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Berichterstattung als Minenfeld

Kaum zu durchschauen

Der Bergkarabach-Konflikt ist ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, ausgewogen zu berichten. Das Tempo im Online-Journalismus sowie die Wechselwirkung mit den sozialen Netzwerken sind mit reflektierter Analyse kaum vereinbar.

TEXT SARA WINTER SAYILIR

Als der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im September ausbrach, erstaunte die Geschwindigkeit, mit der sich der Konflikt sich auf die Sozialen Netzwerke übertrug und wie schnell die westliche Medienberichterstattung mit Vorwürfen der Parteinahme konfrontiert wurde. Eine Woche, nachdem im vergangenen Herbst der zweite Bergkarabach-Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien ausgebrochen war, bekam ich über Facebook eine Nachricht: «Könntest du uns Kontakte zu Politik-Journalist*innen in der Schweiz vermitteln? Wir haben den Eindruck, es werde einzig über die armenische Seite berichtet, und würden gern auch unsere Sicht der Dinge mitteilen.» Die Nachricht kam von einer Bekannten aus meiner Studienzeit in Baku, sie arbeitet in Genf für den staatlichen aserbaidschanischen Ölkonzern Socar. Wir kennen uns kaum und haben bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen wir zusammenkamen, das Thema Politik lieber vermieden.

Auch wenn ihre Anfrage in Tonalität und Anliegen zunächst unproblematisch war, fragte ich mich, worauf genau sie sich bezog, wenn sie davon sprach, dass «einzig die armenische Seite» zu Wort käme: Welche Medien? Wie viele Beiträge? Und weil sie für einen aserbaidschanischen Staatskonzern arbeitete, war ich misstrauisch. War da überhaupt etwas dran? Oder war dies ein Versuch, Medien dazu zu bringen, aserbaidschanische Propaganda zu drucken? Wurden andere Kolleg*innen mit ähnlichen Anfragen von armenischer Seite behelligt? Ich fühlte mich beinahe verpflichtet, sie auf die Unabhängigkeit des Journalismus in der Schweiz, in Europa und in demokratischen Gesellschaften allgemein hinzuweisen.

Der Propagandakrieg

Der Versuch der Einflussnahme durch Menschen, die sich dem einen oder anderen Lager zugehörig fühlen, ist nichts Ungewöhnliches und bei Weitem nicht auf den Konflikt im Südkaukasus beschränkt. Silvia Stöber von tagesschau.de hat in Bezug auf ihre eigenen Berichte zu Bergkarabach sogar weniger Einflussnahmeversuche und Reaktionen beobachtet als 2008 beim GeorgienKrieg oder 2013/14 beim Thema Ukraine, «wo viele, auch persönliche Angriffe, aus Deutschland kamen», wie sie mir per E-Mail schreibt.

Oft stehen nicht nur Angehörige der Konfliktparteien dahinter, sondern auch ideologische, politische oder ökonomische Interessen. Und nicht immer ist klar ersichtlich, weshalb sich jemand gegenüber einer Redaktion für eine bestimmte Sicht stark macht. Ich fragte mich, wie es dazu kommt, dass die spezifische Lesart einer der beiden Parteien unkritisch übernommen wird. Möglicherweise spielte hier auch der Propagandakrieg in den Sozialen Medien eine Rolle. Dort mobilisierten beide Seiten nach Kräften, griffen sämtliche Stimmen an, die sich gegen den Krieg einsetzten, und diskreditierten Berichterstattung, sobald diese nicht ihrer Perspektive entsprach. Für mitlesende Journalist*innen nicht immer einfach, Propaganda von legitimer Kritik an Berichterstattung zu trennen, die ebenfalls stattfand. «Ich kenne Menschen aus beiden Ländern, die gegen den Krieg waren, dies aber öffentlich kaum formuliert haben», sagt Silvia Stöber. Sie war überrascht davon, wie bedingungslos einige Regierungskritiker*innen aus Aserbaidschan die Regierungspolitik unterstützten. Wer sich in den sozialen Netzwerken gegen den Krieg äusserte, musste mit einer Welle von Hass rechnen.

