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Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik

Die staatliche Rechtsordnung legt fest, in welchem Rahmen individuelles wirtschaftliches Handeln möglich ist. Die Wirtschaftstätigkeit von Unternehmungen und Haushalten führt dennoch nicht immer zu optimalen Ergebnissen für die gesamte Gesellschaft. Deshalb greift der Staat auch selbst lenkend in die Wirtschaft ein. Er orientiert sich dabei an übergeordneten Zielen, die gesamtgesellschaftlich auf Zustimmung stossen.

Theorie

Übungen

36.1 Grundlagen unserer Wirtschaftsordnung ............................................................ 36.2 Die wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Ziele .......................................... 36.3 Bereiche des politischen Handelns ..................................................................... Das haben Sie gelernt ........................................................................................ Diese Begriffe können Sie erklären .....................................................................

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Grundlagen unserer Wirtschaftsordnung .............................................................. Marktversagen und öffentliche Güter ................................................................... Welche Ziele sind betroffen? ................................................................................ Verschiedene Bereiche des politischen Handelns ...................................................

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Aufgaben 1 2 3

Wirtschaftspolitische Eingriffe: Vergleich Schweiz – Venezuela .............................. 26 Korrektur von Marktversagen am Beispiel des Benzinpreises ................................. 28 Bereiche politischen Handelns am Beispiel eines Koalitionsvertrags ....................... 30

Brennpunkt Wirtschaft und Gesellschaft 2.. Auflage 2017 / © Verlag SKV AG, Zürich Diese Broschüre ist urheberrechtlich geschützt. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, die Broschüre oder Teile daraus in irgendeiner Form zu reproduzieren. Bestellung über: http://brennpunkt-wug.verlagskv.ch Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik

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36.1 Grundlagen unserer Wirtschaftsordnung ■ Freier Markt, Preisfunktionen und Aufgaben des Staates Unsere Wirtschaftsordnung ist nach den Grundsätzen einer sozialen Marktwirtschaft aufgebaut. Danach soll primär der Marktmechanismus dafür sorgen, dass in unserer Gesellschaft ein möglichst hoher Wohlstand erreicht wird. Als «sozial» bezeichnen wir die Wirtschaftsordnung, weil durch staatliche Eingriffe gesellschaftlich unerwünschte Ergebnisse des ungehinderten Marktmechanismus, beispielsweise eine ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen, korrigiert werden sollen. Bereits andernorts haben wir auf die zentrale Rolle des Preises für eine funktionierende Wirtschaft hingewiesen. Preise bilden für Unternehmungen und Haushalte die Grundlage für ihre Produktions- und Konsumentscheide. Sie dienen somit in erster Linie der Information aller Marktteilnehmer ( Informationsfunktion). Verändern sich Preise, deutet dies auf veränderte Nutzenerwartungen der einzelnen Wirtschaftssubjekte hin. Haushalte und Unternehmungen müssen ihr Handeln entsprechend verändern, wenn sie auch künftig einen möglichst grossen Nutzen aus ihrem wirtschaftlichen Handeln ziehen möchten. Steigende Preise für ein Gut deuten darauf hin, dass dieses Gut begehrt ist und es sich für Unternehmungen daher lohnen könnte, in die Herstellung dieses Gutes zu investieren. Sinkende Preise führen zu gegenteiligen Überlegungen. Die einzelne Unternehmung oder der einzelne Konsument wird dabei aber immer verschiedene Wahlmöglichkeiten gegeneinander abwägen und sich schliesslich für jene entscheiden, die ihm den grössten Nutzen verspricht. In einer Volkswirtschaft führt dies gesamthaft dazu, dass die vorhandenen Produktionsfaktoren (Arbeit, Wissen, Boden und Kapital) immer dorthin gelenkt und eingesetzt werden, wo sie am dringendsten benötigt werden. Diese «Steuerungsfunktion des Preises » bezeichnen wir auch als « Allokationsfunktion». Allokation bedeutet dabei die Zuordnung der vorhandenen Ressourcen (Produktionsfaktoren) zu einem bestimmten wirtschaftlichen Zweck. Die Informations- und Allokationsfunktion des Preises führen in der Theorie dazu, dass die unüberschaubar grosse Zahl von Produktions- und Konsumentscheiden innerhalb einer Volkswirtschaft «wie durch Zauberhand» über den Preis aufeinander abgestimmt wird ( KoAufgabe 1 ordinationsfunktion) und nicht von einer Institution geplant werden muss.

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In der Realität zeigt sich, dass der Staat trotz der koordinierenden Funktion des Preises in vielfältiger Weise in die Wirtschaft eingreifen muss, damit aus der Summe aller Wirtschaftsaktivitäten ein wirtschafts- und sozialpolitisch erwünschtes Ergebnis erreicht wird. Der Staat übernimmt dabei folgende Aufgaben: ■ Aufgabe 1: Freiheitliche Rechtsordnung Eine funktionierende Marktwirtschaft kann nur entstehen, wenn das Privateigentum gewährleistet ist. Unternehmungen und private Haushalte werden nur Geld für Investitionen und Konsum ausgeben, wenn sie mit Sicherheit davon ausgehen dürfen, dass das, was sie kaufen, ihnen auch langfristig nicht weggenommen werden kann ((Eigentumsgarantie). Eigentumsgarantie). Zudem müssen sie frei entscheiden dürfen, mit wem sie zusammenarbeiten und wie sie die Zusammenarbeit inhaltlich gestalten möchten ( Vertragsfreiheit); diese wirtschaftspolitischen Grundlagen sind in der Bundesverfassung festgeschrieben. Schliesslich müssen Verstösse gegen gesetzlich festgesetzte Regeln oder die Nichteinhaltung einmal geschlossener Verträge Konsequenzen haben, die auch durchgesetzt werden können. Wenn das nicht der Fall ist, besteht keine Rechtssicherheit, und der Erlass von Regeln ist nutzlos.. ■ Aufgabe 2: Regulierung und Deregulierung Eine Gesellschaft strebt nicht ausschliesslich Ziele an, die mithilfe des Marktmechanismus erreicht werden können. Der Staat entscheidet, welche gesamtgesellschaftlichen Ziele so wichtig sind, dass deren Erreichung staatliche Eingriffe zur Beschränkung des freien Wettbewerbs rechtfertigen. Insbesondere wenn möglichst alle gesellschaftlich relevanten Gruppen am Wohlstand eines Landes teilhaben sollen, greift er durch Gesetze und Verordnungen in den Markt ein. Solche Eingriffe nennen wir Regulierungen. Damit soll der Handlungsspielraum von Unternehmungen und privaten Haushalten so beeinflusst werden, dass die angestrebten Ziele erreicht werden. Typische Beispiele dafür sind Versorgungssysteme (Post, Energie und Wasser) für alle Regionen eines Landes, die Steuerung der Bautätigkeit durch die Raumplanung oder der Schutz von Angestellten Während für Briefpostsendungen bis 50 g die Post vor den negativen Folgen von Nacht- oder aufgrund ihrer Monopolstellung alleiniger Anbieter ist, gilt für adressierte Pakete der freie Wettbewerb; Schichtarbeit. Diese Bereiche könnten neben der Post erbringen auch private Anbieter grundsätzlich auch in der Schweiz – wie solche Dienstleistungen. in einigen anderen Ländern – den


Marktkräften überlassen werden. Die Mehrheit der Bevölkerung befürchtet jedoch, dass dies nicht erwünschte Ergebnisse hervorbringen würde, und unterstützt deshalb entsprechende Regulierungen. In einer demokratischen Gesellschaft kann sich diese Einschätzung aber auch verändern, was allenfalls zur Beseitigung entsprechender gesetzlicher Auflagen führt ( Deregulierung). Dies zeigt sich z. B. bei Veränderungen im Bereich der Post und Telekommunikation: Noch vor 30 Jahren war ausschliesslich der Staat über einen entsprechenden Monopolbetrieb (PTT: Post, Telefon, Telegraf) für den Verkauf von Post- und Telefondienstleistungen verantwortlich. Als Erstes wurde der Telekommarkt dereguliert, indem unter bestimmten Auflagen private Unternehmungen zugelassen wurden (Sunrise oder Orange [heute «salt»] neben Swisscom). In den letzten Jahren erfolgte schliesslich auch die schrittweise Deregulierung des Postmarktes, indem private Unternehmen zunächst Pakete zustellen durften und seit 2009 teilweise auch die Briefpost durch private Anbieter befördert werden darf. Aufgabe des Staates bei der Regulierung von Märkten ist es nun, die rechtlichen Auflagen möglichst so zu gestalten, dass das übergeordnete gesellschaftliche Ziel erreicht werden Übung 1 kann, ohne die oben beschriebenen, positiven Funktionen des Preises infrage zu stellen.

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■ Aufgabe 3: Korrektur von Marktversagen

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■ Preis-Mengen-Auswirkung der Internalisierung von externen Kosten

Von Marktversagen sprechen wir dann, wenn das Marktergebnis zu einer Verschwendung von Ressourcen führt. Dies geschieht dann, wenn der Preis seine Koordinationsfunktion nicht wahrnehmen kann und Knappheitssituationen deshalb falsch dargestellt werden. Dabei werden drei Formen unterschieden: die Entstehung externer Kosten, die ausbleibende Herstellung öffentlicher Güter sowie das Streben nach unzulässigen Wettbewerbsbeschränkungen zum Vorteil weniger.

