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IV-Serie

IV-Serie Eine harte Sparpolitik, willkürliche Entscheide, Millionen für die Gutachter: Die Invalidenversicherung steht in der Kritik. Wir wollen wissen, was dahinter steckt – Teil 3 einer vierteiligen Serie.

Wie Kranke zu Simulanten werden

Teil 3 Um zu erkennen, ob jemand an einer Depression oder Schmerzkrankheit leidet, greifen Gutachter*innen der Invalidenversicherung zu angeblich objektiven Tests. Dabei bestätigen diese vor allem ihre eigene Voreingenommenheit.

Die Hauptstadt von Italien ist Ungarn, ja oder nein? Glauben Sie, Der Gutachter führte zwei Tests durch. Der erste sollte die Schwere dass die Regierung Kameras in Verkehrsampeln eingebaut hat, der Depression messen. Auf einer Skala von 0 bis 5 schätzte der um Sie auszuspionieren? Bewegt sich Ihr Schatten wild hin und Gutachter verschiedene typische Symptome einer Depression her, auch wenn Sie still stehen bleiben? ein, wie Traurigkeit, Schlaflosigkeit, Gefühllosigkeit oder Suizi-

Mit solchen Fangfragen versuchen Forensiker*innen, Straftä- dalität. Zehn Fragen umfasst der Test, ab einem Total von 20 ter*innen zu überführen, die eine psychische Krankheit vortäu- Punkten gilt eine Depression als mittelschwer, ab 34 als schwer. schen, damit sie milder bestraft werden. Auch Gutachter*innen Bei F. errechnete der IV-Gutachter ein Total von 16 Punkten – der IV wenden die Methode bei Depressiven Diagnose: leichte Depression. Der Arzt an, obwohl diese dafür nicht geeignet ist. Michel Romanens, Präsident des Vereins Das zeigt ein Fall, dessen Akten Surprise vorliegen. Blumen haben Ethik und Medizin Schweiz (VEMS), führte bei F. später denselben Test durch. Sein Re-

N.F. war Bauarbeiter, bis ein vier Meter magische Kräfte, wie sultat: 31 Punkte – eine mittlere bis schwere langer und zwanzig Kilo schwerer Holzbal- die Fähigkeit, mit Depression. Wie das? «Der Test hängt davon ken aus zwei Metern Höhe auf seinen Kopf fiel. Der damals 34-Jährige trug zwar einen Helm, doch traf ihn das Holz mit einer Menschen sprechen zu können. ab, wie empathisch ein Prüfer vorgeht», erklärt Romanens. Anders gesagt: Was der Psychiater im Gutachten als «objektiven BeWucht von 349 Joule, wie Fachleute später Ja Nein fund» ausgibt, ist in Wahrheit nicht mehr berechnen sollten – wobei 80 bis 100 Joule als seine eigene persönliche Einschätzung. Krafteinwirkung am Kopf genügen können, Noch fragwürdiger ist die Aussagekraft um einen Menschen zu töten. F. überlebte des zweiten Tests, den der Gutachter anzwar, auf die Baustelle kehrte er aber nie wieder zurück. wandte. Dieser sollte herausfinden, ob F. simuliert, und umfasst

