5 minute read

Wie es besser ginge

Neun Ideen, wie im ÖV alles anders sein könnte

Statt jeden Franken umzudrehen, könnten die Verkehrsunternehmen auch den Service- Public-Gedanken ins Zentrum rücken – für Benutzer*innen und Angestellte.

TEXT BENJAMIN VON WYL

1Digital muss nicht inhuman sein «Logisch macht es mir in dem Beruf nichts aus, zu abgefuckten Zeiten und auch mal morgens um drei zu arbeiten. Ich springe auch immer wieder ein, zum Beispiel als letztes Jahr plötzlich zu wenig Lokführer verfügbar waren. Ich bin gerne effizienter, weniger Leerfahrten liegen mir am Herzen, aber im neuen digitalen Planungstool kann ich meine Wünsche nicht mal eingeben. Ich bin ein Mensch, keine Nummer, come on», sagt ein Lokführer.

2Endlich faire Löhne – für alle! «Meine 71 000 Franken pro Jahr sind ja noch ok, aber die SBB hat ein riesiges Niedriglohnproblem», sagt ein Lokführer gegenüber Surprise. Diejenigen, welche die Züge reinigen, verdienen zum Teil beinahe 30 000 Franken weniger als er. Das Reinigungspersonal in einer Sektion, in der er arbeitete, habe bis zur Pandemie sogar das Desinfektionsmittel selbst bezahlen müssen. «Wer Spiegel putzen muss, auf die Fremde mit ihrer Scheisse geschrieben haben, desinfiziert sich gerne. Es wäre nicht zu viel verlangt, dass der Arbeitgeber das zahlt.» Vor zwei Jahren wollte die SBB dem Reinigungspersonal die Zulage fürs Toilettenputzen – 1 Franken 50 pro Stunde – streichen. Die extra bezahlten Toilettenschichten seien beliebt, kein Wunder: Manche in der Reinigung verdienen nur 3300 Franken im Monat. Nach Kritik hat sich der damalige SBB-CEO mit seinem Jahreseinkommen von einer Million Franken erweichen lassen. Sein Nachfolger Vincent Ducrot verdient nun weniger, aber noch immer viel mehr als ein*e Bundesrät*in.

3… und faire Arbeitsbedingungen Über 30 000 Menschen arbeiten für die SBB, um die 1000 ohne festen Arbeitsvertrag. Wer drei Jahre lang für die Bahn arbeitet, hat Anrecht auf eine unbefristete Festanstellung – so ist es im Gesamtarbeitsvertrag geregelt. Schon vor einigen Jahren machte die Gewerkschaft SEV der Bahn Vorwürfe: «SBB unterläuft die Vereinbarung zur Anstellung der temporären Mitarbeitenden systematisch» und dokumentierte, wie manche kurz vor ihrem Recht auf eine Anstellung «zufällig» entlassen wurden. Warum gibt es bei einem staatlichen Unternehmen eigentlich Temporäranstellungen und tiefe Löhne? Die SBB sei auf «eine gewisse Flexibilität im Personalkörper» angewiesen. Ohne sie könnten «saisonale Schwankungen und Spitzen in den Bereichen Unterhalt, Bau und Reinigung nicht abgedeckt» werden, oder in der Pandemie, wo «Unterwegsreinigungen und Führerstanddesinfektionen» wichtiger wurden, schreibt ein SBB-Sprecher auf Anfrage. Der Bund lege «die strategischen und finanziellen Ziele jeweils für vier Jahre fest». «Die SBB soll dabei die betriebswirtschaftlichen Möglichkeiten nutzen und die Produktivität weiter verbessern.» Das bedeutet wohl: Der Staat will es so, wie es ist.

4Wieso eigentlich ist die SBB

ein Immobilienkonzern?

In normalen Jahren macht die SBB hunderte Millionen Gewinne – am lukrativsten ist ihr Immobiliengeschäft. Viele ihrer früheren Betriebsflächen werden nicht mehr gebraucht. Zum Beispiel das Gebiet um den Zürcher Hauptbahnhof: Dort hat die SBB vor 100 Jahren städtisches Land enteignet und verdient damit nun viel Geld. Ist es wirklich im Sinne der Gesellschaft, dass die Bundesbahnen im grossen Stil mit Immobilien spekulieren?

