Rotkielchen 43-01

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ROTKIELCHEN Jahrgang 43/1

JUSOS

KIEL

Mai 2014

! Z L U SCH

uft! L e iß e h r u n mehr als Magazin für Politik und Hochschule


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Mach Dir Notizen.

Inhalt Editiorial......................................................... 2 Der Fall Edathy............................................. 3 Die irische Krise........................................4/5 Die griechische Krise...............................5/6 Die AfD am Scheideweg............................. 7 Pro / Contra Sperrklausel.....................8/9 Die ukrainische Krise.......................... 10/11 ...und die Rolle Russlands und der EU... 11 Die französische Krise.............................. 12 Die Hamburger Gefahrengebiete.......... 13 Der Bürgerentscheid................................ 14 Die OB-Wahl................................................. 15 Glasnost....................................................... 16

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir alle kennen das mehr oder weniger unterhaltsame Trinkspiel, bei dem man nachdem jemand aufstößt - möglichst schnell SCHULZ rufen muss, um nicht derjenige zu sein, der mit der flachen Hand einen Schlag auf den Hinterkopf erhält. Außer heißer Luft kommt bei diesem Spiel nicht viel herum. Mehr als nur heiße Luft produziert hingegen Martin Schulz. Als Spitzenkandidat aller europäischen Sozialdemokraten tritt er mit einem ambitionierten Ziel an: er möchte Präsident der Europäischen Kommission werden und der „Alternativlosigkeit“ der letzten Jahre ein Ende setzen. Als Kommissionspräsident wird Schulz viel anpacken müssen. Grund genug für das Rotkielchen, einen Blick auf die brisantesten Themen in Europa zu werfen. In dieser Ausgabe berichtet Liam Duffy von der irischen Labour Party über den politischen Preis, den seine Partei in der großen Koalition und im Kampf um die Konsolidierung des Haushaltes zahlen muss (Seite 4). Außerdem schauen wir auf das nächste Sorgenkind in Sachen Eurorettung: Frankreich (Seite 12). Wenn man über europäische Sorgenkinder spricht, darf Griechenland nicht fehlen. Doch ist der Umgang, den die deutsche Regierung und auch die deutschen Medien mit den Helenen pflegen, der Richtige? Das darf bezweifelt werden. Weshalb das so ist, kannst Du auch in diesem Heft lesen (Seite 5). Neben der Wirtschaftskrise beschäftigt uns derzeit vor allem die Situation im Osten

Rotkielchen Magazin für Politik und Hochschule, Mai 2014 - Jhg. 43/1

Europas. Während sich die Lage in der Ukraine weiter zuspitzt, entwickelt sich das Land immer mehr zum Spielball zwischen der EU und Russland (Seite 11). Aber wie sieht es in der Ukraine aus? Ein Mitglied der Kieler Jusos ist derzeit in Kiew und leistet dort seinen Freiwilligendienst. Er berichtet exklusiv von seinen Erlebnissen auf dem Maidan (Seite 10). Außerdem setzen wir uns in der Rubrik „Pro & Contra“ dieses Mal mit der Sperrklausel auseinander und beleuchten die Situation in der AfD. Aber nicht nur Europa beschäftigt uns in dieser Ausgabe. Es gab mal wieder (Überraschung!) einen Wahlkampf zu bestreiten, der in entspannter Routine souverän gewonnen wurde (Seite 15). Gekoppelt an die Wahl fand zudem ein Bürgerentscheid über die Ansiedlung eines Möbelmarktes in Kiel statt. Zuvor hatte sich hiergegen ein vor allem schriller Protest von Wutbürgern formiert, der es tatsächlich schaffte, ein Plebiszit anzustrengen (Seite 14). Außerdem wagen wir einen Rückblick auf zwei Themen, die vor kurzem heiß diskutiert wurden. Mit der nötigen zeitlichen Distanz reflektieren wir den Umgang der SPD mit Sebastian Edathy (Seite 3) und die Debatte um die Hamburger Gefahrengebiete (Seite 13). Wie immer wünschen wir Dir viel Spaß bei der Lektüre und freuen uns auf die ein oder andere Diskussion, die sich anschließt. Lob, Kritik und Anregungen kannst Du uns – wie immer – gerne an info@jusos-kiel.de schicken. Eure Redaktion

Kontakt Rotkielchen: Daniel P. Martinen, Tel.: 0151-22656905 daniel.martinen@me.com

Herausgeber und Verleger:

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Juso-Hochschulgruppe an der CAU: Redaktion: Timm Wüstenberg (tw), Florian Kruse (fk), Daniel P. Martinen (dpm) (V.i.S.d.P),

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Gulliver

In unserer Mitte ist noch Platz?! Zur „Causa Edathy“ Wohl in dem Ansinnen, Schaden von der gesamten Partei abzuwenden, hatte Sigmar Gabriel nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Sebastian Edathy ein formales Parteiordnungsverfahren gegen den ehemaligen Bundestagsabgeordneten im Parteivorstand durchgesetzt. Die Mitgliedsrechte Edathys in der SPD ruhen seitdem. Die endgültige Entscheidung des Schiedsgerichts über einen möglichen Parteiausschluss ist zunächst einmal bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens aufgeschoben. Dennoch macht dieser „Ausschlussreflex“ der Parteispitze auf den Vorwurf der Pädophilie stutzig. Hat Edathy durch sein Handeln gegen die Grundwerte der SPD verstoßen? Und selbst wenn sein Verhalten am Ende doch strafbar gewesen sein sollte: Ist in der SPD also kein Platz für (mögliche) Straftäter? Bei kaum einer Straftat ist die Empörung so groß, wie bei Sexualdelikten gegen Kinder. Ohne Zweifel auch zu Recht, denn der Schutz von Kindern ist eine entscheidende Aufgabe unserer Gesellschaft und die Misshandlung kindlicher Unschuld ein schweres Verbrechen. Deshalb hat auch der Koalitionsvertrag der Großen Koalition bereits eine Reform des Sexualstrafrechts vorgesehen, um den strafrechtlichen Schutz vor Sexualdelikten auszuweiten und Strafbarkeitslücken zu schließen. Nach dem Bekanntwerden der „Causa Edathy“ im Februar diesen Jahres hat die Debatte allerdings eine neue Richtung angenommen. Denn Edathy beruft sich darauf, dass seine Handlungen möglicherweise zwar moralisch verwerflich, strafrechtlich jedoch vollkommen legitim waren. Der aus der gesellschaftlichen Empörung darüber erwachsende Handlungsdruck wurde im vom Justizminister Maas vorgelegten Reformvorschlag nun dahingehend umgesetzt, dass auch der gewerbsmäßige Handel mit Nacktfotos von Kindern unter Strafe gestellt werden soll. Stark umstritten ist dabei, inwiefern dies allerdings tatsächlich eine taugliche Maßnahme zum effektiveren Schutz vor Sexualdelikten darstellt. Statt eine sachliche Debatte über diese Fragestellung voranzutreiben, hat die SPD jedoch mit eigenen Mitteln auf den gesellschaftlichen Druck reagiert und insbesondere Sigmar Gabriel den Ausschluss Edathys aus der Partei angestoßen. Das Verfahren ist nun vor dem Schiedsgericht der SPD Hannover anhängig. Laut Satzung der SPD kann ein Ausschluss nur erfolgen, „wenn das Mitglied vorsätzlich gegen die Statuten oder erheblich gegen die Grundsätze oder die Ordnung der Partei verstoßen hat und dadurch schwerer

Schaden für die Partei entstanden ist.“ Edathy hat weder gegen die Statuten noch gegen die Ordnung der SPD verstoßen. Ob es ein Grundsatz der Partei ist, dass man keine Nacktfotos von Kindern im Internet bestellen darf, ist stark anzuzweifeln, wenn nicht einmal unsere Rechtsordnung dieses Verhalten bisher unter Strafe stellt. Aber auch wenn Edathy sich strafbar gemacht haben sollte, müsste der Partei also jeweils dadurch schwerer Schaden entstehen, dass ein Mitglied gegen die Rechtsordnung verstößt. Laut Kant war Strafe für kriminelles Handeln stets eine schlichte Vergeltungsmaßnahme. Selbst wenn sich eine hypothethisch isolierte Inselgesellschaft am nächsten Tag auflösen und alle Inselbewohner einzelnd an unterschiedliche neue Orte ziehen würden, müssten die Straftäter noch bestraft werden. Nach seiner Philosophie ist die Strafe somit ein reiner Akt der Rache gegen Menschen, die sich außerhalb der Rechtsordnung bewegt haben. Über ein solches Verständnis des Strafrechts sind wir heute jedoch weit hinaus. Vielmehr ist unser Rechtssystem auf ein Täterstrafrecht ausgelegt, dass vor allem die Prävention im Blick hat. Einerseits soll durch die angedrohte Strafe generell vor der Begehung von Straftaten abgeschreckt werden, andererseits speziell die Begehung weiterer Straftaten durch den einzelnen Täter verhindert und eine Rückkehr in ein normales Leben ermöglicht werden. Gerade die SPD müsste dabei doch das Ziel teilen, dass Menschen, die straffällig geworden sind oder anderweitig von der Gesellschaft ausgeschlossen wurden, die Chance zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft bekommen. Mit einem Ausschluss aus der Partei würde man dieses Ziel konterkarieren. Ganz gleich wie das Schiedsgericht letztlich entscheiden wird: Gabriels Ziel – nämlich die öffentlich wahrnehmbare Lösung der Verbindung zwischen der SPD und Edathy – ist zumindest teilweise erreicht. Eine weitere Stigmatisierung Edathys ist dadurch jedoch ebenfalls erfolgt. Gabriel kann man sicherlich zu Gute halten, dass er in einer politisch aufgeheizten Phase gehandelt hat. Das Mittel des Parteiordnungsverfahrens ist jedoch das Falsche gewesen. Ein Parteiausschluss sollte letztlich gegenüber denjenigen vorbehalten bleiben, die z.B. dauerhaft und in massenhafter Auflage rassistische und biologistische Thesen verbreiten. Parteimitglieder jedoch, die gegen unsere Rechts- oder Moralordnung verstoßen haben, sollten auch von der Partei eine weitere Chance bekommen. Alles andere wäre ein Verstoß gegen die Grundsätze einer sozialdemokratischen Partei. tw