Zunächst sorgte die Unfallversicherung für F.s Rente. Nach 75 Ja- oder Nein-Fragen. Manche der Fragen deuten tatsächlich einigen Jahren waren die Verletzungen organisch nicht mehr auf Symptome von psychischen Krankheiten hin, andere auf solnachweisbar, Depressionen und Rückenschmerzen aber blieben. che, die man fälschlicherweise mit ihnen in Verbindung bringt – Die Suva schob den Fall zur IV ab. 2013, während der Blütezeit wie zum Beispiel übermässiger Appetit. Der Test enthält zahlreider Sparbemühungen bei der IV, wurde F. im Rahmen einer Ren- che Fangfragen wie die eingangs erwähnten, von banal bis absurd tenüberprüfung für gesund erklärt. ist alles dabei. «Hat die Woche sechs Tage?», wird gefragt, oder auch: «Sagen Telefonnummern etwas darüber aus, was Gott mit Hauptsache simulieren? uns vorhat?» F., wohnhaft in einer Aargauer Kleinstadt, 55 Jahre alt, drei Kin- Wer die Fangfragen falsch beantwortet, so die Annahme, täuder, kräftiger Körperbau, 1987 als bosnischer Gastarbeiter in die sche bewusst etwas vor und simuliere. Der Grenzwert liegt bei Schweiz gekommen, muss ein guter Arbeiter gewesen sein, bis 16 Punkten. F. erreichte einen Wert von 40, er war also durchgezum Unfall im Jahr 2000. Keine Vorkommnisse, keine Absenzen, fallen. Dies zeige, dass F. seine psychischen Probleme lediglich keine Verspätungen, so steht es im Protokoll seines früheren Ar- vortäusche, folgerte der Arzt. Ein weiterer «objektiver Befund», beitgebers. Als wir ihn in der Praxis seines Arztes zum Gespräch um F.s IV-Rente zu beenden. treffen, wirkt er in sich gekehrt und voller Scham und Selbstzwei- Bloss: Der in der Fachwelt als SFSS bekannte Test ist nicht fel, er redet in kurzen, abgehackten Sätzen. Er leide an Kopf- und besonders aussagekräftig. Studien zeigen, dass er zwar eine hohe Rückenschmerzen, nehme starke Medikamente, zum Schlafen Sensitivität aufweist, aber nur eine geringe Spezifität. Übersetzt trage er eine Atemmaske. F. spricht von heisst das: Wer weniger als 16 Punkte erzielt, regelmässigen Panikattacken, Wein- simuliert ziemlich sicher nicht. Doch auch krämpfen, Albträumen und Selbstmordgedanken, manchmal spüre er ein Ziehen Die Woche hat 6 Tage. viele, die mehr Punkte aufweisen, täuschen ihre Krankheit nicht vor. Besonders schlecht in der Brust, er habe dann das Gefühl zu Ja Nein schneidet der Test, der von Forensiker*innen ersticken. Seine Herzgefässe sind verengt, entwickelt wurde, bei Menschen mit Depresein Anfall könnte zum plötzlichen Herztod sionen ab. Aufgrund dieser schlechten Stuführen. So wie bei seinem Vater, der Mitte dienergebnisse warnt auch eine vom Bundesfünfzig an einem Herzinfarkt starb. Im selben Alter ist F. heute. amt für Sozialversicherungen BSV veröffentlichte Untersuchung Als die Rente überprüft wurde, untersuchten zwei externe Gut- vor «vielen falsch-positiven Resultaten» des Tests. achter F. im Auftrag der IV. Der erste fand es «schwer nachvoll- Für den Internisten und Kardiologen Romanens tendiert die ziehbar», dass F. überhaupt je eine Rente erhalten hatte. F. leide Aussagekraft des Testresultats bei F. «gegen Null». Er hatte sich auch nicht an Depressionen als Folge des Unfalls. Diesen Schluss F.s Fall angenommen, als dieser wegen Herzproblemen in seine zog er aus einem 40-minütigen Gespräch. Rückfragen an F.s Ärzte Praxis kam. Als sich Romanens den Test genauer anschaute, stellte hielt er nicht für nötig, auch wenn diese über die Jahre zu einer er fest, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass der ehemalige komplett anderen Diagnose gekommen waren. Bauarbeiter betrügt, auch wenn dieser beim «Simulantentest»

F. wehrte sich gegen den Entscheid. Zwei Jahre später wurde durchgefallen war. Zu diesem Schluss kam er mithilfe der Maer für ein neuerliches psychiatrisches Gutachten aufgeboten. thematik. In der Wahrscheinlichkeitsrechnung gibt es nämlich Doch der Facharzt kam zum Schluss, dass F. nicht an einer schwe- eine Formel, die sich auch in der Medizin bewährt hat: das sogereren Form von Depression leide. Von der IV darum gebeten, be- nannte Bayes-Theorem. Zwei Kriterien beeinflussen ein Testerlegte er diese Aussage mit angeblich objektiven Beweisen. gebnis massgeblich: Erstens, wie exakt der angewandte Test ist –

also die Kennzahlen zu Sensitivität und Spezifität. Und zweitens, und 80 Prozent auf. Geht man davon aus, dass 0,3 Prozent aller wie wahrscheinlich es ist, dass F. betrügt, bevor er den Test aus- IV-Rentner*innen betrügen, und wendet man das Bayes-Theogefüllt hat. rem an, so beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass der im Test durchgefallene F. betrügt, zwischen sieben und zwölf Prozent. Objektivität vorgaukeln Dass der Gutachter den positiven Test als Beleg für F.s Betrug Dieser zweite Punkt ist wichtig. Warum, lässt sich anhand eines nahm, kommt für VEMS-Präsident Romanens einer Verletzung Beispiels zeigen: Will eine Psychiaterin herausfinden, wie wahr- der ärztlichen Sorgfaltspflicht gleich. Das Ergebnis des Tests sei scheinlich es ist, dass jemand an einer Depression leidet, muss nicht objektiv, weil es von der Erwartung des Prüfers abhänge. sie zunächst wissen, wie verbreitet Depressionen in der Gesamt- «Es bestätigt lediglich die Voreingenommenheit des Gutachbevölkerung sind. Im Fall von Depressionen ters», so Romanens. beträgt diese Prävalenz rund acht Prozent. Der Fall von F. zeigt exemplarisch, dass So hoch ist also die Chance, dass eine beliebige Person, die durch die Praxistür der Psy- Eine Türe und eine bei der IV häufig Objektivität vorgegaukelt wird, wo es diese gar nicht gibt. Dies legen chiaterin tritt, depressiv ist. Wenn die Ärztin Pforte sind sich auch Studien der Universität Basel nahe. nun an dieser Person einen Test durchführt, ähnlich: Beides sind Darin wurden mehrere psychiatrische so misst sie lediglich, wie stark sich diese Wahrscheinlichkeit durch ein positives ReÖffnungen. IV-Gutachter*innen gebeten, denselben auf Video dokumentierten Fall einzuschätzen. sultat erhöht. Ja Nein Dabei kamen sie zu teilweise diametral un-