Ticketpreis

A 1 = Ursprüngliches Angebot

Nachfrage

A2

p2 Preisanstieg

■ Externe Kosten Wenn die wirtschaftliche Tätigkeit in einem Markt Kosten verursacht, die nicht von den Verursachern getragen, sondern Dritten oder der Gesellschaft aufgebürdet werden, sprechen wir von externen Kosten.. Diese betreffen vor allem freie Güter. Freie Güter kommen in der Natur in scheinbar unbeschränkter Menge vor. Sie können deshalb nicht bewirtschaftet werden und haben Allein im Kanton Zürich verursachte die Luftfolglich auch keinen Marktpreis. Am Beiverschmutzung 2010 externe Kosten von spiel der Lärmbelastung durch den FlugverCHF 882 Mio. kehr im Einzugsbereich eines Flughafens lassen sich externe Kosten illustrieren. Wie Proteste der Anwohner von Anflug- oder Abflugschneisen deutlich zeigen, ist Fluglärm eine Belästigung. Die Anwohner in den betroffenen Gebieten müssen diese Belästigung «gratis» ertragen, weil sie dafür nicht entschädigt werden, d. h., Lärm hat für die Verursacher keine Kosten, welche sie in den Preis einkalkulieren müssen. In die Kostenkalkulation eines Flugtickets fliessen alle möglichen Kostenfaktoren ein, wie z. B. Treibstoffkosten, Lohnkosten, Flugzeugamortisation oder Landegebühren, nicht jedoch der Lärm. Damit zahlt ein Flugpassagier mit dem Ticketpreis nicht alle Kosten, die sein Flug verursacht. Durch die zu tiefen Flugpreise ohne «Lärmkostenanteil» ist Fliegen «zu billig», deshalb wird häufiger geflogen. Würden nämlich externe Kosten internalisiert, d. h. den Verursachern belastet, müssten die Ticketpreise bei der Menge m 1 von p 1 nach p 2 angehoben werden (vgl. Abbildung). Dies hätte dieselbe Wirkung wie eine Linksverschiebung der Angebotskurve mit der Folge, dass die Anzahl Flüge – und damit auch die Lärmbelastung – abnähme und sich bei der Menge m 2 sowie dem Preis p 3 einpendeln würde.

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A 2 = Angebot bei internalisierten externen Kosten A1

p3 Externe Kosten

p1

m2

m1

Anzahl Flüge

Mengenrückgang

Tatsächlich verlangt z. B. der Flughafen Zürich seit Langem Lärmgebühren, die zweckgebunden für Lärmsanierungen und Lärmbekämpfungsmassnahmen im Umfeld des Flughafens verwendet werden. Die anhaltenden Proteste der Anwohner lassen allerdings darauf schliessen, dass damit nicht alle externen Kosten abgegolten werden können. Externe Kosten können wir allgemein als jene Kosten umschreiben, die im sozialen und ökologischen Umfeld eines Marktes entstehen, aber nicht von den Marktteilnehmern getragen werden. Neben dem beschriebenen Versuch, diese Kosten mit Geld zu bewerten und auf gesetzlichem Weg in die Preise einzurechnen (Internalisierung), kann der Staat auch mit Verboten agieren oder sich selbst um die Beseitigung der negativen Effekte kümmern. Beim Beispiel des Fluglärms wirkt sich dies in Nachtflugverboten oder der staatlich finanzierten Schallisolation von Gebäuden aus.


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■ Öffentliche Güter Güter, die von vielen Menschen gleichzeitig genutzt werden können, ohne dass man Einzelne von der Nutzung ausschliessen kann, bezeichnen wir als öffentliche Güter. Angenommen, an einem Privatweg mit sechs Einfamilienhäusern entschliessen sich fünf Eigentümer, den Weg mit drei Strassenlampen zu beleuchten, der sechste Eigentümer aber macht beim gemeinsamen Projekt nicht mit. Einmal installiert, kann er – aber auch jede weitere Person – vom Nutzen der Strassenbeleuchtung nicht ausgeschlossen werden; die Strasse wird auch für ihn beleuchtet. Im Unterschied zu den auf Seite 4 behandelten externen Kosten handelt es sich hier um einen externen Nutzen für diejenigen, die sich nicht an den Kosten eines öffentlichen Gutes beteiligen. Weil ein Einzelner keinen Anreiz hat, solche Kosten zu bezahlen, sondern vielmehr hofft, als sogenannter «Trittbrettfahrer» von den Massnahmen anderer profitieren zu können, werden öffentliche Güter in der Regel vom Staat angeboten. In einem marktwirtschaftlichen System mit freiem Wettbewerb sind die gewinnorientierten privaten Unternehmungen nämlich nicht bereit, Güter anzubieten, von denen eine grosse Anzahl von Leuten profitiert, aber nur wenige zur Zahlung bereit sind. Beispiele für öffentliche Güter sind die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch das Militär, die Polizei oder das Rechtssystem. Am Beispiel der Diskussionen über Struktur, Grösse und Auftrag der schweizerischen Armee wird ersichtlich, dass das erwünschte staatliche Angebot an öffentlichen Gütern in einer demokratischen Gesellschaft in einem klar festgelegten politischen Verfahren bestimmt wird. Durch das Gesetzgebungsverfahren und Volksabstimmungen werden die entsprechenden Staatsaktivitäten legitimiert und müssen schliesslich von allen Bürgern über Steuern finanziert werden. ■ Wettbewerbsbeschränkung Marktsituationen bringen dann das beste Preis-Mengen-Verhältnis hervor, wenn kein Marktteilnehmer allein den Preis beeinflussen kann. Gelingt dies einem Marktteilnehmer dennoch, wird er den Preis so festlegen, dass er einen maximalen Nutzen erzielt. Dieser Preis, der ja nicht dem eigentlichen Marktpreis entspricht, gibt in jedem Fall falsche Knappheitssignale und führt damit zu einer mangelhaften Allokation der eingesetzten Produktionsmittel (Ressourcenverschwendung). Es liegt deshalb im Interesse der Gesellschaft, dass der Staat alle Bestrebungen zur Verhinderung von Wettbewerb unterbindet, sofern nicht übergeordnete gesellschaftliche Interessen dafür sprechen. Und solche Bestrebungen gibt es viele: So haben Schweizer Bauern z. B. ein Interesse daran, dass sie bei landwirtschaftlichen Produkten nicht gegen ausländische Konkurrenz antreten müssen. Auch bei der Vergabe öffentlicher Aufträge (z. B. dem Bau einer Schule) wären lokale Gewerbebetriebe sicherlich daran interessiert, wenn auswärtige Anbieter keine Offerte einreichen dürften. Schweizer Inhaber von Berufs- oder Universitätsdiplomen hätten ein Interesse daran, dass vergleichbare ausländische Übung 2 Abschlüsse nicht anerkannt würden, damit sie auf dem Arbeitsmarkt vor dieser Konkurrenz Aufgabe 2 geschützt würden.

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■ Vom Marktversagen zum Staatsversagen Um die Unzulänglichkeiten des Marktes bei Fällen von Marktversagen zu «korrigieren», werden meistens staatliche Massnahmen gefordert. Ist man mit den erreichten Ergebnissen solcher Staatseingriffe nicht zufrieden, ist häufig von Staatsversagen die Rede. Die folgenden Gründe können zu einem Staatsversagen führen: ■ Oftmals wirken die staatlichen Massnahmen nicht zum richtigen Zeitpunkt, weil vom Entscheid bis zur Umsetzung eines Eingriffs durch die politischen und administrativen Prozesse viel Zeit verstreicht. Steuersätze können z. B. nicht von heute auf morgen verändert werden. ■ Die Bereitstellung von öffentlichen Gütern wird über ein oftmals langwieriges politisches Verfahren festgelegt. Die daraus resultierenden Entscheide sind deshalb nicht selten Kompromisse zwischen den Interessen der verschiedenen Regionen, Kantone, Parteien oder Verbände. Mit solchen Kompromisslösungen werden allerdings vielDie beiden Eisenbahn-Alpentransversalen am fach die knappen ProduktionsfaktoLötschberg und am Gotthard dürften insgesamt ren nicht optimal eingesetzt. Als rund 24 Mia. Franken kosten. Beispiel für eine solch teure Kompromisslösung kann die Realisierung von gleichzeitig zwei Eisenbahn-Alpentransversalen am Lötschberg und am Gotthard angeführt werden. Wäre nur ein Projekt in Angriff genommen worden, hätten beträchtliche finanzielle Mittel für andere öffentliche Aufgaben, z. B. den städtischen Agglomerationsverkehr, eingesetzt werden können. ■ Häufiger werden staatliche Aktivitäten grundsätzlich als zu wenig effizient und zu teuer kritisiert. Vergleiche mit der Privatwirtschaft sind allerdings wenig hilfreich, da die privatwirtschaftlichen Unternehmungen ja gerade nicht bereit sind, öffentliche Güter herzustellen. Allerdings befinden sich die öffentlichen Unternehmungen in diesen Fällen in einer Monopolstellung, und es kann deshalb argumentiert werden, es fehle der effizienzsteigernde Wettbewerbs- oder Konkurrenzdruck.


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36.2 Die wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Ziele Der Staat greift nicht willkürlich in die Wirtschaft ein. Vielmehr tut er es dann, wenn er ohne sein Zutun die langfristige Existenzgrundlage und Stabilität der Gesellschaft gefährdet sieht. Der Staat strebt mit seinen Massnahmen nach sozialer, ökonomischer und ökologischer Stabilität, ohne jedoch im Stillstand zu verharren. Diese allgemeine Zielsetzung lässt sich konkret in den folgenden sieben Zielen fassen: ■ Die sieben wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Ziele ■ ■ ■ ■

Preisstabilität Vollbeschäftigung Wirtschaftswachstum Aussenwirtschaftliches Gleichgewicht

■ Ausgeglichener Staatshaushalt ■ Sozialer Ausgleich ■ Umweltqualität

■ Preisstabilität 1 Preisstabilität ist dann gegeben, wenn sich der Durchschnitt der Preise aller in einer Periode gehandelten Güter nicht verändert. Es geht also nie um die Veränderung einzelner Preise, sondern immer um einen Durchschnittswert. Gemessen wird die Preisstabilität mit dem Landesindex der Konsumentenpreise (LIK). Der LIK misst die Preisveränderung (= Teuerung) für den typischen Warenkorb einer vierköpfigen Familie innerhalb eines Jahres. Das Ziel der Preisstabilität gilt als erreicht, wenn sich die Preise innert Jahresfrist um nicht mehr als zwei Prozent nach oben bewegen. Herrscht Preisstabilität, so bleibt die Kaufkraft des Geldes erhalten, d. h., das Geld verliert nichts von seinem Wert. Dadurch wird das Vertrauen der verschiedenen Wirtschaftsteilnehmer in die künftige wirtschaftliche Entwicklung gestärkt. Sowohl Infl Inflation ation (steigende Preise) als auch Deflation Deflation (sinkende Preise) haben, wenn sie über längere Zeit andauern, negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. Anhaltend hohe Inflation führt zu Kaufkraftverlusten für Rentner, Angestellte und Sparer. Diese werden möglichst wenig Geld halten wollen, weil sie dafür immer weniger erhalten. Stattdessen werden sie ihr Geld zunehmend in Sachgüter investieren, was die Inflation noch weiter anheizt. Anhaltend sinkende Preise, also eine Deflation, führen hingegen zur umgekehrten Reaktion: Sachgüter verlieren zunehmend an Wert, während man für sein Geld immer mehr bekommt. Es ist deshalb interessant, Geld zu horten, statt es auszugeben. Für die Wirtschaft ist diese Entwicklung verheerend, weil niemand mehr bereit ist, Investitionen zu tätigen. Unternehmungen müssen nämlich befürchten, dass sich Investitionen nicht mehr lohnen, weil die künftigen Erträge durch die sinkenden Preise geringer ausfallen, als ursprünglich geplant. 1

Aspekte der Preisstabilität sind im Kapitel 30 in Band 2 behandelt.

