Gewinnerbeitrag des Essaywettbewerbes der Bayreuther Dialoge 2011

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Wissen. Gewissen. Nichtwissen. Essaywettbewerb



Essay von Thomas Clausen

„Alle wissen alles, aber keiner weiß Bescheid!“, das war das Motto des EssayWettbewerbs der Bayreuther Dialoge 2011. Wie schon in den vergangenen Jahren suchten wir die besten und kreativsten Gedanken zum Thema, als Inspiration für die Bayreuther Dialoge. Wir freuen uns über die vielen Einsendungen, die es dieses Jahr gegeben hat. Wir haben beim Lesen gespürt, dass die Studenten sich gerne mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Es waren viele spannende Ansätze dabei. Das sehr knappe Rennen hat schließlich Thomas Clausen gewonnen. Er ist 21 und studiert zurzeit im zweiten Semester Geschichte am Trinity College in Cambridge.

„Den Experten auf allen Gebieten kann es nicht mehr geben.“ Diesem harmlos erscheinenden, eine allgemeine Zustimmung geradezu voraussetzenden Satz, liegen gewagte Annahmen zugrunde. Die Existenz eines Fachmanns aller Fachrichtungen scheint ausgeschlossen, das Idealbild des Universalgelehrten ist nicht mal mehr ein Ideal, sondern ein Ding der Unmöglichkeit. Es kann ihn nicht geben, jedwedes Streben nach universeller Vervollkommnung muss vergebens sein. Um dieser Begrenzung zu entfliehen, folgt man Feuerbachs Projektionsthese, schuf sich der Mensch einen allwissenden Gott, weil er die Begrenztheit des eigenen Wissens


erkannte. Das Streben nach dem Göttlichen ist die klassische Antwort.

Doch je mehr Wissen angehäuft, je mehr Einblicke gewonnen, je besser die eigene Umwelt verstanden wird, desto stärker wird dem Menschen die eigene Unwissenheit gewahr. Selbst Faust hatte „Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie!“ mit „heißem Bemühen“ und letztendlich dann doch eben vergeblich studiert. Er „war so klug als wie zuvor“, ein Pakt mit dem Teufel der einzige Ausweg. Faust, wie ihn Goethe sah, ist der moderne Mensch. Inmitten eines kaum vorstellbaren Wissens findet er sich doch nicht zurecht, das Wesentliche erschließt sich ihm nicht. Während Goethe an seinem Lebenswerk dichtet, brechen um ihn herum die Wissenschaften zu neuen Ufern auf. Die vier traditionellen wissenschaftlichen Fakultäten werden auf

vielfältigste Weise ergänzt. Leopold von Ranke fordert eine Geschichtswissenschaft, die ergründet „wie es eigentlich ist gewesen“, Alexander von Humboldt widmet sich mit ähnlicher Empirie der Geographie und sein Bruder Wilhelm legt den Grundstein der modernen Sprachwissenschaft. Kurzum: Die Wissenschaft breitet sich auf jedwedes Gebiet menschlichen Daseins aus und verlässt ihre künstlichen Enklaven. Doch was einst als progressives Projekt, als Überschreiten artifizieller Grenzen gefeiert wurde, erscheint mehr und mehr als Sackgasse. Es scheint, als wären die vier ursprünglichen Fakultäten zumindest die klar erkennbaren Scherben eines erahnbaren Ganzen gewesen. Doch aus den Scherben


wurden Splitter und aus den Splittern Staub. Ein Beispiel: War die Geschichtswissenschaft noch ein revolutionärer Splitter, der vielleicht die Speerspitze einer neuen Form der Erkenntnisgewinnung hätte sein können, so findet sich der Geschichtswissenschaftler des 21. Jahrhunderts in einem Sandsturm der Sub und Sub-Sub-Disziplinen wieder. Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Lokalund Weltgeschichte, Gender- und Filmgeschichte. Jede Epoche, jedes Thema, jedes Detail ist eine eigene Fachrichtung und doch eigentlich nur ein Sandkorn, eifersüchtig bewacht von Brotgelehrten. Das „große Ganze“ mag man aus diesen Sandkörnern eigentlich nicht zusammenbauen, man ist glücklich, wenn es zu einem „Paper“ reicht und in der Zwischenzeit beneidet man die

