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Film

«Eine Chance für Schweizer Filme»

Film Die Kinos sind wieder geöffnet. Finanziell lohnt es sich für die meisten nicht. Die Branche wertet die Öffnung aber als positives Zeichen ans Publikum.

EINSTIEGSTEXT DIANA FREI FILMTEXTE MONIKA BETTSCHEN

Nachdem die letzten Monate von wiederholt verschobenen Filmstarts geprägt waren, sind die Kinos mit Auflagen nun wieder geöffnet. Folgt jetzt das grosse Gerangel um freie Leinwände? René Gerber von ProCinema, dem Schweizerischen Verband für Kino und Filmverleih, verneint. «Es gibt einige Verleiher, die ihre Filmstarts bis in den Herbst verschoben haben, weil die Situation noch immer unsicher oder mit den Auflagen zu unattraktiv ist. Und es ist auch weniger produziert worden.» Ausserdem fehlen zu einem grossen Teil nach wie vor die Mainstreamfilme, die noch keinen internationalen Start hatten – und so auch in all jenen Ländern nicht gezeigt werden, wo die Kinos wieder geöffnet sind. Blockbuster sind zurzeit also dünn gesät – was wiederum für kleinere Schweizer Filme eine Chance sein kann. Normalerweise ist das Verhältnis deutlich: Pro Jahr werden durchschnittlich 70 bis 80 Schweizer Filme von gesamthaft 500 Filmen gestartet, sie machen damit also 15 bis 20 Prozent aus. Jetzt müssen Kinobetreiber*innen flexibel auf das vorhandene Angebot reagieren. «Die Situation gibt kleinen Filmen die Chance, auf vielleicht 30 bis 45 Leinwänden zu starten, statt nur auf 10 wie üblicherweise. Damit zerfliesst ein Stück weit auch die Abgrenzung von Arthouse und Mainstream», sagt Gerber. Finanziell lohnt sich die Kinoöffnung für fast niemanden. «Es ist nicht möglich, ein Kino mit den geltenden Auflagen rentabel zu betreiben. Umso wichtiger sind die Unterstützungsmassnahmen des Bundes, die weiterhin in Kraft sind», sagt Gerber. Die Branche sei trotz allem erleichtert: «Man will für das Publikum da sein.»

Deshalb haben wir einige Arthouse-Filme herausgepickt, die es sich zu sehen lohnt.

Dilemma der Selbstverwirklichung

Regisseurin Johanna Faust weiss nicht mehr weiter. Die Mutter von zwei kleinen Söhnen und einer fast erwachsenen Tochter tut sich schwer mit der Entscheidung, ob sie in Ox-

ford ihren Master in Kunst nachholen soll. Würden ihre Kinder durch ihre Abwesenheit Schaden nehmen? Ratsuchend wendet sich Faust zu Beginn von «I’ll Be Your Mirror» an ihre Mutter. Denn die fand ebenfalls keine echte Erfüllung in der Mutterschaft und wanderte in die USA aus, als Johanna und ihre Geschwister volljährig waren: Sie verliess die Familie, um sich selbst zu verwirklichen. Die Kinder wurden oft einfach abgeschoben und vernachlässigt. Faust bezieht die ganze Familie eng in ihre Antwortsuche mit ein. Diese verwandelt sich in Amerika in einen Roadtrip, der alle an ihre Grenzen bringt, aber auch gegenseitiges Verständnis schafft. Der Film sucht keine Schuldigen, sondern wirft die wichtige Frage auf, wie Kindererziehung aufgeteilt werden müsste, um beiden Elternteilen – durchaus auch in ihrem Streben nach Selbstverwirklichung – gerecht zu werden.

Johanna Faust: «I’ll Be Your Mirror»

Dokumentarfilm, CH 2019, 91 Min. Läuft zurzeit im Kino.

Endstation für den Güterbahnhof

Die Hand eines Bauarbeiters greift durch ein Loch nach einem Vorhängeschloss, so, als wolle ein Häftling aus seiner Zelle ausbrechen, obwohl das hier geplante Gefängnis noch gar nicht steht. Wo der alte Güterbahnhof in Zürich das Erscheinungsbild der Stadt ab 1897 geprägt hat, fahren im Mai 2013 die Bagger auf. Gierig verbeissen sich ihre stählernen Kiefer im historischen Gemäuer und machen es dem Erdboden gleich. Von seinem Fenster aus filmte Thomas Imbach den Abbruch sowie die anschliessenden, sich über Jahre hinziehenden Bauarbeiten. In der so entstandenen filmischen Chronik sinniert er aus dem Off über die Vergänglichkeit und über den Zweck des Neubaus, während die Tages- und Jahreszeiten langsam vergehen. Der Güterbahnhof musste einem neuen Polizei- und Justizzentrum inklusive Gefängniszellen weichen. In «Nemesis» reihen sich während über zwei Stunden Bilder von erschütternder Schönheit und Wehmut aneinander, die dem alten Güterbahnhof, und damit einer ganzen Ära, ein bewegendes Denkmal setzen.

Thomas Imbach: «Nemesis»

Dokumentarfilm, CH 2020, 132 min. Läuft ab 27. Mai im Kino.

Das Gewicht des Heimwehs

Wer einen Drucker bestellt, landet vielleicht in der Leitung von Marcel Vögtli. Nur sitzt der nicht in einem Schweizer Büro, sondern in Istanbul und heisst eigentlich Duran. Seit der straffällig gewordene Kurde aus der Schweiz ausgewiesen wurde, verlässt er seine Wohnung nur zum Arbeiten – aus Angst, bei einer Ausweiskontrolle ins Militär eingezogen zu werden. Via Skype versucht er, die Beziehung zu seiner Schweizer Frau und dem kleinen Sohn zu pflegen.