Der SFSS soll aber nicht Depression er- terschiedlichen Schlüssen. «Die Übereinkennen, sondern Simulation aufdecken. Wie stimmung der Beurteilungen ist hundslauhoch ist also die Wahrscheinlichkeit, dass F. sig schlecht, vor allem bei psychiatrischen seine Beschwerden nur vortäuscht? Einen gesicherten Wert gibt Gutachten», räumt auch Gerhard Ebner ein, Präsident des Veres dafür nicht. Als Schätzwert eignen sich aber von der IV veröf- bands Swiss Insurance Medicine und einer der einflussreichsten fentlichte Zahlen zum Versicherungsmissbrauch; ihnen zufolge Gutachter der Schweiz. Zwar arbeite man an besseren, standardibetrügen lediglich 0,3 Prozent aller 220 000 IV-Rentner*innen. sierten Instrumenten. Ziel ist eine Art Werkzeugkasten für Gut-

Bevor F. die 75 Ja- oder Nein-Fragen beantwortete, hätte ein achter*innen. Eine totale Übereinstimmung werde es aber auch nüchtern urteilender Psychiater also davon ausgehen müssen, damit nie geben. dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass F. betrügt. Und als er das F. kann sich nicht mehr an die Tests erinnern, die der Gutachpositive Testresultat in den Händen hielt, hätte er merken müs- ter mit ihm durchgeführt hat. Auch die meisten Details seiner sen, dass sich an dieser geringen Wahrscheinlichkeit nicht viel dicken Krankheitsakte kennt er nicht. Aber er versteht nicht, wageändert hat. Warum? Der verwendete SFSS-Test weist Studien rum das alles so passiert ist. Er sagt: «Ärzte sind doch dazu da, zufolge eine Sensitivität von 90 und eine Spezifität zwischen 60 anderen Menschen zu helfen.»

«Objektiv krank»: Eine juristische Erfindung

Wer Anspruch auf eine IV-Rente hat, bestimmt neuerdings das Gericht.

Eine Invalidenrente erhält heute nur, wer seine Krankheit beweisen kann. Die IV-Stellen verlangen dabei objektive Beweise, die manche psychisch Kranke wie Depressive oder Schmerzkranke nicht oder nur schwer erbringen können. Die Therapeut*innen dieser Betroffenen üben daran Kritik:.«Es gibt keine Krankheit, die unabhängig ist vom Patienten», sagt der Zürcher Psychotherapeut Werner A. Disler. «Bei der Objektivität handelt es sich um einen juristischen Trickbegriff.»

Der Glaube der IV an Objektivität ist auf die Gerichtspraxis der letzten zwanzig Jahre zurückzuführen. Die Gerichte verschärften die Gangart bei der IV, nachdem die Zahl der Rentenanträge in den 1990er-Jahren massiv gestiegen war. Das Bundesgericht riss den Krankheits-Begriff Anfang dieses Jahrtausends an sich, indem es verkündete, dass Invalidität eine Frage des Rechts sei und nicht der Medizin (siehe Teil 2 der Serie zur IV; Surprise Nr. 482). Tatsächlich heisst es auch im Gesetz (Art. 7 ATSG): «Eine Erwerbsunfähigkeit liegt (…) nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.» Wer diese objektive Sicht auf welche Weise einnehmen kann, bleibt aber im Ungefähren. Das Bundesgericht interpretierte den Passus schliesslich zum Nachteil vieler Betroffener.

Während Ärzt*innen vom Leiden der Menschen ausgehen, sind für Jurist*innen objektive Beweise das A und O. Entsprechend änderten sich die Machtverhältnisse im IV-Abklärungsprozess. Früher waren die Einschätzungen der behandelnden Ärzt*innen, die ihre Patient*innen aus regelmässigen Konsultationen kannten, entscheidend dafür, ob jemand eine IV-Rente erhält. Externe Gutachter*innen waren dazu da, diese zu überprüfen und für Jurist*innen zu übersetzen. Heute ist es anders: Die Gerichte legen die Kriterien fest, nach denen eine IV-Rente ausgesprochen wird. Die externen Gutachter*innen orientieren sich an juristischen Vorgaben. Die IV-Stellen wiederum stützen sich hauptsächlich auf diese Gutachten. Behandelnde Ärzt*innen werden kaum noch konsultiert.

