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Bergkarabach

So wie hier in der Stadt Aghdam sieht es in vielen bis vor Kurzem armenisch besetzen Gebieten Aserbaidschans aus.

Bergkarabach Der Krieg im letzten Herbst bildet ein weiteres Kapitel in einem langen und komplexen Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Frieden scheint zunächst in noch weitere Ferne gerückt.

ARMENIEN

Bergkarabach

ASERBAIDSCHAN

Hoffnung auf Rückkehr

In den 1990er-Jahren musste Ülvi Abasguliyev mit seiner Familie vor den armenischen Truppen fliehen. Nun hat Aserbaidschan seine Heimatregion im Süden wieder zurückerobert. Damit rückt eine Rückkehr erstmals in greifbare Nähe.

TEXT UND FOTOS ANDRÉ WIDMER

Der Krieg um Bergkarabach wurde durch Aserbaidschan im Süden der Front entschieden. So an der Strasse zwischen dem Dorf Alchanli und der Stadt Fizuli nahe der Grenze zu Iran, wo die aserbaidschanische Armee die armenischen Streitkräfte insbesondere mit Drohnenangriffen in die Flucht schlug. Noch im Dezember sind zahlreiche Spuren der intensiven Kampfhandlungen in der Gegend zu sehen: ausgebrannte Panzer, verlassene Stellungen und Erdwälle, zurückgelassene Uniformen, halbvolle Munitionslager. In einem Wagenpark stehen verbrannte Fahrzeuge – und auf einer der Ladeflächen liegen die verkohlten Überreste von drei Menschen, mutmasslich armenischen Soldaten. Etwas weiter Richtung Fizuli sieht man eine grüne Wiese übersät mit schwarzen Granattrichtern. Die Stadt Fizuli selber ist seit dem Krieg in den Neunzigerjahren und nach der 27-jährigen armenischen Besatzung fast vollständig zerstört.

Der zweite Krieg um Bergkarabach endete am 10. November letzten Jahres nach sechs Wochen heftiger Kämpfe. Offiziellen Angaben zufolge fielen auf beiden Seiten über 5000 Soldaten, über 100 Zivilist*innen kamen um. Die aserbaidschanische Armee erzielte insbesondere im südlichen Teil der 27 Jahre lang von armenischer Seite kontrollierten Regionen Aserbaidschans grosse Geländegewinne. Der von Russland vermittelte Friedensschluss vom 11. November 2020 beinhaltete zudem die gestaffelte Rückgabe weiterer Gebiete an Aserbaidschan. Der noch fragile Frieden wird derzeit unilateral von rund 2000 Soldaten einer russischen Friedensmission überwacht.

Die Vorgeschichte

Der wieder aufgeflammte, jahrzehntealte Konflikt um die zu Sowjetzeiten mehrheitlich von Armenier*innen bewohnte Region Bergkarabach ist ohne historische Kenntnisse der Region und ihrer komplexen Geschichte kaum zu verstehen (mehr zum Hintergrund siehe Surprise 483). Um etwas besser einordnen zu können, warum der Krieg in Aserbaidschan von einer breiten Bevölkerungsmehrheit gefordert und unterstützt wurde, muss man wissen, dass es nicht allein um die symbolisch aufgeladene Region Bergkarabach ging. Sieben sogenannte Rayons (Bezirke) rund um Bergkarabach waren im ersten Krieg zwischen 1988 und 1994 ebenfalls von armenischen Truppen besetzt worden. Hier hatten vor allem ethnische Aserbaidschaner*innen gesiedelt, von dort stammte auch der Grossteil der Flüchtlinge, die damals in anderen Gegenden des Landes Zuflucht suchen mussten. Zum Zeitpunkt des Waffenstillstands 1994 hielt Armenien knapp vierzehn Prozent des völkerrechtlich anerkannten Territoriums von Aserbaidschan besetzt. Die darauffolgenden Friedensverhandlungen unter Aufsicht der Minsk-Gruppe der OSZE führten jahrzehntelang ins Leere. Diesem ersten Bergkarabach-Krieg fielen zwischen 17 000 und 30 000 Menschen zum Opfer, rund 750 000 Aserbaidschaner*innen flohen oder wurden vertrieben, genauso wie über 350 000 Armenier*innen (die Zahlen variieren je nach Quelle). Es entstand eine faktisch ethnische Trennung.

