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Judith Hochstrasser Co-Redaktionsleiterin von Horizonte
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Judith Hochstrasser Co-Redaktionsleiterin von Horizonte
Für dieses Heft suchten wir Forschende, die von ihrem Untersuchungsgegenstand persönlich betroffen sind. Dazu gehört die Erziehungswissenschaftlerin mit algerischer Familiengeschichte, die zu antimuslimischem Rassismus hierzulande forscht und diesen am eigenen Leib erlebt hat. Sie und vier weitere Forschende erzählen ab Seite 16 offen, wie sie mit solchen Überschneidungen umgehen. Wir hatten ursprünglich noch andere Personen angefragt, die in ihrem Leben schwierige persönliche Erfahrungen gemacht haben und jetzt dazu forschen. Dabei ernteten wir auch ablehnende Antworten mit Vorwürfen. Sie lauteten zusammengefasst etwa so: Die Redaktion ginge implizit davon aus, dass im globalen Süden weniger objektiv geforscht würde. Oder sie stigmatisiere Menschen, die schon von der Gesellschaft diskriminiert würden.
Die Person, die aus dem globalen Süden kommt und dort auch forscht, war unter unseren Anfragen eine Ausnahme. Daher war ihre Vermutung, dass wir speziell Forschung aus dieser Region der Voreingenommenheit verdächtigen, rasch widerlegt. Dass dagegen jemand, der diskriminierte Gruppen untersucht und selbst dieser Gruppe angehört, besonders intensiv über professionelle Distanz und unbewusste Voreingenommenheit nachdenkt, davon gingen wir tatsächlich aus – jedoch als Pluspunkt. Die ablehnenden Reaktionen zeigen jedenfalls: Es gibt so manche Fallstricke, will man die persönlichen Erfahrungen der Forschenden in Verbindung mit dem Anspruch an Objektivität verstehen. Das fängt schon beim Begriff der Betroffenheit an, wie etwa der Historiker Tobias Urech auf Seite 18 erklärt. Und das geht weiter mit der vielbeschworenen Objektivität, von der es eben mehr als eine gibt, wie Philosoph Jan Sprenger uns auf Seite 24 lehrt.
Das Publikum bewertet übrigens persönlich gefärbte Forschung dann als besonders glaubwürdig, wenn es dem Thema grundsätzlich zustimmt, wie auf Seite 22 zu erfahren ist. Es ist dagegen umso misstrauischer, wenn die Ergebnisse nicht zu den eigenen Überzeugungen passen. Kurz gesagt: Die eigene Voreingenommenheit beeinflusst das Urteil über Forschung. So oder so hilft glücklicherweise eine Kernkompetenz der Wissenschaft auch die eigenen Voreingenommenheiten aufzulösen: transparente Reflexion.
4 Im Bild
Stiller Zeitzeuge
6 Aus der Wissenschaftspolitik Von der Bedeutung Wikipedias, des SRF-Wissenschaftsmagazins und des Braindrains aus den USA
10 Aus der Forschung Glasperle kauft Gold, Explosion verrät Kometeninnenleben, Eltern geben Eigeninitiative weiter
13 So funktioniert’s
Endlich Endometriose sanft lindern
32 Reportage
Beim Schere-Stein-Papier-Spiel im Labor soziales Denken aufdecken
36 Fossil gegen elektrisch Die Wettfahrt von Benzin und Diesel durch die Jahrzehnte
38 USA-Kennerin zur Situation Claudia Brühwiler erklärt Trumps Wissenschaftsfeindlichkeit
40 Auf dem Kinderwunschmarkt Wer der Norm entspricht, soll Babys haben können
42 Von Einzellerahnen Asgard-Archaeen mischen Evolutionsgeschichte auf
43 Baumaterial wie Emmentaler Wie Löcher im Beton Stadtlärm mildern und Tierchen anlocken
44 Studie scheitert an Embargo Im Iran klappt die Erforschung der Wirkung von Süssstoffen nicht
Fokus: Forschung aus Betroffenheit
16 Fünf Erfahrungsberichte Forschende, die erforschen, was sie selbst erlebt haben, erzählen davon
21 Subjektive Wende
Das Persönliche wurde dank den Gender Studies salonfähig
24 Von all den Objektivitäten
Interview über die Tücken unvoreingenommenen Erkenntnisgewinns
28 Dann kamen die Methoden Wie gesichertes Wissen entstand und bis dato überprüft werden kann
Links: Was ist nur meins? Und was kann ich wirklich objektiv erkennen? Titelseite: Bruchstücke von Identität fliessen auch in die Forschung ein. Fotos: Angelika Annen
46 Porträt
Wie die Studentin Margot Romelli zur Expeditionsleiterin wurde
48 SNF und Akademien direkt 50 Rückmeldungen/ Impressum
51 Debatte
Braucht Forschung an gefährlichen Viren mehr Regeln im Labor?
Dieser gleichsam futuristische wie von der Zeit gezeichnete Bau löst eine gewisse Desorientierung aus. Bei genauerem Hinsehen erkennt man Beton, der durch Gräser und Graffiti einen neuen Anstrich erhalten hat. Zwei Personen, ganz klein oben leicht rechts im Bild, verraten die Dimension des Bauwerks: ein riesiger Kühlturm, der zu einem fast 100-jährigen Wärmekraftwerk im belgischen Charleroi gehört. Das Foto aus der Vogelperspektive wurde beim Wettbewerb für wissenschaftliche Bilder 2025 des Schweizerischen Nationalfonds eingereicht. Aufgenommen hat es die Geografin Aude Le Gallou von der Universität Genf. Seit bald zehn Jahren erforscht sie verlassene, oft in Vergessenheit geratene Orte in Europa und den USA, die von einer neuen Art von Tourismus, der sogenannten Urbex-Bewegung, erkundet werden. «Als ich Urbexer befragte, stellte ich fest, dass die Ruinen sehr intensive Sinnes- und Gefühlseindrücke wecken. Dank ihrer Popularisierung in den sozialen Medien erhalten sie neue Sichtbarkeit. Marginalisierte Räume werden in ein anderes Licht gerückt.»
Le Gallou, Lehrerin und Forscherin an der Universität Genf, hat ihr wissenschaftliches Feld erweitert, um sich mit dem Konzept des Geistes zu befassen, der solchen verlorenen Orten innewohnt. «Sie manifestieren eine Verflechtung der Zeiten. Man findet die Spuren einer Vergangenheit, die nur noch in Fragmenten existiert, die aber weiterhin in den heutigen Gesellschaften herumspukt», resümiert sie. Die verfallenen Bauten, die zugleich zu Oasen der Biodiversität geworden sind, werfen Fragen zum Umgang mit dem kulturellen Erbe auf. Sollten sie erhalten bleiben, als Zeitzeugen im Grossformat, zur Freude von Reisenden und Forschenden? Oder sollen sie umgenutzt oder schlicht abgerissen werden, um einer neuen historischen Ära oder dem nächsten industriellen Abenteuer Platz zu machen? «Auch wenn es keine absolute Antwort gibt: Es handelt sich zuweilen um wichtige Stätten des kollektiven Gedächtnisses, was nicht einfach übergangen werden sollte.»
Christophe Giovannini (Text), Aude Le Gallou (Bild)
Aufgeschnappt
«Es
kaum
Die britische Physikerin Jess Wade publizierte auf Wikipedia jahrelang täglich einen neuen Beitrag über eine Forscherin aus den MINTDisziplinen. Die weltweite OnlineEnzyklopädie gibt es seit Januar 2001, jeder und jede kann sie frei benutzen und auch mit Inhalten füllen. Wade vergleicht in Nature die Diskussionsseiten von Wikipedia, auf der Redaktionsmitglieder offen debattieren, mit wissenschaftlichem Peer-Review. Sie betont, dass die Beiträge über Frauen grosse Lücken haben.
Bereits 2008 testeten die Laborroboter Adam und Eve neue Wirkstoffe in Hefezellen, werteten die Resultate aus und entschieden eigenständig, welcher Stoff als Nächstes ausprobiert werden soll. Nun möchte Google ein Level aufsteigen und Hypothesen für beliebige Forschungsfragen generieren. Die Firma kündigte im Frühjahr 2025 ihr entsprechendes neues KI-System Co-Scientist an. Als Testfall schnappte sich die Firma eine alte Forschungsfrage zu Viren, die Bakterien infizieren: Normalerweise haben diese Viren einen Schwanz, mit dem sie ihre DNA injizieren. Doch gewisse Viren schaffen das auch ohne Schwanz. Wie sie das machen, war bis vor Kurzem unbekannt.
«Die Haupthypothese der KI spiegelte exakt unsere Resultate.»
Forscher Tiago Dias da Costa vom Imperial College London hatte das Rätsel, kurz bevor CoScientist damit beauftragt wurde, gelöst. Er zeigte sich gegenüber BBC begeistert von der Arbeit der KI. «Wir waren überrascht, denn ihre Haupthypothese spiegelte exakt unsere experimentellen Resultate, an denen wir mehrere
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Jahre gearbeitet hatten.» Die Ergebnisse seiner Studie, nach denen die Viren die Schwänze anderer Viren nutzen, war wegen eines laufenden Patentantrags bis zum Publikationszeitpunkt zurückgehalten worden. Co-Scientist hatte also nichts davon wissen können. Das Co-Scientist-System besteht aus mehreren Sprachmodellen, die miteinander interagieren und auf unterschiedliche Aufgaben spezialisiert sind, etwa auf das Generieren und Begutachten von Ideen oder das Erstellen einer Rangliste. Die Modelle hatten lediglich Dias da Costas Frage, Einführung und Referenzliste erhalten. Maria Liakata, Professorin für natürliche Sprachverarbeitung in London, überraschte es nicht, dass KI bekannte Informationen zu neuen zusammenbringen kann. Sie mahnte aber zu Zurückhaltung. Die Google-Studie sei eher eine Schaustudie mit wenig technischen Informationen. «Da das System ressourcenintensiv ist, werden Forschende mit Google zusammenarbeiten müssen, um es anwenden zu können.» ff
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Standpunkt
Das Wissenschaftsmagazin von Radio SRF 2 wird auf Ende Jahr eingestellt. Das hat Anfang Februar 2025 zu zwei Petitionen geführt. Otfried Jarren, emeritierter Professor für Kommunikationswissenschaft der Universität Zürich und ehemaliger Präsident der Eidgenössischen Medienkommission, hat eine davon mitinitiiert.
Otfried Jarren, weshalb kämpfen Sie für das Wissenschaftsmagazin? Es geht ein Sendeplatz für Wissenschaft verloren. Damit ist das Risiko einer Ressourcenreduktion verbunden. Die Struktur der Wissenschaftsredaktion darf nicht leiden, auch nicht die Qualität des Angebots.
Lohnt es sich, für ein Format zu kämpfen, das an Reichweite verliert?
