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Privatwirtschaft

Das Geschäft mit den Gutachten

Privatwirtschaft Die Sozialversicherung gibt jährlich Millionen für medizinische Gutachten aus. Fachleute warnen: Es profitieren die Falschen. Zum Beispiel ein umtriebiges Ehepaar aus Basel.

INTERVIEW ANDRES EBERHARD

Das Ärztepaar Simon Lauper und Johanna Zwimpfer hat in Basel Simon Lauper gründete das ABI im Jahr 2000 und ist nach wie schon einige Spuren hinterlassen. Gegründet haben die beiden vor dessen Geschäftsführer. Der Mann, der sich in Basel für die eine Arztpraxis, ein italienisches Restaurant, eine Immobilien- FDP engagiert, ist über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Vor firma und vor allem das Ärztliche Begutachtungsinstitut (ABI), allem für einen missglückten Auftritt im Schweizer Fernsehen das grösste Unternehmen für medizinische vor über zehn Jahren. Damals hatte der Gutachten in der Schweiz. Inzwischen sind «Kassensturz» einen Bericht über das ABI Lauper und Zwimpfer geschieden. Seither gehört das Gutachteninstitut den gemein- Ich habe bemerkt, dass veröffentlicht, den Lauper zu verhindern versuchte. Die Sendung konnte überzeusamen fünf Kindern. sich mein Schatten gend darlegen, dass Lauper oder andere

Das ABI ist eine von 31 Firmen, die für wild hin und her Führungskräfte des ABI Gutachten seiner die IV medizinische Gutachten erstellen. Was dabei herauskommt, ist ausschlaggebend dafür, ob jemand eine IV-Rente oder bewegt, auch wenn ich still stehenbleibe. Mitarbeitenden nachträglich zugunsten der IV abgeändert hatten. Stunden vor der Ausstrahlung des Berichts rief Lauper beim Integrationsleistungen erhält. Zwischen Ja Nein Schweizer Fernsehen an und teilte mit, dass 4000 und 5000 Fälle pro Jahr sind so kom- er ins Studio komme, um zu den Vorwürfen plex, dass Expert*innen aus mehreren Fach- Stellung zu nehmen. Doch der Versuch, das gebieten erforderlich sind. Solche polydis- Schlimmste zu verhindern, misslang. Lauziplinären Gutachten kosten die IV zwischen 9000 und 15 000 per gab eine derart unglückliche Figur ab, dass man hätte verFranken. Insgesamt schüttete der Bund dafür letztes Jahr 48,5 muten können, die Firma trage nachhaltigen Schaden davon. Millionen Franken aus. Das ABI stellte als grösster Auftragneh- Doch das Gegenteil war der Fall. Die fetten Jahre für das ABI mer über vier Millionen Franken in Rechnung. sollten erst noch kommen. Zwischen 2013 und 2017 verdiente die Firma jährlich rund 10 Millionen Franken alleine mit AufträFette Jahre dank Aufträgen der IV gen der IV, wie eine Aufstellung des Bundesamts für SozialverDass private, gewinnorientierte Firmen derart viel Geld verdie- sicherungen BSV zeigt. Dazu kommen gemäss eigenen Angaben nen, finden Fachleute stossend. «Es wird eine Unmenge an Geld Gutachten für Unfall- und Krankenversicherungen sowie für Gefür Abklärungen ausgegeben, das auch den Versicherten zugu- richte. Wie viel Gewinn die Firma in diesen Jahren mit den Auftekommen könnte», sagt Holger Hügel, Fachanwalt für Haft- trägen für die Sozialversicherung machte, ist nicht bekannt. Fachpflicht- und Versicherungsrecht in Basel. Rechnet man die Kosten leute gehen aber davon aus, dass die Institute einige Tausend für die etwas weniger komplexen Einzelgutachten dazu, sind es Franken pro Auftrag für sich behalten können. Dies gelingt, indem rund 80 Millionen Franken pro Jahr, die der Bund für IV-Gutach- die Fixkosten tief gehalten werden. Die meisten Fachärzt*innen ten ausgibt. Umgerechnet liessen sich damit werden nach Aufträgen bezahlt, manche exetwa 4500 volle IV-Renten finanzieren. Hü- tra aus dem Ausland eingeflogen. gel sagt: «Das Geld geht an die Falschen.» Das ABI gilt unter Patientenvertreter*in- Ich glaube, dass Anders als die Einzelgutachten (siehe Text Seite 12) werden komplexe polydiszinen als besonders streng. Erstmals belegen die Regierung Kameras plinäre Gutachten nach dem Zufallsprinzip Zahlen diese Vermutung: Der Solothurner in Verkehrsampeln vergeben. Dies soll verhindern, dass die Anwalt Rémy Wyssmann hat jahrelang und eingebaut hat, um Gutachterfirmen Menschen «gesundschreibis vor Bundesgericht dafür gekämpft, dass die Behörden ihm alle Gutachten aushändigmich auszuspionieren. ben» in der Hoffnung, von der IV mit weiteren Aufträgen für die Hilfe beim Sparen ten, die das ABI von 2012 bis 2014 im Kanton Ja Nein «belohnt» zu werden. Die IV-Stellen erfasSolothurn anfertigte. Im Gegensatz zu ande- sen die Aufträge auf einer Plattform, die ren Gutachterstellen hat das ABI solche Zah- zufällig auswählt, welches Institut den Auflen nie publik gemacht. Die Auswertung der trag bekommt. Dokumente lässt aufhorchen: Nur bei jeder achten Person kam die Die Frage ist: Warum entschied der Zufall so häufig für das ABI? Firma zum Schluss, dass diese weniger als 60 Prozent arbeiten In Spitzenzeiten fertigte das Unternehmen rund 750 Gutachten kann – was in der Regel die Voraussetzung für eine IV-(Teil-)Rente pro Jahr oder fast jedes vierte in der Deutschschweiz an. Die ist. Das ist mehr als dreimal weniger als bei der Gutachterstelle Me- Antwort ist relativ simpel: Weil es lange Zeit sehr viele Aufträge, das Zentralschweiz. Diese hatte die Zahlen freiwillig veröffentlicht. aber nur wenige Gutachterstellen mit genügend hohen Kapa-