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■ Vollbeschäftigung Vollbeschäftigung ist dann erreicht, wenn alle Personen, die arbeiten möchten, auch tatsächlich eine ihrer Ausbildung und ihren Fähigkeiten entsprechende Arbeit finden. Menschen, die arbeiten, sind in der Regel in der Lage, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten und über Steuern einen Beitrag zur Finanzierung staatlicher Aufgaben zu leisten. Wer keine Arbeit hat, muss entweder mit Leistungen der Arbeitslosenversicherung oder mit staatlichen Mitteln (Sozialhilfe) unterstützt werden. Beides führt zu einer Zusatzbelastung für die Wirtschaft (z. B. über höhere Beiträge in die Arbeitslosenversicherung) oder den Staatshaushalt. Neben diesen wirtschaftlichen Folgen ist Vollbeschäftigung auch aus sozialen Gründen ein wichtiges gesamtgesellschaftliches Ziel. Bei langanhaltender Arbeitslosigkeit besteht die Gefahr einer Zweiteilung der Gesellschaft, bei der Arbeitslose und Arbeitende zunehmend unterschiedliche Ziele verfolgen und unter Umständen soziale Spannungen entstehen können. So lässt sich in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit feststellen, dass die Kriminalität zunimmt und radikale politische Gruppierungen an Einfluss gewinnen. Bei hoher Jugendarbeitslosigkeit besteht zudem die Gefahr, dass viele gut ausgebildete junge Menschen in anderen Ländern nach Arbeit suchen und so die heimische Wirtschaft nur bedingt von den hohen Investitionen im Bildungsbereich profitiert. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt wird meistens mit der Arbeitslosenquote gemessen. Diese gibt jenen Prozentanteil der Erwerbsbevölkerung eines Landes an, der trotz entsprechender Bemühungen keine Arbeit findet. In der Schweiz wird eine Arbeitslosenquote von unter 3 % als Erfolg betrachtet.2 ■ Wirtschaftswachstum Wirtschaftswachstum drückt sich in einer Zunahme des realen Bruttoinlandproduktes pro Kopf aus. Eine solche Zunahme an Gütern und Dienstleistungen ist notwendig, um die wachsenden Bedürfnisse der Menschen besser befriedigen zu können. Auch das Ziel der Vollbeschäftigung kann nur dann erreicht werden, wenn Produktivitätssteigerungen mit einer entsprechend wachsenden Wirtschaftsleistung einhergehen; sonst hätten diese zwangsläufig den Abbau von Arbeitsplätzen zur Folge. In den letzten Jahren ist durch die demografische Entwicklung die Bedeutung eines konstanten Wachstums für den sozialen Ausgleich in den Fokus gerückt: Sozialversicherungen wie die AHV, aber auch die steigenden Sozialhilfeleistungen an bedürftige Personen sind langfristig nur finanzierbar, wenn die schrumpfende Zahl jener, die AHV-Beiträge und Steuern zahlen, dies auf der Basis steigender Einkommen tun. Selbstverständlich gilt das auch für andere staatliche Aufgaben: Diese können nur dann im gewohnten Umfang und ohne massive steuerliche Zusatzbelastungen erbracht werden, wenn die geringere Zahl von Steuerpflichtigen ihre Steuern auf der Basis höherer Einkommen bezahlen. Dazu ist Wirtschaftswachstum unabdingbar. 2

Aspekte der Arbeitslosigkeit finden Sie im Kapitel 17 in Band 2.


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■ Aussenwirtschaftliches Gleichgewicht Im Zeitalter der Globalisierung nimmt die wirtschaftliche Verflechtung zwischen den Ländern kontinuierlich zu. So ist die Schweiz als rohstoffarmes Land darauf angewiesen, viele Ressourcen im Ausland einkaufen zu können. Dies gilt nicht nur für industrielle Rohstoffe, sondern in zunehmendem Masse auch für die Produktionsfaktoren Arbeit und Wissen. Gleichzeitig bieten viele inländische Unternehmungen ihre Produkte im Ausland an, und die Konsumentinnen und Konsumenten in der Schweiz kaufen ganz selbstverständlich viele Produkte, die im Ausland hergestellt wurden. Die Zahlungsbilanz ist eine Statistik des grenzüberschreitenden Leistungs- und Kapitalverkehrs eines Landes. Erfasst werden sämtliche Deviseneinnahmen und -ausgaben eines Landes über einen bestimmten Zeitraum (i. d. R. während eines Jahres). ■ Die Zahlungsbilanz: Leistungs- und Kapitalbilanz Zahlungsbilanz Leistungsbilanz Deviseneinnahmen  «Exporte» = Zahlungseingänge aus ...  Warenexporten (Sachgüter)  Dienstleistungsexporten  Arbeitseinkommen vom Ausland (inländische Grenzgänger)  Kapitaleinkommen vom Ausland  Übertragungen vom Ausland ohne Gegenleistung

Devisenausgaben  «Importe» = Zahlungsausgänge aus …  Warenimporten (Sachgüter)  Dienstleistungsimporten  Arbeitseinkommen an das Ausland (ausländische Grenzgänger)  Kapitaleinkommen an das Ausland  Übertragungen an das Ausland ohne Gegenleistung Leistungsbilanzüberschuss (Saldo) Kapitalbilanz

Kapitalimport = Zugang von Schulden aus ...  Direktinvestitionen von Ausländern in der Schweiz  Portfolioinvestitionen von Ausländern in der Schweiz  Übrige Kapitalimporte  Abnahme der Währungsreserven der Nationalbank Kapitalbilanzdefizit (Saldo)

Kapitalexport = Zugang von Guthaben aus ...  Direktinvestitionen von Schweizern im Ausland  Portfolioinvestitionen von Schweizern im Ausland  Übrige Kapitalimporte  Zunahme der Währungsreserven der Nationalbank

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Die grenzüberschreitend erbrachten Leistungen werden in der Leistungsbilanz erfasst; sie umfasst vier Hauptbereiche: den Warenhandel (für Sachgüter), die Dienstleistungen, die Primäreinkommen (Arbeits- und Kapitaleinkommen, d. h. Löhne und Vermögenserträge) und die Sekundäreinkommen (Übertragungen ohne Gegenleistung, z. B. Überweisungen von Immigranten an ihre Heimatländer oder Beiträge an internationale Organisationen). In jedem dieser Teilbereiche werden Leistungen an das Ausland (= Exporte) den Leistungen aus dem Ausland (= Importe) gegenübergestellt. In der Kapitalbilanz wird der finanzielle Nettozugang von Vermögen und Schulden, d. h. Veränderungen von Kapitalanlagen im Ausland oder von Ausländern in der Schweiz, ausgewiesen. Erfasst werden Beteiligungen an ausländischen Unternehmungen (= Direktinvestitionen), Anlagen in ausländischen Wertpapieren (= Portfolioinvestitionen) und, neben übrigen Investitionen, die Veränderung der Währungsreserven der Nationalbank (= Devisen- oder Goldvermögen der SNB). Zwischen den beiden Bilanzen besteht ein Zusammenhang: Wenn die Schweiz z. B. gegenüber dem Ausland mehr Leistungen erbringt als bezieht (d. h. mehr exportiert als importiert), ergibt sich daraus ein Exportüberschuss, der in der Leistungsbilanz als LeistungsbilanzLeistungsbilanzüberschuss erscheint. Der Schweiz sind in diesem Fall aus den Exporten mehr fremde überschuss Währungen (= Devisen) zugeflossen, als sie für die Bezahlung ihrer Importe benötigte. Dies heisst aber auch, dass die Schweiz gegenüber dem Ausland Guthaben aufgebaut hat, die sie z. B. in Form von Bankguthaben, Wertpapieren, Unternehmensanteilen im Ausland anlegen kann. Bleibt der genannte Devisenüberschuss in der Schweiz, so vergrössern sich die Währungsreserven der SNB. Ein Leistungsbilanzüberschuss führt somit zu einem Kapitalbilanzdefizit. Allgemein gilt: Saldo der Leistungsbilanz = Saldo der Kapitalbilanz; daraus folgt, dass die Zahlungsbilanz immer ausgeglichen sein muss. Für das übergeordnete Ziel der wirtschaftlichen Stabilität sind weniger die Ergebnisse der einzelnen Teilbilanzen als vielmehr die Veränderungen über einen bestimmten Zeitraum hinweg von Bedeutung. So weisen Überschüsse in den Bereichen Handel und Dienstleistungen der Leistungsbilanz zwar tatsächlich darauf hin, dass Schweizer Güter und Dienstleistungen im Ausland sehr begehrt sind und deshalb in der entsprechenden Periode mehr exportiert als importiert wurde. Wirtschaftlich problematisch sind aber weniger Defizite in den entsprechenden Teilbilanzen als vielmehr sprunghafte Veränderungen in einzelnen Bereichen. Würden beispielsweise die traditionell hohen Exportüberschüsse im Bereich der Uhrenindustrie zurückgehen, hätte dies negative Auswirkungen auf diesen wichtigen Zweig der Schweizer Wirtschaft. Nicht nur in jenen Regionen, in denen die Schweizer Uhrenindustrie angesiedelt ist, wäre die wirtschaftliche Stabilität gefährdet, sondern in der gesamten Schweiz. Damit sich die aussenwirtschaftlichen Beziehungen der Schweiz möglichst störungsfrei entwickeln können, konzentriert sich die Wirtschaftspolitik darauf, die Rahmenbedingungen für grenzüberschreitende wirtschaftliche Aktivitäten so stabil wie möglich zu halten. Dabei stehen zwei Bereiche im Mittelpunkt: die Aussenwirtschaftspolitik und die Währungspolitik. Die wichtigsten Elemente der Schweizer Aussenwirtschaftspolitik sind die Gestaltung der


Beziehungen zur Europäischen Union und die Mitwirkung bei der Welthandelsorganisation (WTO), die den weltweiten Abbau von Zöllen und anderen Handelshemmnissen zum Ziel hat. Die Aussenwirtschaftspolitik ist Aufgabe des Bundesrates. Um die Währungspolitik kümmert sich in erster Linie die Schweizerische Nationalbank (SNB). Sie strebt für den Schweizer Franken gegenüber anderen Währungen Wechselkurse an, die möglichst wenig störende Effekte auf die aussenwirtschaftlichen Beziehungen der Schweizer Wirtschaft haben. Das klingt einfacher, als es ist, denn Wechselkurse unterliegen einer Vielzahl von Einflüssen. Immer wenn grenzüberschreitend Leistungen bezahlt oder Kapitalanlagen getätigt werden sollen, muss dafür die Währung des entsprechenden Landes gekauft werden. Deshalb besteht eine enge Verflechtung zwischen Veränderungen der Zahlungsbilanz und den Wechselkursrelationen. Darüber hinaus haben aber auch allgemeine politische Ereignisse und darauf basierende Erwartungen Einfluss auf den Wechselkurs. Befürchten Anleger beispielsweise, dass der Wert einer Währung aufgrund von politischer oder wirtschaftlicher Unsicherheit sinken wird, werden sie diese Währung so schnell wie möglich am Devisenmarkt in eine andere umtauschen.