„Universalgelehrten“ früherer Jahrhunderte, die mit ihren großen Erkenntnisscherben jonglieren konnten. Natürlich ist dies keine pure Nostalgie. Zwar hat man eine Ahnung vom Verlust, den man erlitten hat, als man vom Baum der Erkenntnis aß, doch zurück kann man nicht und man will es auch nicht. Unkenntnis der eigenen Unwissenheit mag zwar paradiesisch sein, doch die Türen dazu sind fest verschlossen. Doch die Schlange hat uns gleich doppelt betrogen: Die einzige Erkenntnis ist die unseres Nichtwissens. Jedes Mal, wenn wir erneut nach dem Baum der Erkenntnis tasten, weichen die Äste zurück, die Ozeane des Wissens entfliehen

unseren durstigen Lippen, sobald wir davon trinken wollen. Aus Faust scheint Tantalus geworden. Wir können also zurückblicken auf die Zeit, als man noch Experte auf allen Gebieten sein konnte, doch dabei erkennen wir, dass diese Möglichkeit letztendlich eine Illusion war, die ihre Wurzel in der eigenen Ignoranz hatte. Die Farbenlehre des Universalgelehrten Goethe – wissenschaftlich nicht haltbar. Den Experten auf allen Gebieten kann es nicht mehr geben, weil wir wissen, dass es ihn nie geben konnte. Bleibt da von der Wissenschaft also nichts anderes übrig, als ein Zeitvertreib für Brotgelehrte auf der Suche nach „Gold, Zeitungslob,


Fürstengunst“, wie Friedrich Schiller in seiner bahnbrechenden Antrittsrede als Professor für Geschichte in Jena postulierte? Oder gibt es doch die Möglichkeit „alle seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen“ zu ordnen? Wenn, dann muss der Prozess des Ordnens im Mittelpunkt stehen, nicht die vergebliche Suche nach vollkommener Ordnung. Es war die wissenschaftliche Methode, die Europa aus dem dunklen Zeitalter und in die Moderne geführt hat. Sir Francis Bacons Novum Organum, veröffentlicht 1620, kann wohl als eine der hellsten Leuchtflammen auf diesem Weg aus der Finsternis gelten. Das Zitat aus dem Buch Daniels (BibelZitat), welches auf den ersten Titeln von

Bacon’s Werk zu lesen ist, kann auch als eine Antwort auf die Frage gesehen werden, die diesem Essay zugrunde liegt: Multi Pertransibunt Et Augebitur Scientia. Im biblischen Kontext ist das Vergrößern des Wissens verbunden mit apokalyptischer Vorsehung. Seine Sprengkraft entfaltet das Titelbild nur in Verbindung mit den Säulen des Herkules, auf deren Sockel der lateinische Spruch steht. Ursprünglich zeigten sie die alte Warnung „nec plus ultra“ – bis hier und nicht weiter. Plus ultra war die Antwort der Renaissance, die Karl V. auf den Sockeln verewigen lies. Bacons Verweis auf das biblische Motto war also weniger frommes Eingeständnis der eigenen Grenzen die höchstens in der Apokalypse aufgehoben werden könnten, sondern ein Aufruf, auch in den Wissenschaften

weiter zu gehen. Doch führt dieser Weg nicht geradewegs in das Faustsche Dilemma? War der Pakt mit dem Teufel nicht die einzige Methode, die noch übrig blieb? Nicht unbedingt, argumentiert Nick Bostrom, der Direktor des „Future of Humanity“ Instituts der Unversität von Oxford. In einer seiner frühen, unbeachteten Veröffentlichungen namens „Predictions from Philosophy“ geht der bekennende Utilitarist auf das exponentielle Wachstum von Wissen ein und sieht eine „starring role“ für eine neue Gattung von Wissenschaftlern voraus – den „allgemeinen Wissenschaftler“ der Kenntnis mehrerer Wissenschaftsbereiche hat und die schwierigsten, weil interdisziplinären, Probleme angeht. In seinem bemerkenswerten Beitrag fordert Bostrom, dass es neben Spezialisten


auch Universalgelehrte geben muss. Dabei soll es sich allerdings nicht um Schwärmer handeln, die von allem ein bisschen und dann doch wieder gar nichts können. Vielmehr geht es um existentielle Aufgaben, von denen Medienvertreter und Populärwissenschaftler schlichtweg überfordert sind. Statt intellektueller Ziellosigkeit im Sinne eines „Augenblick verweile doch“ benötigt die neue Disziplin für Universalgelehrte ein klar umrissenes Aufgabengebiet. Bostrom spricht dabei von der „Philosophie der technischen Vorhersage.“ Der Philosoph, der Archetyp des Universalgelehrten, müsse sich naturwissenschaftliches Wissen zumindest in den Grundzügen aneignen um sich mit dem Verlauf der menschlichen Entwicklung auseinanderzusetzen. Bostrom ist dabei

