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Martina Clavadetscher

Gestalten

TEXT MARTINA CLAVADETSCHER

Ich muss vorsichtig sein, vermutet Tamaris und hält weiter Ausschau.

Hinter der nächsten Busstation erscheint schliesslich das Schild. Es wirkt unverhältnismässig, das Firmenzeichen leuchtet orange und grün. Der Baumarkt darunter gleicht einem Container, umgeben von Parkplätzen.

Die Glastüren am Eingang gleiten geräuschlos zur Seite, wie von Zauberhand trennt sich die durchsichtige Wand, während dem Boden warme Luft entströmt.

Tamaris wundert sich nicht mehr über diese automatischen Dinge, Tamaris glaubte nur als Kind tatsächlich an Zauberhände, an Zwergenhände von Zwergenwesen, die versteckt im Türrahmen sitzen, nach aussen linsen und bei Besuchern sofort mit einer Fingerbewegung die Schiebetür öffnen.

Heute ist Tamaris dieser Vorstellung entwachsen und schlendert mit ganz anderen Absichten den Regalen entlang. Sie pirscht wie eine Jägerin, die gierigen Bewegungen verraten sie, sie ist eine Frau mit einem Plan, eine Frau auf der Suche nach einer Waffe, die im Prinzip gar keine Waffe zu sein hat, eher ein Werkzeug, ein Gerät zur Befreiung.

Aber wer würde das schon verstehen, denkt Tamaris und liest die Schilder über den Korridoren:

Garten, Basteln, Automobil, Werkzeuge,

Schrauben, Farben, Sägen – Kettensägen. Sie bleibt vor den Exponaten stehen, fährt mit den Fingern über das erste Motorengehäuse, streift den Seilzug, gleitet der Schiene entlang bis zum Schwert, dann über die scharfen Zähne – die Kettenzähne.

Hartmetall, Doppelzahnig, Feilen, 3-5 mm, liest Tamaris und stellt sich vor, wie die scharfen Plättchen ins Material greifen, wie die kleinen Beisser in Endlosschlaufe toben, rasen und alles zerreissen.

Ihr Herz macht sich bemerkbar. Das Klopfen drängt ihr die Fragen ins Gehirn.

Was, wenn die Zähne zu weit gehen?

Was, wenn sie nicht nur ins Holz greifen?

Was, wenn ich ihrem Fressen freien Lauf lasse? In Tamaris’ Tagtraum erscheinen Bilder wie Blitze: Das schnelle Metall fährt zwischen Haut und Fleisch, die Kette zieht mit Leichtigkeit Narben auf, das Gerät trennt alles, worauf es trifft, verwandelt es ins Rote und Tote.

Wie merke ich, dass ich mit der Schiene zu weit gehe? denkt Tamaris und sagt die Frage in einem Flüstern vor sich hin.

Doch der Schatten, der jetzt neben ihr steht, hat nichts gehört,

er tut zumindest nichts dergleichen. Der Schatten ist ein junger Mann mit Polohemd und Namenschild:

Kann ich Ihnen helfen? fragt der Mann und verschiebt die Augenbrauen amüsiert, als kommentiere er so Tamaris’ Interesse an den Maschinen.

Welche der Sägen erzeugt am wenigsten Lärm? fragt Tamaris und denkt dabei an die grüne Stille des Waldes, wo Mücken und Mooshaare zucken und wachsen, wo Kleinstwesen heimlich hausen, wo das Leben seit Jahrhunderten in Ruhe schwirrt, schlummert, brütet und nistet, wo Tiere im Unterholz rascheln, Vögel lautlos zu Ästen flattern und wo gelegentlich ein Fuchs seine Schnauze in den glatten Weiher tunkt – all das will sie nur ungern mit dem Gekreische und ihren Absichten stören, obwohl Tamaris weiss, dass ihr nichts anderes übrig bleibt.

Die stillste Säge ist vermutlich diese elektronische Handsäge hier, sagt der Verkäufer. Sein anfängliches Grinsen wechselt in eine Ernsthaftigkeit.

Sicher kein Benziner, wissen Sie,

Elektromaschinen sind vom Antrieb her viel leiser, aber die Benziner besitzen einfach mehr Kraft. Er faltet die Hände.

Das Gebet des Verkäufers, denkt Tamaris und stellt sich vor die Säge mit der filigransten Schiene. Ihre Finger tippen sorgsam auf die Metallklingen.