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Benno

eine irische Perspektive die Bananenrepublik und der Rettungsschirm Im Sommer 2013 gingen Bob Geldof und die Boomtown Rats wieder auf Tour und Irland legte „erfolgreich“ seinen Rettungsschirm ab. Die Boomtown Rats hatten ihre Blütezeit in den späten 70er und 80er Jahren. Songs wie „I Don’t Like Mondays“ und „Rat Trap“ stiegen weltweit an die Spitze der Charts und machten sie berühmt. Ihr letzter Top-10-Hit „Banana Republic“ führte jedoch dazu, dass den Rats immer wieder Auftritte in Irland verwehrt wurden. Die Bananenrepublik, von der Geldof sang, ist die, in der er aufwuchs und dieselbe, in die er als Rockstar zurückkehrte: kulturell und wirtschaftlich repressiv und depressiv. Es war ein Irland, in dem der Begriff GUBU geprägt wurde, ein Akronym, das die nationalen Skandale gut umschreibt. Letztendlich mieteten die Boomtown Rats eine private Location für ein Konzert, zu dem mehr als 30.000 Fans kamen. Es fand statt, bevor die Gerichte überhaupt die Chance hatten aktiv zu werden. Der Song „Banana Republic“ war populär in Irland und kam auch in Westdeutschland gut an. Die Grimmigkeit des Textes und der beklemmende Klang stehen im Kontrast zu einer langsamen Reggae Basslinie – ein auditiver Ausdruck unterdrückter Gegenkultur. Der Refrain lautet wie folgt: “Banana Republic / Septic Isle / Screaming in the suffering sea / It sounds like crying / Everywhere I go yeah / Everywhere I see / The black and blue uniforms / Police and priests“

It is pity nothing has changed - Die irische Bananenrepublik

Obwohl das moderne Irland ein anderes Irland ist, ist es noch immer mit denselben Problemen konfrontiert und diejenigen, die diese Probleme ansprechen, werden nach wie vor ausgezählt. Die Rezession hat viele gesellschaftliche Gruppen hervorgebracht, die vom Staat unter der Wasserlinie platziert wurden, während die Tide der Austerität ihnen bis zum Halse steht. Wir alle kennen die O-Töne, die sagen, dass sich Irland vom bedeutendsten Einwanderungsland der EU zum Land mit den meisten Auswanderern entwickelt hat. Der Rettungsschirm und die Troika verschärften die gesellschaftliche Ungleichheit und leisteten dem Neoliberalismus Vorschub. Das Problem, dass Linke in Irland und weltweit mit

der irischen Labour Party haben, ist, dass sie geholfen hat, gesellschaftliche Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit zu festigen und die Entwicklung Irlands zum Steuerparadies zu befördern. Die Intention hinter der Regierungsbeteiligung von Labour war, die rechte Politik von Fine Gael (Schwesterpartei der CDU) als größerem Koalitionspartner abdämpfen zu können. Dies ist in einigen Fällen gelungen. So hat Labour etwa die Absenkung des Mindestlohnes verhindern und hat guten Fortschritt in einigen anderen Bereichen erreichen können: kein Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge (außer für junge Menschen); Befreiung von einigen Geringverdienern von der Universal Social Charge (Steuer zur Finanzierung des Rettungsschirme-Ausstiegs); Weiterentwicklung von Abtreibungsrechten, die Frauen nun erlauben, legal abzutreiben, wenn die Schwangerschaft ihr Leben gefährdet (damit wird nach 20 Jahren und dem tragischen Tod von Savita Halappanavar ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 1992 umgesetzt); außerdem wurde wichtige Arbeit im Bereich der Primär- und Sekundärbildung getätigt (zusammen mit der Anhebung von Studiengebühren und Kürzungen bei Studienunterstützung). Es gab auch kleinere, aber wichtige Siege im kommunalen Bereich, die jedoch zum Großteil von Labours Unterstützung für die Trinkwasserprivatisierung und einer stumpfen Grundsteuer überschattet wurden. Vorwärts schauend, wird es im Mai in Irland Kommunal- und Europawahlen geben. Seit der Regierungsbeteiligung hat Labour viele Mitglieder verloren, darunter nationale Abgeordnete, Europaabgeordnete, Stadtratsmitglieder und Basismitglieder. Schwere Verluste werden auch bei den kommenden Wahlen erwartet. Es wird davon ausgegangen, dass die Partei Stimmen an Sinn Féin abgeben wird, die eine glaubwürdige, jedoch linkspopulistische Position neben ihrem traditionellen Republikanismus einnehmen. Labour Stadtratsmitglieder und EU-Abgeordnete werden außerdem von einer Reihe linker Splittergruppen bedrängt, deren Anliegen es ist, infolge der Krise Bündnisse miteinander zu schließen, was leider nur zu noch größerer Zersplitterung geführt hat. Während Labour Glaubwürdigkeit verliert und der Rest der Linken es nicht schafft, Glaubwürdigkeit zu gewinnen, wird erwartet, das Fianna Fáil – die Partei, die Irland in die Krise führte – einen Stimmenzuwachs erfahren wird. Fianna Fáil, ausgerechnet die Partei, die sicherstellte, dass der Wohlstand, der Irland zuteil wurde, in den Händen des Klüngels aus Hausbesitzern, Bauunternehmern und Bankern blieb. Ereignisse, die Irland kürzlich bewegten und den politischen Diskurs bestimmten, führten zu Auseinandersetzungen mit Themen wie Homophobie und gleichgeschlechtlicher Ehe, Polizeikorruption und dem Umgang mit Asylbewerbern. Der Travestiekünstler Panti Bliss rückte in den Fokus internationaler


Billy

listen sowie Whistle Blower aus Reihen der Polizei sollen vom zurückgetretenen Polizeipräsidenten und dem (bald zum Rücktritt gezwungenen) Justizminister verleumdet worden sein. Dabei handelt es sich um denselben Justizminister, der in sträflicher Gleichgültigkeit die Direct Provision-Regelung seines Vorgängers aufrecht erhält. Direct Provision zwingt Asylsuchende sich in ein Heim zu begeben, ohne Recht zu arbeiten und mit kaum einem Zugang zu Bildung. In einigen Fällen müssen sie für bis zu 7 Jahre dort bleiben.

Liam Duffy, Irish Labour Youth

Berichterstattung, als er von einem öffentlich-rechtlichen Sender zensiert wurde, nachdem er eine Reihe homophober Kommentatoren als homophob bezeichnete. Die Reaktionen hierauf führten zu einem positiven Momentum für ein Referendum zur Homoehe, das für 2015 vorgesehen ist. In der Folgezeit entwickelte sich eine noch immer anhaltende politische Krise um Polizeikorruption. Telefonleitungen von Polizeidienststellen wurden massenweise abgehört und Journa-

Dies sind Handlungsweisen, die aus Irlands Geschichte bereits bekannt sind; Inhaftierung „Anderer“, kulturelle und soziale Unterdrückung, ein reaktionäres Parlament, zurückhaltende Medien und ein politisches System, in dem Macht sich in Geld messen lässt und Macht als der Berater für Gerechtigkeit dient. Während die amtierende Regierung nur kleine Fortschritte in sozialen und politischen Themen macht, ist es wahrscheinlich, dass der eingeschränkte wirtschaftliche Freiraum, den Irland nach dem Rettungsschirm besitzt, weder dem Land noch der Labour Party helfen wird, sich zu erholen. Wie die letzte Strophe von „Banana Republic“: “The purple and the pinstripe / Mutely shake their heads / A silence shrieking volumes / A violence worse than the condemn / Stab you in the back yeah / Laughing in your face / Glad to see the place again / It‘s a pity nothing‘s changed“ Liam Duffy, Irish Labour Youth Übersetzt von dpm. Der Artikel im Original befindet sich auf der Homepage der Jusos Kiel

Griechischer Wein... ... mit bitterem Nachgeschmack Wenn sich Otto Normalverbraucher in den letzten Jahren ein Bild der europäischen Bankenkrise machen wollte, so wurde ihm lediglich das Bild der „faulen Südländer“ samt ihres hellenischen Anführers kredenzt. Der Stammtisch jubiliert: Deutscher Fleiß und deutsche Tüchtigkeit waren sogar so krisenbeständig wie Kruppstahl, dass jene Überlegenheit sich in bescheidenen Ratschlägen niederschlug: „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen ... und die Akropolis gleich mit!“ Aber auch in Milieus, in denen man glaubt, nicht jedem Populismus zu erliegen, blieben vorurteilsbehaftete Schmähungen nicht aus. „Hätten die mal ihre Hausaufgaben gemacht, wie wir mit der Agenda 2010, dann würde es ihnen jetzt nicht so schlecht gehen.“ Sogar die deutsche Kanzlerin ließ sich zu einem Statement aus der Reserve locken, dass es halt nicht sein kann, dass die einen länger Urlaub haben und früher in Rente gehen als die anderen. Es ist schon überraschend, wie schnell diese Vorurteile sich in der deutschen Gesellschaft gefestigt haben und zwar quer durch alle Klassen: Griechi-

sche Korruption, Bürokratie, Misswirtschaft und irgendwie haben sie doch über ihre Verhältnisse gelebt. Aber wer hat hier über wessen Verhältnisse gelebt? Natürlich gibt es in Griechenland Probleme mit Korruption, es ist selbstverständlich eine Dreistigkeit, dass die Reichsten keine Steuern zahlen und dass Tote Rente beziehen. Es ist aber eine noch größere Frechheit, wenn die Kausalkette der Finanzkrise an den Füßen der jetzigen griechischen Generation hängen bleibt und zur unerbittlichen Last wird. Gerade die Deutschen sollten sich doch erinnern können, was passieren kann, wenn man in einer Krise spart. 1932 litt Deutschland unter der Weltwirtschaftskrise, die Folgen waren Armut, Hunger und ein daraus sich entwickelnder politischer Extremismus, der ganz Europa ins Elend stürzte. Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise lag die Arbeitslosenquote in Deutschland bei 29 Prozent - in Griechenland hat sie nun eine Quote von 27 Prozent erreicht. Und das wahre Ausmaß der Tragödie gibt diese Zahl noch gar nicht wieder. Rückwirkende Lohnsenkungen von über einem Viertel entziehen den Menschen ihre Lebensgrundla-