Das ist in der Tat ambivalent. Die SRG hat recht, dass am Radio die Bindung über Musik erfolgt. Bei längeren Sprechbeiträgen schalten die Leute um. Und es stimmt: Wissenschaft ist kein einfacher Gegenstand. Andererseits: Verschwindet ein Format, ist nicht mehr klar, wo man Informationen über Wissenschaft finden kann, und die Community wird kleiner. Das darf nicht passieren.
Sie konnten im Petitionskomitee mit der SRF-Direktorin Nathalie Wappler sprechen. Was kam dabei heraus?
Ich muss anerkennend sagen, dass bei SRF eine hohe Sensibilität für wissenschaftliche
Die SRG sollte laut Otfried Jarren stärker mit Wissenschaftsinstitutionen zusammenarbeiten.
Foto: Christian Beutler / Keystone
Themen besteht. Die fachliche Kompetenz soll erhalten und stärker gebündelt werden. Die Produkte sollen in vielen Formaten Verbreitung finden. Das ist aus Sicht des Managements nachvollziehbar. Aber es besteht die Gefahr, dass die Fachlichkeit und die thematische Breite leiden. Es wird für die Journalis-
tinnen schwieriger, Themen selbst zu wählen. Als Zulieferer müssen sie mehr auf die Aktualität reagieren. Das reicht für eine gute Wissenschaftsberichterstattung aber nicht aus.
Generell werden die Wissenschaftsredaktionen weniger und kleiner. Was kann die SRG tun, um die Qualität der Berichterstattung zu erhalten?
Die SRG sollte stärker mit Wissenschaftsinstitutionen zusammenarbeiten, den Hochschulen, dem SNF, den Akademien. Sie könnte eine Community aus Forschenden aufbauen, um früh von innovativen Vorhaben zu erfahren, Themenanregungen zu erhalten. Auch neue Vermittlungsformate könnten erprobt werden.
Sollen Forschungsinstitutionen eine Stiftung finanzieren, um den Wissenschaftsjournalismus in der Schweiz zu retten?
Die Idee ist alt und grundsätzlich nicht falsch. Nur: Auch von einer Stiftung unterstützte Produkte muss man publizieren können. Wenn es bei der WOZ klappt, macht dann die NZZ mit? Es gibt immer weniger Plätze für die Wissenschaft in der Presse. Und weshalb sollte eine Stiftung mit öffentlichen Mitteln Verlagshäuser finanzieren, gar subventionieren? Und: Werden stiftungsfinanzierte Beiträge auch als unabhängige journalistische Leistung wahrgenommen? Es gilt, die SRG in der Pflicht zu halten und bei diesem Service public zu unterstützen. Florian Fisch
Eric Reinhart, freischaffender Forscher in Chicago, widersprach im Fachmagazin Nature vehement der Ansicht, Forschende müssten politisch neutral sein. Angesichts der tiefen durchschnittlichen Lebenserwartung in den USA und der mit Abstand höchsten Gesundheitsausgaben pro Kopf weltweit dürften die Gesundheitsfachleute des Landes gegenüber Armut und mangelhaftem Sozialsystem nicht gleichgültig bleiben. Da sie es verpasst hätten, Joe Biden in die Verantwortung zu nehmen, wirke ihre berechtigte Kritik an Donald Trumps Kahlschlag jetzt parteiisch, so der klinische Psychoanalytiker. «Eine Medizin, die auf Behandlung fokussiert, anstatt Krankheiten mit politischen Massnahmen zu verhindern, beklagt sich jetzt über die angeblich politische Einmischung im Gesundheitssektor.» ff
«Die amerikanischen Universitäten und ihre Forschenden sind die grössten Opfer dieser politischen und ideologischen Einmischung», erklärt Jan Danckaert, Rektor der Vrije Universiteit Brussel, dem britischen Guardian. Deswegen habe seine Hochschule zwölf Stellen für internationale Postdocs geschaffen. «Wir halten es für unsere Pflicht, den Kolleginnen aus den USA zu helfen.»
Pragmatischer drückt es Yasmine Belkaid, Direktorin des Pasteur-Instituts in Paris, aus. Sie erhalte täglich Anfragen von Leuten, die zurückkommen wollen: Franzosen, Europäerinnen oder sogar US-Amerikaner. «Man könnte es eine traurige Chance nennen, trotzdem ist es eine Chance.» Stimmen aus der europäischen Politik zeigen: Der Run auf die Spitzenkräfte aus der US-Wissenschaft ist eröffnet. So wollen etwa die Niederlande die Gelegenheit mit einem Fonds für internationale Forschende beim Schopf packen. Laut
Bildungsminister Eppo Bruins besteht weltweit eine grosse Nachfrage nach Topleuten. «Gleichzeitig verändert sich das geopolitische Klima, was die Mobilität von Forschenden erhöht.» Mehrere europäische Länder bemühten sich jetzt um internationale Talente. «Die Niederlande sollen dabei weiterhin eine Vorreiterrolle einnehmen.»
Ähnliche Voten zitiert der Tagesspiegel in Deutschland: Von einer Riesenchance spreche Politikberaterin Ulrike Malmendier. Und MaxPlanck-Präsident Patrick Cramer finde: «Die USA sind für uns ein neuer Talentpool.» Der Autor des Beitrags, Jan-Martin Wiarda, mahnt jedoch inmitten der Goldgräberstimmung: «Die wissenschaftspolitische Debatte sollte sich darauf konzentrieren, wie den vielen Forschenden in den USA geholfen werden kann, die nicht weggehen wollen. Sind sie erst weg, wird der Kampf um Demokratie und Wissenschaftsfreiheit noch aussichtsloser.» jho
Die gebührenfreien Preprintserver Biorxiv und Medrxiv werden neu organisiert, wie Science schreibt. Die Plattformen hätten seit den Gründungen 2013 und 2019 gemeinsam mehr Preprints veröffentlicht als jeder andere Biologieserver. Der Datenverkehr war in der Covid19Pandemie sprunghaft angestiegen, da die Forschenden plötzlich massenhaft Manuskripte einreichten, um etwa medizinische Behandlungen zu beschleunigen. Nach Ende der Pandemie sanken die Zahlen deutlich, stiegen 2024 aber fast auf dasselbe Niveau. Nun soll die gemeinnützige Organisation Openrxiv das Cold Spring Harbor Laboratory ablösen, das die Plattformen bisher betrieben hat. Laut John Inglis, Mitgründer der Webseiten, soll der Umzug «helfen, die technologischen Möglichkeiten und Benutzeroberflächen sowie das Fundraising und das Marketing zu verbessern». jho
In meiner Forschung verbessern wir Tumordiagnosen mit KIbasierten Tools und solchen für die Visualisierung von Zellen und Geweben. Dazu braucht es hochspezialisiertes Fachwissen, das nur wenige haben. Als Wissenschaftlerin aus dem Libanon, einem Land, das nicht Mitglied der EU oder der Efta ist und damit als Drittstaat gilt, erlebe ich meine Arbeit in der Schweiz als wertvolle Chance, aber auch als hürdenreich – selbst nach einer akademischen Laufbahn an einer eidgenössischen Institution. Meine Arbeitsbewilligung ist an meinen Arbeitgeber gebunden, weshalb jede Neuorientierung mit Unsicherheiten einhergeht. Die komplexe Bürokratie macht jeden Karriereschritt zu einer Herausforderung. Im Gegensatz zu Forschungsinstituten scheuen Spitäler die Mühen, Personen aus Drittstaaten einzustellen, obwohl sie in der Präzisionsmedizin an vorderster Front forschen. Für sie ist der Nachweis, dass die Stelle nicht mit einer Person aus der Schweiz besetzt werden kann, ein langwieriger und abschreckender Prozess. Von den formalen Hürden abgesehen ist man in der Schweiz als Forscherin aus einem Drittstaat durch diesen Status unter ständigem Druck. Neben der prekären administrativen Situation besteht ein latentes Gefühl der Diskriminierung, das manchmal durch die Haltung von HR und Verwaltung noch verstärkt wird. Häufig bekommen wir zu hören, unsere Situation stelle für die Institution einen «Mehraufwand» dar. Als hätten wir unsere Anwesenheit eher einer Gefälligkeit zu verdanken als unserem legitimen Beitrag. Forschende aus Drittstaaten gelangen über den Arbeitsmarkt nicht zu den Unternehmen, die ihre Kompetenzen benötigen. Damit werden ungleiche Chancen bei den Karriereaussichten geschaffen. Mehrere ehemalige Kollegen haben deswegen ihre Laufbahn nicht hier fortgesetzt, obwohl sie Angebote aus der Forschung hatten. Die Regulierungen stehen also in Widerspruch zum Bedarf des Forschungssektors, beschränken die Diversität, behindern die Innovation und erschweren technologische Fortschritte in Spitälern. Wenn die Schweiz wettbewerbsfähig für exzellente Forschung bleiben will, muss sie die Kriterien für die Anstellung von Forschenden aus Drittländern lockern.
Rita Sarkis arbeitet in digitaler Pathologie und räumlicher Transkriptomik am Institut für Pathologie des Chuv. Sie war bis 2023 Präsidentin der Mittelbauvereinigung der EPFL.
Die Zahl
der medizinischen Fachartikel enthalten Erkenntnisse über eine andere Krankheitskategorie als von den Forschenden ursprünglich gedacht. Die in Research Policy publizierte Studie zu unerwarteten Erkenntnissen hatte die Kategorien von über 1,2 Millionen Artikeln mit mehr als 90 000 Förderanträgen verglichen, die von 2008 bis 2016 bei den US National Institutes of Health eingereicht worden waren. Bei angewandter Forschung gab es etwas weniger Unerwartetes als bei Grundlagenforschung, bei Ausschreibungen für bestimmte Themen mehr als bei offenen. ff
Der Begriff
Wer in den 1990erJahren in der Schweiz jung war, denkt an den Platzspitz in Zürich und die Herointoten, wenn der Begriff Drogen fällt. Dabei bezeichnet dieser laut WHO schlicht jeden «Wirkstoff, der in einem lebenden Organismus Funktionen zu verändern vermag und kein Nahrungsmittel ist». Im Alltag sind jedoch eher Stoffe gemeint, «die zur Erzeugung eines Rauschzustandes führen», wie der deutsche Bundestag schreibt. Oft ist die Bezeichnung noch enger auf illegale Mittel fokussiert, also Alkohol und Nikotin ausgenommen.
Psychoaktive Substanzen wie Psilocybin, MDMA und LSD gehören aber dazu. Mit ihnen liefen 2023 rund 60 klinische Studien weltweit, wie die Schweizerische Ärztezeitung damals schrieb. Es ging etwa um die Behandlung von Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Schweiz spielt dabei eine wichtige Rolle, auch wegen ihrer pragmatischen Drogenpolitik. Seit 2007 wird mit verbotenen Substanzen geforscht, seit 2014 sind eingeschränkte medizinische Anwendungen möglich. Zeit vielleicht, den aufgeladenen Begriff Droge abzuschaffen. jho
Oft bestimmen äussere Umstände, wie sich ein Tier in einer bestimmten Situation verhält: In welcher Verfassung befindet sich ein Individuum? Wird sein Verhalten durch Artgenossen beeinflusst? Der Evolutionsbiologe Tom Ratz von der Universität Zürich hat untersucht, wie solche sozialen und umweltbedingten Faktoren das Verhalten von Schwarzen Witwen beeinflussen. Diese nordamerikanischen Spinnen sind zwar giftig, laut Ratz aber nicht aggressiv. Die Arbeit mit ihnen sei deshalb gut möglich.