Das könnte gehen, denkt Tamaris – sie will die Gestalt schliesslich nicht verunstalten.

Wofür brauchen Sie die Säge denn? fragt der Mann jetzt, als wolle er seine Beratung noch nicht aufgeben.

Tamaris erkennt einen Funken unangebrachter Neugier in seinen Augen, als keime ein Verdacht hinter seiner jungenhaften Stirn.

Er würde mir sowieso nicht glauben, weiss Tamaris, im harmlosesten Fall würde er denken, sie scherze und wolle ihn für dumm verkaufen, und im schlimmsten Fall würde er sie als unzurechnungsfähig einschätzen und ihr den Kauf der Kettensäge verweigern.

Holz. Lorbeer, antwortet Tamaris trocken und sagt die Worte wie eine Frage, dabei ist sie sich sicher, dass das elegante Gewächs beim besten Willen nichts anderes sein konnte.

Beim Spaziergang war sie dem Baum in die Arme gelaufen, so sehr streckten die Äste hilfesuchend ihre Blätter nach ihr aus, knorrige Finger, flehende Hände, die Tamaris an die helle Hautrinde drückten. Zweifellos wartete das Lorbeerkind schon lange auf eine Passantin, auf Beistand oder auf die Befreiung durch eine kraftvolle Klinge, die sich endlich getraute zu tun, was getan werden musste. Tamaris schweigt. Und der Verkäufer findet doch noch zu Argwohn, die Stirn runzelt sich, der Mund will etwas sagen, doch Tamaris kommt ihm mit ihrer Entscheidung zuvor. Sie nimmt die Bügelsäge mit Seilzugstarter, das teurere Modell, und doch ein Benziner. Das Kraftargument hat sie überzeugt, und man weiss schliesslich nie, auf was man im Leben noch alles treffen wird.

Auf der Rückfahrt liegt der Karton auf ihren Knien. Die lange Liste mit Sicherheitshinweisen, Materialvorschlägen und Anwendungstipps, die ihr der Verkäufer mit Nachdruck mitgegeben hatte, wirft sie draussen auf dem Parkplatz gleich in den Müll.

Eine Frau wird wohl noch eine Kettensäge kaufen dürfen, um eine Ungerechtigkeit zu beenden, denkt Tamaris umso entschlossener und deutet ihr Kribbeln im Unterleib als Zorn, weil das Gefühl sie darüber nachdenken lässt, gleich wieder umzudrehen und die Säge früher als geplant zu verwenden, anders zu verwenden, wie eine Furie zu verwenden, sie könnte es tun, einfach so tun, und stattdessen diese andere Sache im Wald vergessen, den Lorbeer vergessen, schliesslich ist die andere Sache im Wald nicht ihre Schuld.

Apollon hatte damit angefangen. Sein Spott hatte die ganze Sache erst ausgelöst, denn Apollon hatte Eros als Anfänger beschimpft.

Er sei ein schielender Schütze, sagte Apollon immer wieder, obwohl Eros alles andere als ein schlechter Schütze gewesen war, und doch ärgerte er ihn unentwegt damit, rief ihm diese Dinge zu, auf dem Weg zur Bushaltestelle, nach der Arbeit, vor der Arbeit, verkündete, Eros sei doch nichts als ein blöder Blindgänger, eine Pfeife, ein Taugenichts, der gar nichts verstehe von seinem Handwerk, weil er augenscheinlich seiner Arbeit als Schütze gar nicht nachgehen wolle, sondern lieber Papiere, Formulare und Ordner mit sich herumtrage, anstatt etwas zu tun für die Menschen, er solle sich doch nur umschauen und bedenken, wie lieblos die Menschen – und damit meine er all seine Kunden – über diese Welt wandelten.

Mal verspottete er zudem seine Schühchen, mal seine Kleidung, mal seine blonden Haarlocken – kurz: Apollon verwendete eine Vielfalt an Gespött, blieb aber im Kern dabei, vor allem seine Fähigkeiten als Schütze zu bemängeln:

Du triffst nichts und niemanden, du weiches Söhnchen, du

Engelsbubi, triffst ja nicht mal den Boden vor deinen weibischen Füsschen! kränkte Apollon sein Gegenüber mit Genuss, und weil Spott das Schlimmste sei für ein Männerherz, beschloss der gekränkte Eros zu Hause seine Rache.