vor allem mit einer Frage beschäftigt – dem existenziellen Risiko. In seinem Paper verweist er auf verschiedene Möglichkeiten, die zur Auslöschung der Menschheit führen könnten. Für den Utilitaristen Bostrom ein Albtraum, diesen zu verhindern – ein Lebensziel. Man mag diesen Ideen kritisch gegenüberstehen, doch es lohnt, den unterliegenden Gedanken ernst zu nehmen. Auch wenn kein Forscher herausfinden kann, was die Welt im Innersten zusammenhält, so haben doch genügend Wissenschaftler ergründet, wie man sie gänzlich aus den Angeln hebt. Faust in seinem Studierzimmer mag keinen geistigen Fortschritt mehr erzielen können, doch aus dem Zauberspiegel in der Hexen-

küche dürfte mittlerweile ein iPad geworden sein. „Das schönste Bild von einem Weibe!“ – mit WLAN kein Problem. Und wer kann es nicht, mit Blick auf E-Mail-Sucht und Facebook-Fanatismus, Faust nachempfinden wenn er ausruft: „Laß mich nur schnell noch in den Spiegel schauen!“ Mephistos Versuch, Faust mit „Hokuspokus“ zu verführen schlägt letztendlich fehl. Einen Nerv getroffen hat er dennoch. Der Mensch des 21. Jahrhunderts mag selbst den Goethe’schen Mephisto an Zauberkraft übertreffen – an Fausts Willenskraft dürfte er im Allgemeinen nicht herankommen. Die Diskrepanz zwischen geistiger Reife und technischen Fähigkeiten ist enorm gewachsen. Der amerikanische Soziologe William Fielding Ogburn hat sich mit diesem


Phänomen bereits 1922 auseinandergesetzt und dabei treffenderweise von einem „Cultural Lag“ gesprochen. Nick Bostrom liegt also durchaus richtig, wenn er auf die Gefahren der technischen Entwicklung hinweist und dabei die Notwendigkeit benennt, „Experten auf allen Gebieten“ hervorzubringen. Goethe sah den modernen Wissenschaftler als Reiter, der nicht so recht weiß, wohin er sein Pferd lenken soll. Tatsächlich verhält es sich aber gerade andersherum: Das Pferd stürmt voraus und man muss aufpassen, dass es dabei nicht in einen Abgrund galoppiert. Den Experten auf allen Gebieten kann es nicht mehr geben, so das ursprüngliche Postulat. Vielleicht. Aber man hat keine Wahl, sich zumindest an diesem Vorbild zu orientieren, möchte man

von der Zukunft nicht überrollt werden. Wissenschaft war und ist immer auch ein Adaptionsversuch, die Verbindung vom Faustkeil zu Faust ist der Drang, die Natur zu verstehen und sich untertan zu machen. Dies beschwört natürlich die Gefahr herauf, dabei vom eigenen Werkzeug wiederum beherrscht zu werden, den selbstgeschaffenen Zauberspiegel gleichsam nicht mehr aus der Hand legen zu können. „Ach! und hundert Flüsse, Stürzen auf mich ein“ heißt es dazu passenderweise in Goethes Zauberlehrling. Jeder technische Fortschritt ist stets auch ein Versuch, es „dem alten Hexenmeister“ gleich zu tun und stets ging mit ihm einher die Panik des Lehrlings im Angesicht der unvorhersehbaren Resultate. Beispiel Buchdruck: Kaum eine technische Errungenschaft hatte

derart gravierende Auswirkungen auf den Verlauf der Neuzeit, ja, sie läutete die Neuzeit sogar mit ein. Es war diese Technik, die aus dem Protest einiger eigensinniger Mönche eine Gewalt formte, die jeden Zauberlehrling erschüttern musste. Während Zentraleuropa in einen der blutigsten Konflikte der Geschichte stürzte, brannten im England unter Mary Queen of Scots bald die Ketzer. Ohne Buchdruck wäre eine derartige Entwicklung kaum denkbar gewesen. Doch waren es wirklich einzelne technische Errungenschaften, die die Dämme der Epochen zum Brechen brachten und die Flut des Fortschritts heraufbeschworen? Kaum ein Jahrzehnt nach Goethes Tod würde ein Deutscher in England den Idealismus endgültig auf den Überbau verbannen.