In der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku sitzt Ülvi Abasguliyev an einem Dezembertag in seinem Wohnzimmer. Er ist ein ruhiger Typ, kompakt gebaut, mit einem freundlichen Lächeln und leuchtend grünen Augen. Es ist einige Wochen her, dass die aserbaidschanische Armee seine Heimatstadt Dschebrayil nahe der iranischen Grenze zurückerobern konnte. Wie viele Ortschaften wurde auch Dschebrayil im Verlauf der armenischen Besatzung zerstört und geplündert und besteht praktisch nur noch aus Ruinen. Abasguliyev ist 42 Jahre alt, 1993 ist er als 15-jähriger Junge zusammen mit seinen Eltern vor den heranrückenden armenischen Einheiten geflüchtet. Nach einigen Zwischenstationen landete die Familie, wie viele der Binnenflüchtlinge, in Baku. Sein früheres Leben in Dschebrayil, seiner Heimat, ist in Abasguliyevs Erinnerungen tief verankert. Die frische Luft und das frische Wasser. Und «in Dschebrayil konnte man die Türen unverschlossen lassen», so sehr vertrauten sich die Nachbarn.

Ülvi Abasguliyevs Eltern waren dort Leute gewesen, der Vater führte die Apotheke, die Mutter war die einzige Augenärztin weit und breit. Für die Familie war die Umgewöhnung nach der Flucht gross: während die Mutter eine Anstellung in einer Bakuer Poliklinik fand, war der Vater lange arbeitslos. Finanziell war es eng. Dazu kam, dass auch der Lebensunterhalt teurer war: «Es fühlte sich komisch an, in Baku musste man Gemüse und Wasser kaufen.» In Dschebrayil gab der Garten ums Haus vieles her – Granatäpfel, Birnen, Kirschen –, in Baku lebte die Familie anonym, zusammengepfercht in einer kleinen Wohnung. «Mein Bruder musste sich auf die Hochschulaufnahmeprüfung vorbereiten, während Mutter im selben Raum Kartoffeln rüstete.» Abasguliyev ist sehr bewusst, dass es schlimmere Fälle gab. Viele Geflüchtete schafften es nicht bis in die Hauptstadt und blieben in den aserbaidschanischen Regionen nahe der damaligen Waffenstillstandslinie. Dort hausten sie teilweise in Bahnwaggons, später liessen sie sich nahe der Geleise in Lehmhütten nieder. Andere wurden in Schulen, Turnhallen oder abbruchreifen Gebäuden untergebracht. Bis sie in grosse Flüchtlingssiedlungen umgesiedelt wurden, dauerte es bis zu zwei Jahrzehnte. Abasguliyev teilt mit ihnen die Erfahrung, die Heimat verloren zu haben. Dass er seine Möglichkeiten dazu genutzt hat, später Internationales Recht zu studieren, ist kein Zufall. Abasguliyev wollte verstehen, ob das, was seiner Familie und den anderen Vertriebenen widerfahren war, auch jenseits der bitteren Emotionen und nüchtern betrachtet Unrecht war.

In den 27 Jahren seit der Flucht hat er sich ein stabiles Leben in Baku aufgebaut. «Trotzdem fühle ich mich weiterhin fremd», sagt er. Sein Dialekt verrät bis heute seine Herkunft aus dem

VARDENIS

ARMENIEN

KELBEDSCHAR

0

TALYSCH TERTER

50 KM

ASERBAIDSCHAN

AGHDERE

AGHDAM

STEPANAKERT/CHANKENDI

LATSCHIN/BERDZOR

ASERBAIDSCHAN

AUTONOME REPUBLIK NACHITSCHEVAN

GORIS

NACHITSCHEVAN SCHUSCHA / SCHUSCHI

FIZULI

DSCHEBRAYIL

IRAN

Gebiet von Bergkarabach, in dem russische Friedenstruppen stationiert sind. Russische Friedenstruppen sichern auch den 5km breiten Latschin-Korridor, der Bergkarabach mit Armenien verbindet. Territorium ausserhalb von Bergkarabach, das von Aserbaidschan zurückerobert wurde.