Jeden Abend auf der Bettkante lechzte der Verspottete nach Vergeltung, jeden Morgen vor seiner Schüssel mit Haferflocken sammelte er seine Gedanken für einen Gegenschlag, der ein unvergesslicher Beweis seines Könnens sein sollte.

In der stillen Werkstatt unter der Garage schlug Eros stundenlang mit einem Hämmerchen auf seinem Experiment herum,

pausenlos stand er an der Werkbank im Keller, Nächte, Tage, Wochen – und gab seiner Idee den letzten Schliff. Da lagen sie vor ihm: zwei tadellose Pfeile, wie von Götterhand präpariert, eine Spitze aus Blei und eine andere aus purem Gold.

Er war vorbereitet. Er stellte sich an die Bushaltestelle, legte sich auf die Lauer und wartete wie ein Jäger auf einen sicheren Hirsch. Als Apollon angelaufen kam und sein überhebliches Grinsen grinste, legte Eros den ersten Pfeil an, zog seinen Bogen, schickte das goldene Geschoss in die Abendluft und dem erstaunten Apollon mitten ins Herz. Da der erste Pfeil traf, legte Eros – einerseits aus rachsüchtigem Übermut, andererseits mit geplanter Absicht – ein zweites Mal an und schoss den bleiernen Pfeil ins nächstbeste Herz.

Er traf eine Frau. Er traf Daphne, die aus reinem Zufall dort stand und aufgrund dieses eitlen Männerstreits ab sofort das Bleigeschoss wie einen Schicksalskern in sich zu tragen hatte. Die beiden Beschossenen blickten zu Boden und fielen – nicht in den Tod, sondern in einen kurzen Schlaf, aus dem sie nur Sekunden später verändert erwachen sollten.

Als Apollon zu sich kam, fühlt er sich geschwächt und gestärkt zugleich, eine seltsame Mischung, die allein von diesem Gegensatz lebte – und wie sie lebte, auflebte, denn Apollons Blick suchte und fand etwas, das er seit Geburt glaubte gesucht zu haben, und verfiel ihm mit Haut und Haar, dem anderen, erwachenden Wesen an der Bushaltestelle, dessen Anblick ihn wie ein Feuerschmerz durchzuckte, nicht aus Mitleid, nicht aus Angst, sondern aus einer Gier, die einem unstillbaren Hunger am nächsten kam.

Daphne hingegen wusste nicht, wie ihr geschah. Sie empfand eine üble Abscheu, als sie Apollon erblickte, wie er sich an der Wand des Wartehäuschens hochzog, auf Knien zuerst, dann stehend, sich bald in den Schritt fasste, kaum gehen konnte vor Geilheit, sein Taumeln war ein Bild des Ekels, er leckte seine Zähne, verzog die Lippen hyänenhaft und schleuderte schliesslich seinen Körper ganz und gar zu ihr hin, warf ihr sein Bestialisches vor die Füsse, bittend um Vergebung und Anhörung, oder um ein Glas Wein, ein Abendessen zu zweit, eine Liebesnacht, eine gemeinsame Wohnung, eine Hochzeit und ewige Treue bis zum Tod und weit darüber hinaus, da er, wie er ihr ungefragt und in alle Ewigkeit schwor, nur ihre Gestalt alleine für immer in Beschlag nehmen wolle und würde, und solle es nicht sein, was ihm als Mann von den Göttern bestimmt sei, so bleibe ihnen beiden gewiss nur das sichere Sterben.

Doch Daphne wandte sich ab. Schnell und aus einem Reflex, wie man sich von der Quelle eines beissenden Gestanks wegdrehte. Ihre Schritte eilten, wechselten bald in ein Rennen, und so lief sie ihrer Wege. Doch der Liebespfeil in Apollons Körper verbreitete sein Gift zuverlässig. Er liess nicht locker, er stellte ihr nach – täglich an der Bushaltestelle, stand nachts vor ihrer Wohnung, morgens vor ihrer Wohnungstür, überraschte sie am Arbeitsplatz, beim Mittagessen, beim Einkaufen, im Kino, schrieb Briefe und Nachrichten und rief an, so oft es ging und so deutlich es ging – er flehte, bettelte, beteuerte – vergeblich.

