so, wie wenn man etwas denkt – aber die Worte kamen nicht von ihm; es war, als würde jemand anderes mit seinen Gedanken denken. Lins war so überrascht, dass er vergass zu erschrecken. Erst, als er sich im leeren Badezimmer umsah, bekam er ein bisschen Angst. Doch als die Stimme weitersprach, fiel sein Blick auf den Duschkopf, und plötzlich war er so sicher, dass sie damit zusammengehörte, dass er sich nicht mehr fürchtete. «Geh in dein Zimmer», sagte die Stimme, «mach das Fenster auf und atme dreimal tief durch. Dann legst du dich auf den Rücken ins Bett, streckst die Beine zur Decke und strampelst wie beim Fahrradfahren.» Lins stand auf, ging in sein Zimmer und tat, was die Stimme ihm geraten hatte. Als er ein bisschen gestrampelt hatte, musste er furzen; erst ganz klein, dann zweimal lang und ganz laut. Er liess die Beine aufs Bett fallen und bekam einen Lachanfall, dass sein Vater ins Zimmer kam und fragte, ob sie ihm im Restaurant wohl Apfelwein serviert hätten statt Apfelsaft.

Von diesem Tag an ging Lins oft ins Badezimmer, wenn er nicht weiter wusste. Die Stimme sprach zu ihm, wenn er beim Duschkopf sass, und Lins hatte schnell begriffen, dass sie einem Gespenst gehören musste, das dort drin wohnte. Es hatte sehr gute Ratschläge; etwa, wenn er mit Ina gestritten hatte oder seinen Eltern eine schlechte Schularbeit zeigen musste, oder wenn er Angst hatte und nicht wusste, wovor. Einmal lag Lins in der Badewanne und das Gespenst sagte ihm, dass direkt hinter ihm auf dem Wannenrand eine Spinne sässe. Lins, der sich vor Spinnen schrecklich fürchtete, rutschte ganz ruhig auf die andere Seite der Wanne und drehte sich um. Tatsächlich sass der dicke, schwarze Achtbeiner genau dort, wo eben noch sein Kopf gelegen hatte. Nach diesem Vorfall entschied Lins, seinen Eltern von dem Gespenst zu erzählen. Er wartete bis zu einem Abend, an dem Ina bei einer Freundin übernachtete. Sein Vater lachte zuerst und hörte dann auf zu lachen. Seine Mutter sah ihn mit grossen Augen an. Lins merkte, dass sie ihn nicht richtig verstanden, auch wenn er noch nicht ahnte, was das für Folgen haben würde. «Die Stimme ist ein bisschen unheimlich», versuchte er seine Eltern zu beruhigen. «Aber sehr freundlich.»

Der Erste, den Lins besuchen musste, war der Pfarrer, der seit ein paar Wochen in die Schule kam, um die Kinder auf die Erstkommunion vorzubereiten. Er war jung und Lins mochte ihn, weil ihm die blonden Haare immer so lustig in die Stirn fielen. Seine Mutter und er besuchten ihn in der Kirche. Als Lins zu Ende gesprochen hatte, sagte er: «Ich glaube, Lins, das ist der liebe Gott, der da zu dir spricht.» Lins schüttelte den Kopf. «Ich habe schon oft gebetet», sagte er, «aber der liebe Gott hat noch nie zurückgebetet.» Der Pfarrer lächelte. «Du kannst ihn dir vorstellen wie einen grossen Bruder. Er ist immer und überall bei dir. Vielleicht hast du im Badezimmer am meisten Ruhe, ihm zuzuhören.» Sie sahen sich an. «Ich werde die Stimme fragen, ob sie der liebe Gott ist», sagte Lins, weil er den Pfarrer nicht enttäuschen wollte.

