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Konflikt

Angriff auf New York

Konflikt In der Ostukraine wollen Leute ihren Ort in New York umbenennen – und so dem Krieg trotzen.

TEXT UND FOTOS DANIELA PRUGGER

«Wir wissen aus erster Hand, was eine Besetzung bedeutet. Und dass alles noch schrecklicher werden kann.»

NADIYA GORDIYUK Nadiya Gordiyuk hat ihre wichtigsten Dokumente bereits in eine abgewetzte braune Ledertasche gepackt. Den Reisepass, die Rentenbescheinigung, Ausweise über Immobilienbesitz, Ausbildungszertifikate. Sorgfältig bereitet sich die 57-Jährige auf den Ernstfall vor, sorgt dafür, dass sie genügend Batterien für die Taschenlampe zuhause hat, Medikamente, einen Vorrat an Trinkwasser und Konserven sowie eine warme Decke für den Keller.

Gordiyuk kennt das schon. Sie ist Lehrerin in Nowhorodske, einer Stadt mit 8000 Einwohner*innen in der ostukrainischen Region Donbass. «Unsere Stadt war im Sommer 2014 für kurze Zeit besetzt, daher wissen wir aus erster Hand, was eine Besetzung bedeutet. Und wir wissen sehr wohl, dass das neue Szenario noch schrecklicher und blutiger sein kann.» Nowhorodske liegt so nahe an der Front, dass man von einem Hügel aus die Stadt Horliwka auf der anderen Seite sehen kann. Seit sieben Jahren dauert der Krieg zwischen der ukrainischen Armee und den von durch Russland unterstützten Separatisten nun schon an. Laut UNHCR hat er seit dem 14. April 2014 bis heute auf beiden Seiten insgesamt 3084 zivile Opfer gefordert und ist der Hauptgrund, warum die Bürger*innen von Nowhorodske seit Jahren dafür kämpfen, dass ihre Heimat wieder in «New York» umbenannt wird. So nämlich hiess Nowhorodske bis zum Jahr 1951, dann wurde der Name in der Sowjetzeit geändert.

Mit Facebook-Seiten und Werbeartikeln, Einladungen an die Presse und politische Vertreter*innen versuchten Mykola Lenko, bis vor Kurzem Bürgermeister von Nowhorodske, die Lehrerin Gordiyuk und andere Bürger*innen in den vergangenen Monaten immer wieder auf sich aufmerksam zu machen. Mit Erfolg. Beinahe jedes ukrainische Medium hat mittlerweile über die «New Yorker» im Donbass berichtet. Am 3. Februar 2021 hat das Komitee für lokale Regierungsführung der Werchowna Rada die Umbenennung gebilligt. Die parlamentarische Abstimmung hat jedoch noch nicht stattgefunden. «Niemand hört hin, wenn ‹Nowhorodske› beschossen wird», sagt Lenko. New York hingegen sei das neue «Branding», das dieser Ort brauche.

Ein Stück Stadtmärchen

Wird Lenko gefragt, warum sein Heimatort einst New York hiess, hat er eine Handvoll Geschichten parat, von denen die meisten wohl Legenden sind. Besonders gut gefällt ihm die Erzählung über einen Ziegelfabrikanten und seine Frau: «Im 18. Jahrhundert fuhr dieser Fabrikbesitzer nach New York, um eine Ausstellung zu besuchen. Er verliebte sich in die Tochter seiner Dolmetscherin und brachte sie hierher. Sie vermisste ihre Heimat so sehr, dass er den Ort in New York umbenannte.» Die Geschichte mag nur ein Stück Stadtmärchen sein, aber sie ringt Lenkos müdem Gesicht ein Lächeln ab. Er verfügt aber auch über Dokumente mit den Namen der frühen mennonitischen Siedler*innen, die einst aus Deutschland hierherkamen. Sie dokumentieren, dass dieser Ort einst tatsächlich New York hiess. Zwar wurden die