Territorium von Bergkarabach, das von Aserbaidschan zurückerobert wurde.

Territorium von Bergkarabach, das schon vor den Kämpfen im Herbst unter aserbaidschanischer Kontrolle war.

1

1 Arbeit für Jahre: Ehemalige

Kampfgebiete werden von

Minen und nicht detonierten

Geschossen befreit. 2 Wiederanschluss mit Aserbaidschan: Strassenbau zwischen der Stadt Terter und dem ehemals armenisch besetzten Sugovushan. 3 Im Süden wie hier bei Fizuli ist es im Herbst zu besonders schweren Gefechten gekommen.

2

3

Südwesten des Landes. Auch die Identität als Geflüchteter hat er nicht ablegen können, der Zugang zur speziellen Kultur der alteingesessenen Bakuer Stadtbevölkerung blieb ihm verwehrt – obwohl er im Ausland studiert und für internationale Organisationen gearbeitet hat. Wird er jetzt nach der Rückeroberung zurückkehren nach Dschebrayil, in die Heimat seiner Familie, die Ortschaft seiner Jugend?

Der Traum von der Rückkehr

Ganz so einfach ist das nicht. Abasguliyev ist verheiratet, hat eine kleine Tochter und eine eigene Existenz in Baku. Hier hat er Völkerrecht studiert, später im Saarland den Magister in Europarecht draufgesetzt. Abasguliyev spricht neben Aserbaidschanisch und passablem Russisch auch fliessend Deutsch. Eine gute Anstellung zu finden, entpuppte sich jedoch als schwieriger als gedacht. Die wenigen internationalen Organisationen, die in Baku aktiv sind, stellen oft nur befristete Verträge aus. Immer wieder musste Abasguliyev neu suchen. Eine Zeitlang dachte er daran, ins Ausland zu gehen. Denn wenn man nicht unbedingt beim Staat oder im Ölsektor arbeiten wollte, sah es in Baku düster aus. Doch der Weg nach Europa war ohne Anstellung ebenso versperrt. Zuletzt arrangierte er sich in einem Job als Berater beim staatlichen Komitee für Vermögensfragen. Derzeit ist Abasguliyev wieder arbeitslos. Klar ist, dass er mit seinem beruflichen Profil in der Hauptstadt besser aufgehoben ist als in der Provinz. Kommt hinzu, dass seine Frau in Baku bleiben möchte und sich ein Leben in Dschebrayil nicht vorstellen kann. Auch die Tochter ist hier geboren, besucht hier die Schule, hat hier ihre Freundinnen.

Abasguliev sagt, viele möchten zurückkehren – auch seine Mutter, 71, und sein Vater, 78. «Meine Eltern würden sofort umsiedeln, wenn sie könnten.» Sie hätten schon Pläne, das Haus wiederaufzubauen, die Bäume zu pflegen, im Garten Kebab zu grillieren. Doch auch für sie würde im Falle einer Rückkehr vieles anders sein, sagt Abasguliev. «Viele ehemalige Nachbarn sind in der Zwischenzeit gestorben.» Der jüngeren Generation stellt sich vor allem die Frage, ob es in Dschebrayil dereinst genügend qualifizierte Arbeitsstellen geben wird. Früher war die Umgebung dieser Dörfer und Kleinstädte von Landwirtschaft geprägt. Doch zunächst stehen die Räumung und der Wiederaufbau an. Noch sind ganze Landstriche verwüstet, Areale vermint und mit Blind-