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Wir sind immer voll belegt

«Die Nähe zum Milieu ist extrem wichtig»

Auch im Zürcher Haus Zueflucht leben Menschen am Rand der Gesellschaft in WGs zusammen – allerdings um einiges würdevoller als in Etagenzimmern. Leiter Chris Stocker erklärt, wie das geht.

INTERVIEW ANDRES EBERHARD

Chris Stocker, im Haus Zueflucht leben 22 Menschen in sozialen Problemsituationen auf fünf Stockwerken verteilt in WGs zusammen. Wie funktioniert das?

Alles in allem sehr gut. Die Bewohner*innen haben ihre eigenen Zimmer, in die sie sich zurückziehen können. Dusche und Küche teilen sie sich auf der Etage. Treffpunkte sind der Garten und der Gemeinschaftsraum ganz oben im Haus. Dass es hin und wieder zu Reibereien kommt, ist normal. Das Umfeld hier ersetzt für viele die Familie. Und dort kommt es ja auch zu Konflikten.

Ihre Klientel ist aber doch anders als der Durchschnitt. Was ist mit Drogen?

Die sind natürlich ein Thema. Aber nicht alle Klient*innen sind süchtig. Wir haben eine Hausordnung, die Regeln sind sehr niederschwellig und einfach verständlich: Drogen dürfen nur auf dem Zimmer konsumiert werden. Dealereien, Hehlereien, Gewalt und Prostitution sind verboten. Wer sich nicht daran hält, dem wird gekündigt.

Was sind das für Menschen, die im Haus leben, und wie finden sie zu Ihnen?

Das ist sehr unterschiedlich. Das Gemeinsame ist ihre aussergewöhnliche Biografie. Darum reden wir nicht von Randständigen oder von Personen in prekären Umständen. Sondern von Menschen in spektakulären Lebenssituationen. Die meisten leben entweder von Sozialhilfe oder von IV-Zusatzleistungen. Den Drogenkonsum finanzieren sich einige wohl mit Dealereien auf der Gasse. Grundsätzlich handelt es sich um Menschen, die mit dem selbständigen Wohnen überfordert sind. Zu uns kommen sie über persönliche Kontakte, das Sozialamt oder Gassenarbeiter*innen. Kürzlich kam einer aus dem Gefängnis Pöschwies zu uns. Als die Stadt uns anfragte, begann ich sein Dossier zu lesen. Ich dachte: Oh Gott, wenn ich weiterlese, dann muss ich Nein sagen. Also stoppte ich. Jetzt ist er hier und es funktioniert problemlos. Ich bin froh darüber, dass wir ihn im Haus aufgenommen haben.

Was kostet ein Zimmer bei Ihnen?

Als ich hier anfing, war es einer meiner Hauptaufträge, das Haus kostendeckend zu betreiben. Da hilft mir mein beruflicher Hintergrund, mit Budgets und Projektmanagement kann ich was anfangen. Heute haben wir das geschafft, ein Zimmer kostet die Stadt 1324 Franken. Darin inbegriffen ist neben der Infrastruktur die Sozialarbeit im Haus, nicht aber die Projekte, die wir mit den Bewohner*innen zusätzlich führen. Denn es ist uns wichtig, dass projektbezogene Spenden auch wirklich am richtigen Ort verwendet werden. Wir betreiben zum Beispiel mit den Bewohner*innen zusammen eine Imkerei mit vierzig Bienenvölkern sowie mehrere Permakultur-Gärten, nebst weiteren Projekten.

Anderswo wird für schäbige Zimmer annähernd gleich viel verlangt. Warum florieren solche Gammelhäuser?

Meist handelt es sich ja um zentrale Liegenschaften in der Nähe der Langstrasse. Die hohen Preise haben sicher mit der Gentrifizierung zu tun. Dazu kommt, dass den Bewohner*innen die Nähe zum Milieu extrem wichtig ist. Wenn wir die Menschen bei uns fragen, warum sie hier wohnen, dann nennen neunzig Prozent die Lage als wichtigsten Grund. In zwei Minuten sind sie hier auf der Strasse, wo ihr Umfeld ist.

Gibt es in Zürich genügend Angebote wie Ihres?