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■ Ausgeglichener Staatshaushalt Neben den vier bisher geschilderten klassischen Zielen der Wirtschaftspolitik ist das Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushaltes in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Die hohe Verschuldung vieler Staaten und die daraus resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme haben dazu geführt, dass dieses Ziel in der Zwischenzeit als zentral für die Stabilität von Wirtschaft und Gesellschaft betrachtet wird. Wenn ein Staat mehr ausgibt, als er in ■ Staatsverschuldung im Vergleich (2016) Form von Steuern und aus anderen QuelLand Staatsverschuldung len einnimmt, wird dies als Haushaltsdein Prozent des BIP fizit bezeichnet. Ist ein solches Defizit bereits im Voraus erkennbar, also quasi Schweiz 32,6 % geplant, so sprechen wir von einem BudEU-Euroraum 92,2 % getdefizit. Werden über längere Zeit kaum Überschüsse, sondern mehrheitItalien 132,1 % lich Defizite verzeichnet, müssen diese Belgien 106,0 % durch die Aufnahme von Krediten finanziert werden. Dieses Geld kann auf dem Frankreich 97,9 % freien Kapitalmarkt (in Form von StaatsGrossbritannien 89,3 % anleihen) oder bei der Zentralbank (in Österreich 85,4 % der Schweiz bei der SNB) beschafft werden. Durch die höhere Kreditnachfrage Deutschland 68,0 % des Staates steigen die Zinsen; ein höheNiederlande 63,3 % res Zinsniveau erhöht die Kreditkosten für Unternehmungen und belastet damit Schweden 43,0 % die Wirtschaft. Und wegen der AusweiQuelle: EFV (Taschenstatistik 2016) tung der Geldmenge kann sich zusätzlich eine Inflationsgefahr ergeben. Weil sowohl hohe Zinsen als auch Inflationsrisiken die Investitionstätigkeit privater Unternehmungen erschweren, wirkt sich dies hemmend auf das angestrebte Wirtschaftswachstum aus. Schliesslich müssen die vom Staat aufgenommenen Kredite auch verzinst werden. Je grösser der Schuldenberg eines Landes wird, desto grösser fällt der Anteil der Schuldzinsen an den gesamten Staatsausgaben aus. Damit stehen diese Mittel für andere staatliche Aufgaben nicht mehr zur Verfügung. Sollen diese Aufgaben trotzdem weiterhin erbracht werden, müssen sie mit neuen Schulden finanziert werden, was in einen eigentlichen Teufelskreis der Verschuldung führen kann. Nimmt die Verschuldung überhand, wird es für einen Staat zunehmend schwieriger, neue Kredite zu erhalten. Die daraus resultierende Zahlungsunfähigkeit hat gravierende Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Stabilität eines Landes: Wichtige Staatsaufgaben können nicht mehr wahrgenommen werden, der Wert der

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inländischen Währung fällt ins Bodenlose, und die Gläubiger des Staates verlieren einen Teil ihres Vermögens. Trotz dieser enormen Risiken weisen viele Staaten hohe Haushaltsdefizite und Staatsschulden aus, ohne dass dadurch die wirtschaftliche oder soziale Stabilität infrage gestellt wäre. Auch die Schweiz gibt in einzelnen Jahren mehr aus, als sie einnimmt. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn in wirtschaftlichen Krisenzeiten (Rezession) die Nachfrage mithilfe von Staatsausgaben angekurbelt werden soll. Selbstverständlich sollten solche Defizite später durch Überschüsse kompensiert werden, wenn sich die Wirtschaft in einer Boomphase befindet. Im Kapitel 34, «Fiskal- und Geldpolitik», haben wir bereits gesehen, dass Schulden zur Finanzierung von langfristigen Investitionen (z. B. in teure Eisenbahn- oder Strassenprojekte) sinnvoll sein können, weil die Kosten damit mindestens teilweise auf jene Generationen abgewälzt werden, die dereinst von diesen Investitionen profitieren sollen. Mit dem Instrument der sogenannten Schuldenbremse (das wir ebenfalls in Kapitel 34, «Fiskal- und Geldpolitik», bereits kennengelernt haben) soll der Staatshaushalt auf Bundesebene vor strukturellen (und immer wiederkehrenden) Ungleichgewichten bewahrt werden, d. h., der Mechanismus soll verhindern, dass die Schulden beim Bund von Jahr zu Jahr ansteigen (wie in den 1990er-Jahren). Damit soll eine nachhaltige Finanzpolitik garantiert und insbesondere verhindert werden, dass die finanzielle Last heutiger Vorhaben auf zukünftige Generationen abgewälzt werden. ■ Der Staatshaushalt am Beispiel der Bundeseinnahmen und -ausgaben (2016) Staatshaushalt (Mio. CHF) Soziale Wohlfahrt Verkehr Bildung und

Steuereinnahmen Ausgaben 66 261

Forschung

Einnahmen 67 491

– Mehrwertsteuer – Direkte Bundessteuer – Mineralölsteuer

Landesverteidigung

– Verrechnungssteuer

Landwirtschaft und

– Übrige Steuern

Ernährung Übrige Ausgaben Haushaltsüberschuss

Übrige Einnahmen 1 230 Quelle: EFV (Taschenstatistik 2016)


Zusammenfassend können wir festhalten, dass das Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushaltes nicht einfach mit einer Zahl ausgedrückt werden kann. Vielmehr soll sich der Staat in seiner Finanzpolitik an bestimmten Regeln orientieren. So dürfen seine Ausgaben und auch die Schulden im langfristigen Durchschnitt nicht schneller als das BIP wachsen. Werden Defizite zudem ausschliesslich für Investitionen und nicht für den sogenannten Staatskonsum (z. B. Personal- und Rüstungsausgaben) ausgegeben, sollten auch langfristig keine gravierenden Probleme entstehen.

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■ Sozialer Ausgleich 3 Der Markt mag zwar effizient sein, aber der daraus resultierende Wohlstand kann höchst ungleich verteilt sein. Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht gleich leistungsfähig sind wie andere, profitieren weniger als jene, die bessere Voraussetzungen mitbringen oder schlicht leistungsfähiger sind. Auch wenn jeder Eingriff in den Markt zwangsläufig mit einem Effizienzverlust verbunden ist, gehört es zu den Zielen einer guten Sozialpolitik, hier für einen Ausgleich zu sorgen. Der Staat kann auf drei Arten zum sozialen Ausgleich beitragen: – Mithilfe der Steuerpolitik kann er die Bürgerinnen und Bürger entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit stärker oder weniger stark belasten. – Mithilfe von Sozialversicherungen und Sozialhilfe kann er die materielle Existenzgrundlage für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleisten. – Mithilfe verschiedener Anreize und der Gestaltung seiner Ausgaben kann er dazu beitragen, dass das soziale Netz in der gesamten Gesellschaft genügend tragfähig bleibt, um allen Menschen neben der wirtschaftlichen Lebensgrundlage auch einen ausreichenden sozialen Schutz zu bieten. ■ Steuerpolitische Massnahmen: Während beim Ziel des ausgeglichenen Staatshaushaltes primär die Gesamtheit der Staatsausgaben betrachtet wurde, stehen bei der Ausgestaltung der Einnahmenseite soziale Fragen im Mittelpunkt. Grundsätzlich wäre es nämlich möglich, die budgetierten Staatseinnahmen gleichmässig auf alle Bürgerinnen und Bürger zu verteilen. Man könnte dies damit begründen, dass jeder in gleichem Masse von einem funktionierenden Staat profitiere. Es gibt tatsächlich Steuersysteme (z. B. in einzelnen osteuropäischen Staaten), die sich in Ansätzen an dieser Grundidee orientieren. Zwar geht man in diesen Ländern nicht von absolut gleichen Beiträgen aus, aber der Steuersatz ist unabhängig von der Einkommenshöhe immer gleich hoch (Flat Tax). Das Schweizer Steuersystem ist jedoch progressiv ausgestaltet. Das bedeutet, dass wirtschaftlich leistungsfähigere Steuerpflichtige einen höheren Prozentsatz ihres Einkommens oder Vermögens an den Staat abliefern müssen als die weniger leistungsfähigen. Die Frage, wie stark diese Progression ausgestaltet werden soll, ist politisch umstritten. Eine zu hohe steuerliche Belastung hoher Einkommen und Vermögen kann dazu beitragen, dass Unternehmungen und deren Eigentümer in Länder ziehen, in denen sie weniger Steuern bezahlen müssen. Dies hätte sowohl für den Staatshaushalt als auch für die wirtschaftliche Entwicklung negative Auswirkungen.

3

Aspekte zu dieser Thematik sind im Kapitel 18 «Sozialer Ausgleich» und im Kapitel 23 «Steuerrecht» in Band 2 behandelt.