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Billy

ge, immer häufiger wird von Lehrern berichtet, die zu ihren Eltern zurückziehen, weil das Geld für die Miete nicht mehr reicht oder von gut ausgebildeten Anwältinnen, die ihr Geld als Kellnerinnen verdienen müssen. Griechenland liegt am Boden Zu Beginn der Krise 2008 waren 8 Prozent der Erwerbsfähigen arbeitslos. Die Zahl hat sich innerhalb von fünf Jahren mehr als verdreifacht, ein Ende ist nicht in Sicht. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 60 Prozent! Selbst gut ausgebildete junge Menschen haben keine Chance mehr, sich eine Existenz in ihrem Heimatland aufzubauen. Diese Menschen leben somit nicht „über ihre Verhältnisse“, sondern werden in unmenschliche Verhältnisse gedrängt. Eine ganze Generation trägt die Last einer verfehlten Politik. Arbeitslosigkeit folgert Armut und Depressionen – wenn es keine Aussicht auf ein Ende der Arbeitslosigkeit gibt, sind tiefe seelische Schäden, Drogenabhängigkeit und Suizid die Folge. Auf die wirtschaftliche Depression folgt somit nun die gesellschaftliche Depression, denn die auferlegte Sparpolitik sparte auch an Zukunftsperspektiven für die schwächsten Menschen der Gesellschaft.

weil ihnen offen Gewalt und Abscheu entgegenschlägt. Die Krise hat die Menschen wieder zu Tieren gemacht. Der zweite große Einschnitt, den die griechische Bevölkerung hinnehmen musste, war der Einschnitt im Gesundheitssystem. Krankenhäuser öffnen nur noch an bestimmten Tagen, Praxen außerhalb der Städte werden geschlossen, Krankenpfleger entlassen, Medikamente nicht mehr bezahlt. In einigen Regionen pflegen die Angehörigen die Patienten im Krankenhaus, weil es keine Krankenpflegerinnen mehr gibt. Die Kürzungspolitik hat die Säuglingssterblichkeit um fast die Hälfte steigen lassen und überlässt fast jedes Dritte Kind einer Existenz unter der absoluten (!) Armutsgrenze. Trotzdem zwingt die deutsche Regierung Griechenland in wohligen Abständen Arbeitsmarktreformen auf, welche die soziale Ungleichheit weiter steigert. Wir erregen uns, dass in Griechenland nicht genug gegen Steuerbetrug getan wird, während bei uns kaum ein Tag vergeht an dem nicht ein prominenter Steuerbetrüger bekannt wird. Es wird mit dem Finger auf Griechenland gezeigt und ein Ende der Korruption gefordert, obwohl in der deutschen Bundesregierung ein Finanzminister sitzt, der sich nicht einmal mehr daran erinnern will, dass er Bestechungsgelder erhalten hat, und vor allem deutsche Rüstungsunternehmen in die Korruptionsskandale in Griechenland verwickelt sind. Wer am Boden liegt, braucht Hilfestellung

Addi wäre stolz - die „Goldene Morgenröte“ in Griechenland.

Die SOS-Kinderdörfer berichten, dass die Zahl der zu betreuenden Kinder explosionsartig gestiegen ist, da immer mehr Menschen kein Geld haben, um ihre Kinder zu ernähren. Wie schlimm es einem Menschen gehen muss, damit er „freiwillig“ seine Kinder in ein Heim bringt, lässt sich dabei kaum erahnen. Die Last tragen also wieder die Schwächsten einer Gesellschaft. Vielen Kindern wird die Chance auf Bildung und Teilhabe an der Gesellschaft von Anfang an verwehrt. Und trotzdem zwingen IWF, Weltbank und EU die griechische Regierung weiter, im sozialen Bereich zu kürzen. Die soziale Sprengkraft, die sich daraus entwickelt, ist unvorstellbar. Bereits jetzt kommt es zu Auseinandersetzungen von linken und rechten Extremisten. Vor einem halben Jahr erschütterte der Mord von Faschisten an einem linken Musiker die griechische Gesellschaft, insbesondere weil jene Gewalttruppen sich der ins Parlament gewählten Neonazi-Partei „Goldene Morgenröte“ zuordnen. Immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund fliehen somit aus Griechenland,

Im Jahr 1953 haben die 22 Gläubigerstaaten auf Antrag Griechenlands Deutschland einen Teil der Reparationszahlung des 2. Weltkrieges erlassen. Im Jahre 1990 stellte Deutschland die Zahlung seiner Restschuld (3,5 Milliarden) gegen Griechenland ein, die ,,baldige Zahlung wurde angekündigt“, ist bis heute aber nicht geschehen. Mitsamt der Erinnerung an die Gelder des Marshallplanes zu Anbeginn der Bundesrepublik Deutschland, erscheinen die aktuellen Belehrung wie eine makabere und geschichtsvergessene Zurschaustellung deutscher Doppelmoral. Dies muss sich ändern. Griechenland bedarf einer Menge Reformen, jedoch keiner zynischen Ratschläge. Deutschland trägt mit seiner Politik des Exportüberschusses eine Mitschuld an der Misere Griechenlands und hat auch immer wieder die Augen geschlossen, als die geschönten Zahlen offensichtlich wurden. Griechenland braucht ein Investitionsprogramm in Bildung, Gesundheit und zukunftsträchtige Industrie. Deutschland ist aus der Krise nach dem zweiten Weltkrieg nur herausgekommen, weil man den Menschen Vertrauen und Geld gab. Griechenland braucht Unterstützung und Vertrauen – das sollten wir ihnen in einem solidarischen Europa zukommen lassen. Kürzungsprogramme sowie Milliardenprogramme zur Rettung von Banken sind nicht der richtige Weg. Griechenland ist nicht irgendwo - Griechenland ist Europa! Es ist nicht nur ein griechisches Interesse, dass Griechenland geholfen wird, es ist ein europäisches! Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind in den Wahlkampf für eine andere Europapolitik gezogen - jetzt gilt es, dies auch umzusetzen. md


Rationell

Die AfD am Scheideweg Rechts, rechter oder am rechtesten?

Am 22. September 2013 erreichte die AfD nur acht Monate nach ihrer Gründung ein Ergebnis von 4,8 Prozent und scheiterte knapp am Einzug in den Bundestag. Die Wahl hat deutlich gemacht, dass grundsätzlich ein Wählerpotential für die neue Partei existiert. Doch so einfach ist es nicht. Die AfD stößt auf Resonanz in der Bevölkerung und scheint immun gegenüber den Angriffen der politischen Gegner. Doch die Probleme der Partei lauern im Innern und zwar bei etwas, das gerade in Deutschland ein hochsensibles Thema ist. Zwei Tage vor Weihnachten schrieb AfD-Sprecher Bernd Lucke an den damaligen hessischen Landesvorsitzenden Bartz eine E-Mail. In dieser legte er Bartz den Rücktritt nahe, da der Bundesvorstand informiert worden sei, dass Bartz einst wegen Abrechnungsbetrugs gekündigt wurde. Lucke betonte zudem, welche Auswirkungen die Aufdeckung dieser Nachricht für Bartz‘ Familie hätte. Diese unmissverständliche Drohung ließ Bartz nicht auf sich sitzen, er bezeichnete Lucke in einer späteren Mail als „Diktator“. Was war geschehen? Vor den Ereignissen schrieb Landesschatzmeister Ziemann auf Facebook von „internationalen Mafiosi, die ... die Menschheit in einem ökofaschistischen Gefängnisplaneten versklaven wollen“. Bartz distanzierte sich nicht von diesen Äußerungen, sondern nannte sie „philosophisch interessant.“ Vorgänge, die ein ähnliches Schema aufweisen, sind in den letzten Monaten vielfach bei der AfD zu beobachten gewesen. So sah sich etwa Gründungsmitglied Konrad Adam innerhalb seines Kreisverbandes lesbenfeindlichen Äußerungen ausgesetzt, die er selbst als „unerträglich“ bezeichnete. Außerdem sprach ein weiteres Kreisverbandsmitglied von einer „Holocaust-Industrie“, mit der Entschädigungszahlungen erpresst werden sollen. Diese und weitere Konflikte innerhalb der Partei, die von zahlreichen Rücktritten und Ausschlussverfahren gekennzeichnet sind, machen deutlich, wo die Fronten verlaufen: auf der einen Seite konservative Intellektuelle, auf der anderen Seite rechtspopulistische Ideologen, die die AfD nach rechts drücken und homophobe sowie ausländerfeindliche Inhalte unterbringen möchten. Nachdem

die AfD immer bekannter wurde, war es wohl unvermeidlich, dass auch vermehrt Personen vom ganz rechten Rand in die Partei strömen. Und für diese Personen gibt es Lücken in der Partei, die sie füllen könnten. Will die AfD keine Ein-ThemenPartei bleiben, muss sie ein Programm aufstellen, das etwa auch Familien- oder Zuwanderungspolitik umfasst. Alles Themen, die normalerweise im Zentrum rechter Gedanken stehen. Angesichts dieser Vorgänge erschien es nur folgerichtig, dass Lucke sich durch eine Satzungsänderung auf dem Frankfurter Parteitag in eine übermächtige Position bringen wollte, um so die internen Querelen zu stoppen und die rechten Abweichler zu bändigen. Paradoxerweise wurde ihm deshalb vorgeworfen, sich zum „Führer“ der AfD machen zu wollen. Doch auf dem Parteitag selbst wurde der Antrag schließlich zurückgezogen, zu groß waren die Proteste gegen den Entwurf. Was sonst war zu erwarten, bei einer Partei, die sich direkte Demokratie auf die Fahnen geschrieben hat? Nach der herben Niederlage für Lucke wird sich der Richtungsstreit fortsetzen. Foto: James Rea

Februar 2013. Die AfD gründet sich. Zu den Gründungsmitgliedern gehören neben Bernd Lucke auch Persönlichkeiten wie Konrad Adam und Alexander Gauland. Adam war viele Jahre Redakteur der FAZ, Gauland ist Publizist und ehemals Leiter der hessischen Staatskanzlei. Alle sind ehemalige CDU-Mitglieder. Das Profil scheint somit klar: die AfD ist eine Partei, die sich vor allem aus enttäuschten Konservativen der CDU zusammensetzt. Das Verhalten der Bundesregierung in der Eurokrise scheint der Auslöser für den Bruch gewesen zu sein. Als Luckes Tour durch die Talkshows begann, versuchten die Parteien, Luckes AfD konsequent in die rechtsradikale Ecke zu stellen und ihn als Spinner abzutun. Doch diese Strategie ging nicht auf.