Vorher jedoch würde der Idealismus in seiner reinsten Form sich noch einmal den Weg gebahnt haben und den Fortschritt mit dem Geist begründen. Deutschland um 1800: Der Geniekult erreicht seinen Höhepunkt, die Französische Revolution scheint endgültig zu beweisen, dass sich der Mensch nicht nur intellektuell aus seiner Unmündigkeit befreien kann. Zwar werfen die napoleonischen Kriege ihren Schatten auf Europa, doch hatte nicht Kant selbst postuliert dass Konflikt Fortschritt gebiert? „Alle Kriege sind demnach so viel Versuche“, schreibt er 1784, „neue Verhältnisse der Staaten zu Stande zu bringen und durch Zerstörung, wenigstens Zerstückelung aller neue Körper zu bilden.“ Und würde nicht selbst diese Zerstückelung unnötig werden,

sobald die Vernunft zum Völkerbund führt? Auf dem Königsberger Philosophen aufbauend, formuliert Schiller einen Entwurf für eine neue Universalgeschichte, die die Aspekte herausarbeitet, die fürwahr für Fortschritt sorgen. Für den frischgebackenen Jenaer Professor sind das vor allem – Ideen. Seine Schüler verstehen das manchmal nicht ganz, eine ganze Reihe selbsterklärter Universalhistoriker missbraucht Schillers Idealismus als Baustein für einen bildungsbürgerlichen Reaktionismus. Heinrich Ruckgaber, zum Beispiel, in seinem obskuren „Handbuch der Universalgeschichte“ fragt 1853: „Was ist das Prinzip von dem Fortschreiten des Menschengeschlechts?“. Das Materielle sei „unwürdig“, das Geistige „zu eng gefasst“ und das „Sittliche“ sei „histo-

risch nicht nachweisbar.“ In einem romantischen Rückgriff aufs Mittelalter rückt er die Religion in den Vordergrund. Den technischen Fortschritt und die damit verbundenen Umwälzungen konnte er damit natürlich nicht beschreiben. Zu stark war er noch verankert in rechtshegelianischem Gedankengut, zu wenig war er „Experte auf allen Gebieten.“ Wenig überraschend ist, dass er, wenige Jahre vor dem Sepoy-Aufstand, über „die Inder“ schreibt: „Ihre liebsten Beschäftigungen sind gymnastische Übungen, Musik und Tanz. Der Krieg ist ihnen verhasst.“ Es ist Karl Marx, der, nachdem er „durch den Feuerbach geschwommen“ ist, sich dem „unwürdigen Materialismus“ zuwendet. Er ist es, der das Prinzip der Geschichte, dass Schillers selbsterklärte Nachfolger


vergeblich gesucht haben, in den Produktionsverhältnissen findet. Er stellt Hegel „vom Kopf auf die Füße“ und ordnet das Ideelle dem Materialismus unter. Freilich, auch die Vulgärmarxisten irrten sich, wenn sie darin einen historischen Determinismus vermuten, es sind immer noch die Menschen, die die Geschichte machen. Doch – „das Sein bestimmt das Bewusstsein“, die materiellen Umstände bestimmen die Basis, wenngleich der politische und kulturelle Überbau erstaunlich flexibel ist. Eine einzelne technische Innovation mag vielleicht eine Sturzflut auslösen, doch es sind die Ufer der Produktionsverhältnisse die den Lauf der Geschichte formen. Idealisten werden auf eine Nussschale verwiesen, die sich im Laufe der Zeit allerdings als erstaunlich lenkbar

erwiesen hat. War es nicht der bolschewistische Putsch selbst, der bewies, dass revolutionäre Umwälzungen sehr wohl vom Geist, und nicht von den materiellen Umständen herrühren können? Marx zumindest, war nicht nur „kein Marxist“, eine Revolution im rückständigen Russland hätte er niemals vorausgesagt. Dennoch ist er, nicht zuletzt für die vorliegende Essayfrage, entscheidend: er formt das Bindeglied zwischen Faust und Bostrom. Bostrom fordert eine „Philosophy of Prediction“ und wer könnte ihm dabei mehr unter die Arme greifen als der Trierer Meister? In gewissem Sinne treibt Bostrom die Marxsche Dialektik lediglich auf die analytische Spitze. Bostrom erkennt die Zugkraft des Materiellen in der Geschichte, von Klassenkampf oder gar einem utopi-