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Neben der Steuerprogression gibt es noch eine weitere Möglichkeit, um über das Steuersystem eine Umverteilungswirkung zu erzielen: Neben den sogenannten direkten Steuern (Einkommens- und Vermögenssteuern), deren Höhe von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen abhängt, erhebt der Staat auch sogenannte indirekte Steuern. Steuern Diese werden im Zusammenhang mit Markttransaktionen erhoben und fallen somit nur für jene an, die sich in irgendeiner Weise wirtschaftlich betätigen. Theoretisch wäre es demnach möglich, keine indirekten Steuern zu bezahlen, wenn man sich konsequent von jeder wirtschaftlichen Tätigkeit fernhielte. Weil wir aber alle in irgendeiner Weise am Wirtschaftsgeschehen teilnehmen, zahlen wir in Tat und Wahrheit alle indirekte Steuern. Die wichtigste indirekte Steuer, die Mehrwertsteuer, die rund einen Fünftel zu den gesamten Einnahmen des Bundes beiträgt, fällt beispielsweise beim nicht unternehmerischen Konsum von Gegenständen und Dienstleistungen an. Dennoch kann durch eine geschickte Ausgestaltung der indirekten Steuern ein Beitrag zur Umverteilung des Wohlstandes geleistet werden, z. B. durch die Steuerbefreiung lebensnotwendiger Güter oder die steuerliche Belastung von Luxusgütern. ■ Sozialversicherungen schützen die Bürgerinnen und Bürger vor den finanziellen Folgen von Invalidität, Arbeitslosigkeit, Unfall, Alter und Tod. Sie sind obligatorisch und werden durch einkommensabhängige Beiträge finanziert. Sozialversicherungen tragen zum sozialen Ausgleich bei, weil eine Umverteilung von den Erwerbstätigen (den Beitragszahlern) zu den Nichterwerbstätigen (den Rentnern) erfolgt und weil ■ System der sozialen Sicherung die Renten nach oben begrenzt Soziales System sind. Das bedeutet, dass Besserverdienende wesentlich höhere AbstimSicherung durch Sicherung durch Beiträge zahlen, als sie in Form mungen den Staat soziale Gruppen von Renten ausbezahlt erhalten. Sozialversicherungen z. B. durch Familie, Allerdings haben nur jene AnHausgemeinschaften, Freunde z. B. AHV, IV, Arbeitslosenspruch auf Leistungen der Sozialversicherung versicherungen, die irgendwann auch einmal Beiträge bezahlt «soziales Netz» haben. Die Sozialhilfe unterstützt sozialer Ausschluss jene, die weder mit ihrer Arbeit noch mithilfe von Leistungen der Massnahmen zur Sozialversicherungen überleben Wiedereingliederung könnten. Sie stellt eine Existenzz. B. öffentliche Sozialhilfe, Massnahmen des sicherung dar und soll verhinKindes- und Erwachsenenschutzrechts, dern, dass Menschen in unserer Strafrecht Gesellschaft an Hunger leiden oder obdachlos werden. Finan-


ziert wird die Sozialhilfe aus dem Staatshaushalt, d. h. mit Steuergeldern. Im Unterschied zur Sozialversicherung wird sie im Notfall an alle ausbezahlt, die ihrer bedürfen, also auch an Menschen, die nie Beiträge an die Sozialversicherungen geleistet oder Steuern bezahlt haben. ■ Das soziale Netz einer Gesellschaft besteht aus den Beziehungen der Menschen untereinander. Ist dieses Netz eng geknüpft, d. h., besteht ein dichtes Beziehungsnetz, läuft die Gesellschaft weniger Gefahr, dass soziale Spannungen auftreten und alles aus den Fugen gerät. Die Rolle des Staates besteht darin, wichtige Elemente dieses sozialen Netzes zu fördern. Das geschieht zum Beispiel durch eine Politik, die Familien stärkt oder die Bildung sozialer Gruppen (Vereine, Kirchen, Parteien) unterstützt. Damit kann verhindert werden, dass von der Isolation bedrohte Menschen an den Rand gedrängt werden. Auch eine gute Gesundheitsversorgung oder ein breit gefächertes Bildungsangebot tragen zu einem stabilen sozialen Netz bei. Das soziale Leben in Randregionen kann schliesslich dadurch unterstützt werden, dass dort vergleichbare staatliche Leistungen wie in den Zentren erbracht werden. Der Zustand des sozialen Netzes lässt sich mindestens teilweise mit sogenannten Sozialindikatoren messen. Darunter verstehen wir Kennzahlen, die wesentliche Eckwerte sozialer Stabilität darstellen: Bildungsniveau, Gesundheitsversorgung und -zustand oder die öffentliche Sicherheit.

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RECHTSORDNUNG

■ Umweltqualität Ähnlich wie der soziale Ausgleich lässt sich auch die Umweltqualität mit Kennzahlen messen (ökologische Indikatoren). So kann die Qualität des Wassers, der Luft und des Bodens anhand unterschiedlicher Messwerte ermittelt werden. Wie beim Abschnitt über die Korrektur von Marktversagen dargestellt, kann mit einer Vielzahl wirtschaftspolitischer Massnahmen eine bessere Umweltqualität angestrebt werden. Je nach Gefährdungspotenzial sind dafür eher Verbote oder marktwirtschaftliche Methoden (z. B. Lenkungsabgaben) geeignet. Nationale Lösungen reichen aber immer weniger aus, um den grossen umweltpolitischen Herausforderungen zu begegnen. Die Erderwärmung, die Verschmutzung und Überfischung der Weltmeere oder die Abholzung der Regenwälder haben Auswirkungen auf die ökologische Stabilität vieler Länder und erfordern deshalb ein internationales Vorgehen. Mit dem Kyotoprotokoll, das den weltweiten Abbau der CO2-Emissionen zum Ziel hat, gibt es auch Beispiele für ein solches Vorgehen 4.

SOZIALES SYSTEM Staat Sozialpolitik

4

Im Band 2, Kapitel 31, «Ökologische und energiepolitische Herausforderungen», wird die gesamte umweltpolitische Problematik mit den entsprechenden Massnahmen erläutert.

Soziale Gruppen Familie

Parlament Regierung

Vereine

Gerichte

Parteien ...

Staat als Bundesund un des- Akteur

Sozialer Ausgleich

errwal altu tun ung verwaltung

Kantonale Kan Kanton tonale ale Verwaltungen Gemeindeverwaltungen

ÖKONOMISCHES SYSTEM

Ausgeglichener Staatshaushalt

■ Wirtschafts-, sozial- und umweltpolitische Ziele im Gesamtmodell Wir haben nun die sieben wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Ziele kennengelernt. Wie werden diese Ziele in der Praxis zu erreichen versucht? Als direkte Akteure für entsprechende Massnahmen treten der Staat, d. h. die Regierung, aber auch das Parlament und die Nationalbank auf. Indirekt entscheidet das Stimmvolk mit, sei dies bei Abstimmungen über Sachvorlagen oder mit der Wahl von Personen in politische Ämter. Verschiedene Gruppierungen wie Verbände, Gewerkschaften oder Parteien versuchen dabei, die politischen Massnahmen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Das Schwergewicht der Ziele kann sich je nach wirtschaftlicher Situation ändern. Während in den 70er- und 80erJahren bei einer angespannten Wirtschaftslage die Inflationsbekämpfung in der Schweiz das zentrale wirtschaftspolitische Ziel war, ist diese Zielsetzung mit Erreichen von geringeren Inflationsraten Mitte der 90er-Jahre in den Hintergrund getreten. Heute stehen angemessenes Wachstum und ein stabiler Staatshaushalt im Mittelpunkt des Interesses. Wichtig ist in jedem Fall, dass die wirtschaftlichen Zielsetzungen von allen Wirtschaftsteilnehmern mitgetragen werden. Nur so lassen sich komplexe Wechselbeziehungen im Wirtschaftskreislauf in die gewünschte Richtung lenken. So hat sich z. B. das Schweizer Stimmvolk für die Einführung einer leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) entschieden, mit welcher zum einen die Kosten des Schwerverkehrs zulasten der Allgemeinheit abgedeckt werden sollen und zum andern ein Anreiz geschaffen werden soll, dass Güter vermehrt mit Übung 3 der Bahn befördert werden.

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Wirtschaftspolitik

Vollbeschäftigung

Wirtschaftswachstum

SNB als Akteur

Aussenwirtschaftliches Gleichgewicht

Preisstabilität

ÖKOLOGISCHES SYSTEM ÖKOLOGIS Umweltpolitik

Umweltqualität


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36.3 Bereiche des politischen Handelns Auch wenn die wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Ziele einer Volkswirtschaft eindeutig und klar erscheinen, ist doch nicht immer auf Anhieb erkennbar, was politisches Handeln zur Erreichung dieser Ziele beiträgt. Die politischen Akteure in der Gesellschaft (soziale Gruppen wie Parteien und Verbände, die Kirchen und weitere soziale Gruppierungen, der Staat und im wirtschaftlichen Bereich die SNB) bringen sich in den politischen Prozess ein, um durch Beeinflussung von Öffentlichkeit, Parlamenten und Regierungen ihre jeweils eigenen Forderungen und Interessen durchzusetzen. Aus der Vielfalt dieser Aspekte ergibt sich, dass die Bereiche politischen Handelns nicht einfach deckungsgleich mit den politischen Zielen sind. So widmet sich auf Bundesebene zum Beispiel nicht jedes Mitglied des Bundesrates ausschliesslich der Erreichung eines Ziels, obwohl dieser Gedanke bei sieben Departementen und sieben Zielen nicht ganz abwegig wäre. Wir wollen deshalb in einem Überblick wichtige Bereiche politischen Handelns nennen und anhand ausgewählter Problemstellungen zeigen, welche wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Ziele dabei verfolgt werden. ■ Wirtschaftspolitik Wirtschaftspolitik umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Politikfelder. Von Konjunkturpolitik wird dann gesprochen, wenn mit eher kurzfristigen Massnahmen versucht wird, gegen einen konjunkturell bedingten Anstieg der Arbeitslosigkeit anzukämpfen. Handelt es sich dabei um direkte Eingriffe in den Arbeitsmarkt, werden auch die Begriffe Beschäftigungs- oder Arbeitsmarktpolitik verwendet. Von Wachstumspolitik sprechen wir dann, wenn die mittelund langfristigen Rahmenbedingungen für die Wirtschaft gestärkt oder verbessert werden sollen. Häufig handelt es sich dabei um Massnahmen zur Förderung von Innovationen und Bildung, weil Wissen die entscheidende Ressource (Produktionsfaktor) für anhaltendes Wachstum darstellt. Die Aussenwirtschaftspolitik kümmert sich in Aussenwirtschaftspolitik erster Linie um Massnahmen im Hinblick auf stabile aussenwirtschaftliche Beziehungen. Im Fokus stehen dabei die Beziehungen zur Europäischen Union – dann wird auch von Europapolitik gesprochen – sowie zur Überlegungen zur Aussenwirtschaftspolitik nehmen Welthandelsorganisation WTO, zur Weltoftmals Interessen der Landwirtschaft sowie der Ernährungspolitik auf und beeinflussen damit auch bank und zum Internationalen Währungsdie Raumplanung und Veränderungen unserer Kulfonds. Bei diesen drei Organisationen ist die turlandschaft. Schweiz Mitglied. Die von der Schwei-

