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Renata Burckhardt

Fisch im Eis

TEXT RENATA BURCKHARDT

Er hiess Roro oder Rorro mit zwei R. Roro oder Rorro, es war egal. Niemand von uns konnte sich erinnern, wie er zu seinem Namen gekommen war. Sowieso trug er seinen Namen erhaben, ohne Kommentar. Er sprach nie und blieb uns allen fremd. Ein Wesen, das zwar offensichtlich ein Herz besass, einen Kreislauf, ein Wesen, das sich bewegte, atmete und ass – das aber nicht kommunizierte, jedenfalls nicht in einer für uns verständlichen Form. Denn Roro oder Rorro war ein Fisch. Schlimmer noch: Er war ein Goldfisch, anspruchslos, langweilig und mit schlichtem Gemüt. Und das war gut so. Denn von uns erhielt er keine Aufmerksamkeit. Nur ab und an kippten wir eine Büchse Fischfutter in sein Glas. So auch, als wir das Haus verliessen, um in die Berge zu fahren – zwei Wochen Schneeurlaub – da kippten wir noch ein paar Flocken mehr hinterher, sodass das Futter auf der Wasseroberfläche einen Haufen bildete und schliesslich als Klumpen ins Wasser absackte. Roro wird’s schon machen, dachten wir, der kann alleine zwei Wochen. Ja, wir waren nicht liebevoll mit dem Fisch, so austauschbar, wie er war. Aber Roro sollte uns in Erinnerung bleiben. Der Winter war unfassbar kalt, die Skipisten morgens steinhart; nicht zu stürzen war fast unmöglich, wir schlugen uns die Knie wund, bald humpelte jede von uns auf ihre Weise. Nachmittags wurden die Pisten etwas weicher, wir schwenkten unsere Körper auf den Brettern hin und her, was uns kurzweilig verdrängen liess, dass unsere Familie zerrüttet war. Es blieb eiskalt. Schliesslich kehrten wir etwas gebräunt und in abgewetzten Daunenjacken in die Stadt zurück, zurück in den Alltag, die Schule wartete. Wir kamen spätabends zuhause an, von der Reise und Kälte müde und allesamt schlecht gelaunt; die eine hatte der anderen mit einer Skispitze auf den Kopf gegeben, die Platzwunde war beachtlich, eine andere hatte aus dem Fenster geglotzt und in einem fort gemurmelt «ich könnte kotzen, ich könnte kotzen, ich könnte kotzen», und die Mutter hatte am Steuer leise vor sich hin geweint. Es war eindeutig, die Ferien waren vorüber. Im Garten war es stockdunkel und das Haus erwartete uns düster und schwer, wir schlotterten, als wir vor dessen Türe standen, alle fanden wir uns keine geliebten Gegenüber, alle wollten wir nur noch ins Bett, jede unter ihre Decke und der Welt kurz Adieu sagen, mehr nicht. Als wir endlich ins Haus traten, der Schlüssel hatte sich kaum im Schloss drehen lassen, schlug uns eine Luft wie aus einem riesigen Gefrierraum entgegen, die Kälte auf den Pisten war dagegen eine warme Sommerbrise gewesen. Mutter knipste das Licht im Hausflur an. Etwas stimmte nicht. Und da sahen wir es: Das Innere unseres Hauses war explodiert. Im Bad, in der Küche, in allen Zimmern, im Keller, im Garten: Alle Wasserrohre waren geplatzt, an den Hähnen wuchsen Eiszapfen, in den Spülbecken Gletscher, in der Badewanne lag eine dicke Eisschicht. Und als hätten sie einen unfassbar schmerzhaften Kampf hinter sich, krümmten sich alle Heizkörper in unseren Zimmern von den Wänden weg, sie hatten sich aus den Wänden herausgerissen und den ganzen Verputz mitgenommen, es war ein qualvoller Anblick. Wir wanderten von Zimmer

zu Zimmer, betrachteten die stummen Tragödien, vergassen kurz die erbarmungslose Kälte. Mutter hatte, mental abwesend wie sie zu der Zeit war, bei unserer Abreise die Heizung nicht auf Mindesttemperatur gestellt, sondern ausgeschaltet. Nun schien alles defekt, das Haus und wir.