Bernd Lucke (rechts), Alexander Gauland (noch weiter rechts)

Wer die AfD wählt, muss damit rechnen, dass seine Stimme in Zukunft womöglich nicht nur dem Protest gegen die Eurokrise dient. Er muss damit rechnen, dass sie einer Partei zufällt, in der die Rechten immer mehr an Einfluss gewinnen und homophobe und ausländerfeindliche Politik anstreben. Oder er muss damit rechnen, dass seine Stimme keinerlei Wert hat. Denn angesichts der anhaltenden Streitereien in der AfD ist keineswegs ausgemacht, dass sie trotz der großen Erfolge nicht dasselbe Schicksal erleidet wie die Piraten. Denn ob sich die Rechten oder die Gemäßigten durchsetzen, weiß niemand. fk

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Galant

Das Bundesverfassungsgericht hat gesprochen: die Drei-Prozent-Hürde der Europawahl gehört ab jetzt der Vergangenheit an. Die Begründung: den Parteien würden nicht dieselben Chancen eingeräumt. Und nicht nur das. Bei der letzten Bundestagswahl sorgte die Fünf-Prozent-Hürde dafür, dass fast 16% der abgegebenen Stimmen nicht zählten, da sie auf zu kleine Parteien entfielen. Das ist ein Rekordergebnis nicht gewerteter Stimmen. Kein Wunder, dass manche jetzt nach Aufhebung dieser scheinbar so “undemokratischen” Institution rufen. Und eine gute Gelegenheit, mal einen genaueren Blick auf Parlamentshürden allgemein zu werfen.

Contra

Sperrklausel Trotz eines gepflegten Shitstorms kann sich die Beseitigung der 5-Prozent- und 3-Prozent-Hürde für die Europawahl als Urteil zu Gunsten der demokratischen Repräsentation verbuchen lassen. Anstatt nun eine Debatte über das Für und Wider von Sperrhürden zu beginnen, welche doch dem Trend zur Basisdemokratie widerspricht, kam vielerorts nur ein laienhafter Geschichtsreflex zu Tage: „So ging Weimar einst zu Grunde!“ Jedoch sollte die Auseinandersetzung mit einem Grundrechtseingriff sorgfältiger geführt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar diesen Jahres der 3-Prozent-Hürde ihre Notwendigkeit in Abrede gestellt, da diese nicht den gleichen Voraussetzungen unterliegt, wie die 5-Prozent-Hürde bei der Wahl zum deutschen Bundestag. Denn zuallererst gilt in Deutschland der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit, welcher besagt, dass jede Stimme sowohl gleichwertig gezählt wird, als auch die gleichen rechtlichen Erfolgschancen haben muss. Hinzu kommt die Besonderheit der Verhältniswahl, welche dem Grundsatz der Erfolgswertgleichheit unterliegt, weshalb jede Stimme den gleichen Einfluss auf die politische Zusammensetzung des Parlaments haben muss. Ein Eingriff in diese Grundwerte ist daher nur in außerordentlich begründeten Fällen möglich. Für die Europawahl bleibt die Feststellung des Verfassungsgerichtes, dass eine potentielle Zersplitterung der Parteien ein geringeres Gewicht hat, als der Gleichheitsgrundsatz der Wahlstimmen. Zwar ist das EU-Parlament endlich berechtigt, den Kommissionspräsidenten zu wählen, jedoch benötigt die Kommission keine ständige Mehrheit im Parlament, um ihre Arbeit auszuführen. Des Weiteren ist die Zahl der Fraktionen im EU-Parlament so gefestigt, dass sich bisher ganze 162 Parteien im EU-Parlament in einer der sieben Fraktionen wiederfinden konnten und somit kein Chaos ausgebrochen ist. Zuletzt zeigt ein Blick auf die europäischen Nachbarstaaten, dass in zwölf weiteren Staaten auch keine Sperrklausel gilt. Lehren der Geschichtsschreibung Nach dem Ende der Sperrklausel zur Europawahl, bleibt nun noch die Frage, wie und ob sich diese institutionelle Hürde für Bundes- und Landtagswahlen legitimiert. Denn hierbei bedeutete die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland nicht nur einen politischen Neuanfang, sondern auch im gleichen Maße, dass ihre Gründerväter und -mütter die Fehler der Weimarer Republik als Mahnung auffassten. So erfolgte zur Bundestagswahl 1949 die Einführung einer 5-Prozent-Hürde, welche als Maßnahme gegen die parla-

mentarische Zersplitterung gerechtfertigt wurde. Für das damalige Geschichtsverständnis ist diese Begründung zulässig, weißt jedoch für heutige Geschichtsforscher eine Überschätzung des Einflusses jener Zersplitterung auf den Untergang der Weimarer Republik auf. Der Politikwissenschaftler Dieter Nohlen erklärte, dass die damalige Parteizersplitterung eher durch gesellschaftliche Trennlinien, als durch das Wahlrecht entstanden ist. Gesellschaftliche Missstände und die ansteigende Radikalisierung, welche durch die Auswirkungen des ersten Weltkrieges und die darauf folgende Wirtschaftskrise angefeuert wurden, waren hierbei die wichtigsten Faktoren für den Zusammenbruch der Weimarer Republik. Es bleibt somit die Frage, ob noch heute solch eine gesellschaftliche Sprengkraft in der Bundesrepublik vorhanden ist, welche die freiheitlich-demokratische Grundordnung außer Kraft setzen könnte. Im rückblickenden Vergleich zu den Verhältnissen in Weimar kann dies noch verneint werden – jedoch lässt eine historische Rückblende keine Aussage über die aktuellen und zukünftigen Bedrohungen dieser Demokratie zu. Denn obwohl z.B. „Große Koalitionen“ eher als Ausnahmesituation galten, bieten sie zur Zeit ein gewohntes Bild. Deshalb ist abzuwägen, ob die aktuelle gesellschaftliche Situation noch einer Sperrklausel bedarf, um eine stabile Regierungsmehrheit im Parlament zu sichern, oder ob nicht auch die Parteien in den Bundestag zugelassen werden sollten, die eine große Wählerschaft repräsentieren, jedoch nicht über die Sperrklausel kommen, weil ihnen womöglich aus der Befürchtung, dass die eigene Stimme entwertet wird, bereits Stimmen abhanden kommen. Insbesondere die zurückliegende Bundestagswahl hat eine beeindruckend große Zahl von 16 Prozent der Wahlstimmen hervorgebracht, welche sich letztlich nicht im Parlament vertreten finden. Während in anderen europäischen Ländern Parteien mit knapp zwei Millionen Wahlstimmen eine Regierung bilden und somit auch auf internationaler Ebene einen Akteur stellen, bleibt dem organisierten Bürgerwille in der gleichen Größenordnung in Deutschland nur die außerparlamentarische Opposition. Dies mag im Falle der AfD zwar noch positiv sein, gleichwohl sollte hier auch beachtet werden, dass eine Sperrklausel nicht als Mittel dienen darf, um unliebsame Parteien aus dem Parlament auszuschließen. Der Wegfall der 3-Prozent-Hürde wird dem Europäischen Parlament keinen Schaden zufügen. Für die Wahl des Bundestags wird die Abwägung zwischen Legitimation und Effizienz aber offen bleiben. jw


Galant

Pro

Sperrklausel

Die deutsche Fünf-Prozent-Hürde in ihrer heutigen Form ist weitestgehend auf die chaotischen Verhältnisse zurückzuführen, die bei der ersten Bundestagswahl 1949 entstanden sind. Damals wurden nicht weniger als elf (!) Parteien in den gerade neu entstandenen Bundestag gewählt, die meisten davon Neuauflagen der Weimarer Parteien. Adenauer schaffte es gerade so, eine Koalition zu bilden, die nur über eine Stimme Mehrheit verfügte. Diese war darüber hinaus eine Drei-Parteien-Koalition (vier Parteien, wenn man die CSU als einzelne Partei mitzählt). Das mag überraschend klingen, sind die früheren Regierungen der Bundesrepublik doch als Koalitionen aus zwei Parteien oder als Alleinherrschaft der Union im Gedächtnis verankert. Heute sind die Bedingungen in Deutschland ganz andere, keine Frage. Doch zeigt sich in der Geschichte der Bundesrepublik selbst, wie problematisch oder knapp die Bildung einer stabilen Regierung verlaufen kann, wenn es keine oder eine nicht-wirksame Hürde im Parlament gibt. Auch das Weimarer System krankte bereits an einer Vielzahl von kleinen Parteien, die häufige Regierungswechsel verursachten und Koalitionen aus vielen Parteien nötig machten. Die katastrophale Entwicklung, die die Weimarer Republik letztlich nahm, ist zwar nicht auf die fehlende Parlamentshürde zurückzuführen. Doch hätten stabilere Regierungen insbesondere in der Großen Depression dazu beitragen können, die Entwicklung glimpflicher zu gestalten. Um weitere Negativbeispiele zu finden, braucht es auch nicht unbedingt den Blick in die Vergangenheit. Ein Negativbeispiel ist Italien. Das italienische Wahlrecht verfügt nicht über eine Sperrklausel und ist durch eine starke Zersplitterung des Parlaments gekennzeichnet. Dies ist einer der Gründe, warum Italien seit dem 2. Weltkrieg mehr als 65 verschiedene Regierungen hatte. Das im Dezember 2013 gewählte Kabinett “Merkel III” ist hingegen erst die 23. Regierung der Bundesrepublik. Viele Regierungen Italiens bestanden aus mehr als drei Parteien und waren somit anfällig, da das Ausscheren nur einer der Parteien das Ende der Koalition bedeutete. Auch andere Demokratien mit fehlender oder geringer Parlamentshürde, wie etwa Israel, weisen eine größere Instabilität ihrer Regierungen im Vergleich zu Deutschland auf. Sperrklauseln können also tendenziell dazu beitragen, dass Parlamente übersichtlich bleiben und somit stabile Regierungen möglich sind. Der Hauptvorwurf gegenüber solchen Hürden besteht hingegen darin, dass sie “undemokratisch” seien. Es ist ohne Einschränkungen richtig, dass Sperrklauseln das Wahlergebnis verzerren. Sie sorgen ja gerade dafür, dass die abgegebenen Stimmen nicht der Zusammensetzung des Parlaments entsprechen, weil zu kleine Parteien ausgeschlossen werden. Allerdings ist schwer zu sagen, was denn “demokratisch” bedeutet, wenn Sperrklauseln “undemokratisch” sein sollen. Parlamentshürden sind für Wahlen unter dem Verhältniswahlrecht gedacht. Die 16 Prozent