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zerischen Nationalbank (SNB) verantwortete Geldpolitik orientiert sich primär am Ziel der Preisstabilität, hat jedoch über die Währungs- und Zinspolitik auch Auswirkungen auf die übrigen vier wirtschaftspolitischen Zielsetzungen. Deshalb hat die SNB den Zusatzauftrag, bei der Ausgestaltung ihrer Geldpolitik auch die konjunkturelle Entwicklung im Auge zu behalten. Wirtschaftspolitische Massnahmen zielen manchmal auch gezielt auf die Stärkung bestimmter Wirtschaftssektoren oder Branchen. Entsprechend werden dann Begriffe wie Agrarpolitik (im Hinblick auf die Landwirtschaft), Industriepolitik (im Hinblick auf den verarbeitenden Sektor) oder Banken- oder Tourismuspolitik verwendet. Dienen diese Massnahmen schliesslich der Unterstützung oder Verhinderung des Strukturwandels, taucht dann und wann auch der Begriff der Strukturpolitik auf. Die Finanzpolitik gehört zwar ebenfalls zur Wirtschaftspolitik, hat aber – wie gezeigt – erhebliche Auswirkungen auf die soziale Stabilität. Die Gestaltung der Staatseinnahmen und -ausgaben beeinflusst die konjunkturelle Entwicklung (in diesem Zusammenhang sprechen wir von Fiskalpolitik). Eine umsichtige Steuerund Haushaltspolitik lässt auch das Ziel des sozialen Ausgleichs nicht ausser Acht. ■ Sozialpolitik Von Sozialpolitik ist immer dann die Rede, wenn Massnahmen zur Stabilisierung des sozialen Systems ergriffen werden. In erster Linie umfasst dies die oben erwähnten Bereiche der Sozialversicherungen und der Sozialhilfe. Im Zusammenhang mit den Sozialversicherungen taucht dabei manchmal der Begriff der Vorsorge- oder Rentenpolitik auf. Ebenfalls zur Sozialpolitik gehören Fragen der äusseren und inneren Sicherheit; dafür werden Begriffe wie Sicherheits- oder Verteidigungspolitik verwendet. Weitere klassische Felder der Sozialpolitik sind die Familien-, Bildungs-, Drogen- oder Ausländerpolitik. Bei der Ausländerpolitik lassen sich nochmals verschiedene Politikfelder unterscheiden, die sich einer ganz bestimmten Fragestellung widmen: Asylpolitik, Flüchtlingspolitik, Zuwanderungspolitik, Migrationspolitik oder Ähnliches. Viele sozialpolitische Politikfelder haben jedoch auch Auswirkungen auf das ökonomische System: So ist zum Beispiel die Bildungspolitik ein wichtiges Element der Wachstumspolitik. Dies wird dann besonders deutlich, wenn es nicht mehr um Fragen der Grundbildung (Primar- und Sekundarschule) geht, sondern wenn Fragen im Zusammenhang mit der Berufsbildung oder des Hochschulwesens diskutiert werden. Welche Bildungspolitik schafft die besten Grundlagen für anhaltendes Wachstum und vermindert die Gefahr von Arbeitslosigkeit? ■ Umweltpolitik Im Bereich der Umweltpolitik gibt es kaum Massnahmen, die ausschliesslich das ökologische System betreffen. Wenn in der Energiepolitik beispielsweise bestimmte Energieträger (z. B. Solarenergie) gefördert und andere verhindert werden sollen (z. B. Kernenergie), so gilt es, die daraus resultierenden Folgen für Wirtschaftswachstum, Preisstabilität, Vollbe-


schäftigung oder sozialen Ausgleich zu berücksichtigen. Das Gleiche gilt für Entscheidungen im Bereich der Verkehrspolitik. Wenn zum Schutz des Alpenraums dem Gütertransport durch die Bahn klare Priorität vor jenem auf der Strasse gegeben wird, hat dies wirtschafts-, sozialund umweltpolitische Konsequenzen. Selbst in der Ausländerpolitik tauchen neben sozialund wirtschaftspolitischen Argumenten gelegentlich umweltpolitische Fragestellungen auf: Ist das ökologische System der Schweiz in der Lage, neben der heimischen Bevölkerung auch eine grössere Zahl von Zuwanderern zu verkraften? Bei der Verhinderung, Beseitigung oder Übung 4 Verteuerung von Umweltschäden spielen immer auch wirtschafts- und sozialpolitische ÜberAufgabe 3 legungen mit.

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 Das haben Sie gelernt Die unterschiedlichen Funktionen des Marktpreises beschreiben Die drei zentralen Aufgaben des Staates in einer Marktwirtschaft nennen Die sieben Ziele der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik beschreiben Gründe aufzählen, warum die sieben Ziele der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik wichtig sind Die verschiedenen Bereiche des politischen Handelns beschreiben

Offene Fragen

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 Diese Begriffe können Sie erklären Ausgeglichener Staatshaushalt

Preisfunktionen

Haushaltsdefizit

Informationsfunktion

Budgetdefizit

Allokationsfunktion (Steuerungsfunktion)

Schuldenbremse

Koordinationsfunktion

Staatskonsum

Freiheitliche Rechtsordnung

Sozialer Ausgleich

Eigentumsgarantie

Steuerpolitik

Vertragsfreiheit

Direkte / indirekte Steuer

Rechtssicherheit

Progressives Steuersystem

Regulierung / Deregulierung

Sozialversicherung

Marktversagen

Sozialhilfe

Externe Kosten

Soziales Netz

Externer Nutzen

Sozialer Indikator

Internalisierung externer Kosten

Umweltqualität

Öffentliche Güter (Gemeingüter)

Politisches Handeln

Wettbewerbsbeschränkungen Staatsversagen Preisstabilität Teuerung Inflation Deflation Vollbeschäftigung Arbeitslosenquote Wirtschaftswachstum Aussenwirtschaftliches Gleichgewicht Zahlungsbilanz Leistungsbilanz Kapitalbilanz Aussenwirtschaftspolitik Währungspolitik

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Übung 1 Grundlagen unserer Wirtschaftsordnung Welche Aussagen sind richtig (R), welche falsch (F)? Setzen Sie das zutreffende Symbol in das Kästchen und korrigieren Sie die Fehler auf den leeren Linien. a) Eine funktionierende Marktwirtschaft kann nur entstehen, wenn das Gemeineigentum gewährleistet ist.

b) Vertragsfreiheit bedeutet, dass zwei oder mehr Vertragsparteien frei entscheiden können, wie sie ihre Zusammenarbeit oder ihren Tausch gestalten wollen.

Übung 2 Marktversagen und öffentliche Güter Die folgenden Auswahlaufgaben enthalten immer zwei Aussagen, die miteinander verknüpft sind. Entscheiden Sie sich jeweils für eine der folgenden Antwortmöglichkeiten: A +weil+

B +/+

C +/–

D –/+

E –/–

Beide Aussagen richtig, Verknüpfung trifft zu

Beide Aussagen richtig, Verknüpfung trifft nicht zu

Erste Aussage richtig, zweite Aussage falsch

Erste Aussage falsch, zweite Aussage richtig

Beide Aussagen falsch

Begründen Sie falsche Verknüpfungen oder die falsche Teilaussage in wenigen Worten. c) Rechtssicherheit bedeutet, dass Gesetzesverstösse oder die Nichteinhaltung von Verträgen Konsequenzen haben, die auch durchgesetzt werden können.

d) Die Informationsfunktion von Preisen bildet die Grundlage dafür, dass private Haushalte und Unternehmungen die richtigen Entscheide fällen.

e) Wenn der Staat mit Gesetzen in den Markt eingreift, um übergeordnete gesellschaftliche Ziele anzustreben, handelt es sich um Deregulierung.

f) Allokation bedeutet die Zuordnung von vorhandenen Ressourcen zu einem bestimmten wirtschaftlichen Zweck.

g) Die Allokationsfunktion des Preises sorgt dafür, dass die unüberschaubar grosse Zahl von Produktions- und Konsumentscheiden innerhalb einer Volkswirtschaft wie von Zauberhand aufeinander abgestimmt werden.

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a) Externe Kosten betreffen vor allem freie Güter, weil freie Güter nicht bewirtschaftet werden können und folglich keinen Marktpreis haben.

b) Öffentliche Güter verursachen externe Kosten, weil sie von vielen gleichzeitig genutzt werden, ohne dass einzelne von der Nutzung ausgeschlossen werden können.

c) Trittbrettfahrer profitieren von Massnahmen, die andere Mitbürger finanziert haben, weil öffentliche Güter nicht von zwei Personen gleichzeitig genutzt werden können.

d) Wenn kein Marktteilnehmer alleine den Preis beeinflussen kann, ergibt sich das beste Preis-Mengen-Verhältnis, weil ein Marktteilnehmer, der den Preis festlegen kann, nach dem maximalen Nutzen für sich selbst strebt.

e) Externe Kosten werden von den Marktteilnehmern getragen, weil sie im ökologischen und sozialen Umfeld eines Marktes entstehen.


A

B

C

a ) Die Schweiz schliesst ein Freihandelsabkommen mit Indien. Dadurch versprechen sich exportorientierte Unternehmungen höhere Umsätze.

D

E

Umweltqualität

G

Sozialer Ausgleich

F

Aussenwirtschaftliches Gleichgewicht Ausgeglichener Staatshaushalt

Wirtschaftswachstum

E

Vollbeschäftigung

D

Preisstabilität

C

Umweltqualität

B

Sozialer Ausgleich

Wirtschaftswachstum

A

Aussenwirtschaftliches Gleichgewicht Ausgeglichener Staatshaushalt

Vollbeschäftigung

Kreuzen Sie an, auf welche Ziele sich die nachfolgend formulierten Massnahmen vermutlich auswirken werden (Mehrfachnennungen möglich).

Preisstabilität

Übung 3 Welche Ziele sind betroffen?