Wie erwartet war das Gespenst nicht der liebe Gott. Lins konnte sich vorstellen, dass ein Duschkopf ein gemütliches Zuhause wäre; unter «überall» konnte er sich gar nichts vorstellen. Als er seinen Eltern davon berichtete, sah ihn sein Vater mit so grossen Augen an wie zuvor seine Mutter, und seine Mutter sah auf den Teppich, als hätte sie eine Stecknadel darauf verloren. Am nächsten Tag fuhr Lins mit seinem Vater auf Besuch zu Lins’ Onkel, der lange Zeit mit der Grossmutter im selben Haus gewohnt hatte und seit ihrem Tod allein dort lebte. Sie war vor ein paar Jahren gestorben und Lins konnte sich fast nur noch an ihre bunten Schürzen erinnern. Ihr Gesicht, das in jedem Zimmer des Hauses aus einem Bilderrahmen schaute, kam ihm eher fremd vor. Während er dem Onkel seine Geschichte erzählte, sah es mehr und mehr so aus, als würde dieser durch ihn hindurchschauen. Am Ende nickte er langsam und sagte: «Zu dir spricht sie also auch.» Lins verstand nicht viel von dem, was der Onkel als Nächstes redete, er merkte nur, wie sein Vater immer nervöser wurde. Als sie wieder im Auto sassen, schwieg er eine Weile. «Onkel Thomas vermisst deine Oma sehr», sagte er schliesslich und drehte den Zündschlüssel. «Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie sie aus dem Sarg unter der Erde in unseren Duschkopf kommen soll», antwortete Lins. Sein Vater lächelte und sagte, da gebe er ihm völlig recht.

Ein bisschen fragte sich Lins, ob seine Eltern denn selber gar nichts über Stimmen oder Gespenster wussten und ihn deshalb zu all diesen Leuten brachten, die eine Meinung dazu hatten. Sie fragten ihn auch nicht, was er darüber dachte, dabei hätte er ihnen gern beschrieben, wie er sich das Gespenst vorstellte; wie es nachts aus den Löchern im Duschkopf kam und als lebendiger Nieselregen ganz friedlich durchs Haus schwebte. Lins sah nur, dass das Gespenst seine Eltern traurig machte, und langsam wurde er selber traurig. Seine Mutter brachte ihn zu einer Freundin, die in einer kleinen Wohnung hoch oben in einem Wohnblock lebte. In den Zimmern roch es nach dem Rauch, der manchmal in der Kirche verteilt wurde, und mit ihren farbigen Kleidern sah die Frau auch aus, als wollte sie sich verkleiden wie ein Clown, der einen Priester spielt. Sie versuchte Lins zu erklären, dass die Stimme seine eigene war, die zu ihm sprach, und dass seine Stimme mehr über ihn wusste als er selbst. Lins hörte kaum zu. Er hatte keine Lust, ihr zu erzählen, dass Kinder, die mit sich selbst sprachen, in der Schule von den anderen nur gehänselt wurden.

Am Abend schloss sich Lins im Badezimmer ein. Vielleicht würde das Gespenst wissen, was zu tun war, damit seine Eltern sich keine Sorgen mehr machten. Doch es blieb still. Sein Kopf war leer. In seiner Verzweiflung versuchte Lins sich seine Oma vorzustellen, die geschrumpft und zusammengekauert im Duschkopf sass, und wie der liebe Gott aus dem Himmel und durch den Lüftungsschacht irgendwie ins Badezimmer kam. Aber davon wurde die Leere nur noch grösser. Lins putzte sich die Zähne, zog seinen Pyjama an und hielt die Tränen zurück, bis sein Vater die Nachttischlampe abgedreht und die Kinderzimmertür hinter sich zugezogen hatte. Lange konnte er nicht einschlafen, aber er rief nach niemandem, sondern blieb ruhig in der Dunkelheit liegen.

Vielleicht glaubten seine Eltern, dass eine der drei klugen Personen das Problem mit der Stimme in Lins’ Kopf gelöst hatte. Vielleicht waren sie stolz auf sich. Lins war es egal. Seine Eltern fanden oft eine Lösung, wo es gar kein Problem gab. Das Gespenst sprach nicht mehr zu ihm, also hatte er auch nichts mehr davon zu erzählen. Die Eltern hörten auf, sich Sorgen zu machen, und das munterte Lins so auf, dass er es bald nur noch selten vermisste. Bis zu einer Nacht ein paar Wochen später. Lins träumte von einem Wald aus verbogenen Säulen. Plötzlich merkte er, dass er aufwachen musste, und als er die Augen öffnete, war sein Zimmer erfüllt von feinen, silbernen Tröpfchen, die durch die Dunkelheit schwebten. Er wollte etwas sagen, sich entschuldigen, aber in seinem Mund gab es keine Worte dafür. Lins legte einen Finger auf die Lippen und war glücklich. Er würde das Gespenst nicht noch einmal verscheuchen.

SIMON DECKERT, geboren in Österreich, hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und an der HKB studiert. Er schreibt Prosa und Lieder und macht Musik. Sein erster Roman «Siebenmeilenstiefel» erschien 2020 im Rotpunktverlag. Simon Deckert lebt in St. Gallen.

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