der Stimmen, die bei der Bundestagswahl verloren gingen, werden jedoch stark relativiert, wenn demokratische Systeme mit Mehrheitswahlrecht betrachtet werden. Im Mehrheitswahlrecht gehen Stimmen, die nicht auf der Siegerseite stehen, komplett verloren. Dort können ohne weiteres (und regelmäßig) bis zu 40 Prozent und mehr der Stimmen wegfallen. Trotzdem würde man wohl nicht auf die Idee kommen, Großbritannien, die Wiege des Parlamentarismus und die USA, die seit fast 240 Jahren demokratisch regiert werden, die demokratische Grundordnung abzusprechen. Beide Länder lassen wichtige Wahlen nach dem Mehrheitswahlrecht durchführen. Sollte es nicht anders gehen und eine Öffnung des Parlaments für kleinere Parteien beschlossen werden, so sollte nicht unbedingt eine Schwächung der Fünf-Prozent-Hürde vorgenommen, sondern das Mittel der Ersatzstimme herangezogen werden. Die Ersatzstimme ermöglicht es, einer kleinen Partei, die es eventuell nicht über die Parlamentshürde schafft, risikolos die eigene Stimme zu geben. Schafft sie es nämlich tatsächlich nicht, so kann man als „Ersatz“ einer zweiten Partei die Stimme geben, sodass diese nicht verloren geht. Somit wäre dem Wähler zumindest die Abneigung genommen, überhaupt für kleinere Parteien zu votieren. Trotz dieser Alternative sollte die Sperrklauselregelung insgesamt beibehalten werden, auch in der derzeitigen Höhe. Denn die Gegnerschaft gegenüber der Sperrklausel erwächst aus rein idealistischen Motiven. Das (verständliche) Ideal lautet, dass jede Stimme gleich viel zählen muss. Dem gegenüber steht die Gefahr, dass die Funktionsfähigkeit der Demokratie eingeschränkt wird und zwar insbesondere die Fähigkeit, stabile Regierungen hervorzubringen. Negative Beispiele wie Italien zeigen, wie nachteilig sich dies auswirken kann. Ein Verzicht auf eine Sperrklausel kann damit handfeste Nachteile für den Staat nach sich ziehen, was viel schwerer zu gewichten ist als rein idealistische Motive. Gerade das Beispiel von Demokratien mit Mehrheitswahlrecht relativiert den Vorwurf, dass eine erhöhte Nichtwertung von Stimmen zu undemokratischen Verhältnissen führt. Für ein Ideal eine tatsächliche Einschränkung der Funktionsfähigkeit in Kauf zu nehmen, ist nicht vernünftig. Außerdem sollte eine parlamentarische Institution schon gar nicht wegen einer einzigen Bundestagswahl infrage gestellt werden. Man könnte meinen, 2013 wäre der letzte Schritt einer lang anhaltenden Entwicklung, bei der von Wahl zu Wahl immer mehr Stimmen nicht gewertet wurden. Tatsächlich lässt sich aber über die Zeit hinweg kein Trend bei den nichtgewerteten Stimmen feststellen. Nur 1990, nach dem Mauerfall, sind ca. 8 Prozent der Stimmen weggefallen, bei allen anderen Bundestagswahlen waren es weniger als 7 Prozent. Die Bundestagswahl vom vergangen September war ein singuläres Ereignis und sollte demnach keinen Anlass geben, das bewährte Instrument der Sperrklausel einzuschränken. fk

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Karlsö

Die Verwandlung des Euromaidan Bericht aus der Ukraine

In der Nacht des 21. November 2013 hatten sich am Maidan erstmals etwa 2.000 Protestierende versammelt. Dieser Protest wurde in den sozialen Netzwerken organisiert, größtenteils über Facebook. Die Demonstrationen hielten an. Bald fanden größere Versammlungen statt, an denen mehr als 100.000 Leute, mehrheitlich Studenten, teilgenommen haben sollen. Ende November hatte ich persönlich dann die Möglichkeit, mir die Ereignisse in Kiew anzusehen. Es waren viele und vor allem junge Leute da, welche friedlich und kreativ protestierten. Es herrschte eine sehr friedvolle Atmosphäre. Diese wurde nur ein wenig von den Polizisten konterkariert, die auf dem Maidan standen, um den Aufbau eines riesigen, künstlichen Tannenbaums zu “schützen“. Dieser sollte dort für die Weihnachtszeit aufgebaut werden. Es gab Protestmärsche am Kreschatik, einer großen Prachtstraße, welche zum Maidan führt, und auf dem Maidan selber. Dort wurden sehr oft die ukrainische und die europäische Flagge gezeigt. Meiner Meinung nach war der Hauptwunsch damals nach einer “Europäisierung“ des Landes, was vor allem bedeutete, die verheerende Korruption in der Ukraine zu beenden und die ukrainische Politik transparenter zu gestalten. Nachdem bekannt wurde, dass das Assoziierungsabkommen nicht unterzeichnet wurde, kamen zehntausende Menschen zum Maidan. Schon damals forderten viele eine friedliche Revolution und den Rücktritt des Präsidenten. Unter dem Vorwand, dass die Menschen auf dem Platz den Aufbau des Tannenbaums stören und sabotieren, griff die Spezialeinheit Berkut dann in der Nacht auf den 30. November die Leute auf dem Maidan an. Dabei wurden circa 80 Zivilpersonen verletzt. Dies war für die Ukrainer ein sehr einschneidendes Erlebnis. Sogar 2004 bei der Orangenen Revolution war es friedlich geblieben. So ein massives und brutales Vorgehen der Polizei hatte man in der Ukraine zuvor noch nicht erlebt. Es war den Einsatzkräften auch egal, ob sie nun weibliche oder männliche Protestteilnehmer verletzten. Das war auch ein Tabubruch und Aufhänger für Ukrainer, dass männliche Einsatzkräfte weibliche Demonstranten ohne, dass Ihnen die Möglichkeit zum Rückzug gegeben wurde, verletzten. Infolgedessen begann der Aufbau einer Zeltstadt auf dem Maidan, außerdem wurden das Kiewer Rathaus und das Haus der Gewerkschaften besetzt. Danach gab es gewalttätige Auseinandersetzungen, bei denen auch Unbeteiligte in Mitleidenschaft gezogen wurden. Am 4.12.2013 war ich wieder in Kiew und konnte auf dem Maidan eine total geänderte Situation feststellen. Es gab nun Barrikaden auf dem Maidan. Die Stimmung eine ganz andere als im November. Auf der Straße vor der Präsidentenadministration stand die Berkut und durch 20 Meter Luftlinie von ihnen getrennt eine Ansammlung von Demonstranten. Das fühlte sich wie die Ruhe vor dem Sturm an, als wenn beide Gruppen in jeder Sekunde aufeinander losgehen könnten. In

den nächsten Wochen verschärfte sich die Situation auf dem Platz. Dies führte dazu, dass das ukrainische Parlament das Demonstrationsrecht extrem verschärfte. Mitte Januar kam es in Kiew dann erstmalig zu schweren Konflikten. Bei weiteren Unruhen kamen erstmals fünf Menschen ums Leben. Die gesamte ukrainische Regierung unter Ministerpräsident Mykola Asarow erklärte darauf ihren Rücktritt. Dann kam es Ende Februar zu den schlimmsten Ereignissen des Maidans. Allein an einem einzigen Tag, dem 20.02.2014, soll es laut Angaben der Sanitäter circa 60 bis 70 Tote gegeben haben. Teilweise gingen diese wohl auch auf das Konto von Scharfschützen. Durch Vermittlung der Außenminister von Frankreich, Polen und Deutschland kam es dann zu einer Abmachung zwischen Regierung und Opposition, um die Situation zu befrieden. Infolge dieser Verhandlungen wurde Janukowitsch trotz anderer Absprache ein Ultimatum zum Rücktritt gestellt. Für die Menschen auf dem Maidan war Janukowitsch nach diesen Erlebnissen einfach nicht mehr tragbar. Dieser floh darauf aus Kiew und der Maidan übernahm die Kontrolle über Kiew.

Lauritz auf dem Maidan

Die Nachwehen dieser Ereignisse konnte ich als Freiwilliger in der deutsch-lutherischen Kirche im März live mitverfolgen. Es wurde dort ein Lazarett für die Verletzten des Maidans eingerichtet. Hier wurde ein Mann behandelt, der unter größten körperlichen und psychischen Entbehrungen den Brand des Gewerkschaftshauses überlebt hatte. Schussverletzungen gab es auch zu versorgen. Einem jungen Mann wurden sogar die Hände so zertrümmert, dass er für die Behandlung, zusammen mit anderen Verwundeten, nach Deutschland ausgeflogen wurde. Die Aktivität der Protestierenden nahm auch deutlich ab. Auf dem Maidan und den Straßen, auf denen es die heftigsten Zusammenstöße gab, wird jetzt den Toten gedacht. Es ist ein wahres Blumenmeer, welches dort für die Getöteten, die auch himmlische Hundertschaft genannt werden, liegt.


Hemnes

Ein Bekannter, der die friedliche Revolution in der DDR damals persönlich mitbekommen hat und schon etwas länger in der Ukraine verweilt, vergleicht diese gerne mit dem Euromaidan. Aber im Gegensatz zu Deutschland spaltet dieses Ereignis die Ukraine in Ost und West mehr als jemals zuvor, gerade im Bezug auf die Situation in Slawjansk. Das Verhältnis zwischen dem Westen und dem Osten der Ukraine war noch niemals so zerrüttet wie heute. In der Westukraine sollen angeblich nur Faschisten wohnen und in der Ostukraine sollen alle Moskaus hörig sein. Außerdem ist es in Deutschland damals

zum Glück, für manche ein Wunder, friedlich abgelaufen. Die Ukraine hat dieses Glück leider nicht gehabt. Die Verwandlung des Euromaidans von diesen friedvollen, lebensfrohen Protesten zu jenen gewalttätigen und auch tödlichen Auseinandersetzungen ist erschreckend. Aber sie zeigt doch, wie wichtig manche Freiheiten sind. Lauritz Neumann Der Autor ist Mitglied der Kieler Jusos und leistet derzeit seinen Freiwilligendienst in der Ukraine.