schen Kommunismus will er dagegen nichts wissen. Marx, von seinem kontinentalphilosophischen Ballast befreit, offenbart eine Herausforderung ganz anderer Art. Kann die „Negation der Negation“, wie Engels es mit Blick auf Hegel formuliert hat, nicht am Ende zur Negation der ganzen menschlichen Rasse, ja allen Lebens, führen? Oder kann die Philosophie erst den Überbau und dann die materielle Basis kontrollieren und den Verlauf der Geschichte, ganz utilitaristisch, auf das allgemein Beste ausrichten? Vielleicht. Fürs erste soll hier allerdings die Feststellung ausreichen, dass der Kampf Mensch gegen Materialismus noch nicht verloren ist und dass selbst dem Zauberlehrling noch Chancen bleiben, nicht in der technischen Flut unterzugehen. Es ist


dennoch unrealistisch, von jedem potentiellen „Universalgelehrten 2.0“ zu erwarten, dass er die Menschheit als Ganzes rettet. Viel entscheidender ist die grundlegende Einsicht, dass man nicht jedes einzelne Teilchen der modernen Wissens und Technikströme bestimmen kann. Es genügt, Dämme zu bauen, die eine Lenkungsfunktion übernehmen, Überflutungen verhindern und den Weg in die Zukunft weisen. Diese muss sich nicht nur auf die Rettung aller Menschen auf einmal fokussieren, aber ein Ziel sollten sie schon haben. Einen Damm in die postmoderne Wüste zu setzen bringt nicht viel, kleinere Oasen sorgsam zu bewässern dagegen schon viel mehr. Die Grundüberlegung, mit der man sich an den Wissenschwall der Zukunft wagen sollte, lautet

daher: Man muss nicht alles wissen, aber man sollte zumindest erahnen, wofür man etwas wissen möchte. Nein, dies ist keine Forderung nach der Unterordnung der Wissenschaft unter rein materielle Erwägungen. Im Gegenteil: Bereits Schillers Antrittsrede verweist auf die zentrale Bedeutung, in den Wissensfluten nur mit Kompass zu fahren. Ansonsten mag man vielleicht an den Säulen des Herkules vorübersegeln, doch Scylla und Charybdis warten schon. Der Kompass freilich steht für die Humanität an der sich jede Wissenschaft messen muss. Solange die Nadel auf Fortschritt zeigt und der Kapitän sein Schiff nicht überfordert, wird auch der moderne Mensch die Stürme der Zukunft überleben. Freilich, es gibt genug Sirenen, die den

Forscher gleichsam wie der Zauberspiegel den Faust ablenken oder gar ewig binden. Sie sind Teil des Wissensmeeres und man mag ihnen manchmal lauschen, solange die Mannschaft, sprich die liberale Zivilgesellschaft, ein Auge auf den Forscher hält. Verfällt sie allerdings gemeinsam mit dem Kapitän Sirenenklängen oder wirft sie gar den Kompass über Bord – das Schiff wird sicherlich untergehen. Das 21. Jahrhundert hat uns weit jenseits der Säulen des Herkules geführt. Ein Gefühl des Verlorenseins ist kaum vermeidbar, wenn man um sich herum nur das weite Wissensmeer erblickt. Den Experten auf allen Gebieten, wie man ihn sich vor der industriellen Revolution ausmalte, kann


es tatsächlich nicht mehr geben. Doch der „Renaissance Man“ ist noch nicht gestorben – denn zu seinen Eigenschaften gehörte eben nicht nur universelles Expertentum, sondern auch ein humanistischer Kompass. Beides – der neuzeitliche Humanismus und die moderne Wissenschaft – mussten sich zwangsweise gemeinsam herausbilden. Das eifersüchtige Bewachen der Sandburg der eigenen Gelehrsamkeit führt lediglich dazu, dass diese beim nächsten Sturm, bei der nächsten Revolution, ins Meer der Bedeutungslosigkeit gespült wird. „Geschichte“, schrieb Johann Gustav Droysen 1882, ist „das Wissen der Menschheit um sich selbst.“ Friedrich Schlegel hatte bereits 1847 postuliert: „Die Alterthumskunde ist nicht mehr das Werk eines Einzelnen.“ Die moderne

Wissenschaft ist ein kollektives und es ist ein kritisches Projekt. Kritisch, ganz im traditionellen Sinne verstanden als Aufgabe zu unterscheiden und Prioritäten zu setzen. Nur wenn das allgemeine Wohlbefinden, das „greater good“ berücksichtigt wird, endet die gemeinsame Seefahrt nicht in den Strudeln einer postmodernen Charybdis oder den Klauen einer amoralischen Scylla.



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