Weibliche Schwarze Witwen bauen komplexe Netze – manche Fäden dienen dem Beutefang, andere sichern das Netz gegen Räuber. Ratz liess Schwarze Witwen einzeln in Boxen ihre Netze errichten, gab der einen Hälfte der Tiere aber nur halb so viel Futter wie der anderen. Er verglich zwei Verhalten von hungrigen und gut genährten Spinnen: ihre Angriffslust auf eine mögliche Beute im Netz und die Anzahl Schutzfäden, die sie ins Netz einbauten. Zudem setzte er manchen Versuchsspinnen eine Konkurrentin in die Box.
War eine Konkurrentin anwesend, bauten sämtliche Spinnen mehr Schutzfäden –unabhängig von ihrer Ernährungssituation. «Das Netz ist enorm wertvoll für die Spinne», sagt Tom Ratz. «Sie muss es verteidigen, selbst wenn sie körperlich geschwächt ist.» Anders beim Beute-Test: Gut genährte Exemplare reagierten in Anwesenheit einer Konkurrentin aggressiver auf einen Vibrationsreiz, der ein Fluginsekt im Netz imitierte. Schlecht genährte Spinnen dagegen hielten sich zurück. «Eine Schwarze Witwe kann monatelang ohne Nahrung auskommen», sagt Ratz. «Ist sie geschwächt, könnte es in Anwesenheit einer Konkurrentin die beste Option sein, kein Risiko einzugehen.» Die unterschiedlichen Verhaltensweisen hätten sich im Lauf der Evolution als vorteilhaft erwiesen, sagt Ratz. Experimente wie seines könnten deshalb Aufschluss darüber geben, welcher evolutive Selektionsfaktor – etwa Konkurrenz oder Ernährungszustand – besonders wichtig ist.
Simon Koechlin
T. Ratz, P.-O. Montiglio: Prey or protection? Access to food alters individual responses to competition in black widow spiders. Behavioral Ecology (2025)
Gegenstände sind gute Geschichtenerzähler, man muss sie nur zum Sprechen bringen. Im Rahmen ihrer Dissertation an der Universität Genf untersuchte Miriam Truffa Giachet fast tausend Glasperlen, die in Westafrika gesammelt wurden. Ihre Arbeit wirft ein neues Licht auf die Handelsbeziehungen zwischen dieser Region und Europa in der Kolonialzeit. Ab dem 15. Jahrhundert, als das Zeitalter der Entdeckungen begann, seien in der Alten Welt Glasperlen «im grossen Stil» hergestellt worden – zuerst in Venedig und später in Mittel- und Nordeuropa, erzählt Truffa Giachet. Viele wurden nach Westafrika gebracht, da Glas dort als exotisches Material begehrt war. Jede Perlenart – einfarbig, mit Streifen oder Augen und vielen anderen Eigenschaften –hatte einen spezifischen Wert. «Manche Perlen
wurden gegen Gold und Felle getauscht, andere gegen Sklaven», erläutert die Forscherin. Mittels Lasertechnik analysierte Truffa Giachet, aus welchen Rohstoffen die Perlen hergestellt wurden. Dann bestimmte sie die Herkunft der Perlen, indem sie diese Ergebnisse mit archäologischen und historischen Daten abglich, zum Beispiel mit Katalogen, in denen die Hersteller Muster präsentierten. «Die Besonderheit der Studie liegt darin, dass sehr viele Perlen systematisch untersucht wurden», erklärt die Expertin. Die von ihr erstellte Daten bank könnte für weitere Forschungsprojekte nützlich sein. Benjamin Keller
M. Truffa Giachet et al.: The systematic techno-stylistic and chemical study of glass beads from post-15th century West African sites. Plos One (2025)
Diese blumigen Mikroapparate hat ein Team der ETH Zürich in die Äderchen eines Mäuseohrs geschleust, beschichtet mit Eisennanopartikeln und Fluoreszenzfarbstoff. Sie lassen sich magnetisch steuern und mit einer Kombination aus Licht und Ultraschall verfolgen. Kleine Blutgefässe können so laut Erstautor Daniil Nozdriukhin präzise dargestellt werden. Und Medikamente dereinst punktgenau platziert. yv
D. Nozdriukhin et al.: Multifunctional Microflowers for Precise Optoacoustic Localization and Intravascular Magnetic Actuation In Vivo. Advanced Healthcare Materials (2025)
Wer in der Schweiz Lebensmittel einkauft, zückt an der Kasse meistens eine Kundenkarte. Mit den dabei gesammelten Daten erstellt eine App von Forschenden der Universität St. Gallen personalisierte Ernährungstipps. Sie analysieren den Kaloriengehalt und die Zusammensetzung der Lebensmittel in den Einkäufen. Ein gemeinsam mit Ernährungsfachleuten der Universität und des Inselspitals Bern erstellter Algorithmus gibt dann automatisch Empfehlungen – etwa den Zucker im Müsli zu reduzieren.
«Die Kundenkarte muss einmal verknüpft werden, danach ist der Aufwand gleich null», so die Doktorandin Jing Wu. Das sei wichtig, denn andere Ernährungs-Apps würden daran scheitern, dass Mahlzeiten selbst protokolliert werden müssen. Dies ist fehleranfällig, und Nutzende halten das nicht lange durch. Noch zu lösen bleibt: Bei einem mehrköpfigen Haushalt geht die App davon aus, dass alle ungefähr das Gleiche essen. yv
J. Wu et al.: FoodCoach: Fully Automated Diet Counseling. IEEE Journal of Biomedical and Health Informatics (2025)
Blickfang
Vor 370 Millionen Jahren war der haiähnliche Ctenacanthus ein Spitzenraubtier im Urzeitmeer. Er packte seine Beute und riss durch Kopfschütteln grosse Bissen heraus. Dies ergab die mechanische Analyse eines fossilen Zahns mit simuliertem Druck (Pfeile): Zubeissen (a) und Schütteln (b) belasten den Zahn nur lokal. Beim Festhalten (c, d) verteilt sich der Druck jedoch auf ungünstige Weise. Die Beute wurde also nicht fixiert und zerkaut, so das Team der Uni Zürich. yv
M. Greif et al.: Reconstruction of feeding behaviour and diet in Devonian ctenacanth chondrichthyans using dental microwear texture and finite element analyses. Royal Society Open Science (2025)
Explosionen in unterirdischen Hohlräumen geben Aufschluss über das verborgene Innenleben von Kometen, die vor Milliarden Jahren am äussersten Rand des Sonnensystems als Klumpen aus Eis, Staub und Gestein entstanden. «Es sind Zeitkapseln, in deren Innerem sich Material aus der Frühzeit des Sonnensystems verbirgt und die uns mehr über dessen Entstehung und Entwicklung verraten können», erklärt Daniel Müller vom Bereich Weltraumforschung der Universität Bern. Nur bleibt das Innere weitgehend verborgen, wenn Kometen mit Teleskopen und Raumsonden untersucht werden. Einzig die Oberfläche, der Schweif und die sogenannte Koma – eine Art Miniatmosphäre – lassen sich analysieren. Aufschluss über das Innenleben könnten Ex-
plosionen auf der Oberfläche bieten. «Diese wurden schon auf einigen Kometen beobachtet», sagt Müller. «Doch bisher war die Genauigkeit der Daten zu gering, um zu verstehen, was bei einem solchen Ausbruch geschieht.»
«Kometen ähneln also eher einem Emmentaler.»
Die Rosetta-Mission zum Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko bot eine einmalige Gelegenheit, die explosive Oberfläche aus nächster Nähe zu studieren. Als die Raumsonde 2015 den Kometen während seiner sonnennächsten Phase begleitete, konnten rund 30 Ausbrüche mit Kameras und einige davon mit Massenspektrometer erfasst werden. «So konnten wir die Veränderung der Gaszusammensetzung in der Koma während eines Ausbruchs messen.» Manchmal entstanden die Ausbrüche durch verdampfendes Eis.
Oft war jedoch Kohlendioxid im Spiel. «Es wäre möglich, dass dabei Hohlräume unter grossem Druck bersten und Material ins All schleudern», erklärt Müller. Bei 67P wurde die mögliche Grösse der Hohlräume auf bis zu 500 000 Kubikmeter berechnet – etwa ein Fünftel so gross wie die Cheops-Pyramide. «Kometen ähneln also eher einem Emmentaler», sagt Müller. Offen bleibt, wie die Hohlräume entstehen. «Es könnte mit den häufigen und starken Temperaturschwankungen unter der Oberfläche des Kometen zu tun haben.» Mit Experimenten im Labor oder der 2029 startenden Comet Interceptor Mission der ESA erhofft man sich weitere Erkenntnisse. Florian Wüstholz
D. R. Müller et al.: Land of gas and dust – exploring bursting cavities on comet 67P. Monthly Notices of the Royal Astronomical Society (2025)
Den Schlüssel verlegt, die Uhr weg: So alltagsnah ist ein Test für Demenz, den die Memory-Klinik der Unispitäler Genf validiert hat. Dafür werden drei Objekte an drei Orten versteckt − vor den Augen einer Person, welche die Gegenstände dann benennen und wiederfinden muss. Die Studie verglich die Testergebnisse von über 2000 Patientinnen und Patienten mit dem Resultat von neuropsychologischen Untersuchungen und diagnostischen Hirnscans. Der Test erkennt eine Demenz mit über 90 Prozent Genauigkeit korrekt. «Er eignet sich somit für eine schnelle Abklärung, etwa in der Telemedizin oder in Regionen mit begrenztem Zugang zu spezialisierten Angeboten», so Erstautorin Federica Ribaldi. Eine frühe Diagnose sei wichtig für präventive Massnahmen. yv
F. Ribaldi et al.: Three-Objects-Three-Places Episodic Memory Test to Screen Mild Cognitive Impairment and Mild Dementia: Validation in a Memory Clinic Population. European Journal of Neurology (2025)
Es war ein Zufallsfund in der Barentssee, nördlich von Norwegen: 390 Meter unter dem Meeresspiegel entdeckten Forschende einen sogenannten Schlammvulkan, der Schlamm, Wasser und Gase wie Methan ausstösst. Die dort wachsenden Bakterienmatten seien die Nahrungsgrundlage für eine erstaunliche Vielfalt an Lebewesen, etwa gefährdete Fische, sagt Molekularökologin Inés Barrenechea Angeles, die bei der Artbestimmung von Einzellern mithalf. «Der Ort ist deswegen unbedingt schützenswert.» Inzwischen hat das Team in der Nähe noch weitere Schlammvulkane gefunden. ff
et al.:
In der Schweiz ist das Tragen eines Zahnschutzes beim Boxen obligatorisch, in vielen anderen Sportarten dringend empfohlen. Aber produkte sind unbequem und Massanferti gungen teuer. Eine an der EPFL und dem Unispital Lausanne entwickelte Va riante passt dank Scan perfekt und ist im 3DDruck günstig herzustel len. Sie besteht aus einem weichen und einem harten Kunststoff: Der vordere Teil kann an die Disziplin angepasst und bei Schäden ersetzt werden. yv
N. Nasrollahzadeh et al.: A new approach to the design and fabrication of customized multi-material mouthguards to maximize athletes’ safety and comfort. Journal of Manufacturing Processes (2025)
Was ist besser im Job: nur Aufgaben erledigen oder sich selbst organisieren? Dass es vor allem die Eltern sind, welche die Haltung dazu ihren Kindern übertragen, wurde lange vermutet. Bestätigt hat dies nun eine empirische Längsschnittstudie: Mütter und Väter, die eigenständiges Arbeiten schätzen, geben das an ihre Kinder weiter – und diese üben später meist ebenfalls Berufe mit hoher Selbstbestimmung aus.
