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Verkehr

Verkehr Wer mehrfach ohne Billett im ÖV erwischt wird und die Bussen nicht zahlen kann, muss diese irgendwann absitzen. Das kostet viel und bringt wenig. Ginge es auch anders?

Ein teures Strafsystem

Menschen müssen ins Gefängnis, weil sie ohne Billett Zug fahren. Anderen wird das Halbtax verwehrt, weil sie noch ÖV-Schulden haben.

TEXT BENJAMIN VON WYL

Wer kaum oder kein Geld hat, ist im Service public nicht mitgemeint. Zwar öffnen sich die Türen von Zügen, Bussen und Trams unabhängig davon, wer den Öffnungsknopf betätigt. Am Anfang dieses Artikels steht ein Anruf von Cornelia Monteiro, die in Wirklichkeit anders heisst. Monteiro lebt von einer halben Invalidenrente. Die Mittfünfzigerin hat wenig Geld und ist nicht besonders gut im Umgang mit Bürokratie. Als die Pandemie beginnt, besitzt sie ein Halbtax. Sie schreibt der SBB einen handgeschriebenen Brief: Das Halbtax solle storniert werden. Sie denkt nicht mehr an die Sache, sie erhält eine Rechnung. Dann folgt eine Mahnung, auf die Mahnung wohl eine Betreibung – ihr fehlt das Geld, sie wirft die Forderungen in den Müll. Als Monteiro dann im Herbst letzten Jahres beim Schalter ein neues Halbtax kaufen will, weil sie wieder pendeln muss, habe man ihr am Schalter die Ermässigungskarte verweigert. Eine Bekannte von Monteiro kauft ihr daraufhin das Halbtax online, als Geschenk. Die Quittung liegt vor. Doch einen Monat später, wenige Tage vor Weihnachten, erhält Monteiro eine Mail der SBB: Das neue Halbtax ist gesperrt. Grund dafür sind Monteiros Schulden bei der SBB.

Die Geschäftsbedingungen erlauben das – doch es ist absurd. Allen, die ein Generalabo haben, erliess die SBB im Pandemiejahr hunderte Franken. Eine Person hingegen, die jeden Rappen umdrehen muss, soll wegen einer kleineren Schuld den vollen Preis zahlen, bis ihre Schulden abbezahlt sind? Monteiro sagt, andere Marginalisierte aus ihrem Umfeld würden einfach ohne gültiges Billett fahren. «Aber mit meiner Geschichte kommt das nicht infrage.» Sie leidet an Klaustrophobie. «Ich kann unter keinen Umständen ins Gefängnis.» Denn damit müsste sie rechnen, wenn sie erwischt wird.

Überraschend verhaftet

Bruce Waldhof, der ebenfalls in Wahrheit anders heisst, hätte sich das bis vor Kurzem nicht vorstellen können. Er gehörte lange zu jenen Weltreisenden, bei denen der Übergang zur Obdachlosigkeit fliessend ist. Waldhof hat kaum Geld und ist auf zwei Kontinenten in mindestens zehn Ländern ohne Ticket Zug gefahren. Meist habe man ihn einfach aus dem Zug geschmissen, wenn das entdeckt wurde. Als er vor ein paar Jahren die Schweiz bereiste, um das Land seines Vaters kennenzulernen, waren die Zugbegleiter*innen freundlicher als an anderen Orten. Ruhig baten sie Waldhof um dessen Papiere. Der reiste von Chur bis Vevey, vom Jura bis nach Bern. Ob er 20 oder 60 Mal eine Busse erhielt, weiss er nicht mehr. In dieser Zeit habe er sein Leben nicht im Griff gehabt. Ein einziges Mal habe ihm ein Zugbegleiter gesagt, dass er aufpassen müsse: Wer zu viele Bussen sammle, wandere ins Gefängnis. «Trotz der schlechten Nachricht war ich ihm so dankbar: Thanks, man!»

Waldhof verliess die Schweiz wieder. Im letzten Winter – ungefähr zur selben Zeit, als die SBB Monteiro das Halbtax verweigerte – plant er die Rückkehr in die Schweiz. Er will dort ein paar Angelegenheiten regeln, vielleicht sogar ein ruhiges Leben beginnen. Schliesslich besitzt er auch den Schweizer Pass. Am vierten oder fünften Tag seiner Einreisequarantäne in Bern holt ihn die Polizei ab. Zwei Wochen verbringt er im Gefängnis. Heute hat er eine eigene Wohnung, verkauft ab und zu Surprise. Über die Tage hinter Gittern denkt er oft nach. Dass Menschen eingesperrt werden, weil sie dem Staat und Unternehmen Bussgeld schulden, nimmt er hin. Die Menge der Betroffenen hat ihn überrascht. «Alle in meiner Zelle mussten wegen Schulden einsitzen.»