Daphne meldete ihren Verfolger bei den vorgesehenen Stellen – ebenfalls vergeblich. Die Bürokratie zuckte bloss mit den Schultern und beteuerte, ihr seien die Hände gebunden, und versicherte, sie alle hätten Besseres zu tun und Schlimmeres zu behandeln, ausserdem solle sie sich doch freuen, schliesslich sei ja noch gar nichts passiert, was als eine Tat zu untersuchen sei – also blieb Daphne nichts anderes übrig:

Sie floh. Sie floh von Stadt zu Stadt, doch der Verfolger wurde seinem Namen gerecht und folgte. Also floh Daphne immer weiter, was den längst Getriebenen nur noch mehr anstachelte, und er steigerte seine Strategien.

Bekam er sie zu sehen, bekam er sie zu greifen, benutzte er seine Arme und Hände, um sie zum Hören, zum Bleiben zu bringen, zum Kusse zu zwingen.

Die vom Schicksalspfeil doppelt Getroffene riss sich abermals fort, überquerte die Hauptstrasse, etliche Hauptstrassen, wechselte in eine neue Wohnung, in eine neue Stadt, zog von Vorort zu Vorort, gab das Wohnen schliesslich ganz auf, durchschritt Maisfelder, Rapsfelder, Moorlandschaften, erklomm Hügel, Passstrassen, nächtigte in Herbergen und Hotels mit verschlossenen Türen, ein Auge stets wachsam, ein Ohr immer lauschend, sie reiste immer frühzeitig ab, blickte bei jedem Richtungswechsel zweifach über jede Schulter, floh weiter, machte Wanderungen in abgelegene Gebiete, bog weit an den Ausflugzielen vorbei, rannte, eilte und lief und lief und stolperte nach Monaten und Jahren hinein in einen dichten Wald, immer tiefer hinein ins Wuchernde, wo ihre Kräfte langsam schwanden, und selbst als sie niedersank, tat sie dies mit Widerwillen, so sehr fürchtete und glaubte sie den verliebten Schatten noch hinter sich.

Jede Treibjagd fordert ihren Preis. Die Erschöpfung behielt sie am Boden, drückte ihre Jeanshose, die knochigen Knie gegen das Erdreich und presste das müde Fleisch auf den Blätterteppich des Waldes. Die Dunkelheit kam hinzu, sie bedeckte ihren Leib mit Dämmerung, die Nacht legte sich in ihre Wiege, strich ihr die Verzweiflung aus den Haaren, und erst die morgendlichen Schritte eines Männleins rissen die Liegende aus ihrem Halbschlaf.

Der Greis fragte sofort nach dem Leid, das die schöne Frau zu erdrücken schien, denn ein Gewicht dieser Art war für jedermann auf den ersten Blick sichtbar, woraufhin Daphne ihm erzählte, was sie hergetrieben hatte. Sie erzählte von ihrem Bedränger, ihrem Abscheu und dieser Verfolgung, die nicht enden wollte, obwohl ihre Kräfte dies längst verlangten.

Es ist deine schöne Gestalt, sie gefällt zu sehr, sagte das Männlein nach einer Weile, als bedeute seine Meinung die einzige Wahrheit.

Und Daphne erwiderte mit kluger Wut, es sei mit Sicherheit stets die Schuld des Verfolgers und nicht die der Verfolgten, renne doch die Vordere nur in Angst, weil der Hintere es mit seinen Ab-

sichten tue, und das Ganze in Umkehrung zu sehen sei eine sehr boshafte Sicht, die Sicht eines alten Männleins, der sich in seinem Körper seit jeher zu sicher fühlen durfte und sich in seinen Handlungen weiterhin und um jeden Preis sicher fühlen wolle und deshalb versuche, diese Schuld zu vertauschen – ausserdem könne sie nichts für ihre Gestalt, und diese ändern könne sie schon gar nicht, etwas verändern könne einzig der Nachstellende, und zwar sein Verhalten, und weiter habe sie dazu nichts zu sagen.

Doch das Männlein wollte nicht hören, glaubte er doch in seiner Arroganz die Lösung gefunden zu haben, die er sofort in die Tat umgesetzt sehen wollte.

Er schwang einen Tannenzweig vor Daphnes Nase, und in diesem Moment gipfelte die Ungerechtigkeit in einer Verwandlung.

Es geschah mit ihr. Eine Taubheit krümmte ihre Glieder, härtete die Beine, Arme, Bauch und Brust, die Füsse schlugen ihre Zehen durch Moos und Boden, hakten die Nägel ins Erdreich, suchten als Wurzeln nach Halt, während das Sanfte ihrer Brust hinter einem Korsett aus Rinde verschwand. Die Arme drehten wie Äste alles ins Knorrige, versteiften sich, hölzern, harzig. Die Haare wechselten von Horn zu Laub und wurden unter der Krone zum Wipfel, der das Frauengesicht hinter dichtem Grün versteckte.