Einen ÖV, den alle verwenden können

5All jene, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind – sei es aus Altersschwäche oder wegen einer Behinderung –, sind besonders auf Bus, Tram und Bahn angewiesen. Das Gesetz fordert, dass der ÖV bis 2023 für alle zugänglich und barrierefrei sein muss. Doch Inklusionsvertreter*innen rechnen damit, dass dieses Ziel nicht erreicht werden wird: Erst 10 Prozent der Bus haltestellen seien umgebaut und 323 Bahnhöfe werden wohl die gesetzliche Vorgabe verfehlen.

6Nachtzüge sind das neue, alte, nachhaltige Easyjet Etwa 10 Prozent des globalen CO2-Ausstosses gehen auf den Flugverkehr zurück. Wenn man sich vor Augen führt, dass neun von zehn Menschen noch nie ein Flugzeug von innen gesehen haben, wiegt die (Billig-)Fliegerei hier noch schwerer. Es ist nicht bloss eine Frage des Klimas, sondern auch eine der globalen Gerechtigkeit. Nach jahrelangem Abbau bei den Nachtzügen plant die SBB, in den nächsten drei Jahren solche nach Amsterdam, Rom und Barcelona (wieder-)einzuführen. Der Verein umverkehR findet das gut, fordert aber mehr: Nachtzüge aus der Romandie nach Genua, Triest, Brest und San Sebastián. Damit man mit dem Zug ebenso easy ein Wochenende verreisen kann wie zuvor mit den Billigfliegern.

KEYSTONE/BRANKO DE LANG

FOTO: 7 Verbilligte Tickets Die Zugtickets sind in der Schweiz auch deshalb so teuer, weil wir mit jedem Ticket nicht nur unsere Fahrtkosten decken, sondern den Ausbau des Bahnnetzes mitfinanzieren. Das ist, als würden neue Strassen von der Autobahnvignette gezahlt. Was absurd ist angesichts der Tatsache, dass der öffentliche Verkehr ökologischer ist und schon deshalb gefördert werden sollte. Also wieso subventioniert die Politik nicht ÖV-Tickets, damit mehr Leute auf Bus und Bahn umsteigen?

8Gratis-ÖV für die, die es

wirklich brauchen

Und zwar für Kinder und Jugendliche, für Studierende, für alle Armutsbetroffenen! Solche Forderungen werden immer wieder laut und finden Zuspruch. Leider wurden sie noch nie erhört. Noch nicht mal, als die «Unabhängige Expertenkommission zur Aufarbeitung des Unrechts an Verdingkindern und administrativ Versorgten» lebenslange Gratis-GAs für alle Überlebenden empfahl.

Oder gleich für alle!

In Luxemburg und in 35 Städten Frankreichs gibt es kein Fahren ohne gültiges Billett mehr – denn dort ist der öffentliche Verkehr seit Kurzem für alle gratis. Schlechte Erfahrungen hat man bisher keine gemacht. In Luxemburg gehört das Projekt zu einem Programm, um das Land mit seinen 600 000 Einwohner*innen von Staus zu entlasten. Manche französischen Städte finanzieren den Gratis-ÖV mit einer neuen Steuer für die ansässigen Unternehmen – aus der Logik heraus, dass ihre Angestellten pendeln müssen. In der Stadt Zürich haben die Jungsozialist*innen kürzlich eine Volksinitiative für Gratis-ÖV gesammelt. Die Juso-Co-Präsidentin Anna Luna Frauchiger zu Surprise: «Der Verkehr muss sich radikal verändern und die klimafreundliche Mobilität soll allen zugänglich sein.» Gemäss einer Rechnung der Behörden würde der Gratis-ÖV in Zürich etwa 300 Millionen Franken pro Jahr kosten. Doch Achtung: Dass Zugtickets etwas kosten sollen, steht sogar in der Schweizer Verfassung. Um die zu ändern, müsste man eine nationale Initiative einreichen. Also sollte man die Einführung von Gratis-ÖV gleich schweizweit denken? So wie Luxemburg?