Wir sind immer voll belegt, darum bezweifle ich das. Es gibt natürlich viele Angebote der Stadt im Rahmen von begleitetem Wohnen. Dort sind die Regeln allerdings strenger, gerade was den Drogenkonsum angeht. Wir sind der Meinung, dass Regeln nichts bringen, die Abhängige oftmals nicht einhalten können. Darum haben wir sehr viel Geduld und drücken öfter einmal ein Auge zu. Wir setzen jemanden nicht gleich auf die Strasse, weil er in Abstinenz ist und einen Rückfall hat. Aber auch bei uns ist das Ziel, dass Bewohner*innen dereinst wieder selbständig wohnen können. Unsere Erfahrungen zeigen, dass dieser Schritt sehr gross ist. Ungefähr bei einem Bewohner pro Jahr gelingt das. Darum sind wir auf der Suche nach einem weiteren Haus, das Bewohner*innen als Sprungbrett dienen könnte, wo sie mit etwas weniger Betreuung ans selbständige Wohnen herangeführt werden können. Dort gibt es meiner Meinung nach eine Versorgungslücke.

ZVG FOTO:

«Wir setzen niemanden auf die Strasse, weil er einen Rückfall hat. Das Ziel ist, dass er dereinst wieder selbständig wohnen kann.»

CHRIS STOCKER

Was macht es Menschen in Not so schwer, eine bezahlbare Wohnung zu finden?

Viele können nicht so gut planen und fokussieren sich auf das unmittelbare Bedürfnis. Oftmals bestehen finanzielle Schulden oder Einträge im Betreibungsregister. Wenn hundert Leute für eine freie Wohnung anstehen, und man ist nicht pünktlich oder hat offene Rechnungen, dann ist das Rennen natürlich gelaufen.

Sie mussten das Haus wegen Corona für Tagesgäste schliessen. In der Adventszeit verteilten Sie stattdessen jeden Abend eine warme Gratis-Mahlzeit vor der St. Jakobskirche in Zürich. Wie kam es dazu?

Wir begannen wie andere Institutionen: Wir kochten drinnen weiter und hatten ein Schutzkonzept – Personalien aufnehmen, Fieber messen, Maske tragen, maximal acht Personen gleichzeitig. Doch viele haben Ängste oder sind psychisch belastet. Dann sind solche Einlassregeln eine Schwelle, grenzen aus. Darum haben wir uns entschieden, nach draussen zu gehen.

Die Bilder von Schlangen bei Essensausgaben haben im Frühling viele schockiert. Wie war der Andrang?

Wir schöpften täglich zwischen sechzig und achtzig Mahlzeiten und gaben warme Winterkleidung ab. Die Essensausgabe vor dem St. Jakobskirche wurde zu einem Treffpunkt. Von den Menschen auf der Gasse bekamen wir viel Lob, und was auch erwähnt werden muss: Die Bereitschaft zu helfen war sehr gross. Nachdem wir die ersten zwei Wochen selber kochten, fanden wir einen Partner, der das Essen spendete und kochte. Wir bezogen Backwaren als Spenden von Gastrobetrieben. Corona hin oder her: Wir haben fest vor, das Projekt Hunger im nächsten Winter zu wiederholen – wiederum draussen bei den Menschen.

Haus Zueflucht

Das Haus Zueflucht an der Fabrikstrasse im Zürcher Kreis 5 gibt es seit 2007. Das Bistum Chur hatte Beno Kehl, einem ehemaligen Franziskanermönch, das Haus im Baurecht überlassen. Er baute das Haus zur WG um. Die christlichen Werte sind nach wie vor Teil des Projekts. Jedoch ist die Ausübung des Glaubens weder für Mitarbeiter*innen noch für Bewohner*innen eine Voraussetzung. Chris Stocker stiess 2017 zum Verein und ist seither Leiter des Hauses Zueflucht und Co-Leiter der franziskanischen Gassenarbeit. Der 54-Jährige war zuvor Manager auf einer Grossbank und hatte in der IT in verschiedenen Management-Positionen gearbeitet, ehe er etwas komplett anderes machen wollte. Parallel zur Arbeit im Haus studiert er Soziale Arbeit an der HSLU in Luzern und befasst sich in seiner Abschlussarbeit mit der Obdachlosigkeit in der Stadt Zürich.