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Obdachlosigkeit

Im Kaffeehaus der Verrückten

Obdachlosigkeit Hundert Freiwillige kümmern sich in einem Istanbuler Hilfsverein um Menschen am Rande der Gesellschaft. Staatliche Unterstützung bekommen sie keine.

TEXT UND FOTOS MARIAN BREHMER

Istanbul

TÜRKEI

«Bei uns lernst du zu dienen, ohne selbst einen Nutzen daraus zu ziehen.»

ALI DENIZCI

1 Das bunt dekorierte Café ist Treffpunkt für Freiwillige und junge Istanbuler. 2 In den Gassen des Yavuz-Sultan-SelimViertels: das «Deliler Kahvehanesi».

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Mustafa Batman hat sich auf seinem Rollstuhl drei Kilometer durch den Stadtverkehr geschoben: von seiner Nachtstätte im Sirkeci-Bahnhof das Goldene Horn entlang, über eine vierspurige Strasse, dann hinein in die Gassen des Yavuz-Sultan-Selim-Viertels. Dort, im Istanbuler Stadtteil Balat, sitzt er auf dem Trottoir an einem Cafétisch. Er hat die Beine übereinandergeschlagen und blickt ins Leere. Batmans Gesicht ist von der Witterung gezeichnet, sein zerzaustes Haar steht nach allen Seiten ab. Um ihn herum rauchen alte Männer auf klapprigen Stühlen am Strassenrand, andere pendeln zwischen Wettbüro und Teestube. Frauen sind kaum zu sehen.

Sevil Bölük, eine 39-Jährige mit Sportjacke und Knoten im Haar, bringt einen Schwarztee im Tulpenglas an den Tisch. Weshalb er hergekommen sei, möchte sie wissen und setzt sich zu ihm. «Ich brauche einen elektrischen Rollstuhl», sagt Batman und erklärt, dass seine Kraft für die Fortbewegung per Hand nicht mehr ausreiche. Auch das Sprechen falle ihm schwer. Der 45-Jährige kramt eine Plastiktüte aus seiner Jackentasche, in der sich ein Personalausweis, ein Stapel Visitenkarten und zerknitterte Arztpapiere befinden. Bölük macht sich Notizen. Batman hatte als Kleinkind eine Hirnhautentzündung, die zur fortschreitenden Lähmung seiner Beine führte. Seit Jahren sitzt er im Rollstuhl. Seine Eltern sind längst verstorben. Die Geschwister kümmern sich nicht um ihn.

Bölük verschwindet im Innern des Cafés, das «Deliler Kahvehanesi» heisst, Türkisch für: das Kaffeehaus der Verrückten. Gegründet wurde es von einem Mann, dessen Markenzeichen seine verkehrt herum auf dem Kopf sitzende Schirmmütze ist. Ali Denizci, den alle hier nur «Ali ağabey» nennen – grosser Bruder Ali – stützt seine Arme auf den langen Massivholztisch. Über ihm baumeln Glöckchen, Stofftiere und bemalte Kürbisse von der Decke.

Existenzielle philosophische Fragen

Während Bölük von ihrem Gespräch mit Batman berichtet, macht sich Denizci Notizen. «Hat der Mann ein Telefon?», fragt Denizci mit dröhnender Bassstimme. Nein. Also müsse man ihn fragen, wann und wo er im Bahnhof anzutreffen sei. «Sag ihm, dass er uns seinen alten Rollstuhl überlassen soll», meint Denizci. Dann ruft er den anderen am Tisch zu: «Wir brauchen noch hundert Gutscheinmarken für das Hamam und den Barbier! Mit Stempel und Unterschrift.»

Das «Kaffeehaus der Verrückten» ist das Herzstück von Denizcis Hilfsverein für Obdach- und Wohnungslose sowie für mittellose Familien in Istanbuls europäischer Stadtseite. Die Anfänge des Vereins, in dem sich rund hundert Freiwillige aus allen Bereichen der türkischen Gesellschaft engagieren – darunter Student*innen genauso wie Hausfrauen, Firmenleiter*innen oder Angestellte – haben mit Denizcis Lebensgeschichte zu tun. Die liest sich wie ein Roman und war Thema eines populären TED-Talks. Denizci, Jahrgang 1964, wuchs als Kind eines wohlhabenden Bauingenieurs in einer Villa am Bosporus auf. In der Oberstufe wurde er zum Anarchisten. Weil er mit Freunden Lebensmittel aus Lieferwagen klaute, um diese in Armenvierteln zu verteilen, landete er im Gefängnis. Später studierte er Architektur und arbeitete als Bauunternehmer. Doch je mehr er verdiente, desto mehr bestimmten Existenzängste sein Leben. Irgendwann wandte er sich ganz gegen das bürgerliche Leben und begann, auf der Strasse zu leben. «Das war eine bewusste Entscheidung. Der Kapitalismus hatte mich von mir selbst entfremdet», sagt Ali Denizci und rollt seine Zigarette über den Rand eines Aschenbechers. Mit Jeansjacke und Lederweste darüber sieht er nicht aus wie ein Philanthrop, eher wie der Vorsitzende eines Motorradclubs. «Es nagten existenzielle Fragen an mir, etwa ob es Gott gibt und wenn ja, dann wo.» Denizci wurde zum Alkoholiker. Aber er lebte auch achteinhalb Monate lang in einem leeren Friedhofsgrab und las Bücher über den Sinn des Lebens. In dieser Phase der Selbstreflexion fand er seine Antworten im Sufismus, der islamischen Mystik (siehe Box), und blieb von da an dem Alkohol fern.