F

G

f ) Der Steuertarif wird so verändert, dass die Progression zunimmt. g) Das Defizit in der Invalidenversicherung wird mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgeglichen.

b ) Der Staat erhöht die Ansätze für Sozialhilfeempfänger.

h) Der Regierungsrat teilt mit, dass der kantonale Beitrag zur Verbilligung der Krankenkassenprämien reduziert wird.

c) Die CO2-Abgabe auf fossilen Energieträgern wird erhöht, um den CO2-Ausstoss zu vermindern.

i) Für Schulabgänger, die auch nach dem zehnten Schuljahr noch keine Lehrstelle gefunden haben, wird ein spezielles Berufsvorbereitungsjahr angeboten.

d ) Die Schweizerische Nationalbank garantiert einen bestimmten Mindestkurs des Frankens gegenüber dem Euro, um die Exportindustrie im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu halten. e ) Die Schweizerische Nationalbank kündigt an, dass sie in den nächsten Monaten eine restriktive Geldpolitik verfolgen wird, damit die Kaufkraft des Geldes erhalten bleibt.

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Übung 4 Verschiedene Bereiche des politischen Handelns

Agrarpolitik Asylpolitik Aussenwirtschaftspolitik Beschäftigungspolitik Bildungspolitik Energiepolitik

7 8 9 10 11 12

Familienpolitik Fiskalpolitik Flüchtlingspolitik Geldpolitik Sicherheitspolitik Sozialpolitik

13 14 15 16

Strukturpolitik Verkehrspolitik Vorsorgepolitik Zuwanderungspolitik

Politische Aussage a ) Die Schweiz überlegt sich die Anschaffung neuer Kampfflugzeuge. b ) Eine Steuersenkung soll den privaten Konsum stützen, damit die drohende Rezession nicht eintritt. c) Bis ins Jahr 2030 soll die Schweiz ohne AKW auskommen. d ) Die Schweiz nimmt 2 000 Kriegsopfer aus Syrien auf. e ) Landwirte, die höhere ökologische Auflagen erfüllen, sollen mehr staatliche Unterstützung erhalten als die übrigen. f ) Mit dem Lehrplan 21 sollen die Lehrpläne der Schülerinnen und Schüler in den Deutschschweizer Kantonen besser aufeinander abgestimmt werden. g ) Mit dem Bau der NEAT (Neue Eisenbahn-Alpentransversale) wird die Grundlage für eine Verlagerung des Schwerverkehrs von der Strasse auf die Schiene gelegt.

Politische Aussage h) Der Abschluss eines Freihandelsabkommens mit China führt zu einer Öffnung des chinesischen Marktes für Schweizer Produkte und umgekehrt. Ziffer des zutreffenden Begriffs

1 2 3 4 5 6

i) Mittels Weiterbildungskursen, Ausbildungspraktika und Bewerbungskursen sollen die Wiedereingliederungschancen von schlecht qualifizierten arbeitslosen Arbeitskräften verbessert werden. j) Die Schweiz reguliert den Zuzug von ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus Nicht-EU-Ländern mithilfe von Kontingenten. k) Der Kurs des Schweizer Frankens gegenüber dem Euro soll nicht unter den Wert von CHF 1.20 fallen. l) Kinderreiche Familien sollen mit höheren Steuerabzügen finanziell entlastet werden. m) Menschen, die in ihrer Heimat an Leib und Leben bedroht sind, erhalten in der Schweiz ein Bleiberecht und dürfen hier auch arbeiten. n) Alle Unselbstständigerwerbenden über 25 Jahre müssen zwingend einer Pensionskasse angehören, um besser gegen die Risiken von Tod, Alter oder Invalidität geschützt zu sein. o) Ältere Menschen ohne eigenes Vermögen, deren AHV-Rente nicht ausreicht, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, haben Anspruch auf Ergänzungsleistungen. p) Naturpärke dienen dazu, die Vielfalt der Natur und die Schönheit der Landschaften langfristig zu erhalten und aufzuwerten. Gleichzeitig geben sie wertvolle Impulse für die Stärkung der nachhaltigen Wirtschaft in der betreffenden Region. Damit soll auch der Abwanderung aus ländlichen Regionen in die Städte entgegengewirkt werden.

Ziffer des zutreffenden Begriffs

Ordnen Sie die folgenden Begriffe den richtigen Aussagen zu.



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Aufgabe 1 Wirtschaftspolitische Eingriffe: Vergleich Schweiz – Venezuela Am 22. November 2013 verbreitete die Schweizerische Depeschenagentur folgende Nachricht: Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro hat seine neuen Sondervollmachten genutzt und zwei Dekrete zur Wirtschaftspolitik erlassen. Am Donnerstagabend (Ortszeit) unterzeichnete er ein Gesetz, das unter anderem die Preise bestimmter Warengruppen senkt. Zudem beschränkt das Gesetz Unternehmensgewinne auf 15 % bis 30 %. «Dieses Gesetz hat das einzige Ziel, die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der arbeitenden Bevölkerung zu schützen», sagte der Staats-

chef laut Medienberichten bei der Unterzeichnung. Ein zweites Gesetz regelt den Aussen- und Devisenhandel. Am Dienstag hatte die Nationalversammlung das Ermächtigungsgesetz «Ley Habilitante» gebilligt. Maduro kann nun ein Jahr mit Dekreten und ohne Beteiligung des Parlaments regieren. Die Opposition hatte kritisiert, das Gesetz demontiere die Demokratie, die Verfassung und den Rechtsstaat.

c) Welche langfristigen ökonomischen Folgen dürfte die Massnahme haben?

d) Welche anderen Folgen muss Herr Maduro befürchten?

Quelle: sda / dpa

a ) Was bezweckt der venezolanische Präsident mit seinem Dekret?

b ) Welche kurzfristigen ökonomischen Folgen dürfte die von Präsident Maduro verlangte Preissenkung haben?

e) Nennen Sie Bereiche, in denen der Staat auch in der Schweiz in die Preisbildung eingreift? Erläutern Sie mögliche Gründe, warum er dies tut.

f ) Was unterscheidet die Markteingriffe in der Schweiz grundsätzlich von den beschriebenen Massnahmen in Venezuela?


g ) Vergleichen Sie anhand der folgenden Daten die wirtschaftliche, soziale und ökologische Situation von Venezuela und der Schweiz. Venezuela

2012 Venezuela 12 900

Ökonomische Situation:

5,6 21,1 8

78 881

Wachstum BIP (real) in % Inflation in %

0,7

Arbeitslosenquote in %

4,2 197,8

97,3

Export in Mia., USD

225,9

– 60

Wert der nationalen Währung im Vergleich zum USD innerhalb eines Jahres (in %)

–2,5

Lebenserwartung in Jahren

82,5

1,8

Todesfälle unter 5 Jahren (pro 1 000)

0,5

6,1

CO 2-Ausstoss pro Kopf in Tonnen

5,3

1,213

Telefon (fix und mobil) pro Kopf

1,777

3,7

Ausgaben für Bildung in % des BIP

5,4

0,748

Human Development Index

0,913

– 11,1

Veränderung Waldfläche (1990 – 2000) in %

– 14,5 27 3 300 165 45

Schweiz Ökonomische Situation:

1

Import in Mia., USD

76

Ökologische Situation:

BIP (pro Kopf) in USD

65,4

74,6

Soziale Situation:

2012 Schweiz

Soziale Situation:

7,7

Verschuldung in Mia., in USD Haushaltssaldo in % des BIP

162,2

Staatsverschuldung in % des BIP

28,3

Stromverbrauch pro Kopf in kWh

7 962

Korruption (Position bei 176 Ländern)

Ökologische Situation:

0,5

6

Tötungsdelikte pro 100 000

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Aufgabe 2 Korrektur von Marktversagen am Beispiel des Benzinpreises Star-Professor Gunzinger fordert

12 Franken pro Liter Benzin! Ressourcen eine Vorreiterrolle einnehmen», sagt er zu BLICK. Seine Forderungen, die er am Donnerstag auf einer Mitgliederversammlung des VCS in Aarau präsentierte, sind: – Reduktion nicht erneuerbarer Energien um 90 Prozent – Reduktion des CO 2-Ausstosses um 90 Prozent – Schluss mit Subventionen von Energie und Mobilität – Kein Atomstrom Der ETH-Wissenschaftler will die Schweiz zum «energiepolitischen Paradies» machen. Das kostet den Normalverbraucher einiges. «Der faire Preis für einen Liter Benzin liegt bei 12 Franken», sagt Anton Gunzinger (57). Der Mann ist nicht irgendein Spinner. Er ist Professor an der ETH Zürich und Gründer der Firma Supercomputing Systems AG. Die Entwicklung eines superschnellen Computers («Giga Booster») machte den Bauernsohn aus dem Solothurner Jura in der ganzen Welt bekannt. Das renommierte «Time Magazine» kürte ihn 1994 zu einem der hundert wichtigsten Persönlichkeiten des kommenden Jahrhunderts. Heute treibt die Energiestrategie 2050 des Bundes Gunzinger um. Seine Ziele sind alles andere als bescheiden: Er will die Schweiz zum «energiepolitischen Paradies» auf Erden machen. «Wir Schweizer könnten im Umgang mit

Um diese Ziele umzusetzen, will Gunzinger dort ansetzen, wo es die Menschen am meisten spüren: beim Portemonnaie. «Nur so ist die Wende zu schaffen.» Gunzinger fordert, dass Autofahrer für den verursachten Lärm, für verstopfte Strassen, den CO 2-Ausstoss und den Unterhalt der Strassen einen fairen Preis zahlen müssen. «Wer Ressourcen verschleudert, bezahlt dafür», sagt Gunzinger. Und zwar nicht zu knapp, denn sonst nützt es in der reichen Schweiz nichts. «Die Energie muss massiv teurer werden, damit die Menschen ihr Verhalten ändern», sagt Gunzinger. Laut dem ETH-Professor soll sich der Literpreis Benzin bis zum Jahr 2025 auf 11.62 Franken verteuern. Dies entspricht mehr als dem Sechsfachen des heutigen Preises an der Zapfsäule. Die Folge wäre, dass Automobilisten unnötige Fahrten reduzieren und nicht mehr alleine mit dem Fahrzeug an die Arbeit fahren. Manche würden wohl auch ganz aufs

Auto verzichten oder auf Elektro- und Hybridfahrzeuge umsteigen. Profitieren soll, wer die Ressourcen schont. Sechs Franken pro Liter Benzin sollen direkt der Bevölkerung zugut kommen. Mit den übrigen Mehreinnahmen sollen die Steuern gesenkt werden.