Die Folge davon sind immer mehr Beschwerden und Einsprachen von Patient*innen. Die IV führe die Abklärungen als Massengeschäft, sagt der Solothurner Schadenanwalt Rémy Wyssmann. «Die Einzelfallgerechtigkeit bleibt zusehends auf der Strecke.» Eine mögliche Lösung macht immer wieder die Runde: Alle Parteien sollten zusammenkommen, um strittige Fälle zu besprechen. Unter Fachleuten gilt so ein runder Tisch als Ideallösung. Kaum jemand wagt es aber, diese Idee laut auszusprechen. Denn mehr Gerechtigkeit für den Einzelnen würde die Sozialversicherung einiges kosten. Und das wiederum würde eine politische Kehrtwende weg vom Sparkurs bei der IV erfordern. EBA

Gutachter*innen ohne Empathie

Misstrauisch statt verständnisvoll: Die von der Justiz geforderte Objektivität verändert Ärzt*innen.

Ob eine Depression oder Schmerzkrankheit erkannt wird, hänge stark von der Empathie des Prüfers ab, sagen erfahrene Mediziner*innen und Therapeut*innen. Insbesondere Traumapatient*innen nehmen Gutachter*innen als Bedrohung wahr und haben Probleme damit, sich einem Fremden gegenüber zu öffnen. Bei der IV ist Objektivität aber das höchste Gebot. Diese juristische Maxime macht Distanz zu den Betroffenen zur Voraussetzung. Exemplarisch dafür ist, dass Betroffene nicht im Gerichtssaal dabei sein dürfen, wenn sie sich gegen einen IV-Entscheid wehren. Anders gesagt: Richter*innen brauchen den Betroffenen nicht in die Augen zu sehen, wenn sie über deren Existenz entscheiden.

Empathie ist auch nicht zwingend eine Stärke von IV-Gutachter*innen. Zu diesem Schluss kommt, wer mit Menschen spricht, die im Rahmen einer Rentenabklärung psychiatrisch begutachtet wurden. Surprise hat sich mit mehreren von ihnen unterhalten. Ein Wort, das immer wieder fällt: Verhör. Viele Betroffene äussern das Gefühl, den Gutachter*innen gehe es darum, sie zu überführen, statt sie zu verstehen. Dies könnte unter anderem damit zu tun haben, dass viele IV-Gutachter*innen aus der Forensik kommen und dort vorwiegend mit Straftäter*innen zu tun hatten.

Für einige Betroffene verläuft der Besuch beim IV-Gutachter selbst traumatisch. «Ich wurde zwei Stunden lang von einem Psychiater verhört. Nach der ersten fing ich an zu schlottern», sagt die zweifache Mutter Miranda Buser*, die an einer schizoaffektiven Störung leidet und vom Gutachter für gesund erklärt wurde. «Bei der Verabschiedung fragte er lapidar, warum ich denn so krank geworden sei, wenn ich doch so ein gutes Umfeld habe. Das klang vorwurfsvoll und wertend. Das Ganze war so entmündigend, ich brauchte lange, um mich davon zu erholen.» Buser hatte als 19-Jährige eine IV-Rente bekommen und den Wiedereinstieg in die Privatwirtschaft zehn Jahre später alleine geschafft. «Ich dachte damals nicht, dass die Krankheit zurückkommt.» Jahre später erlitt sie zum wiederholten Mal eine Psychose und Depressionen und meldete sich erneut bei der IV an. Im Gutachten wurde sie dann für gesund erklärt. «Dass ich nicht einmal eine Viertelrente erhalte, konnte ich nicht glauben. Dabei hatte ich ja damals von mir aus auf das Taggeld verzichtet. Das würde ich nicht mehr tun.» Inzwischen schreibt Buser ein Buch, das anderen psychisch kranken Müttern Mut machen soll. EBA

Surprise Talk:

Reporter Andres Eberhard spricht mit Radiomacher Simon Berginz über die Hintergründe: surprise.ngo/talk

«Das System IV»

Teil 1: Sparen bei den Kranken (Surprise 477/20) Teil 2: Die neuen Mediziner*innen (Surprise 482/20)

Teil 3: Das Geschäft mit den Gutachten (Surprise 485/20)

Teil 4: Die IV unter Druck – wie weiter? (folgt bis Ende 2020)