Hier wird nicht über Politik geredet

Im Jahr 2008 begann Denizci im Brennpunktviertel Balat, bekannt als Umschlagplatz für synthetische Drogen, eine Gruppe von achtzehn psychisch Erkrankten mit Lebensmitteln zu versorgen und ins Hamam, ins öffentliche Badehaus, zu bringen. Ihre Familien schämten sich für die «Verrückten», versteckten oder verstiessen sie. So blieb der Name «Verein der Verrückten» hängen. Zudem ist das «Verrücktsein» im Sufismus auch eine Metapher für das Zurücklassen des beengten menschlichen Verstandes auf dem Weg zu Gott. Denizcis

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«Hier habe ich gelernt, mit Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft umzugehen.»

SELAY AKSALAR

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3 Balat ist ein soziales Brennpunktviertel am Goldenen Horn. 4 Blick über das Goldene Horn. 5 Çay und türkischer Mokka wie in einem ganz normalen

Kaffeehaus. Aber Denizcis

«Deliler Kahvehanesi» ist auch ein Hilfsverein für Obdach- und

Wohnungslose.

Slogan: Du musst alle Menschen wie verrückt lieben. Denizci sagt, in der Türkei stünden die Menschen eng mit ihren Herzen in Verbindung. Das lasse sich auch am türkischen Wort für «Freiwillige» zeigen: «Gönüllü» bedeutet wörtlich «mit Herz». Denizci: «Du musst dein Herz für die Sache hergeben. Bei uns lernst du zu dienen, ohne selbst einen Nutzen daraus zu ziehen.»

Der «Deliler Derneği» leistet heute Lebensmittelhilfe für dutzende finanzschwache Familien, besorgt Schreibwaren für benachteiligte Grundschüler*innen, bringt Jugendliche aus prekären Verhältnissen in Museen und Konzertsäle, hilft Geflüchteten bei administrativen Problemen oder bietet psychologische Beratung in Familienkonflikten an. Alles ist spendenfinanziert, staatliche Unterstützung gibt es nicht. Jeder

ZEYTINBURNU

Mystische Orden

Mit Sufismus bezeichnet man die islamische Mystik, eine Strömung innerhalb des Islam, die zwischen Marokko und Indonesien viele verschiedene Ausprägungen hat. Die verschiedenen Richtungen des Sufismus organisieren sich in international vernetzten religiösen Vereinigungen, in denen die Mitglieder einem jeweils klar festgelegten Ritual folgend ihren Weg zu Gott suchen. Es gibt sowohl liberal ausgerichtete Orden wie die bei Tourist*innen beliebte Mevleviyye, im Westen bekannt durch den Dichter Dschelaleddin Rumi, mit ihrem Zentrum in Konya, aber auch im religiösen Sinne strengere Vereinigungen wie die der Nakschibandi, zu deren Anhängern Präsident Recep Tayyıp Erdoğan gehören soll. Der türkische Islam ist zu weiten Teilen vom Sufismus geprägt, zu osmanischen Zeiten waren Sufi-Meister auch Berater von Sultanen und übten einen grossen Einfluss in der Gesellschaft aus. Nach Jahrzehnten des offiziellen Verbots – Atatürk liess die Sufiorden 1925 aus radikal laizistischen Motiven schliessen – erlebt der Sufismus in der Türkei in den letzten Jahren eine Renaissance.

BEYO Ğ LU

BALAT GOLDENES HORN

SIRKECI-BAHNHOF

FATIH

MARMARAMEER

5

BOSPORUS

ISTANBUL

MARMARAMEER SCHWARZES MEER

6 7

6/7

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Vorbereitungen für das Abendessen, das nach der Corona-bedingten Schliessung der Suppenküche jeden Tag an Dutzende Obdachlose ausgeteilt wird. Die Mahlzeiten basieren meist auf Fleisch – sie sollen möglichst lange satt halten. Eine Freiwillige steht vor der Tür zur Küche, wo das Essen für das Café zubereitet wird. Am Nachmittag kümmert sich ein Team um die Zusammenstellung der Provianttüten. Die Fleischportionen in den Sandwiches werden der Fairness halber genau abgewogen. Essensausgabe nach Einbruch der Dunkelheit an einer Strassenkreuzung im Stadtteil Topkapı.