Im Berufsalltag erlebe man Gespräche, die «richtig fordernd» sind, sagt Zugbegleiter Joel Müller. «Wir sind nicht die «Möchtegernpolizisten, die Jagd auf Reisende ohne Fahrausweise machen.» Sie seien etwas anderes. «Nämlich die Gastgeber auf unseren Zügen.» Müller achtet darauf, niemanden zu schubladisieren. «Jeder Fahrgast ist anders. Ob mit oder ohne Ticket. Ich probiere mir da möglichst wenig Gedanken zu machen und nehme jede Situation, wie sie gerade kommt.» Es ist also kein Wunder, dass nur einer von dutzenden Zugbegleiter*innen Bruce Waldhof warnte: Zugbegleiter*innen verteilen zwar die Bussen, mit Gefängnissen aber haben sie nichts zu tun. Ein*e Angestellte*r der SBB macht irgendwann eine Anzeige. Alle, die zahlen können, tun es spätestens jetzt. Die anderen sitzen die Strafe im Gefängnis ab.

Haftaufenthalte wegen Geldbussen nehmen massiv zu: Vor dreissig Jahren sassen gemäss Bundesamt für Statistik in einem Jahr knapp 400 Personen ihre Bussen in Haft ab – 2019 gab es

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3601 sogenannte Bussenumwandlungen. Erstmals mehr als reguläre Freiheitsstrafen. Pro angebrochene 100 Franken Busse oder Geldstrafe muss man einen Tag in den Bau – die öffentliche Hand kostet der Freiheitsentzug gut und gerne das Doppelte. Eine Untersuchung von Strafrechtsprofessor Martin Kilias im Kanton Zürich zeigte, dass diese «Ersatzfreiheitsstrafen» im Schnitt fünfzig Tage dauern. Oft sind es nur sehr kurze Strafen – im längsten von Kilias aufgeführten Fall waren es aber zwei Jahre. In zwei von fünf Fällen war der Grund ein Verstoss gegen das Personenbeförderungsgesetz: also wegen Fahrens ohne gültiges Billet. Kilias schreibt: «Wer eine Strafe wegen Schwarzfahrens erhält», habe «vielleicht (…) auch gar nicht die finanziellen Mittel, eine Fahrkarte zu lösen.» Es sind vor allem alleinstehende Männer, die im Gefängnis landen – Männer wie Waldhof.

Gut gepflegtes Feindbild

ÖV-Betriebe betonen, dass Reisende ohne gültiges Billett «allen ehrlichen Kundinnen und Kunden indirekt Mehrkosten» schaffen. «Mich interessiert Schwarzfahren nicht», sagt dagegen ein Lokführer. Flächendeckende Zugbegleiter*innen im Regionalverkehr fände er allerdings aus Sicherheitsgründen sinnvoll. Doch für die SBB geht die Rechnung ohne den allumfassenden Einsatz von Kontrolleur*innen besser auf: 800 000 Mal werden jedes Jahr Personen beim Fahren ohne gültiges Ticket erwischt. Die Dunkelziffer soll höher sein, angeblich drei Prozent der zwei Milliarden ÖV-Fahrten im Jahr: also 60 Millionen. Ob das nun stimmt oder nicht: Fahrtbegleiter*innen überall lohnen sich nicht. Sonst gäbe es sie ja. «Statt dass man diese Kalkulation offenlegt, pflegt man Schwarzfahrer*innen als Feindbild», führt der Lokführer aus.

Die SBB schätzt, dass ihr wegen Fahrten ohne Billett jedes Jahr ein zweistelliger Millionenbetrag entgeht. Das ist viel Geld – und trotzdem nur ein Bruchteil der 500 Millionen Franken Gewinn, die die SBB in den Jahren vor der Pandemie machte. Seit zwei Jahren werden ohne Billett Erwischte in einem nationalen Register erfasst; über die Strafanzeige entscheiden dann die einzelnen ÖV-Unternehmen. Wer ein schon benutztes Ticket erneut verwenden will, begeht hingegen bereits im ersten Anlauf «Missbrauch». In der Regel werde dann ein Strafverfahren eingeleitet, heisst es in einem Reglement. «Die SBB reicht pro Jahr mehrere tausend Strafanzeigen wegen Fahrens ohne gültigen respektive mit nur teilgültigem Fahrausweis ein», teilt ein SBB-Sprecher auf Anfrage mit.

Der Lokführer sagt, es überrasche ihn immer wieder, wie viele Menschen die wartenden Züge nach neuen Zeitungen durchsuchen, Zigistummel am Bahnhof sammeln oder Essen aus Zugabfalleimern klauben. «Seit ich Lokführer bin, werde ich viel stärker mit Armut konfrontiert.» Er findet es schade, dass das Service-public-Unternehmen nicht ein Teil der Lösung sei. Es könnte alles anders sein.

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