Eine solche traf auch die unabhängige aserbaidschanische Publizistin Arzu Geybulla, die Surprise noch wenige Monate zuvor zur Frage nach ihrer Perspektive für einen Frieden befragt hatte. Geybulla war den aserbaidschanischen Nationalist*innen in Aserbaidschan schon vorher ein Dorn im Auge gewesen, nun eskalierte der Hass im Netz derart, dass mehrere Medien, Journalist*innen-Verbände und auch der Europarat sich besorgt über die Sicherheit der Journalistin äusserten. Eine Zeitlang zog sie sich deswegen zurück, sistierte ihre Accounts. Geybulla sieht in den Vorgängen in den sozialen Netzwerken ein neues Kennzeichen: «Es war das erste Mal, dass die sozialen Netzwerke systematisch von beiden Seiten dazu genutzt wurden, ihrer Propaganda zu dienen», sagt sie.

Zu ihrer Sicht auf die internationale Medienberichterstattung befragt, sagt Arzu Geybulla, sie habe nicht den Eindruck, diese sei voreingenommen gewesen. Die grossen Medienhäuser wie BBC, CNN, France 24 und die New York Times hätten ausgewogen berichtet. Vorwürfe von aserbaidschanischer Seite, es werde in der Mehrheit pro-armenisch berichtet, hält sie für unbegründet. «Denen, die sich beschweren, mangelt es an einem grundsätzlichen Verständnis, was Medien eigentlich sind.» Seit 2008 sei die Zahl unabhängiger Medien in Aserbaidschan vor allem aufgrund staatlicher Repression immer weiter gesunken. Zudem sei es absurd, dass eine Regierung, die selbst internationale Medien diskreditiert und herabwürdigt, plötzlich von diesen eine faire Behandlung verlange. Ohne unabhängige Medien im Inland und Verständnis für die Funktion derselben könne sie die Kritik an internationalen Medien und die Frage, wie konfliktsensible Berichterstattung auszusehen habe, nicht ernstnehmen.

Silvia Stöber von tagesschau.de sieht die Ursachen von Einseitigkeit vor allem in «organisatorischen Problemen – zu wenig Hintergrundwissen und zu wenig Recherchezeit, zu wenig Raum in Form von Zeit oder Platz, um den komplexen Konflikt in einer Weise zu erklären, die allgemeinverständlich ist». Auch in Deutschland aber hätten sich die grossen Medienhäuser wie beispielsweise ARD und ZDF bemüht, von beiden Seiten zu berichten und Reporter an beide Orte geschickt. Sie selbst hatte kurz vor Ende des Krieges Armeniens Präsident Nikol Pashinyan interviewt.