sei hier willkommen, nur eine Regel gebe es, sagt Denizci: «Hier wird nicht über Politik und Religion diskutiert.» Angeblich engagieren sich in dem Verein Menschen aus dem gesamten politischen Spektrum der Türkei – angesichts der zersplitterten und polarisierten Lage im Land ein kleines Wunder. Derzeit bemüht sich der Verein, als sogenannte Vakıf registriert zu werden, eine Art Stiftung, womit er dann auch von Steuern befreit würde. Normalerweise erhalten hier täglich 300 Menschen ein kostenloses Abendessen. Wegen Corona musste die Suppenküche des Vereins aber im Februar schliessen. Seitdem bekommen die Obdachlosen in sieben Stadtvierteln das Essen direkt an ihre Schlafplätze geliefert. Im Juni wurden 4600 Mahlzeiten ausgeteilt. Selay Aksalar, Freiwillige seit zwei Jahren, ist für die Koordination der Essensauslieferung zuständig. Tagsüber arbeitet die 41-Jährige als Leiterin der Personalabteilung in einer deutschen Firma. Abends hilft sie im Verein. Dafür ist Aksalar extra nach Balat gezogen. «Für mich hat die Arbeit hier Priorität. Sie gibt mir die Zufriedenheit, etwas Sinnvolles zu tun.» Aksalar zeigt auf eine Sufi-Maxime an der Wand: «Schau hin. Habe Geduld. Sei dankbar.» «Wenn du lernst, wirklich hinzuschauen, verändert sich deine Wahrnehmung. Hier habe ich gelernt, mit Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft umzugehen.»

Der Staat tut wenig

Aksalar führt in die Suppenküche, wo die Vormittagsschicht von vier Frauen das Abendessen zubereitet. Die Esstische sind zwar seit Monaten verwaist, doch der Gasherd brennt auf voller Flamme. Es riecht nach Grillstube. In einem überdimensionalen Topf brutzeln Zwiebeln, Paprika und Rindfleischbrocken. Nach dem Braten wird das Fleisch in Metallschälchen gefüllt, auf einer Küchenwaage portioniert – alle bekommen exakt 150 Gramm – und in ein Weissbrotsandwich gestopft. Daneben gibt es Zuckersirupkuchen und eine Flasche Wasser. Am Nachmittag verpackt die nächste Schicht von Freiwilligen das Essen in Provianttüten, die in grossen Verteilsäcken landen – ein Sack pro Stadtviertel. Das Essen soll so nahrhaft sein, dass es die Menschen auf der Strasse rund um die Uhr satt hält. Jeden Tag gibt es ein anderes Menü, das von Ernährungsexpert*innen zusammengestellt wird.

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«Wir haben mit der Zeit herausgefunden, wo die Schlafplätze der Obdachlosen sind.»

FATMA ÖZBEY

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Bis zu 8000 Menschen sollen einer Studie zufolge auf Istanbuls Strassen leben. Eine offizielle Statistik gibt es nicht, doch vermutlich liegt die Dunkelziffer höher. Neunzig Prozent der Obdachlosen sind Männer, die meisten stammen aus den Kurdengebieten im Südosten des Landes. In den letzten Jahren kamen Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan hinzu. Viele der Obdachlosen haben früh ihre Familien verloren. In der Türkei gibt es keine staatlichen Programme für Obdachlose, und Notunterkünfte wie eine Sporthalle im Stadtteil Zeytinburnu, wo in den Wintermonaten 500 Menschen untergebracht werden, reichen nicht aus. Denjenigen, die das System erfasst, zahlt das Sozialamt alle drei Monate gerade mal 300 Lira oder umgerechnet 41 Franken aus. Die Lücke schliesst eine Handvoll privater Organisationen wie Ali Denizcis Verein oder Hilfsverbände, die Moscheen und Sufiorden angehören.

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit beginnt die Essensausgabe. «Wir haben mit der Zeit herausgefunden, wo die Schlafplätze der Obdachlosen sind», sagt Fatma Özbey und navigiert ihr Auto durch die leeren Gassen des Grossen Basars. Die quirlige 35-Jährige mit der Nickelbrille managt eine Bekleidungsfirma. Heute Abend ist sie mit ihrem Kollegen Ismail Gül, einem Werbefachmann, für den Bezirk Eminönü zuständig. «Oft bekommen wir Hinweise, wo sich weitere Obdachlose aufhalten.» So hat sich auf einer Plattform, einer Art Terrasse, hinter einer kleinen Backsteinmoschee eine Gruppe einen kleinen Kartonverschlag gebaut. Ein Mann mit einer Wolldecke auf der Schulter nimmt wortlos das Proviantpaket entgegen. «Ich verstehe mich als Werkzeug Gottes. Eigentlich helfe ich mir selbst. Denn dieser Dienst gibt mir viel», sagt Özbey, die an sechs Tagen die Woche hinter dem Steuer im Einsatz ist. Die Essensausgabe ist für sie Routine und geht schnell.

Özbey steuert auf eine Strassenkreuzung zu, dann in ein verlassenes Einkaufszentrum, in den Garten eines Spitals und schliesslich zum Sirkeci-Bahnhof. Einst war dies die Endstation des Orient-Express, heute ist der Bahnhof ein Museum. Auf einer Bank neben dem Fahrkartenschalter wartet bereits Mustafa Batman. Er nimmt sein Sandwich entgegen und richtet sich in seinem Rollstuhl auf. «Inschallah» wird ihn schon bald ein kleiner Elektromotor voranbringen.