So war es passiert, so war es gewesen und so ist sie noch heute.

Ihr Glanz ist dem Lorbeer geblieben, denkt Tamaris, als sie vor dem Frauengewächs steht.

Ihre Finger fahren über die Rinde, über die zweideutigen Maserungen und Falten, das Gewebe lebt, im Stamm bebt das Baumherz einer Frau.

Und wo Holz ist, wird bald wieder Frauenhaut sein, denkt Tamaris und startet den Motor. Die Kettensäge heult auf.

Ich entledige dich deiner falschen Gestalt, flüstert Tamaris, doch ihr Satz ertrinkt im Lärm, genauso wie die entfernten Schritte darin verschwänden, Schritte, die erwachten, sich näherten und die von gar niemanden sein könnten, weil niemand von Tamaris’ Vorhaben wüsste.

Doch die Konzentration liegt gerade anderswo.

Tamaris setzt die Schiene an. Die Kettenzähne rasen über die Holzhaut, berühren die Rinde, Späne tropfen davon, die Metallbeisser ergreifen und formen die Gestalt. Süsses Harz verlässt den Baum, Schnitt für Schnitt nimmt der Leib wieder seine Gestalt an, weil die Frau alles Überflüssige wegschneidet, endlich herausschneidet, was so tief hineingegraben, so fest hineingewachsen ist.

Die Klingen lösen mühelos, was herauszulösen ist: Da erscheint ein Knie, die Scheibe sticht weiss zwischen den Jahresringen hervor, Tamaris sägt weiter, umsägt Oberschenkel, befreit die Rippen, der Stamm verformt sich weiter, wird zu Schultern, Brüsten, die Zweige entblössen Arme, Handgelenke, Kinn, Füsse, alles tritt hervor, als grabe es sich wurmartig aus der Naturmasse heraus, die Finger sind das filigranste, die Haare lösen sich endlich vom Geäst, und ein erster Wind heisst sie willkommen, die Luft umarmt und schüttelt die Frau, lässt ihre Blätter und Nägel rascheln und streift wie ein durchsichtiger Helfer das letzte Baumhafte von ihr ab. Die Säge verstummt. Es gibt kein Geschrei mehr.

Sie ist wunderschön, und sie atmet – wir beide atmen, weiss Tamaris und steht vor den Holzresten, die einem Gemetzel gleichen.

Der Leib liegt da. Der Waldboden trägt das Fleisch offen auf seinen braunen Blättern. Wie ein Neugeborenes sammelt das Geschöpf seine Sinne, bis es sich wieder zurechtfindet in dieser neuen, alten Welt. Die Befreiung hat Kraft gekostet.

Die Gestalt schweigt, aber sie regt sich. Und die Stille trügt, wie sie immer trügt.

Sind das Schritte? Tamaris dreht sich um.

Oder bewegen die Schatten des Waldes ihre Beine und Füsse? Tamaris kniet sich hin.

Wir müssen los, flüstert sie der Frauenform ins entblätterte Ohr und umfasst ihre entwucherten Arme, sie will die Geschaffene hochziehen, will sie wegtragen, will sie abermals retten. Ihre freie Haut ist warm und weich.

Sie kommen, jemand kommt, sagt Tamaris, doch das Wesen will nicht.

Es will längst nicht mehr – und schon gar nicht fliehen. Die Schritte kommen näher, und es sind Schritte, weil sie wie Schritte klingen, dabei verrät ihr Klang nichts darüber, ob sie aus Sorge oder aus Gier in Bewegung geraten sind. Aber sie sind nah, sind immer näher. Und sie steigern sich schnell.

Tamaris und Daphne geben sich die Hand. Die Gestalten erheben sich. Die Frauen stehen da. Und der Wald umgibt den Moment ihrer Entscheidung. Die fremden Schritte sind fast am Ziel. Doch die Motorsäge liegt vor ihnen.

Und sie ist noch warm.

MARTINA CLAVADETSCHER, geboren 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie. Seit 2009 arbeitet sie als Autorin und Dramatikerin, 2013/14 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. Mehrere Preise, 2017 Nominierung für den Schweizer Buchpreis. Im Februar 2021 erschien ihr Roman «Die Erfindung des Ungehorsams».