deutschen Mennonit*innen im Jahr 1941 auf Befehl Stalins deportiert, doch für Lenko bedeutet dieses kulturelle Erbe in einer Gegend wie dem Donbass, den viele für ein trostloses Industriegebiet halten, alles. Vor allem in einer Zeit, in der sich die Bewohner*innen aufgrund des Krieges keine Zukunft aufbauen können, hält er an dieser Vergangenheit fest. Lenko wünscht sich, dass eines Tages internationale Student*innen hierherkommen und die Gegend erkunden, dass Interessierte aus Deutschland anreisen und sich mit den Einheimischen austauschen. Einige Einheimische, vor allem Rentner*innen, sind gegen die Umbenennung des Dorfes oder stehen ihr zumindest gleichgültig gegenüber. Andere jedoch, wie Nadiya Gordiyuk, sagen heute stolz: «Ich komme aus New York.»

Die Hoffnungen auf die Wiederbelebung des ukrainischen New York sind gross. «Unsere Facebook-Gemeinde ‹Ukrainisches New York in der Region Donezk› hat bereits mehr als zweitausend Einwohner*innen, was einem Viertel der Gesamtbevölkerung entspricht», sagt Gordiyuk. Doch die Alltagsrealität – Militärfahrzeuge und Soldaten auf den Strassen – macht es schwer, an eine baldige Besserung der Dinge zu glauben. Für Lenko könnten Tourismus und ein Rebranding nicht bloss positive Auswirkungen auf die Wirtschaft, sondern auch sicherheitspolitische Konsequenzen haben. «Ich glaube nicht, dass es viele Leute gibt, die New York angreifen würden», sagt er. Ungeachtet der Waffenruhe, die seit dem 27. Juli 2020 besteht, scheint sich die Situation zuzuspitzen. Zwar waren auch während der Waffenruhe Opfer zu beklagen, und es wurde geschossen. Doch Gordiyuk konnte nachts schlafen, ohne von den Explosionen der Granaten aufzuwachen, wie es in den Jahren davor der Fall war. In den vergangenen zwei Wochen jedoch hat die Anzahl der Verstösse gegen die Waffenruhe wieder zugenommen. Laut der Beobachterorganisation OSZE gab es dreimal so viele Zwischenfälle, durch Flugabwehrraketen oder Granatwerfer etwa, wie im Vorjahreszeitraum. «Wir befinden uns an vorderster Front, also sind wir die ersten, die unter einer Eskalation leiden», sagt Gordiyuk.

Mehr als 40 000 Soldaten hat Russland zuletzt an seiner Grenze zur Ostukraine stationiert, dasselbe sei auf der Halbinsel Krim geschehen, erklärt Iuliia Mendel, die Sprecherin des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. «Ich hoffe, der Präsident wird auf friedliche Weise einen Ausweg finden, um eine Eskalation zu vermeiden. Heute liegt die Verantwortung auf politischer Ebene und in der Bereitschaft unserer europäischen Partner, ihre Unterstützung durch Taten zu beweisen», sagt Lenko.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass derzeit 3,4 Millionen Menschen in der Nähe der Front leben und humanitäre Hilfe benötigen. Nowhorodske ist eine von vielen Siedlungen, die aufgrund

«New York» steht auf dem Schild an der Tankstelle eingangs des Heimatortes von Nadiya Gordiyuk (links) und Tatiana Krasko.

POLEN BELARUS RUSSLAND

UKRAINE

RUMÄNIEN

KRAMATORSK

NOWHORODSKE

UKRAINE

LUHANSK

DONEZK

RUSSLAND

ASOWSCHES MEER Kontakt-Linie Bufferzone 5 km Bufferzone 15 km Separatistenterritorium Ukrainisches Territorium

des andauernden Krieges, der Checkpoints, der Landminen und nun auch noch der Coronakrise entweder ganz oder teilweise von der Umgebung isoliert sind. Dazu kommen Probleme in der Strom- und Wasserversorgung, Arbeitslosigkeit, Armut, Abwanderung.