vulnerable
Hierfür wurden über 1100 Jugendliche aus den USA sowie ihre Eltern ab 1988 während über 20 Jahren zu ihrer Arbeitseinstellung interviewt. Zwischen den Generationen fanden die Forschenden dabei eine deutliche Korrelation in der Frage, wie wichtig Eigenständigkeit im Job ist. Selbstbestimmte Arbeit wurde in drei Punkten erfasst: Wie abwechslungsreich sie ist. Wie stark sie von Vorgesetzten beaufsichtigt wird. Und ob sie eher aus Routine besteht oder auch eigene Entscheidungen drin liegen. Die Studie erfragte weiter, welches Verhalten in einer Familie bevorzugt wird: ein eher angepasstes oder ein eigenständiges. «Die Auswertung der Daten ergab, dass solche Einstel-
lungen von den Eltern vorgelebt werden», sagt Erstautor Kaspar Burger, Bildungssoziologe an der Universität Potsdam und an der Universität Zürich. Entscheidend für eine positive Einschätzung einer selbstständigen Arbeit sei, so Burger, dass die Eltern zu Hause bestimmte Werte und Haltungen vorleben: etwa Unabhängigkeit, Übernahme von Verantwortung und intellektuelle Flexibilität. Das passiere in der Regel subtil und in einem langanhaltenden Prozess.
Ein weiteres Ergebnis: Wer selbstbestimmtes Arbeiten positiv findet, kommt zu höheren Bildungsabschlüssen als wer nur bereit ist, vorgegebene Aufgaben auszuführen. Wie Burger vermutet, könnte eine selbstbestimmte Haltung die Arbeitszufriedenheit erhöhen und auch in Krisen Vorteile bringen: «Wer gelernt hat, eigenständig zu arbeiten, findet eher Mittel und Wege, in der Arbeitswelt voranzukommen.» Christoph Dieffenbacher
K. Burger et al.: The intergenerational reproduction of self-direction at work: Revisiting Class and Conformity. Social Forces (2025)
So funktioniert’s
Ein Antikörper hilft, das entzündete Gewebe im Bauchraum zu heilen. Wie ein Start-up aus Zürich Verletzungen und Vernarbungen bei Endometriose eliminiert.
Text Judith Hochstrasser Illustration Ikonaut
1 — Alte Krankheit, neuer Fokus Obwohl bereits um 1900 benannt, ist Endometriose erst seit einigen Jahren allgemein bekannt. Sechs bis zehn Prozent aller Frauen leiden unter der Krankheit, bei der sich Zellen der Gebärmutterschleimhaut (Endometrium) auch ausserhalb des Uterus verteilen. Betroffene Frauen haben oft starke Schmerzen während der Menstruation, das Leiden kann bis zur Unfruchtbarkeit führen. Bisherige Behandlungen, etwa Aspirin, Hormone oder die Entfernung der Gebärmutter, sind nicht dauerhaft oder sehr invasiv.
2 — Verletzungen im Bauchraum Die verirrten Zellen des Endometriums wachsen weiter und verursachen Entzündungen, die zu anhaltenden Verletzungen und Vernarbungen des Gewebes im ganzen Becken- und Bauchraum führen, manchmal bis hin zur Lunge.
3 — Krankhafte Zellen töten Fimmcyte, ein Spin-off der Universität und des Universitätsspitals Zürich, entwickelt nun eine Behandlung der Endometriose mittels Immuntherapie. Es hat ein Zielprotein (A) ausgemacht, das nur an bestimmten Zellen beim verletzten Gewebe vorkommt, an den sogenannten Myofibroblasten (B). Diese entstehen bei der Wundheilung. Der zum Zielprotein passende Antikörper (C) wird injiziert. Auf seinem Weg durch die Blutbahnen nimmt er Immunzellen mit, die Fresszellen (D) und die Killerzellen (E), von denen es bei den Verletzungen im Bauchraum nicht genug hat. Der Antikörper erkennt dort die Zielproteine, bindet sie und dockt an die Rezeptoren der beiden Immunzelltypen an. Das initiiert den Zelltod. Dadurch werden die Verletzungen und Vernarbungen gemildert bis entfernt.
4 — Mehrfache Behandlung nötig Der Antikörper des Spin-offs wird unter die Haut des Oberarms gespritzt. Diese Behandlung soll über sechs bis acht Wochen wöchentlich durchgeführt werden und während rund einem Jahr zur Symptomfreiheit führen. Die Behandlung muss später wohl wiederholt werden.
Im Spiegel der eigene Blick Wie beeinflussen meine individuellen Erfahrungen meine Perspektive auf die Welt? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen ihr Denken kritisch auseinandernehmen, wenn sie belastbare Erkenntnisse gewinnen wollen. Fotografin Angelika Annen hat für unsere Bildstrecke den Balanceakt zwischen Selbstreflexion und Verwirrung in Szene gesetzt.
Fotos: Angelika Annen
Der eigenen Geschichte oder Krankheit auf den Grund gehen. Fünf Forschende erzählen, wie ihre persönlichen Erfahrungen ihre wissenschaftliche Arbeit beeinflussen – oder eben nicht.
Text Martine Brocard und Katharina Rilling Fotos Anoush Abrar
«Mich der Strassengang anzuschliessen, war eine Überlebensstrategie.»
Dennis Rodgers, war Mitglied einer Gang in Nicaragua, forscht zu Gewalt am IHEID in Genf.
«Ich ging 1996 im Rahmen meiner Doktorarbeit in Sozialanthropologie nach Nicaragua, um solidarische Überlebensstrategien unter von Armut Betroffenen in einem postrevolutionären Kontext zu untersuchen. Ich war 23 Jahre alt. Als ich in der Hauptstadt Managua ankam, erlebte ich zwei Schocks: Erstens war die Revolution für die meisten Menschen eine verblassende Erinnerung, genauso wie Solidarität. Zweitens wurde ich drei Tage nach meiner Ankunft von einer Gang auf der Strasse verprügelt. Das war traumatisch. Ich versuchte, in einem Armenviertel unterzukommen. Und ich musste mich damit abfinden, auf meinen Touren durch die Stadt von Gangs verprügelt zu werden. Das waren territoriale Strassengangs, die ihr Viertel schützten und Fremden den Zutritt verwehrten. Natürlich wollte ich Nicaragua verlassen, aber ich hatte Angst, an der Universität als Versager dazustehen – und blieb. Heute sage ich Doktorierenden, dass manchmal Richtungswechsel nötig sind und dass Forschung stets auch Zufälliges hat. Schliesslich fand ich eine Bleibe in einem Armenviertel, das für seine wilde Gang berüchtigt war. Ich versuchte, freundschaftliche Beziehungen zu Gangmitgliedern aufzubauen. Obwohl ich schrecklich Angst hatte, setzte ich mich auf die Strasse, um Begegnungen zu ermöglichen. Ein Gangmitglied kam zu mir und bat mich um eine Zigarette. Wir sprachen miteinander. Am nächsten Tag kam er mit einer Gruppe zurück. Zwei Wochen lang kam es zu mehr oder weniger belanglosen Interaktionen, dann begannen sie mich zu testen. Eines Tages forderten sie mich auf, ihnen beim Diebstahl auf dem Markt zu helfen. Ich lehnte ab. «Du lenkst den Verkäufer nur ab, wir sind es, die stehlen», stellten sie klar. Ich akzeptierte. Sie haben acht Slips gestohlen und mich beauftragt, sie an Frauen aus der Nachbarschaft weiterzuverkaufen. Da haben sie sich einen Spass auf meine Kosten gegönnt. Einmal
musste ich mich verteidigen, als mich ein Gangmitglied mit einem Messer bedrohte. Daraufhin erklärten sie, dass ich einer von ihnen sei, und boten mir an, mich ihnen anzuschliessen. Ich akzeptierte. Das war eine Überlebensfrage, keine Forschungsstrategie.
Ich beantragte einen Beobachterstatus und kündigte an, dass ich keine Schusswaffen verwenden, keine anderen Quartiere angreifen und keine Menschen verprügeln wollte. Ich verteidigte aber mich selbst und beschützte die Menschen in meinem Viertel bei Angriffen rivalisierender Banden. Zur Gang zu gehören, stürzte mich immer in ein ethisches Dilemma. Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin, ich habe illegale Dinge gesehen – ich kann aber immer noch in den Spiegel schauen. Daraus gelernt habe ich, dass Ethik oft sehr situationsbezogen ist, dass es aber wichtig ist, sich an bestimmte Grundsätze zu halten.
Ich musste Methoden zum Schutz der Identität meiner Gesprächspartner entwickeln, die ich immer noch verwende. Ich stelle sicher, dass meine Feldnotizen für andere unbrauchbar sind, falls sie beispielsweise von der Polizei beschlagnahmt werden. Dabei ändere ich die Namen, mische Französisch, Englisch und Spanisch und verwende Codes. Es gibt auch Dinge, die ich nicht aufschreibe. Das schränkt meine Forschung ein, aber das schulde ich den Personen, die sich mir ohne Gegenleistung anvertraut haben. Nachdem ich meinen Platz gefunden hatte, konnte ich die Entwicklung der Bande verfolgen. Die Neuzugänge sind immer noch bereit, mit mir als altem Hasen zu sprechen. Diese Längsschnittforschung zeigt, wie sehr die Gangs die Entwicklung der nicaraguanischen Gesellschaft widerspiegeln. Sie gab mir auch den Anstoss zu vergleichender Forschung. Meine Erfahrung hat sich als sehr nützlich erwiesen. Sie ermöglicht mir auch heute noch andere Perspektiven, etwa in meinem aktuellen Forschungsprojekt über Gangs in Marseille. Ich konnte alternative Interpretationen zu den vorherrschenden, oftmals sehr sensationsheischenden entwickeln.» mb
«Das habe ich nur durch eigene Blutproben herausgefunden.»
Jasmin Barman-Aksözen, leidet an Erythropoietischer Protoporphyrie, forscht an Therapien dafür an der Universität Zürich.