zitäten gab. Das änderte sich 2018. Die IV hatte weniger Aufträge zu vergeben, zudem kamen zusätzliche Gutachterfirmen auf den Markt. Beim ABI gingen die Aufträge um fast die Hälfte zurück.

Fragwürdige Qualitätskontrolle

Nun griff die Basler Firma zu einem Trick, um dem Zufall etwas nachzuhelfen und die weggefallenen Einnahmen zu kompensieren. Das zumindest legt ein Bericht der Zeitung Schweiz am Sonntag nahe. Ganze Ärzteteams des ABI arbeiteten auch für die Gutachteninstitute GA eins und ZIMB. Zudem übernahm ein Basler Treuhänder die beiden Innerschweizer Firmen. Lauper dementierte gegenüber der Zeitung, dass es sich dabei um seinen eigenen Treuhänder handle, und sprach von «Kooperationen, um den Mitarbeitenden Arbeit zu garantieren». Die Gerüchte aber halten sich, dass das Geld letztlich in dieselbe Kasse fliesst.

Es liegt am BSV als Aufsichtsorgan, den Gutachterfirmen auf die Finger zu schauen. Tatsächlich zog es nach Bekanntwerden des Falls Konsequenzen: Neu darf maximal ein Gutachter oder eine Gutachterin pro Auftrag bei mehreren Gutachterfirmen angestellt sein. Kritiker allerdings monieren, das BSV würde jeweils erst spät und nur auf Druck reagieren. Lange Zeit praktizierte das Amt eine fragwürdige Qualitätskontrolle. Ob die Gutachterfirmen gute Arbeit leisteten, wollte das BSV ausgerechnet von den unter Spardruck stehenden IV-Stellen wissen. Das Resultat war wenig überraschend: Als besonders gut beurteilten die Beamt*innen die besonders «strengen» Begutachtungsinstitute. So wurde beispielsweise beim ABI nur jedes zwanzigste Gutachten bemängelt, bei der «patientenfreundlicheren» Medas Zentralschweiz hingegen jedes zehnte. Ausserdem überprüfte eine Arbeitsgruppe die «Prozess- und Strukturqualität» der Gutachten. Diese bestand jedoch hauptsächlich aus Vertreter*innen der Firmen. Mit von der Partie: Simon Lauper.

Mittlerweile zweifelt auch die Politik, ob das BSV seine Aufsichtspflicht tatsächlich wahrnimmt. Bundesrat Alain Berset hat zu diesem Zweck eine Untersuchung angeordnet, deren Resultate noch ausstehen. Beschlossen ist, dass für die Qualitätskontrolle der Gutachten ab 2022 eine unabhängige Kommission zuständig sein soll.

Um das Geschäft mit den Gutachten müssen sich Mediziner*innen wie Simon Lauper trotzdem keine allzu grossen Sorgen machen. Denn für den Bund gelten diese nach wie vor als verlässlichstes Mittel, um jährlich Tausende von Rentenansprüchen zu prüfen. Schwieriger scheint das Geschäft mit Pasta und Panini zu sein. 2019 musste die gemeinsame Firma von Lauper und Zwimpfer, die Restaurant Casanova GmbH, Konkurs anmelden. Johanna Zwimpfer hat mittlerweile einen neuen Anlauf genommen – dieses Mal aber ohne ihren Ex-Mann.

40000

IV-Renten wurden in den letzten zehn Jahren weniger ausbezahlt. Zugleich wuchs die Schweizer Bevölkerung um fast eine Million.

80 Mio.

Franken gibt die IV pro Jahr für Gutachten aus. Damit liessen sich 4500 volle IV-Renten finanzieren.

10%

der Gutachter*innen erhalten 70 Prozent aller IV-Gutachten.

2,2 Mio.

Franken hat Dr. K. seit 2012 mit IV-Gutachten verdient.

750

IV-Gutachten erstellte die Firma ABI in Spitzenzeiten pro Jahr, das ist jedes vierte in der Deutschschweiz.