Tatiana Krasko, die bis Anfang April – bis zur Einsetzung der zivil-militärischen Verwaltung – Gemeinderatssekretärin war, sorgt sich nicht nur um den Krieg. Auch die HIV-Infektionen haben in den vergangenen Jahren zugenommen. «Die Arbeitslosigkeit hat den Drogenkonsum angekurbelt», erklärt die 45-Jährige. Vor allem Männer seien betroffen. Ebenfalls hoch ist die Zahl von Lungenkrebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, der Grund dafür liegt laut Krasko auf der Hand. Seit Jahrzehnten arbeiten die Menschen in der Gegend im Phenolwerk oder in der Quecksilberfabrik im nahe gelegenen Horlivka. Dabei bergen diese Betriebe ein zusätzliches Risiko für die Umwelt, denn im Falle eines Schadens könnten Chemikalien auslaufen und den Boden und die umliegenden Flüsse vergiften.

Müde und doch optimistisch

Und dann kam zu allem anderen Corona. Vor allem in der Nachbarstadt Torezk sind die Infektionszahlen in letzter Zeit angestiegen. «Es gibt viele einsame ältere Menschen hier, und da es keine Lieferservices gibt, sind diese Menschen gezwungen, das Haus zu verlassen und selbst zur Apotheke oder ins Geschäft zu gehen», sagt Krasko. «In vielen Fällen können kranke Menschen keine Selbstisolation einhalten.» Tests werden an jenen durchgeführt, die Symptome haben. Doch seit Beginn der Pandemie gibt es Probleme mit der Verfügbarkeit von Masken, Desinfektionsmitteln und Medikamenten. «Unabhängige Organisationen haben damit begonnen, Masken zu nähen und sie an das Krankenhaus, das Postamt und an die Geschäfte verteilt», erzählt sie.

Als Leiterin einer lokalen Frauen-Initiative engagiert sich auch Krasko für die Umbenennung von Nowhorodske in New York. Unter anderem kümmert sie sich um die Souvenirs: Kühlschrankmagnete mit Bildern von lokalen Sehenswürdigkeiten, wie öffentlichen Gebäuden, dem Park und Wohnhäusern, die von deutschen Siedler*innen gebaut wurden. Besagte Gebäude befinden sich in einer Strasse, die früher «Gartenstrasse» hiess. Die Architektur der Häuser ist für die Ostukraine ungewöhnlich, da sie sich an den Herkunftsorten der ersten deutschen Siedler*innen orientierte: Die Wände sind dick und es gibt massive Keller. Keller, die in Kriegszeiten Leben retten.

«Ich bin müde und ich möchte, dass das alles endet. Ich habe keine Kraft mehr dafür und ich will nicht immer in ständiger Angst leben», sagt Krasko. Sie versucht derzeit, keine Nachrichten zu lesen oder zu sehen. Den Optimismus, den sie Ende 2019 an den Tag legte, hat sie trotzdem nicht verloren. Damals führte sie durch die Strassen, zeigte begeistert die örtliche Tankstelle, an der ein Schild mit dem Namen «New York» angebracht ist. «Wir geben nicht auf», sagt sie. «Wir haben eine schwache Hoffnung, dass man uns den historischen Namen gerade jetzt zurückgibt, damit die Situation nicht eskaliert.»

Das Kulturzentrum, ein zweistöckiges rotes Gebäude im Herzen der Stadt, wurde mittlerweile fertiggestellt. Heute befinden sich darin ein Heimatmuseum, ein Veranstaltungsraum und ein kleines Gästehaus. Eine Rampe für Rollstühle wurde neben dem Eingang gebaut. Damals, als der Beton noch frisch war, haben Krasko und andere Bewohner*innen ihre Namen hineingeritzt.

«Niemand hört hin, wenn Nowhorodske beschossen wird. Aber wer würde New York angreifen wollen?»

MYKOLA LENKO