Die Entstehung der Krise Europas Werk und Russlands Beitrag Schaut man dieser Tage Nachrichten, kommt man nicht umhin, mit dem Konflikt in der Ukraine konfrontiert zu werden. Insbesondere die deutschen Medien haben eine klare Schlagrichtung in ihrer Berichterstattung. Dabei wird das Bild eines völlig unberechenbaren Russlands gezeichnet, das auf dem besten Wege ist einen neuen Kalten Krieg zu provozieren. Keine Frage: Das Vorgehen auf der Krim verstößt gegen eine Vielzahl von ukrainischen Gesetzen und völkerrechtlichen Verträgen. Außerdem wird das Handeln der selbsternannten Krim-Regierung wohl niemand als lupenrein demokratisch bezeichnen. Rasante Referenden und das Abschneiden von Informationskanälen widersprechen nicht nur den guten Sitten des demokratischen Miteinanders. Überraschend ist Russlands Handeln jedoch nicht. Denn schon in der Vergangenheit hat Russland auf Provokationen massiv, ja geradezu überreagiert. Ein noch recht aktuelles Beispiel dafür ist der russisch-georgische Fünf-Tage-Krieg um Abchasien und Südossetien im Sommer 2008. Damals startete Georgiens Präsident Saakaschwilli einen Versuch, die abtrünnigen (aber nur von Russland und wenigen anderen Staaten anerkannten) Gebiete militärisch wieder unter georgische Kontrolle zu bringen. Die Folge war ein kurzer aber heftiger Krieg, in dem mehr als 800 Menschen ihr Leben verloren und der über 20.000 Menschen zur Flucht zwang. Doch wodurch hätte Russland sich im Ukraine-Konflikt provoziert fühlen können? Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick auf die Entstehung des Assoziierungsabkommens der EU mit der Ukraine. Dessen Nichtunterzeichnung durch den geflohenen ukrainischen Präsidenten war einer der Auslöser für die Euromaidan-Proteste und stand damit am Beginn der Eskalationskette. Betrachtet man die Verhandlungsstrategie der EU, ist zu erkennen, dass sie von einem hin und her gekennzeichnet war, aber auch ukrainische Sorgen bezüglich Russlands nicht ernst nahm. Befürchtet wurden vor allem Sanktionen, die aufgrund der herausgehobenen Stellung russischer Im- und Exporte, die Ukraine empfindlich treffen würden. Für solch

einen Fall wären Investitionen u.a. in Form von Krediten in Höhe von ca. vierzig Milliarden Euro erforderlich gewesen. Während der Verhandlungen mit der Ukraine bot die EU lediglich Mittel in Höhe von 400 Millionen Euro an, ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn Russland die Daumenschrauben andrehen würde. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des staatlichen ukrainischen Gasversorgers Naftogaz, der inzwischen über zwei Milliarden Dollar Schulden bei Gazprom angehäuft hat und deshalb zunehmend aus Steuern refinanziert werden muss. Erst nachdem das Kind in den Brunnen gefallen war, lenkte die EU ein und stellt nun Kreditlinien in Milliardenhöhe zur Verfügung. Die Ukraine ist nicht nur abhängig von Russland, sondern auch von strategischem Interesse für Russland. Die industriell geprägte Ostukraine spielt dabei eine große Rolle. Die dort ansässige Rüstungsindustrie exportiert ein Fünftel ihrer Waren nach Russland und liefert damit u.a. siebzig Prozent der russischen Militärhubschrauber. Durch den Abschluss des Assoziierungsabkommens würde nicht nur der Rüstungsexport erschwert, sondern auch der übrige Handel. Dies hängt damit zusammen, dass das EU-Abkommen u.a. den ukrainischen Beitritt zur Eurasischen Zollunion ausschließt. Ein weiterer Dorn im Auge von Putin, der seit einigen Jahren dieses Konzept der Wirtschaftskooperation im postsowjetischen Raum verfolgt. An dieser Stelle auch Rücksicht auf russische Interessen zu nehmen und über eine mögliche Kompatibilität des Assoziierungsabkommens und der Zollunion zu verhandeln, wurde in der EU aber auch erst nach zahlreichen Eskalationen Ende 2013 erwogen. Führt man sich nun wieder vor Augen, dass die Nichtunterzeichnung des Abkommens Auslöser für die Maidanproteste war und damit eine Eskalationskette auslöste, so drängt sich die Frage auf: Was wäre passiert, wenn es zur Unterzeichnung gekommen wäre? Gewiss wäre die Ukraine nicht problembefreit. Sie hätte vermutlich noch immer einen korruptes und von Oligarchen beherrschtes politisches System. Doch – so ist zu vermuten – wäre die Situation stabiler und böte somit bessere Umstände für die ambitionierten Ziele des EUAssoziierungsabkommens, das Verbesserungen durch Einbindung erreichen will. dpm

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Fyndig

Frankreich in der Krise La Grande Nation avec un grande problème Das Wort „Krise“ bedeutet eine „entscheidende Wendung“ zu nehmen und bezeichnet eine „schwierige Situation, Zeit, die den Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt“.

nicht mit denen der Länder Spanien, Zypern oder Italien zu vergleichen, allerdings haben diese auch schon fünf Jahre Krise - ohne eine „entscheidende Wendung“ zu nehmen - hinter sich gelassen und sprechen offen von einer Krise.

Seit dem Jahr 2007 belasten uns in Europa Wirtschaftskrise, Finanzmarktkrise, Schuldenkrise und Währungskrise. Es kamen regelmäßig neue „entscheidende Wendungen“ zum Vorschein, nur zu einem wirklichen Wendepunkt, dem Synonym zu Krise, kam es bislang nicht. Wenn die Krisenländer regelmäßig zur Jahreswende ihre aktuellen Wachstumsprognosen für Brutto-Inlands-Produkt, Haushaltsplanung oder Schuldenquote präsentieren, berichtet die Medienlandschaft: „Die Krise ist vorbei!“. Zu diesem Zeitpunkt des Jahres lässt sich für Europa folgendes feststellen: Die Krise hält an, bzw. die „entscheidende Wendung“ ist bei weitem noch nicht genommen. Das Mini-Wachstum der EU und die extrem ungleiche Erholung der Krisenländer zeigen etwas Anderes. Wie kann man da also von einem Ende der Krise sprechen - geschweige denn von einem Wendepunkt?

Gerade auch in Hinsicht auf die stetig steigenden Schulden des Landes und erfolglosen Reformversuche, ist die Lage gravierender, als es Frankreichs Staatsoberhaupt Francois Hollande zugeben mag. Er musste nach fast zwei Jahren Amtszeit sein Kabinett austauschen, da ihm die Menschen auf den Straßen Frankreichs eine deutliche Botschaft signalisiert haben, indem sie bei den jüngsten Kommunalwahlen die rechtsextreme Front National (FN) stark gemacht haben. Hollande hat einen Trümmerhaufen erschaffen, der nicht nur innenpolitisch eine enorme Rolle spielen wird.

Krisenindikatoren, wie (Jugend-) Arbeitslosigkeit oder Lohnstückkosten, sind auf ein Rekordniveau angewachsen. Wenn in den Wirtschaftsberichten die Rede von 13, 27 oder 28 Prozent ist, denkt man eher an Sommerschlussverkaufsangebote, als an die Arbeitslosenquoten der Länder Zypern, Spanien und Griechenland. Diese und auch weitere Statistiken sind für die europäische Gestaltungsbühne verheerend, gerade wenn man als Außenstehender feststellen muss, dass bei der regelmäßigen Krisenbetrachtung ein nicht ganz unwichtiges Land außen vor gelassen wird: Das neue Sorgenkind Frankreich. Frankreich - das Land mit der zweitgrößten Industrie Europas und vor allem das Land, welches neben Deutschland am stärksten für den Euro-Rettungsfonds haftet. Für viele Menschen kommt das überraschend, was Experten aus der Finanzbranche schon vor geraumer Zeit vorhergesagt haben. Ein Beispiel, welches diese Aussagen bestätigt, findet sich im französischen Industriesektor wieder. Dort arbeitet lediglich nur noch jeder zehnte französische Bürger. Infolgedessen liegt die Wertschöpfung in diesem Sektor weit unter zehn Prozent. Daraus resultieren allerdings zwei schwerwiegende, in der Finanzkrise jedoch sehr bekannte Folgen. Zum einen stieg die Arbeitslosenquote in Frankreich auf mittlerweile elf Prozent an (die Jugendarbeitslosigkeit beträgt sogar 25 Prozent). Die Menschen, die nicht arbeitslos geworden sind, hat man im Staatsapparat aufgefangen und das sind mehr als doppelt so viele, wie im Deutschen. Nur produziert der Staat weder Leistungen noch Güter, die Geld in die mehr als knappen Kassen spülen könnten. Diese Problematik erinnert stark an Griechenland und andere krisengebeutelte EU-Länder. Zwar sind die Indikatoren derzeit