«Eins zu hunderttausend – so klein ist die Wahrscheinlichkeit, mit Erythropoietischer Protoporphyrie (EPP) geboren zu werden. Nur rund siebzig Menschen leiden in der Schweiz an dieser Stoffwechselstörung. Mich hat es getroffen – und ich forsche daran. Ohne Medikament bin ich extrem lichtempfindlich. Seit der Kindheit löst jeder Sonnenstrahl, jede Reflexion von Wasser, sogar das Licht bestimmter Lampen bei mir grosse Schmerzen aus – als würden meine Adern von innen verbrennen. Heute weiss ich: Stoffwechselprodukte lagern sich in meinen Adern ab, reagieren mit Licht und verursachen in der Haut Verbrennungen zweiten Grades. Weil man das nicht sieht, blieb die Krankheit lange unentdeckt. Ich wusste bis zum Alter von 27 Jahren nicht, was mit mir los war. Dass ich Biologie studierte, hatte nichts mit meiner Krankheit zu tun. Zunächst interessierte ich mich für die Pflanzengenetik. Ich hatte es aufgegeben, eine Antwort auf meine Schmerzen zu finden. Erst gegen Ende des Studiums kam ich in Kontakt mit einer anderen Betroffenen, die genau mein Leben beschrieb. Eine Erleuchtung! Sie lud mich zu einem Symposium ein, wo ich meine spätere Doktormutter kennenlernte, und ich stieg in die EPPForschung ein. Erst hatte ich Angst, es könnte mir zu sehr nahegehen. Das, was ich mache, ist aber sehr abstrakt. Ich stehe im Labor, arbeite mit Zellkulturen. Als Betroffene geht man vielleicht auch noch einmal tiefer in die Materie hinein. Zudem bin ich als Patientin und Patientenvertreterin für seltene Krankheiten gut vernetzt und erhalte wichtige Informationen zu den Daten. So entdeckte ich einen wichtigen Faktor im Eisenstoffwechsel bei EPP. Dies gelang nur, weil ich unter Eisentherapie eigene Blutproben abnahm und sie sehr engmaschig kontrollieren konnte. Zudem wusste ich auch von anderen Patienten, dass sie Verschlechterungen durch Eisen bemerkten. Viele Ärztinnen realisierten das nicht. Wow! Als Betroffene freut man sich noch einmal mehr. Einen Konflikt durch meine Betroffenheit sehe ich nicht: Im Endeffekt habe ich als Patientin doch das grösste Interesse daran, dass die Daten objektiv sind.» kr
Tobias Urech, ist homosexuell, forscht zu Geschlechtergeschichte an der Universität Basel.
«Ich bin schwul und forsche zu Themen wie Queer History, Sexualitätsgeschichte und Geschlechtergeschichte. Den Ausdruck Betroffenheit in der Forschung finde ich da etwas unpassend. Ich bin von meiner Homosexualität ja nicht betroffen, als wäre sie etwas Negatives. Natürlich habe ich aber eine persönliche Verbindung zu meinem Forschungsgebiet – und die prägt meine Arbeit. Ich empfinde diese Nähe als etwas enorm Positives. Aktuell beschäftige ich mich mit Freundschaft als Möglichkeitsraum für homoerotisches Begehren im 20. Jahrhundert. Ich untersuche vier Freundschaftspaare und arbeite mit Quellen wie Briefen, Tagebüchern oder Autobiografien. Ein Beispiel: Zwei Frauen, beide mit Männern verheiratet, verlieben sich in den 1930erJahren ineinander. Sie konnten ihre Liebe innerhalb der Beziehungsform Freundschaft leben, ohne gesellschaftlich dafür sanktioniert zu werden. In den Sexualwissenschaften um 1900 stosse ich zuweilen auf Aussagen, die heute befremdlich klingen. Ich bin dann eher fasziniert als persönlich angegriffen – mich interessiert, welche Denkweisen hinter solchen Aussagen stecken. Meine Doktormutter sagte einmal, sie fühle sich in solchen Situationen wie eine Botanikerin, die sich wundert, was für ein spezielles Pflänzchen sie entdeckt hat. Ich trete auch als Dragqueen Mona Gamie auf. Geschichten, Lieder und Anekdoten aus der Forschung fliessen in mein Bühnenprogramm ein. Das ist eine Form von queerem Aktivismus. Früher war ich zudem bei der Milchjugend (Anm. d. Red.: LGBTQJugendorganisation) aktiv und engagierte mich parteipolitisch. Heute konzentriere ich mich auf die Wissenschaft und halte es mit Virginia Woolf: Thinking is my Fighting. Es ist wichtig, wissenschaftlich redlich zu forschen, aber dass Wissenschaft grundsätzlich neutral und objektiv sei, halte ich für illusorisch. Alle sind geprägt von Vorstellungen. Deshalb mache ich die persönliche Verbindung zu meinem Forschungsgebiet auf der Website der Uni transparent. Ich will betonen: Jeder, der forscht, ist auch Privatperson – das lässt sich nicht trennen.» kr
«Ich kann rassistische Situationen als Rohmaterial betrachten.»
«Ich bin eher fasziniert als persönlich angegriffen.»
Asmaa Dehbi, hat eine algerische Familiengeschichte, forscht zu antimuslimischem Rassismus an der Universität Freiburg.
«Ich befasse mich mit antimuslimischem Rassismus, um besser zu verstehen, wie nach dem 11. September 2001 und der Minarettverbotsinitiative in der Schweiz das Wort Migration mit Islam assoziiert und wie aus ‹dem Anderen› ‹der Muslim› wurde. Ich bin mit einer algerischen Migrationsgeschichte in der Schweiz aufgewachsen und habe diesen Übergang persönlich erlebt. Ich wurde nicht mehr hauptsächlich als ‹arabisch› wahrgenommen, sondern als ‹muslimisch›, unabhängig davon, ob ich praktizierend bin oder nicht. Ich habe Rassismus erlebt, zum Beispiel in jüngeren Jahren, als mich Erwachsene ständig fragten, ob ich ein Kopftuch tragen werden müsse oder ob ich mich von gewalttätigen Ereignissen im Ausland distanziere.
Marginalisiert und auf meine religiöse Identität reduziert zu werden, machte mich traurig und wütend. Als Reaktion wendete ich mich der akademischen Welt zu. Als Outsider within konnte ich scheinbare Normalitäten infrage stellen. Diese Position machte mir aber auch bewusst, wie muslimische Forschende
in der Wissenschaft unterrepräsentiert sind. Als Frau, die als Muslimin wahrgenommen wird, musste ich mehr tun, um als Expertin zu gelten. Ich orientiere mich an feministischen Standpunkttheorien: Eine persönliche Betroffenheit ist durchaus wertvoll, da alles Wissen in einen Kontext eingebettet ist und alle Forschenden verzerrte Wahrnehmungen haben, auch oder gerade nicht marginalisierte Personen, die sich für objektiv halten. Die eigene Position muss aber transparent gemacht und kritisch reflektiert werden.
Da ich mich mit Diskriminierung beschäftige, ist es wichtig, diese in meiner Forschung so weit wie möglich zu reduzieren. Meine Arbeit darf nicht gegen andere marginalisierte Gruppen gerichtet sein, und ich versuche, mir der Risiken der Essentialisierung und Verabsolutierung von Identitäten bewusst zu sein. Meine Forschung beeinflusst mein Leben. Ich fange an, überall Rassismus wahrzunehmen. Das ist manchmal ermüdend, aber ich kann mich solchen Situationen besser stellen, wenn ich sie als Rohmaterial für meine Arbeit betrachte. Antimuslimischen Rassismus zu erkennen, zu analysieren und zu kritisieren, macht uns stärker und liefert uns Daten, um Dinge zu ändern.» mb
Nathalie Herren, hat depressive Episoden, forscht zu politischen Konsequenzen von Depression an der Universität Bern.
«Ich forsche im Bereich der politischen Psychologie und leide unter depressiven Phasen. Während akuter Episoden bin ich nicht arbeitsfähig – das kommt aber nur noch selten vor. Heute bin ich relativ stabil, medikamentös gut eingestellt und in therapeutischer Begleitung.
Aus meiner Forschung weiss ich: Psychologische Faktoren prägen mit, wie wir politisch denken und handeln. Aktuell untersuchen wir die politischen Konsequenzen depressiver Symptome. Psychische Belastungen kommen immer häufiger vor. Daher sollten wir mehr darüber erfahren, welche Rolle diese in unserer Demokratie spielen. Bestehende Forschung zeigt, dass sich Menschen mit depressiven Symptomen seltener politisch beteiligen. Unsere ersten Analysen deuten darauf hin, dass Betroffene eher dazu neigen, populistische Ideen und Parteien zu unterstützen. Während schwerer depressiver Episoden gehe ich weder wählen noch abstimmen – dazu fehlt mir die Kraft. Einen Hang zum Populismus beobachte ich bei mir aber nicht. Dies zeigt mir, dass wir keine deterministischen Zusammenhänge untersuchen. Mit Kolleginnen und Studierenden gehe ich offen mit meiner Krankheit um, was von vielen geschätzt wird. Ich merke aber, dass sich viele noch immer unsicher fühlen, darüber zu sprechen – oft aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Meine Offenheit trägt zur Enttabuisierung psychischer Probleme bei und ermöglicht mir, meine Perspektive aktiv in die Forschung einzubringen. So bin ich etwa besonders sensibilisiert, wenn es darum geht, Missbrauch oder Fehlinterpretationen unserer Ergebnisse zu vermeiden. Mir ist wichtig, dass bereits vulnerable Gruppen nicht noch weiter stigmatisiert werden. Wir wollen keine Narrative bedienen, die psychisch belastete Personen als gefährlich oder per se undemokratisch darstellen. Natürlich bringt jeder und jede Prägungen und Voreingenommenheiten mit. Problematisch wird es erst, wenn man sich dessen nicht bewusst ist und sich nicht mit anderen Perspektiven auseinandersetzt.» kr
«Wir wollen psychisch belastete Personen nicht als undemokratisch darstellen.»
Die Feministinnen haben persönliche Betroffenheit in der Forschung salonfähig gemacht. Heute ist diese akzepziert, wenn sie transparent gemacht und analysiert wird. Vom Für und Wider dieser Herangehensweise.
Text Santina Russo
Seit einigen Jahren ist persönliche Betroffenheit in der Forschung akzeptiert. Brigitte Boenisch-Brednich, Anthropologin und Spezialistin für ethnografische Forschungsmethoden an der neuseeländischen Victoria University of Wellington, spricht von der sogenannten subjektiven Wende: «Begonnen hat das mit dem Feminismus in den 1970erund 1980er-Jahren, als das Persönliche politisch wurde und man anfing, die Erfahrungen ganz normaler Menschen ernst zu nehmen», sagt sie. «Das hat dazu geführt, dass persönlich motivierte Forschung auch in der Wissenschaft akzeptiert wurde.» In den Sozial- und Geisteswissenschaften und in der Medizin finden sich viele Forschende, die selbst von ihrer Forschung betroffen sind.