Fehlende Ressourcen und Kenntnisse seien ein grundsätzliches kel von Genozid-Überlebenden Gefahr gelaufen seien, im Krieg Problem bei der Medienberichterstattung zum Bergkarabach- Nachfahren der damaligen Täter gegenüberzustehen, habe seines Konflikt, sagt der ehemalige US-Botschafter in Aserbaidschan Erachtens enorme Auswirkungen. Darüber hinaus werde die po(1994–1997) und Spezialist für Energie-Geopolitik, Richard Kauz- litische Zusammenarbeit der Schweiz mit dem aserbaidschanilarich. So sei die häufig auftauchende Einordnung des Bergka- schen staatlichen Ölkonzern Socar zu wenig aufgearbeitet. Socar rabach-Krieges als Stellvertreter-Krieg zwischen der Türkei und betreibt über eine gleichnamige Tochtergesellschaft nicht nur Russland zum Beispiel falsch, werde aber als ein einfacher Weg ein Tankstellennetz in der Schweiz, sondern hat auch einen wichgenutzt, sich der Analyse der tatsächlichen Wurzeln des Konflik- tigen Trading-Standort in Genf. tes zu entziehen. «Das nenne ich faulen Journalismus.» Natürlich gebe es eine gewisse Voreingenommenheit in den Redaktionen: Aserbaidschans Unfähigkeit «Berichte über Menschenrechtsverletzungen, Pressefreiheit und «Ganz unabhängig davon, wie viel Geld Aserbaidschan in den unfaire Wahlen aus der Zeit vor dem Krieg haben die Haltung letzten Jahren in PR investiert hat, die Armenier*innen in der geprägt.» Armenien habe seit dem Auf- Diaspora sind immer noch viel besser dastieg Nikol Pashinyans überwiegend eine positive Presse bekommen, Aserbaidschan werde aufgrund der Menschenrechtsver- «Ich kenne Menschen rin, der westlichen Öffentlichkeit eine Botschaft zu vermitteln, die diese auch verstehen kann», sagt Thomas de Waal, Autor letzungen scharf kritisiert. Das habe auch die Kommentare zum Krieg beeinflusst. Kauzlarich bescheinigt dem Konflikt seit letztem Sommer neu die Züge eines ethnischen Konfliktes. Dabei wirft er vor alaus beiden Ländern, die gegen den des Standardwerks zum ersten Bergkarabach-Krieg «Black Garden – Armenia and Azerbaijan Through Peace and War». Es hätten vor allem jene Medien reflektiert über den Konflikt berichtet, die bereit walem Aserbaidschan die Verbreitung von Videos von Drohnenangriffen vor. Diese hätten die Aserbaidschaner*innen desensibilisiert. «Krieg wurde so nicht mehr zum Schauplatz menschlichen Leidens, Krieg waren, dies aber öffentlich kaum ren und sind, in eine langfristige Begleitung des Konfliktes von beiden Seiten zu investieren. Denn dieser sei sehr schwer zu verstehen, es gebe viele Nuancen und Details und eine lange und komplizierte sondern zu einem Videospiel.» Und weil Aserbaidschan in dieser Hinsicht der einzige Player war, litten die Armenier*innen formuliert haben.» Geschichte. «Ich glaube, dass nur sehr wenige Menschen ein umfassendes Bild von dem haben, was passiert ist und warum.» zusätzlich unter den ständigen Bildern ih- De Waal, der bei der Carnegie Foundation rer Niederlage. Deren Verbreitung in den SILVIA STÖBER, TAGESSCHAU.DE for International Peace arbeitet, bescheisozialen Netzwerken hätten den Hass der nigt Aserbaidschan zudem ein sich unverArmenier*innen auf Aserbaidschaner*in- standen fühlen: Aserbaidschaner*innen nen und Türk*innen noch verstärkt. glaubten, die Welt habe ihr Leiden nicht

Was die Presse der frankophonen Schweiz betrifft, so beob- ausreichend wahrgenommen. Teilweise sei dieses Gefühl berechachtet der Hochschullehrer und Journalist Vicken Cheterian: «Die tigt, sagt de Waal. Allerdings hätten aserbaidschanische Offizielle Tribune de Genève hatte offensichtlich Sympathien für die Ar- sowie Aserbaidschans Medien auch immer wieder Botschaften menier, die als Opfer aserbaidschanischer Aggression wahrge- verbreitet, die sehr leicht zu widerlegen seien, und würden zunommen wurden. Le Temps hingegen hatte mehr Verständnis dem nicht anerkennen, wenn Aserbaidschan Fehler begehe. Stattfür das aserbaidschanische Anliegen, ihre rechtlich zugehörigen dessen würden sie darüber reden, was Armenien alles falsch geGebiete zu befreien.» Cheterian lehrt Internationale Beziehungen macht habe, und berechtigte Fragen nach eigenen Fehlern nicht an der Universität von Genf sowie der Webster University und beantworten. schreibt regelmässig für Le Monde Diplomatique. Entscheidend sei allerdings weniger die Voreingenommenheit, die man zuerst noch systematisch untersuchen müsse, sondern die blinden Flecken in der Berichterstattung, findet Cheterian: «Dies ist nicht nur ein Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, sondern auch ein Konflikt zwischen der Türkei und Armenien.» Dass En-