Frankreich muss im ersten Schritt diese Probleme in den Griff bekommen, denn ansonsten wird es schwer, zusätzlich noch die europäischen zu bewältigen. Wir brauchen in Europa, neben Deutschland, eine weitere starke Volkswirtschaft und nicht nur aus diesem Grund gibt Martin Schulz, der Präsident des Europaparlaments, Frankreich mehr Zeit. Er weiß, wie wichtig die französischen Reformen für ein stabiles Europa sind. Im zweiten Schritt müssen wir uns sicherlich auch über einen raschen Abbau der Schulden Gedanken machen. In einem Artikel der Süddeutschen heißt es: „Wer die Banken rettet, rettet Europa“. Aus diesem Grund erfordert die Bewältigung der Krise, neben dem genannten Abbau der Schulden, vor allem eine Reform der Banken. Hier sollen Stresstests und Regulierungen der Banken die gesuchten Lösungen der Probleme sein. Es gibt jedoch auch einen „positiven Wendepunkt“ in Zeiten der Krise zu verkünden, denn Irland hat es als bisher erstes Krisenland aus dem Eurorettungsschirm geschafft. Das Land ist aus wirtschaftlicher Sicht das Musterbeispiel für eine gelungene Krisenbewältigung. Vor allem das zweimalig in Folge angestiegene Brutto-Inlands-Produkt bestätigt diese Eindrücke. (Für die politischen Konsequenzen, siehe Seite 4.) Es sieht nicht wirklich nach einem „Wendepunkt in dieser schwierigen Zeit“ aus. Wir sollten uns daher nach über fünf Jahren „Wendepunkt“ so langsam über die Richtigkeit der Begriffsgestaltung Gedanken machen, denn „nimmt die Entwicklung einen dauerhaft negativen Verlauf“ an, „so spricht man von einer Katastrophe (wörtl. in etwa Niedergang)“. Die letzten fünf Jahre haben wir feststellen müssen, dass wir auf die Vielzahl der unterschiedlichen Krisen nicht gut vorbereitet gewesen sind. Wie soll es uns denn erst mit einer Katastrophe ergehen, wenn zum Beispiel in einer der größten europäischen Volkswirtschaften eine rechtsextreme Partei an die Macht kommt? ps


Lillholmen

Die Hamburger Gefahrengebiete Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit? In einer aufgeheizten Stimmung mit verschiedenen gewalttätigen Vorfällen erklärte die Hamburger Polizei im Januar mehrere Stadtteile zu Gefahrengebieten, in denen die Bürger weniger und der Staat mehr Rechte haben. Sie warfen die alte Frage auf, wie viel Freiheit für Sicherheit geopfert werden darf. In Hamburg bestanden schon längere Zeit latente Konflikte um die Angst vor Gentrifizierung, besonders versinnbildlicht durch die Räumung der ESSO-Häuser und um die Situation afrikanischer Flüchtlinge, die über Lampedusa nach Europa gekommen waren, als eine Demonstration für den Erhalt des alternativen Kulturzentrums „Rote Flora“ am 21. Dezember 2013 eskalierte. Schon im Vorfeld hatten im Internet Gewaltaufrufe linksextremer Gruppen kursiert, die zu einer weiträumigen Sperrung der Innenstadt kurz vor Weihnachten und einer starken Anspannung bei der Polizei führten. Schon nach wenigen Minuten stoppte die Polizei den Demonstrationszug, woraufhin sich größere Straßenschlachten entwickelten. Hier, wie auch bei mehreren Angriffen auf Polizeibeamte in der Nähe der Davidwache, gab es widersprüchliche Aussagen zu Ausbruch und Ausmaß der Gewalt. Zum Teil musste die Hamburger Polizei Inhalte von Pressemitteilungen korrigieren, gewalttätige und nicht provozierte Angriffe auf Beamte gab es aber in jedem Fall. Als Reaktion erklärten die Polizei und der Senat St.Pauli, Sternschanze und Altona zum Gefahrengebiet und begannen mit umfangreichen Kontrollen.

nat dem Inhaber der „Roten Flora“ das drohende Vorgehen gegen die Nutzer vorgeschlagen. Politisch motivierte Gewalt Auch wenn es sicher Fehler der Polizei gegeben hat, ist entscheidend, dass der gewalttätige Konflikt das eigentliche Demoziel von zumindest einigen Hundert Teilnehmern war. Angriffe vermummter Gruppen auf Polizeiwachen im Gebiet hatte es auch bereits in den Wochen zuvor gegeben. Zudem wurden Beamte auf Streife attackiert, wenn auch anders als zuerst von der Polizei angegeben. Enthemmte, brutale Gewalt gegen Polizisten als Menschen einerseits und als Repräsentanten des staatlichen Gewaltmonopols andererseits darf es nicht geben. Hält sie über längere Zeit an und verdichtet sich, muss der Staat reagieren und darf auch schärfere Maßnahmen zu Bekämpfung ergreifen, zu denen auch Gefahrengebiete mit der Einschränkung von Rechten gehören können. Was sicher nicht dazu gehören darf, ist das Bedrängen von Journalisten, die Maßnahmen beobachten wollen oder das Beschlagnahmen von Klobürsten als gefährliche Gegenstände. Und ob ein Gebiet mit 80.000 Einwohnern komplett gefährlich ist, bleibt zu bezweifeln. Letztendlich muss für alle klar sein, dass Gewalt niemals ein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein kann. Wer glaubt, sie anwenden zu können, diskreditiert sich vollends für die weitere Diskussion.

Kontrolle der Exekutive Polizei und Innenpolitiker neigen leicht dazu, freiheitseinschränkende Maßnahmen zu ergreifen, seiUmgang mit einer komplizierSaubere Waffen en es nun Gefahrengebiete oder ten Problemlage sieht so der neue Linksextremismus aus? Vorratsdatenspeicherung. Deshalb In der Frankfurter Rundschau warf die Kieler FH-Professorin Melanie Groß dem Hamburger Se- ist es wichtig, dass sie nur die Kompetenz zur Ausführung, nat vor, „sozialen Problemen mit reiner Ordnungspolitik [zu nicht aber zur Einführung solcher Maßnahmen haben. Ein begegnen]“. Dieser feuchte Traum vieler CSU-Innenpolitiker Polizeigesetz, dass dies anders regelt, kann keinen Bestand ist aber nicht nur prinzipiell ineffektiv, sondern als Erklärung haben. Prinzipiell hat sich der Richter-Vorbehalt für kleinefür die Hamburger Eskalationen zu kurz gegriffen. Auffällig re, schnellere Maßnahmen bewährt, über größere, ob nun ist nämlich, dass der Senat bei den meisten Problemen, die zeitlich, räumlich oder bezüglich der Intensität, sollten Parihm zum Teil sehr radikal vorgeworfen werden, kaum Schuld lamente entscheiden, aber nicht Einsatzleiter. und wenig Handlungsspielraum hat. Es liegt nicht in der Macht Hamburgs neue Asylregeln für die EU aufzustellen, Der größte Feind der Freiheit ist die Sicherheit? Nein, ihr wobei der Hungerstreik der Lampedusa-Flüchtlinge neben- größter Feind sind die, die den Staat als gemeinsamen bei auch das rechtsstaatliche Gebot der Gleichheit vor dem Wächter beider gewaltsam angreifen. Ihnen muss mit SiGesetz angreift. Weder wollte Olaf Scholz, dass der neue cherheit in Freiheit kraftvoll entgegen getreten werden. cbe Besitzer die ESSO-Häuser verrotten lässt, noch hat der Se-

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Wollweißes Schlafsofa von hoher Qualiät

Beim ersten Mal tats noch weh... Kiel nach dem Bürgerentscheid

Ob Auswirkung des Klimawandels oder ein Gegenbeweis zu lokalen Stereotypen: Das sonst so unterkühlte norddeutsche Temperament hat sich zu einem erhitzten Gemüt gewandelt und brennt plötzlich für Konflikte. Seit kurzem streitet ganz Kiel über Themen wie eine StadtRegionalBahn, einen Kiel-Kanal, ein Schwimmbad, das „Hindenburgufer“ oder gar die Errichtung eines Möbelmarktzentrums. Letzteres hat sich nun endlich für einen Bürgerentscheid qualifiziert. Was hat uns dieser erste Bürgerentscheid also geboten und was lässt sich daraus lernen? Es war ein knappes Rennen, doch am Ende hatte sich eine Mehrheit von 52,5 Prozent mit „Nein“ zum Baustopp vom Möbel Kraft entschieden und somit der Kieler Ratsversammlung ihre Repräsentationsbefugnis bestätigt. Dass diese Abstimmung ein breites Spektrum an Interpretationsspielraum eröffnete, zeigte sich auch in der Nachbetrachtung des Ergebnisses durch die jeweiligen Lager. Während die SPD-Ratsfraktion die Abstimmung als „überzeugendes Ja zur Ansiedlung“ bewertete, glaubten die Gegner, dass der Entscheid „fast 50 Prozent der Kieler Wähler zu einem JA“ für den Baustopp bewegt hatte. Diese Reaktionen sind sinnbildlich für den bereits in den Wochen zuvor ausgebrochenen Kampf um die Meinungshoheit in der Stadt, welcher sich in den letzten Tagen vor der Abstimmung zuspitzte.

Akustische Möblierung des öffentlichen Raumes

Stein des Anstoßes waren die Bemühungen des früheren Kieler Oberbürgermeisters Torsten Albig, welcher es im Jahre 2011 geschafft hatte, den Möbelkonzern „Möbel Kraft“ für eine Ansiedlung in Kiel anzuwerben. Dem Plan für eine Filialniederlassung am Gebiet des „Prüner Schlag“ schloss sich im September die Mehrheit der Ratsversammlung, geführt von SPD und Grünen, an. So schritten die Verhandlungen voran und mündeten 2012 in einem Vertragsabschluss zwischen dem „Krieger Konzern“ und der Stadt Kiel. In den darauf folgenden Monaten war von großer Proteststimmung jedoch noch nichts zu erkennen. SPD und Grüne erreichten sogar zur Kommunalwahl 2013 jeweils Stimmenzuwächse, während Die Linke, trotz Ablehnung gegenüber Möbel Kraft, mehr als zwei Drittel der Stimmen verlor. Auf den ersten Blick wird somit noch nicht unmittelbar ersichtlich, dass ein Großteil der Bevölkerung mit der bisherigen Ansiedlungspolitik unzufrieden war.