«Die eigene Betroffenheit kann Erkenntnisgewinn bringen, sofern sie erkannt und analysiert wird», sagt BoenischBrednich. In ihrer Forschungsgruppe arbeiten mehrere Studierende und Doktorierende an dezidiert persönlich motivierten Projekten. Zum Beispiel Naz Karim, eine Forscherin aus Afghanistan, die durch die Taliban selbst Gewalt erfahren hat und nun, Jahre später, Gewalt an Frauen durch die Taliban untersucht. Unter anderem führte sie dazu in Afghanistan Befragungen mit betroffenen Frauen durch. Dabei war es für Karim natürlicherweise leichter, den Zugang zu den Frauen zu finden und ihr Vertrauen zu gewinnen, als für jemand anderen – am wenigsten für einen weissen Mann, mit dem wohl viele der Frauen gar nicht gesprochen hätten oder nicht hätten sprechen dürfen.
Zugang zu intimem Wissen
Als Teil der Forschung analysiert Karim auch ihre eigene Reaktion. Zum Beispiel kamen ihre schlimmen Albträume aufgrund von dem, was sie selbst erlebt hat, zurück. Interessanterweise hat die eigene Betroffenheit Karim aber auch geholfen, gemeinsame kulturelle Elemente zu erkennen. So beschreiben viele der betroffenen Frauen ihre Angstzustände als einen Geist, der sie befällt und sich ihnen auf die Brust setzt. In einem weiteren Projekt in Boenisch-Brednichs Forschungsgruppe wird das Persönliche noch direkter genutzt. Darin analysiert eine an der Essstörung Bulimie leidende Forscherin in einer intimen Selbstbetrachtung die Strategien, die sie verwendet, um ihre Erkrankung zu verschleiern. Etwa wie sie sich aufs Gramm genau auf Arzttermine
vorbereitet, welche Lügen sie wem erzählt und welche Drogen und Medikamente sie nimmt, um überhaupt durchzuhalten. «So ergänzt sie den bisherigen Forschungsstand mit einer Toolbox an Tricks und Manipulationen, die sie und andere bulimische Frauen gegenüber sich selbst und ihrem Umfeld zu nutzen wissen», sagt Boenisch-Brednich. Das ist für Ärztinnen und Therapeuten äusserst nützlich und wäre ohne die Eigenanalyse nicht zustande gekommen. Die Methode, die die Forschenden nutzen, um ihre eigenen Perspektiven und Erlebnisse zu beschreiben und zu analysieren, heisst Autoethnografie. Sie wurde speziell für Themen entwickelt, zu denen die Forschenden eine direkte Beziehung haben. Autoethnografische Texte lesen sich nicht wie klassische wissenschaftliche Publikationen, sondern sind narrativ und in der Ich-Form geschrieben. Sind die Arbeiten gut gemacht, verbinden sie die persönlichen Erfahrungen mit dem kulturellen, sozialen oder politischen Kontext, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Alle sollten sich reflektieren
Auch der Kriminologe Ahmed Ajil nutzt Autoethnografie jeweils zusätzlich zu seinen quantitativen und qualitativen Untersuchungen. Ajil forscht an den Universitäten Luzern und Lausanne unter anderem zu Terrorismus – oder politisch-ideologisch motivierter Gewalt, wie er selbst differenzierter sagt. Ihn interessiert, wie Mitglieder terroristischer Organisationen mobilisiert werden. Dazu hat er Interviews mit Männern geführt, die in der Schweiz wegen terroristischer Straftaten verurteilt wurden, sowie mit Mitgliedern gewaltbereiter Organisationen im Libanon. Wie Ajils Name schon verrät, hat er einen muslimischen Hintergrund, und Arabisch ist seine Muttersprache. Mit Autoethnografie und dem Vergleich mit Forschungskolleginnen mit meist christlich-westlicher Herkunft hat er analysiert, welchen Einfluss seine sprachliche und kulturelle Nähe zu den Interviewten auf seine Forschung hat.
Er kam zum Schluss: Diese Nähe nützt ihm zum Teil, um Vertrauen aufzubauen und die Nuancen von Aussagen besser zu verstehen. Manchmal war seine Herkunft sogar entscheidend dafür, dass er ein Interview führen konnte. Ajil erkannte aber auch, dass sein kultureller Hintergrund schaden kann, etwa wenn sein Gegenüber annimmt, dass er gewisse Dinge einfach so versteht, und diese dann un-
gesagt bleiben. «Wichtig ist, dass ich diese Blind Spots erkenne und darauf reagiere, indem ich expliziter nachfrage», sagt Ajil. Im Übrigen würde er sich wünschen, dass mehr seiner Forschungskollegen ihre Rolle und ihren vielleicht unbeabsichtigten Einfluss auf das Forschungsobjekt systematisch reflektieren. Das machen längst nicht alle. «Geschieht es nicht, schadet das der Forschungsarbeit.»
Die Forschenden sprechen beim Aufschlüsseln der eigenen Rolle von ihrer Positionalität. Beispielsweise forschte die Anthropologin Boenisch-Brednich zu akademischer Migration und merkte während der Arbeit, dass sie beim Forschungsdesign zu stark von ihrer eigenen Perspektive ausgegangen war. So ist sie erst als gut situierte Professorin emigriert und musste nicht, wie viele Postdocs von einer befristeten Stelle zur anderen die Länder wechseln. Zudem besitzt sie als Deutsche einen Pass, der das Reisen leicht macht. Anders war das für kasachische oder weissrussische Akademikerinnen, die sie befragt hat. «An die Probleme, die sich dadurch für die Karriere stellen, habe ich zunächst gar nicht gedacht», sagt die Forscherin. Daraufhin hat sie ihre Positionalität kritisch reflektiert und den Fragenkatalog ihres Projekts entsprechend angepasst und verbreitert.
«So sind wir alle gestrickt. Wir möchten unser Weltbild bestätigt wissen.»
Vor allem in den Sozialwissenschaften sei die Sensibilisierung darauf, die eigene Rolle zu reflektieren, weit entwickelt, weil hier viele Forschungsthemen eine Verbindung zu Machtverhältnissen haben, sagt Wiebke Wiesigel, Anthropologin an der Universität Neuenburg und Co-Präsidentin der Kommission für Ethik und Deontologie der Schweizerischen Ethnologischen Gesellschaft. «Das Ziel der Sozialwissenschaften ist es ja gerade, die Gesellschaft kritisch anzuschauen, um anders zu deuten, was als normal bezeichnet wird.» Diese Erkenntnisse müssen die Forschenden dann auch seriös vertreten können und darum ihre Beziehung zum Forschungsthema reflektieren und transparent machen.
Marlene Altenmüller
autorin der Studie und forscht als Professorin am LeibnizInstitut für Psychologie in Trier an der Akzeptanz von Wissenschaft in der Öffentlichkeit. «So wertet das Publikum Forschungsergebnisse auf oder ab, je nachdem, wie diese zur eigenen Sicht passen. Und das stärker, wenn die Forschenden persönlich betroffen sind.» Was hinter dieser Denkweise steckt, untersuchte eine amerikanische Studie genauer. Die darin befragten Personen schrieben betroffenen Forschenden einerseits mehr Expertise zu, andererseits auch mehr Eigeninteresse. Die erste Zuschreibung macht die Arbeiten vertrauenswürdiger und legitimer, die zweite erhöht den Verdacht auf Voreingenommenheit. Je nach eigener Sicht ist dann die eine oder die andere dieser Zuschreibungen dominant. Ähnlich reagiert die Öffentlichkeit übrigens, wenn Wissenschaft politisch wird. Das kommt häufig vor, etwa in der Klimaforschung, bei der Gleichstellung, der Bildung oder bei den Covid-Massnahmen. Hier zeigte eine Studie von Altenmüller, dass sich die Öffentlichkeit stark von der erwarteten Haltung der Forschenden leiten lässt: Werden sie als linksliberal wahrgenommen, sind rechtskonservative Menschen skeptischer. Und umgekehrt sind Linksliberale skeptischer, wenn sie bei den Forschenden eine konservative Einstellung vermuten.
Doch was heisst das nun? Was sollen Forschende tun, um glaubwürdig zu sein? «Darauf gibt es keine einfache Antwort», sagt Altenmüller. Umfragen zeigten immer wieder eine interessante Ambivalenz: Die Leute schätzen häufig Persönliches von den Forschenden und möchten auch, dass sie sich zu politischen Fragen äussern – dass sie etwa widersprechen, wenn Evidenz falsch dargestellt wird. Gleichzeitig soll Wissenschaft nicht Politik machen, beispielsweise nicht Partei für bestimmte politische Massnahmen ergreifen – ein schmaler Grat.
Vertrauenswürdig, wenn einverstanden So weit, so gut, möchte man meinen. Nur: Diese Eigenreflexion führt nicht unbedingt dazu, dass die Forschung für die Öffentlichkeit glaubhaft ist. Was Studien stattdessen gezeigt haben: Sind Forschende betroffen, kann ihnen das positiv oder negativ ausgelegt werden – je nachdem, welche Meinung schon vorher beim Publikum vorherrscht. So zeigte eine Untersuchung von 2021 am Beispiel von Arbeiten zu LGBTQ-Themen und veganer Ernährung, dass Laien persönlich betroffene Forschende als vertrauenswürdiger und deren Resultate als glaubwürdiger wahrnahmen – sofern sie dem Forschungsthema gegenüber schon positiv eingestellt waren. Umgekehrt aber waren Personen, die von vornherein beispielsweise vegane Ernährung kritisch sahen, nochmals kritischer.
«So sind wir alle gestrickt, wir möchten unser Weltbild bestätigt wissen», sagt Marlene Altenmüller. Sie ist Erst-
Doch unabhängig von der öffentlichen Meinung: Wie vertrauenswürdig Arbeiten von persönlich oder politisch involvierten Forschenden tatsächlich sind, dazu gibt es bisher kaum Studien. «Diese Art der Forschung über Forschung ist extrem aufwendig und steht erst am Anfang, bekommt nun aber immer mehr Zug», sagt Altenmüller. Zumindest ein Resultat in diese Richtung lässt sich vermelden. Ein US-amerikanisches Forschungsteam schaute sich fast 200 psychologische Studien an, deren Ergebnisse eine politische Wertung enthalten. Und untersuchte, ob diese in späteren Untersuchungen weniger häufig bestätigt wurden als andere. Ergebnis: Nein.
Santina Russo ist freie Wissenschaftsjournalistin in Zürich.
Soll am Ende der Befund objektiv sein oder vor allem der Prozess auf dem Weg dahin?
Wissenschaftsphilosoph Jan Sprenger erklärt die Grundideen von Objektivität in der Forschung. Und warum sie für die Sozialwissenschaften schwieriger ist.
Text Judith Hochstrasser Foto Bea De Giacomo
Jan Sprenger, Sie beschäftigen sich philosophisch mit Objektivität und Subjektivität in der Forschung: Wer persönliche Erfahrung mit dem eigenen Forschungsobjekt hat, sollte worauf unbedingt achten?