Schliesslich entdeckten wir, rein zufällig, Roro. Bis anhin hatte niemand von uns an den Fisch gedacht, er befand sich in einem Zimmer, das als Abstellkammer diente, nur rein zufällig betrat eine von uns den Raum. Roro befand sich in der Mitte seines Glases, hatte seine Flossen ausgebreitet, sein Maul leicht geöffnet und sah aus, als durchkreuze er in gutem Tempo sein Wasser, frivolen Gemütes. Aber Roro schwamm nicht mehr, im Gegenteil, er war von Eis umgeben, eingeschlossen. Er musste irgendwann mitten in einer letzten Bewegung erstarrt und Teil eines riesigen Eisklumpens geworden sein. Und durch diesen Klumpen hindurch starrte er uns an. Und wir starrten zurück, auf den erfrorenen Fisch, es war wie Fernsehschauen und plötzlich auf Pause drücken, wir waren betreten und schlotterten zugleich, die Kälte stieg uns von den Füssen in den Nacken, an Schlafen war in der Eiseskälte nicht mehr zu denken – der Fisch war der lebende / der tote Beweis dafür.

Im Keller fanden wir unseren alten Elektroofen. Mutter hatte ihn vor Jahren weggeräumt, er sei energietechnisch nicht mehr vertretbar. Nun stellten wir den Ofen im Esszimmer auf, gruppierten uns darum herum und glotzen ihn an, als hätte er wie ein Toaster jederzeit eine Scheibe Brot ausspucken können. Und dann wurde es – zögerlich – warm. Wir holten unsere Matratzen aus den Schlafzimmern, verteilten sie um den kleinen Ofen herum und legten uns schlafen, so wie wir waren, in Daunenjacken und Skisocken, die Mützen tief ins Gesicht gezogen. In der Dunkelheit erzählten wir uns plötzlich Geschichten, eine dümmer als die andere, wir kicherten, sogar Mutter kicherte kurz und es klang echt. Schliesslich wünschten wir uns, fast schüchtern, gute Nacht. So schliefen wir ein, dicht zusammengedrängt und nahezu friedlich. Und der Elektroofen knackte leise vor sich hin.

Am nächsten Morgen kamen die Heizungsmonteure, unser Haus wurde ausgenommen wie ein Tier, und nach wenigen Stunden liefen die ersten neuen Heizkörper. «Seltsamer Fisch irgendwie», sagte schliesslich einer der Monteure. Und als wir soeben unsere Erklärungen anbringen wollten, erblickten wir Roro. Er schoss durch sein Wasser, als wäre nichts geschehen. Aufgrund der Wärme im Haus war auch das Wasser im Aquarium aufgetaut – und so auch Roro, der aber nicht mit dem Bauch nach oben schwamm, wie wir angenommen hatten. Beschämt stellten wir fest: Wir hatten den Fisch erneut komplett vergessen. Roro aber liess Nachsicht walten, er schien nicht beleidigt zu sein, sondern frass gierig das Futter, das wir ihm ins Glas schütteten, nun regelmässiger und liebevoller, mit nahezu bewusster Geste, sogar zwei Pflanzen stellten wir ihm in sein Reich hinein. Übertrieben zu behaupten, Roro hätte nun plötzlich einen für uns prägnanten Charakter entwickelt, aber wenn er im Glas seine Runden zog und uns anschaute, entschuldigten wir uns leise bei ihm. Er aber schien uns zuzuraunen: Keep on swimming. Als er irgendwann später das Zeitliche segnete, spülten wir ihn nicht die Toilette hinunter, wie das damals üblich war, sondern verbuddelten ihn, in rosa Seidenpapier verpackt, im Garten – wo ihn leider kurz darauf unser Kater fand, der dort nachts sein Unwesen trieb. Der Kater hiess Mister Pimp, niemand von uns kann sich erinnern, wie er zu seinem Namen gekommen war. Aber das ist eine andere Geschichte.

RENATA BURCKHARDT hat Kunst an der HGK Basel studiert und Kuratorische Praxis an der ZHdK. Sie arbeitet als Dozentin für Kunst, Sprache und ästhetische Praxis und Theorie, schreibt Theaterstücke, Geschichten, Kolumnen und inszeniert szenische Interventionen in Theatern und Ausstellungsräumen. Sie erhielt diverse Werk- und Dramatiker*innenstipendien, ihre Theatertexte wurden an Theatern in der Schweiz und Deutschland aufgeführt.

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