«Energieverschwender wie OffroaderFahrer werden zur Kasse gebeten», sagt Gunzinger. Für den durchschnittlichen Energieverbraucher soll sich aber nichts ändern. «Unter dem Strich werden alle profitieren», verspricht Gunzinger. Quelle: www.blick.ch (05.04.2013)

Der ETH-Professor Anton Gunzinger hat sich zum Ziel gesetzt, den Ressourcenverbrauch der Schweizerinnen und Schweizer in den nächsten Jahrzehnten massiv zu senken. Bei seinen Überlegungen steht neben dem Strom- und Wärmeverbrauch die Mobilität im Mittelpunkt. Er plädiert unter anderem dafür, dass der Preis für einen Liter Benzin um den Faktor 6 und – im obenstehenden Artikel nicht erwähnt – der Preis für ein Generalabonnement der SBB um den Faktor 2 angehoben wird. Seines Erachtens sind die Benzin- und Billettpreise heute zu billig, weil für die Nutzung der sogenannten Gemeingüter 5 – das sind Güter, die allen gehören, wie z. B. Luft oder Ruhe – nichts bezahlt werden muss. Als Folge davon wird das Gut «Mobilität» zu stark genutzt. ■ Tabelle 1: Nicht gedeckte Kosten für die Nutzung von Gemeingütern (pro Jahr) 6 Mia. CHF

pro Einwohner (in CHF)

Luft bzw. Luftverschmutzung

27.0

3 553

Ruhe bzw. Lärmbelästigung

20.0

2 631

Raum bzw. Bodenverbrauch

23.2

3 053

5.2

684

75.4

9 921

Sicherheit, d. h. Rückstellung zur Deckung eines grossen Schadenereignisses (z. B. AKW Super-GAU 7) Total nicht gedeckte Kosten 5

In der Theorie (auf Seite 6) sprechen wir in solchen Fällen von «Öffentlichen Gütern».

6

Quelle für beide Tabellen: www.scs.ch; teilweise sprachlich angepasst

7

GAU = grösster anzunehmender Unfall


a ) Begründen Sie, weshalb – gemäss Prof. Gunzinger – jeder Einwohner für den Gemeingutverbrauch eine Nutzungsgebühr von knapp CHF 10 000.– entrichten müsste.

b) Welche Kostenanteile aus Tabelle 1 werden von Gunzinger gemäss Tabelle 2 nicht vollumfänglich der Automobilität belastet? Begründen Sie Ihre Antwort.

Gemäss Anton Gunzinger kann nur mit einer massiven Preiserhöhung eine Verhaltensveränderung erreicht werden. Im Gegenzug sollen allerdings rund die Hälfte des Benzinpreises gleichmässig verteilt an die Bevölkerung zurückfliessen und die Steuern um 20 % gesenkt werden.

c) Wie teuer müsste ein Liter Benzin sein, damit die Automobilisten wenigstens die unmittelbar verursachten Kosten (also ohne die Nutzung der Gemeingüter) tragen würden? Welchen Anteil davon deckt der aktuelle Benzinpreis tatsächlich?

Seine Berechnungen stützen sich auf Daten gemäss der folgenden Tabelle: ■ Tabelle 2: Kosten der Automobilität pro Jahr Kosten insgesamt (Mia. CHF)

pro Liter (in CHF)

Importkosten Benzin

5.2

0.69

Investitionen Strasse (abgedeckt über die Mineralölsteuer)

8.3

1. 1 1

Benzinpreis heute

d) Welche ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen hat es, wenn der Automobilverkehr nicht die gesamten Kosten deckt, die er verursacht?

1.80

Unterhalt Strasse (abgedeckt über allgemeine Steuern) Unfälle (abgedeckt durch die Unfallversicherung)

14.9

2.00

5.0

0.67

Luft bzw. Luftverschmutzung

10.4

1.39

Ruhe bzw. Lärmbelästigung

20.0

2.67

Raum bzw. Bodenverbrauch

23.2

3.09

Benzinpreis zur Deckung sämtlicher Kosten

1 1.62

Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik

39

38

37

36

35

34

33

29

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33 Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik

32 30

Aufgabe 3 Bereiche politischen Handelns am Beispiel eines Koalitionsvertrags Im Unterschied zur Schweiz werden die meisten demokratisch regierten Staaten von einer Gruppe von Parteien regiert, die sich vor Regierungsantritt auf ein gemeinsames Programm einigen. Man spricht dann von einer Koalitionsregierung. Üblicherweise dokumentieren die Parteien ihre Zusammenarbeit in einem Koalitionsvertrag. Jene Parteien, die nicht in der Regierung vertreten sind, heissen Oppositionsparteien, weil sie das Programm ablehnen und zur Regierung in Opposition stehen. Im Dezember 2013 schlossen die drei grössten deutschen Parteien CDU, CSU und SPD einen 185-seitigen Koalitionsvertrag für eine Zusammenarbeit bis 2017. Die Zeitung «Bild» fasste den Inhalt in folgenden Programmpunkten zusammen (Ausschnitt). 1

Vorratsdatenspeicherung: Die Verbindungsdaten von Telefonanrufen, SMS, Fax und E-Mail werden für mindestens drei Monate gespeichert. Aber: Die Nutzung der Daten durch die Sicherheitsbehörden (etwa zur Terrorabwehr) soll strengen Regeln unterliegen.

2 Das Strafrecht wird reformiert, um die Verbreitung von Kinderpornographie effektiver zu bekämpfen. Sexual- und Gewaltstraftäter, deren besondere Gefährlichkeit sich erst während der Haft herausstellt, werden (nachträglich) in Therapieeinrichtungen untergebracht. Das Strafgesetz wird verschärft. Für jugendliche Straftäter soll die Bestrafung künftig «auf dem Fusse» folgen. Als weitere Massnahme ist der Führerscheinentzug für Jugendliche und Erwachsene geplant, denen mit Geldstrafen nicht beizukommen ist, bzw. die sich davon nicht beeindrucken lassen. 3 Beleidigungen durch Beiträge in sozialen Netzwerken werden künftig hart bestraft. Dafür wird das Strafrecht angepasst und das Anzeigen von Cybermobbing erleichtert. 4 Kommt ein Mensch durch einen Dritten zu Tode, wird es künftig für nahe Angehörige als Anerkennung des Seelenleids ein Recht auf Schmerzensgeld geben. 5 Kinder, die ab der Geburt zwei Pässe hatten – den deutschen und den der Eltern – müssen sich künftig nicht mehr bis zu ihrem 23. Geburtstag entscheiden, welche Staatsangehörigkeit sie haben wollen. 6 Um auch auf dem Land genug Ärzte zu haben, sollen Zulassungen für Mediziner flexibler werden. Heisst: Krankenhäuser sollen in unterversorgten Gebieten stärker ambulante Versorgung leisten.

a) Nennen Sie in der untenstehenden Tabelle bei jedem Programmpunkt eine gebräuchliche Bezeichnung für den betreffenden Bereich politischen Handelns. Verwenden Sie dazu die folgende Liste. Arbeitspolitik Aussenwirtschaftspolitik Bildungspolitik Energiepolitik Entwicklungspolitik Finanzpolitik

Gesundheitspolitik Gleichstellungspolitik Infrastrukturpolitik Justizpolitik Konsumentenpolitik Migrationspolitik

Sicherheitspolitik Sozialpolitik Verkehrspolitik Verteidigungspolitik

b) Bestimmen Sie bei jedem Programmpunkt, ob er in erster Linie auf das soziale, das ökonomische oder das ökologische System einwirkt. a) Politikbereich

b) betroffenes System sozial

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ökonomisch ökologisch


7

Obwohl Experten den Mehrbedarf deutlich höher schätzen (4 Milliarden Euro pro Jahr), sollen im Laufe der Legislatur (= Regierungs- oder Amtsperiode) nur insgesamt fünf Milliarden Euro zusätzlich aus Steuermitteln für Erhalt und Ausbau von Strassen, Schienen und Wasserwegen ausgegeben werden.

8 Bereits 2014 soll die PKW-Maut (= Benutzungsgebühr auf Autobahnen) eingeführt werden, mit der kaum einzuhaltenden Vorgabe, keinen inländischen Autofahrer zusätzlich zu belasten – das Einnahme-Volumen ungewiss. 9 2015 soll der Bundeshaushalt erstmals ohne neue Schulden auskommen, bereits im kommenden Jahr soll der Etat (= Staatsbudget oder Staatshaushalt) strukturell ausgeglichen sein. Heisst: Wenn man Konjunktur- und Einmaleffekte aus dem Etat herausrechnet. 10 In Aufsichtsräten und Vorständen von Unternehmen wird eine Frauenquote eingeführt. Ab 2016 müssen neu besetzte Aufsichtsräte (in der Schweiz: Verwaltungsräte) börsennotierter Unternehmen eine Frauenquote von mindestens 30 Prozent aufweisen.

18 Hochschulen sollen mehr Geld vom Bund für ihre Grundfinanzierung erhalten. Besonders gute Einrichtungen sollen stärker honoriert werden. Mit der «Allianz für Aus- und Weiterbildung» soll garantiert werden, dass jeder Jugendliche in Deutschland zeitnah einen Ausbildungsplatz bekommt. a) Politikbereich

sozial

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12 Die Reform der Bundeswehr wird – wie geplant – fortgeführt, geplante Truppenstärke bleibt 185 000 Soldaten.

12

14 Ab dem 1. Januar 2015 wird es einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn geben.

13 14

15 Für schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose soll es ein Bundesprogramm mit Geld aus dem Europäischen Sozialfonds und Jugendberufsagenturen geben.

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16 Der Energieverbrauch soll in Gebäuden, Industrie, Gewerbe und Haushalt gesenkt werden, bei Strom, Wärme und Kälte. Dafür soll u. a. das KfW-Programm (geförderte Kredite) zur energetischen Gebäudesanierung aufgestockt werden.

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17 Intelligente Stromzähler mit Prepaid-Funktion sollen Verbraucher (Konsumenten) besser davor schützen, dass ihnen wegen unbezahlter Rechnungen Strom oder Gas abgedreht werden.

ökonomisch ökologisch

7

11 Bundesweit soll bis 2018 jeder Deutsche Zugang zum schnellen Internet mit mindestens 50 Megabit in der Sekunde haben.

13 Das internationale Ziel der Geberländer, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, teilen die Koalitionsparteien – stellen es aber unter Finanzierungsvorbehalt.

b) betroffenes System

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Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik

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