Wir unterscheiden in der Wissenschaftsphilosophie zwischen zwei Dimensionen: Beim Generieren einer Hypothese sind persönliche Erfahrungen oder Perspektiven zulässig. Die Bewertung der Hypothese nach den erbrachten Evidenzen muss aber aufgrund von in der Disziplin üblichen Standards geschehen. Die eigenen Erfahrungen sollten zudem nicht als Evidenz benutzt werden, um bestimmte Theorien zu bestätigen. Und man muss natürlich aufpassen, dass sie das Urteil nicht trüben.
Es kommt also darauf an, in welchem Stadium der Erkenntnisgewinnung die persönliche Erfahrung einfliesst. Ja. Das gilt übrigens auch für die eigene Weltanschauung.
Wie objektiv denken denn Sie selbst über Objektivität nach?
Na ja, wenn wir Philosophen Hypothesen formulieren, sind diese natürlich nicht ganz leicht empirisch zu testen. Wir versuchen vielmehr Begriffe wie eben Objektivität zu erklären, indem wir beschreiben, welche Funktion diese im wissenschaftlichen Diskurs hat. Dann argumentieren wir, warum der eine oder der andere Ansatz aussichtsreicher ist.
Wie funktioniert Objektivität in den Sozialwissenschaften und wie in den Naturwissenschaften?
Naturwissenschaften haben es leichter, weil sie über mehr und über erfolgreichere quantitative Theorien verfügen. Mit diesen können sie präzise Vorhersagen machen, die sie wiederum genau testen können. Ein Beispiel aus der Physik: Aufgrund der Bahnabweichungen
des Planeten Uranus konnte die Position von Neptun erfolgreich vorhergesagt werden. Die Naturwissenschaften haben im Zweifelsfall zudem das Labor, wo sie ein Experiment, etwa zur Thermodynamik, ohne relevante Einflüsse von aussen durchführen können. In den Sozialwissenschaften ist es viel schwieriger, weil es um komplexe Systeme mit einem Netzwerk von kausalen Einflüssen geht, die sich nicht so einfach abschirmen lassen.
Zum Beispiel?
Wie kommt Rassismus zustande? Das ist kaum im Labor zu testen. Und es gibt sehr viele Einflüsse, die mitwirken. Natürlich gibt es auch in den Sozialwissenschaften Experimente im Labor zu spezifischen Fragen wie etwa: Wie sehr vertrauen Menschen einander, wenn es ums Geld geht? Da bleibt aber offen, wie sich diese Idealisierungen nachher auf die Gesellschaft übertragen lassen.
Wie wird Objektivität also konkret in der Forschungsarbeit hergestellt?
Das ist vielschichtig. Zwei Grundideen sind jedoch vorherrschend: Die einen berufen sich auf das Produkt der Forschungsarbeit. Zum Beispiel wird ein Befund eines Experiments als objektiv angesehen, wenn er von verschiedenen Forschenden zu verschiedenen Zeitpunkten an verschiedenen Orten unabhängig voneinander repliziert werden kann. Andere betonen den Prozess, mit dem persönliche Voreingenommenheit aus der empirischen Arbeit herausgehalten werden kann. Wenn wir in der Wissenschaft über Objektivität reden, ohne sie zu spezifizieren, meinen wir meistens eine, in der sich diese beiden Ideen überlappen. Die Unterscheidung zwischen Produktobjektivität und Prozessobjektivität halte ich jedoch für wichtig.
Das ist ziemlich abstrakt. Richtig. Mich interessiert beim Objektivitätsbegriff allerdings besonders, wie er in der täg-
lichen Praxis der Forschung nützlich sein kann. Bleiben wir dafür beim Prozessaspekt. Dort, wo es nicht möglich ist, Werte aus den wissenschaftlichen Argumentationen oder aus der Datenanalyse herauszuhalten, sollten Forschende sie transparent machen. Das kann zum Beispiel die Auswahl der getesteten Hypothesen betreffen oder die ihnen zugewiesenen Wahrscheinlichkeiten. Die Forschenden können ausserdem zeigen, ob die Schlussfolgerungen aus einem Experiment sich ändern würden, wenn sie andere Voraussetzungen gemacht hätten.
Kann so gesehen Subjektivität überhaupt vermieden werden?
Es ist unmöglich, zum Beispiel einen Datensatz zu analysieren, ohne dass man gewisse Annahmen macht, zum Beispiel welche Faktoren das Vertrauen der Menschen zueinander beeinflussen und welche nicht. Dabei ist subjektives Urteil also unerlässlich. In der sogenannten Bayes-Statistik sind diese subjektiven Elemente deshalb expliziter Bestandteil des wissenschaftlichen Schlussfolgerns, indem Hypothesen subjektive Wahrscheinlichkeiten zugewiesen werden, deren Wert sich im Lichte der experimentellen Befunde allenfalls verändert. In der klassischen Statistik dagegen spricht man gar nicht von der Wahrscheinlichkeit einer Hypothese. Es geht nur darum, wie gut oder schlecht die Nullhypothese eines fehlenden kausalen Zusammenhangs die Daten erklärt. Das ist der Standard, von dem man ausgeht. Jegliches subjektive Urteil wird als nicht zur Wissenschaft gehörig abgetan.
Warum ist das ein Problem?
Diese Standardisierung führt unter anderem dazu, dass bei statistischer Forschung am Ende nur die sogenannten signifikanten Resultate publiziert werden, also diejenigen, die einem bestimmten P-Wert entsprechen. Diese Kennziffern ermöglichen aber nur die Aussage, dass Daten wahrscheinlich nicht zufällig zustande
gekommen sind. Um es mit einem Beispiel zu erklären: Wenn in einem grossen Experiment mit 100 000 Patienten ein Medikament auch nur minimal besser abschneidet als ein Placebo, dann ist der Befund aufgrund der sehr grossen Stichprobe fast sicher statistisch signifikant. Das sagt aber nichts darüber aus, ob dieses Medikament tatsächlich einen Beitrag zur Bekämpfung der Krankheit liefert. Seit ein paar Jahren gibt es deswegen eine Bewegung, die sich dafür einsetzt, dass man sich nicht mehr ausschliesslich auf P-Werte verlässt. Aber das war vorher über Jahrzehnte der dominante Ansatz und hat viel Schaden angerichtet.
Ist Objektivität überhaupt etwas Gutes?
Dank ihr wird der Wissenschaft vertraut und ist sie im gesellschaftlichen Diskurs relevant. Wenn man die Prozessobjektivität als Ausgangspunkt nimmt, also in erster Linie die
So objektiv wie möglich
Jan Sprenger ist Professor für Logik und Wissenschaftstheorie an der Universität von Turin. Sein Fokus liegt auf erkenntnistheoretischen Fragestellungen. Bis 2021 hat er das europäische Forschungsprojekt «Making Scientific Inferences More Objective» geleitet. Dieses hatte zum Ziel, die Objektivität statistischer, kausaler und erklärender Schlussfolgerungen besser zu verstehen. jho
Es liegt eine experimentelle Arbeit zugrunde, es gibt einen hohen Grad an Reproduzierbarkeit und eine Bewertung von Theorien, die mehr durch Evidenzen als durch persönliche Überzeugungen gesteuert ist.
Das passt gut für die Natur- und die Sozialwissenschaften. Aber in den Geisteswissenschaften? Eine Historikerin kann eine Quelle bewusst aus der Perspektive einer bestimmten Randgruppe anschauen. Da ist die Voreingenommenheit sozusagen Methode.
Das kann durchaus sinnvoll sein, weil man damit eine bisher unbekannte Perspektive entwickelt. Es ist aber wichtig, dass man diesen Ansatz kennzeichnet. Und es genügend andere Ansätze gibt, welche die Quelle wieder aus anderer Perspektive interpretieren. Wissenschaftlicher Fortschritt in den Geisteswissenschaften ergibt sich gerade aus der Konfrontation.
Inwiefern?
persönliche Voreingenommenheit möglichst raushalten möchte, ist die Idee zudem nicht mit zu hohen Erwartungen verbunden. Wenn man Objektivität jedoch als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit versteht, dann kann Wissenschaft das nicht immer gewährleisten. Dafür ist sie viel zu komplex.
Wäre dieser Anspruch noch eine neue Dimension von Objektivität? Neben der Prozess- und der Produktobjektivität? Objektivität als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist natürlich eine alte Idee. Sie schwingt in der Idee der Produktobjektivität mit. Allerdings kann man diese Übereinstimmung schlecht direkt messen.
Was muss also zusammengefasst bei praxisnaher Kombination von Produktund Prozessobjektivität erfüllt sein?
In den Naturwissenschaften akzeptiert man ein Paradigma, indem man daran arbeitet. In den Geisteswissenschaften versucht man eher, das Verständnis eines bestimmten Phänomens mit konträren Deutungsansätzen zu vertiefen. In solchen Fällen stellt dann ein wissenschaftlicher Konsens einen objektiven Befund dar. Es gibt in den Geisteswissenschaften kaum allgemeine Theorien wie etwa die Newtonschen Gesetze in der Physik, die die Forschung leiten können. Sie sind viel stärker vom Studium des konkreten Einzelfalls abhängig.
Judith Hochstrasser ist CoRedaktionsleiterin von Horizonte.
Vom Alchemisten im Fürstenhof bis zur doppelblinden Studie: Die Geschichte der wissenschaftlichen Methode ist eine von Chaos und Kontrolle.
Text Johannes Giesler Illustration Bunterhund
1575 wurde Philipp Sömmering hingerichtet. Ihm war es jahrelang nicht gelungen, Gold herzustellen. Dabei hatte er sich mit der Behauptung, das Edelmetall aus weniger edlen Stoffen erschaffen zu können, einen lukrativen Job und ein gut ausgestattetes Labor am Fürstenhof Braunschweig-Wolfenbüttel gesichert. Sömmering war Alchemist. Heute würde er als Pseudowissenschaftler gelten. Damals aber war sein magisches Wissen begehrt. «Es war eine aufregende Zeit», sagt der Wissenschaftshistoriker Ion-Gabriel Mihailescu von der Universität Neuenburg. «Auf der einen Seite stand die über Jahrhunderte etablierte Naturphilosophie der Universitäten. Sie bot ein stimmiges Weltbild, das alles erklären konnte – von der Bewegung der Sterne bis hin zum Verhalten der Materie auf der Erde.» Auf der anderen Seite standen Alchemisten wie Sömmering, aber auch Künstler oder Handwerker und stellten wilde Behauptungen auf, die dem Weltbild der Universität widersprachen. «Sie gaben vor, die Natur manipulieren zu können, weil sie geheime Wahrheiten entdeckt hätten. Ja, man könnte sagen: Damals herrschte intellektuelles Chaos», sagt Mihailescu. Und das warf Fragen auf: Wie entsteht verlässliches Wissen? Und wie lässt es sich überprüfen? Eine Antwort darauf gab die wissenschaftliche Revolution. Das war eine Entwicklung, die im 16. Jahrhundert begann und den Gedanken hervorbrachte, dass Wissen von den Verfahren unabhängig sein sollte, mit denen es gewonnen wurde. Die wissenschaftlichen Methoden wurden entwickelt. Vier Beispiele und wie sie die Forschung verändert haben.