Auch Mustafa und Vedat wurden in die Türkei ausgeschafft: Mustafa schon vor 25 Jahren wegen schwerer Verkehrsdelikte, Vedat vor sechs Jahren wegen Drogen- und Gewaltdelikten. Während der ältere Mustafa konkreten Fragen ausweicht, sprechen die beiden jüngeren Männer in Jonas Schaffters Dokumentarfilm «Arada» offen über ihre Taten, Schwächen und Ängste. Beide arbeiten im Telefonmarketing. Perspektivenlosigkeit und Heimweh nach der Schweiz lasten schwer auf ihnen. «Arada» bedeutet im Türkischen «dazwischen» – und so präsentiert sich auch die Umgebung, in der die drei Männer heute leben. Schaffter sind drei ehrliche Porträts gelungen, die die Schweizer Ausschaffungspraxis hinterfragen, aber auch die begangenen Delikte thematisieren.

Jonas Schaffter: «Arada»

Dokumentarfilm, CH 2020, 83 min. Läuft ab 27. Mai im Kino.

Revolte der Würde

Das süditalienische Städtchen Matera war bereits unter Pier Paolo Pasolini mit Mel Gibson Schauplatz des Lebens Christi. Der Film- und Theaterregisseur Milo Rau reiht sich mit «Das neue Evangelium», Dokumentarfilm, Passionsspiel und Revolution in einem, in diese Tradition ein. Er schafft

ein kraftvolles Szenario, um der Frage nachzugehen, welchen Menschen sich ein Messias in der heutigen Zeit zeigen würde. In diesem filmischen Gesamtkunstwerk sind es die afrikanischen Migrant*innen, die rund um Matera Tomaten ernten und in ärmlichen Behausungen vor den Toren der Stadt leben. Verkörpert durch Yvan Sagnet, zieht Jesus durch Matera, klärt die Leute über ihre Grundrechte auf, erwählt seine Apostel und startet eine «Rivolta della dignità», eine Revolte der Würde. Dabei ist Sagnet, der Darsteller, seinerseits Politaktivist aus Kamerun, der selbst auf den Feldern arbeitete und später den grössten Streik in der italienischen Landwirtschaft organisierte.

Milo Rau: «Das neue Evangelium»,

Dokumentarfilm, D/CH/I 2020, 107 min. Läuft zurzeit im Kino.

Hauptsache Kind?

Mit «Menschenskind!» von Marina Belobrovaja kommt noch ein Dokumentarfilm in die Kinos, der Familiengründung und Selbstverwirklichung verhandelt. Die Filmemacherin ist Mutter der kleinen Nelly, deren Vater sie im Internet auf der Suche nach einem Samenspender gefunden hat. Sie wollte unbedingt ein Kind, aber dafür

keine Beziehung eingehen. Die Sicht des Kindes hat sie bei diesem Prozess ausgeblendet. Aber auch ihre Tochter wird irgendwann fragen: Wer ist mein Papa? Belobrovaja zeigt in ihrem Dokumentarfilm unterschiedliche Familienmodelle und trifft Menschen, die durch eine anonyme Samenspende entstanden sind. Zum Beispiel die Psychologin Anne, die sagt, es bereite ihr «ethische Bauchschmerzen», wenn Menschen den eigenen Kinderwunsch höher gewichten als das Kind, das später einmal Fragen nach der eigenen Identität stellen wird. Marina Belobrovajas in Israel lebende Familie hingegen hat ihr Vorgehen gutgeheissen, Hauptsache ein Kind, erzählt die Regisseurin im Film. «Menschenskind!» zwingt jene, die um (fast) jeden Preis ein Kind wollen, zu einer selbstkritischen Güterabwägung.

Marina Belobrovaja: «Menschenskind!»

Dokumentarfilm, CH 2021, 82 min. Läuft ab 13. Mai im Kino. Als uneheliches Kind einer Italienerin hat der 1899 in Zürich geborene Antonio Ligabue schlechte Karten. Er kommt zu lieblosen Pflegeeltern, wird wegen seines Aussehens gehänselt und entwickelt psychische Störungen. Mit 19 wird er nach Italien ab-

geschoben, wo er in einer Waldhütte haust, bis ihn der Bildhauer Marino Mazzacurati bei sich aufnimmt – und das Talent dieses Mannes entdeckt, der später mit seinem Werk zwischen Art Brut und Expressionismus als der «Schweizer Van Gogh» bekannt werden sollte. Regisseur Giorgio Diritti taucht in seinem Biopic «Volevo nascondermi» tief in die seelischen Qualen von Ligabue ein und setzt diesen erhabene Einstellungen von italienischen Landschaften und Orten gegenüber. Elio Germanos Darstellung des von inneren Dämonen gequälten Künstlers wurde 2020 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.

Giorgio Diritti: «Volevo nascondermi»

Spielfilm, mit Elio Germano, Pietro Traldi, Orietta Notari u.a., I 2020, 120 min. Läuft zurzeit im Kino.

Verlosung

Wir verlosen 4×2 Kinogutscheine. Offeriert werden sie von ProCinema, Schweizer Verband für Kino und Filmverleih, unterstützt wird die Aktion #BackToCinema vom SFVJ, dem Schweizerischen Verband der Filmjournalist*innen.

Senden Sie uns eine E-Mail oder Postkarte mit dem Betreff «Kinogutschein» an: Surprise Strassenmagazin, Münzgasse 16, 4051 Basel oder info@surprise .ngo. Einsendeschluss ist der 31. Mai 2021. Die Gewinner*innen werden ausgelost und schriftlich benachrichtigt. Viel Glück!

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