Der Wutbürger gegen „die da oben“! Wirklich zum Ausdruck kam eine Gegenstimmung erst, als die Bürgerinitiative „Bürgerentscheid Kiel“ mit über 10.000 gesammelten Unterschriften die Abstimmung über den Baustopp von Möbel Kraft forcierte und somit zu einer breiten öffentlichen Debatte aufrief. Dies ist einerseits erfreulich, da eine intensive und sachliche Debatte einer demokratischen Öffentlichkeit dienlich ist, zeigt aber andererseits ein Problem von Bürgerentscheiden auf: Unsachlichkeit kann einer Bürgerinitiative, die sich gegen eine Sache positioniert, eine große Macht im Kampf um die Meinungen ermöglichen. Denn plötzlich bot sich bei der Öffentlichkeitsarbeit der „Möbel Kraft“-Gegner leichtes Spiel, um die rot-grün-blaue Ansiedlungspolitik anzugreifen, indem Befürworter diskreditiert und Ängste geschürt wurden. Statt die Sachargumente, welche der Entscheidung der Ratsversammlung zugrunde lagen, begründet zu widerlegen, wurden fadenscheinige Behauptungen vorgetragen, die die Glaubwürdigkeit der Entscheidungsträger angreifen sollte. Plötzlich sollte ein Grüner Bürgermeister gekauft, die ehrenamtlichen Ratsmitglieder erpresste Marionetten und ein Möbelkonzern der Strippenzieher einer Stadtverwaltung sein. Und dies alles auf Kosten einer Schrebergartensiedlung, welche umgehend zur „Grünen Lunge“ hochstilisiert wurde. Als die Plattitüden aus der unpolitischen Mottenkiste zu versiegen schienen, griffen die Möbel Kraft Gegner sogar zur „David-gegen-Goliath“ Taktik, um sich als Opfer eines aussichtslosen Kampfes von besorgten Bürgern gegen das politische Establishment darzustellen. Denn obwohl es legitim ist, dass sich die Stadtverwaltung als vorrangige Befürworterin, welche sich durch Beschluss des Selbstverwaltungsorganes der Ratsversammlung zur Ansiedlung entschlossen hatte, zu dem Bürgerentscheid positionierte, wurde dies von den Gegner als undemokratisches Manöver gegeißelt. Direkte Demokratie ist ein wertvolles Korrektiv gegenüber der repräsentativen Demokratie, wenn diese in einer Beschlussfassung nicht den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung widerspiegelt. Ihre Nutzung wird jedoch zur Groteske, wenn die Entscheidung der Kieler Ratsversammlung, bereits durch 8 Prozent der Stimmberechtigten ausgehebelt werden könnte. Zwar hat die repräsentative Demokratie an Beteiligung verloren, jedoch bleibt sie vorerst die beste Methode, um für einen Interessenausgleich in der Bevölkerung zu sorgen und gleichzeitig die Politik einer Stadt effektiv zu gestalten sowie ihr eine Zukunft zu ermöglichen. Bürgerinitiativen hingegen können die kommunale Demokratie bereichern und unterrepräsentierte Gruppen politisieren. Jedoch müssen jene über ihre Oppositionshaltung hinaus auch Zukunftspläne unterbreiten und sich nicht bloß durch das Ziehen der demokratischen „Notbremse“ auszeichnen. jw


Liatorp

Marathon mit Sprinteinlagen Rückblick auf einen besonderen Wahlkampf Am 14. Dezember 2013 begann mit der Nominierung von Ulf Kämpfer der Wahlkampf zur Oberbürgermeisterwahl. Ein Wahlkampf, den niemand erwartet oder gewollt hatte, der viel Neues brachte und unglaublich endete. Landtagswahl, Oberbürgermeisterinwahl, Kommunalwahl, Bundestagswahl: Wer sich für die Ideen und Kandidaten der Sozialdemokratie einsetzen wollte, hatte in den letzten zwei Jahren in Kiel einiges zu tun. Immer mittendrin statt nur dabei: die Kieler Jusos. Jede Schulverteilung mit den eigens entworfenen und selbst verfassten Jungwählerflyern morgens um sieben, jede Schicht am Zentralen Infostand (ZIS) in der Holstenstraße, jede Plakatierung Samstagnacht wurde engagiert durchgeführt, machte Spaß, kostete aber auch Kraft. Kraft, die es sich lohnte einzusetzen, für die Küstenkoalition, für Susanne Gaschke, für unsere Ratsmitglieder und Ortsbeiräte, für Hans-Peter Bartels; Kraft, die durch jeden Wahlsieg wieder aufgetankt wurde. Nun stand also eine Oberbürgermeisterwahl an und, nachdem Ulf Kämpfer sich bei uns vorgestellt hatte, fest, dass wir für ihn Wahlkampf machen würden. Der fünfte (!) in zwei Jahren, möglicherweise bei Schnee und Eis, dazu nicht alleine, sondern mit Grünen und SSW und ergänzt durch den im Planungsverfahren noch viel zu spät möglichen Bürgerentscheid zu Möbel Kraft. „Mit Optimismus, Beharrlichkeit und klarem Kompass“, so möchte Ulf Kämpfer in Zukunft Oberbürgermeister sein und so gingen wir in den Wahlkampf, der Dank Hohlkammerplakaten nicht mit mit Kleistern in minus 10 Grad „warmen“ Hallen begann. So nutzten wir die Zeit, wenn auch im Warmen, um unseren jungen Wahlkampf zu planen, um die Texte für den nicht nur informativen, sondern auch schon zum Exportschlager gewordenen Jungwählerflyer zu schreiben und um auch gegen Widerstände die Präsenz in der Innenstadt mit dem ZIS zu organisieren.

Ende Februar begann dann die „heiße Phase“. Zumindest für uns, für den Kandidaten begann sie früher und war wohl eher kochend. Ein Marathon, wochenlang von morgens bis abends in der Stadt unterwegs, über 4000 Haustürgespräche in allen Stadtteilen, zahlreiche Podiumsdiskussionen und Vorstellungsrunden, der Besuch „kommunalpolitischer Hotspots“ wie Timm-Kröger-Schule oder Innenhofbebauung am Blücher, ungezählte Infostände der SPD-Ortsvereine. Und zwischendurch die Sprinteinlagen: 24 Stunden lang Kiels unterschiedlichste Seiten erleben, mit uns in nicht einmal zwei Stunden 800 Studierende vor der Mensa auf die Wahl aufmerksam machen, der grandiose Auftritt bei KN-Talk. Der Schlussspurt, die 72-Stunden-Aktionen, von den Grünen 3-Tage-wach genannt, unter anderem mit Brötchenverteilung zum Schichtwechsel und tausenden roten Rosen in der ganzen Stadt, mobilisierte noch einmal zur Wahl. So überwuerten wir dann am Vor-Wahl-Abend in unser lockeren Kneipenverteilung mit Abschluss im Club 68 die Ziellinie. Und keine 24 Stunden später durften wir dann feiern, erst Wahlbezirk für Wahlbezirk in den Fraktionsräumen im Rathaus, dann auf der Wahlparty im Blauen Engel. Die Wählerinnen und Wähler haben ihm am 23. März die Möglichkeit gegeben, seine Ziele umzusetzen, indem er überragende 63,1 % der Stimmen im ersten Wahlgang erhalten hat. Absolut verdient, aber wohl auch für den größten Optimisten unerwartet. Er bekam damit das beste Ergebnis aller direkt gewählten Kieler Oberbürgermeister. Zur allgemeinen Freude trug auch die gegenüber letzten kommunalen Wahlen deutlich gestiege Wahlbeteiligung über 45 % bei. Der große Marathon der Wahlen neigt sich nun auch dem Ende zu, die sechste Wahl steht an. Wir stehen wieder überall, sind ansprechbar, kämpfen für die europäische Idee und Martin Schulz als Kommissionspräsidenten. Vorwärts und nicht vergessen: Am 25. Mai wählen gehen! cbe

Durchhaltevermögen beim Politikmarathon - Ulf Kämpfer verteidigte den Titel für die Kieler SPD

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Jusos Kiel im VPJ · Kleiner Kuhberg 28-30 · 24103 Kiel · Jahrgang 43/1 · Der Bezugspreis ist im Mitgliederbeitrag enthalten

Möbelcalypse Now Nachdem die Bürgerinnen und Bürger Kiels zum fatalen Entschluss gekommen sind, einen Möbelmarkt in ihren Grüngürtel zu setzen, hat die Rotkielchen Redaktion sich die Prognosen von angesehenen Experten über die Auswirkungen des Bürgerentscheids eingeholt. Eine Expertin für Ökofundamentalismus im religiösen Kontext wies darauf hin, dass die Bodenversiegelung auf dem Möbelmarkt Gelände anfällig für 50-tägigen Regen wäre. Die Expertin hielt es deswegen für angebracht, dass der Möbelmarkt ein Paar von jeder bedrohten Tierart einsammelt, um damit eine Arche zu bestücken. Diese Maßnahme soll einen Ausweg aus der nahenden biblischen Katastrophe bieten, die durch die Bausünde ausgelöst wurde. Der ebenfalls anwesende Experte für Hydrophobie warnte vor einer unzureichenden Sicherung des Möbelkraftwerkes gegen Tsunamis. Kiel sei, genauso wie Fukushima, nicht gegen die katastrophalen Folgen eines Tsunamis gewappnet. Der Anblick von herum schwimmenden Billigmöbeln könnte den Ausblick vom preisgekrönten Wiker Balkon nachhaltig verschandeln. Auch Biologismus-Antropologen schlagen Alarm. Das einzigartige Naturreservoir in unmittelbarer Nähe zur A215 bot dem Dickbäuchigen Laubenpieper ein perfektes Rückzugsbiotop, um sich dem Lärm der Moderne zu entziehen. Nun bleibt ihm und seinen gefräßigen Parzellengenossen nur noch die Flucht in eine der 2.450 anderen Gartenkolonien oder eine Anstellung als MöbelmarktDetektiv, damit auch hier für Zucht und Ordnung gesorgt wird. Die Verkehrsexperten des ADAC belegten anhand ihrer kürzlich erschienenen Statistik zum „Verkehrsknotenpunkt des Jahres“, dass die Möbelkraftansiedlung ein Verkehrschaos solchen Ausmaßes auslösen wird, dass der ADAC erwägt seine Flotte von Rettungshubschraubern in Lufttaxis umzuwandeln. Die richtige Farbe hätten sie ja schon. Zu guter Letzt warnten die Kapitalismuskritiker des SPD-Ortsvereins Kiebitzreihe vor einer Vereinnahmung der städtischen Verwaltung durch den Stadtmonopolkapitalisten (StaMoKap) des Krieger Konzerns. Bis Redaktionsschluss konnte nicht geklärt werden, welchen Einfluss die Expansionspläne des dort ansässigen Edeka Aktiv Markt „Leander“ auf die Entscheidungsfindung des Ortvereins Kiebitzreihe hatte.


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