Die Gentlemen der Royal Society sind Zeugen des Experiments. Die Royal Society spielte eine wichtige Rolle dabei, wie fortan wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen und überprüft wurden. Gegründet 1660 in London, war sie von den empirischen Idealen des «Novum
Organum» von Francis Bacon geprägt – eines der ersten methodischen Werke der Wissenschaftsgeschichte. Zwar legte Bacon kein penibles Protokoll vor, aber sein Fokus lag auf systematischer Beobachtung und praktischer Forschung, die das Experiment zum Mittel der Wahl machte. Ein Beispiel dafür zeigt das Ölgemälde «Das Experiment mit dem Vogel in der Luftpumpe» von Joseph Wright of Derby. Es stellt ein reales Experiment von Robert Boyle, einem der Gründer der Society, nach. Darauf zu sehen sind Männer, Frauen und Kinder, die um eine verschliessbare Glaskugel mit einem weissen Kakadu herumstehen, während die Luft aus dem Gefäss gesaugt wird. Die Frage des Experiments: Ist Luft für das Leben notwendig?
«Die Royal Society führte gemeinsam Experimente durch, um Wissen zu erzeugen», sagt Mihailescu. «Ebenso wichtig aber war, dass die Experimente von anderen Mitgliedern der Gesellschaft bezeugt und überprüft wurden.» So habe der Historiker Steven Shapin gezeigt, dass zu dieser Zeit die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Aussagen davon abhing, wer sie beobachtet habe. «Deshalb waren die Mitglieder der Society Gentlemen – finanziell unabhängig und damit in den Augen der Öffentlichkeit glaubwürdig», erklärt Mihailescu. Die Royal Society schuf zudem Wege, wissenschaftliche Erkenntnisse zu verbreiten –insbesondere durch ihr Journal Philosophical Transactions. Weil darin aber meist nur die Ergebnisse eines Experiments mitgeteilt wurden, brachte das mehr Probleme als Konsens. Denn: Damals gab es noch keine einheitlichen Standards.
Das zeigt das berühmte Licht-Experiment Isaac Newtons. Er hatte weisses Licht durch ein Glasprisma geleitet und in sein Farbspektrum zerlegt. Weisses Licht, schlussfolgerte Newton, enthält farbiges. Aber andere europäische Wissenschaftler scheiterten reihenweise daran, sein Ergebnis zu reproduzieren. Newton warf ihnen deshalb vor, dies läge an «falschen» Prismen, was ihm wiederum den Vorwurf einbrachte, er definiere «richtige Prismen» nur als jene, die seine Ergebnisse bestätigten. Später stellte sich heraus, dass alle anderen venezianisches
Glas benutzt hatten. Auch wenn es kunstvoll gearbeitet ist, eignet es sich nicht für optische Experimente.
Die Idee, dass eine Behauptung von einer Community überprüft und bestätigt wird, ist heute Grundgedanke in der Wissenschaft. Was im 17. Jahrhundert begann, war der Auftakt zu einer langsamen Institutionalisierung und Professionalisierung der Forschung und führte zu einem Paradigmenwechsel darüber, wie sich Erkenntnis durchsetzt.
Ein schottischer Schiffsarzt testet Vitamin C im Vergleich.
Kaum eine wissenschaftliche Methode hat die medizinische Forschung so tiefgreifend verändert wie die randomisierte kontrollierte Studie –kurz: RCT. Sie ist heute Goldstandard für die Prüfung neuer Therapien. «Ihre Stärke liegt darin, Verzerrungen systematisch auszuschliessen und Aussagen über die Wirksamkeit eines Medikaments zu treffen», erklärt Erik von Elm. Der Arzt und Epidemiologe hat 2011 die Dépendance des internationalen Forschungsnetzwerks Cochrane in der Schweiz mitgegründet. Cochrane fasst seit über 30 Jahren den aktuellen Wissensstand in der Medizin- und Gesundheitsforschung in systematischen Übersichtsarbeiten zusammen. «Die RCT teilt Probanden in eine Experimental- und eine Kontrollgruppe ein», erklärt von Elm. Die Versuchsgruppe erhält ein Medikament, die Kontrollgruppe ein Placebo. Die Überlegung: Zeigen sich nach der Behandlung Unterschiede zwischen den Gruppen, liegt das wahrscheinlich am Medikament. Der faire Vergleich ist das erste Prinzip der RCT.
Ein historisches Beispiel für dieses Vorgehen geht auf den schottischen Arzt James Lind im Jahr 1747 zurück. Während einer monatelangen Schiffsfahrt wollte er erkrankte Matrosen behandeln. Sie alle litten infolge von Vitamin-C-Mangel an Skorbut, was man damals aber nicht wusste. Nur, dass die Krankheit zum Tod führen und dass die Zähne ausfallen konnten – das wohl bekannteste Symptom. Lind suchte systematisch nach einer Behandlung und unterteilte Erkrankte erstmals in Gruppen. Allen verordnete er die gleiche Diät, verabreichte aber zusätzlich jeder Gruppe ein anderes Nahrungsmittel. Nach wenigen Tagen ging es den Matrosen besser, die jeden Tag Zitrusfrüchte – voller Vitamin C – gegessen hatten.
«Das zweite Prinzip der RCT ist die Randomisierung. Das heisst, die Teilnehmenden werden zufällig eingeteilt», fährt Erik von Elm fort. Auf diese Weise sollen die Gruppen vergleichbar sein und es soll bei-
spielsweise eine bewusste Auswahl ausgeschlossen werden. Erstmals wurden Probanden per Losverfahren, also zufällig, bereits im 19. Jahrhundert eingeteilt. «Das dritte Prinzip ist die Verblindung: Idealerweise wissen weder Probanden noch Therapeutinnen, wer das neue Medikament und wer ein Placebo erhält», schliesst von Elm. So werde verhindert, dass sich Therapeuten im Umgang mit Probanden unterschiedlich verhielten, weil sie beispielsweise fürsorglicher mit den Probanden umgingen, die das Medikament erhielten. Erste verblindete Studien gab es schon im frühen 20. Jahrhundert.
Die RCT entstand über Jahrhunderte, ist heute ein elaborierter Methodenmix und hat es zur gesetzlichen Norm geschafft, auch, weil es schwerwiegende Folgen durch unzureichend getestete Medikamente gab. Ein Beispiel dafür ist der Thalidomid-Skandal in den 1950er-Jahren, bei dem das Schlafmittel Contergan bei Tausenden Neugeborenen Fehlbildungen verursachte. Seither müssen Medikamente nicht nur wirksam, sondern auch sicher sein.
Statistik quantifiziert den Zufall und verallgemeinert Einzelfälle.
«Ich komme bei der Frage ins Spiel: Wie kann ich aus einem Experiment kausale Effekte erkennen?» – so beschreibt der Statistiker Servan Grüninger seinen Job. Der Forscher der Universität Zürich beschäftigt sich mit experimenteller Versuchsplanung. Ihn interessiert: Wann ist ein beobachteter Effekt das Resultat einer Intervention und wann nicht? Es gibt laut Grüninger eine lange Tradition in der Statistik, «um wissenschaftliche Aussagen auf ihre Verlässlichkeit zu überprüfen». Statistik ist heute Grundlage quantitativer Forschung in nahezu allen Disziplinen und hat das Verständnis von wissenschaftlicher Objektivität grundlegend verändert. «Ein klassisches Beispiel, um die Bedeutung der Statistik zu zeigen, ist das Lady-Tasting-Tea-Experiment», sagt Grüninger. Durchgeführt hat es der Statistiker Ronald Fisher in den 1920er-Jahren: Seine Bekannte Muriel Bristol behauptete – typisch britisch –, sie könne schmecken, ob beim Tee zuerst Milch oder Tee eingeschenkt wurde. Fisher glaubte das nicht und wollte Bristol testen. Er setzte ihr acht zufällig angeordnete Tassen vor. Vier hatte er verdeckt zuerst mit Milch und vier zuerst mit Tee befüllt.
«Jetzt kann ich berechnen, wie wahrscheinlich es ist, dass Bristol zufällig bei allen acht Tassen richtig liegt. Pro Tasse liegt die Wahrscheinlichkeit bei 50 Prozent», erklärt Grüninger. «Acht Mal in Folge richtig
zu raten, ist schwierig. Die Wahrscheinlichkeit liegt mit der von Fisher gewählten Versuchsanordnung bei 1,4 Prozent.» Aber genau das geschah: Bristol lag achtmal richtig. Ob man das als Beweis für Bristols Geschmackssinn oder nur als Zufallsergebnis betrachten will, hängt davon ab, ob man 1,4 Prozent als unwahrscheinlich genug betrachtet. Dieser Ansatz lässt sich auf Medikamententests, aber auch auf fast jedes beliebige Studiendesign übertragen. «Die Statistik verbindet dabei Fehlerwahrscheinlichkeit mit Kausalaussagen», fasst Grüninger zusammen. Eine zweite wichtige Anwendung der Statistik ist es, Muster zu erkennen – «Rauschen von Signal zu trennen», nennt das Grüninger. Was das heisst, zeigt die soziologische Studie «Le Suicide» von Émile Durkheim aus dem Jahr 1897. Was bis dahin als rein individuelles Verhalten galt, wurde durch statistische Methoden übertragbar: Durkheim konnte zeigen, dass Suizidraten mit Faktoren wie Geschlecht, Familienstand und Religionszugehörigkeit korrelieren. Statistik machte sichtbar, was vorher verborgen war. Für das wissenschaftliche Arbeiten war das ein Wendepunkt: Statt Einzelfälle zu deuten, erlaubt Statistik verallgemeinerbare Aussagen. Aber nur, wenn sie richtig eingesetzt wird. Grüninger warnt: «Statistik kann nur nützlich sein, wenn sie in ein Forschungsprogramm eingebettet ist, das klar macht, was wir überhaupt quantifizieren wollen. Ist das nicht definiert, handelt es sich um Pseudowissenschaft.»
Verstehen, nicht beweisen
Quellenkritik bringt verbindliche Standards in die Geschichte. «Ich arbeite mit Zeugnissen aus der Vergangenheit: mit Texten, Bildern, Artefakten oder auch Landschaftsformen», sagt Dania Achermann. Die Professorin für Wissenschaftsgeschichte forscht und lehrt an der Universität St. Gallen. Ihr Zugang zu Erkenntnis unterscheidet sich grundlegend von den meisten naturwissenschaftlichen Verfahren: «Historische Quellen sind nie neutrale oder objektive Informationsstücke. Dahinter steht immer ein Urheber oder eine Urheberin, es gibt Absichten, ein Zielpublikum.» Achermann arbeitet mit der historischen Methode, in deren Zentrum die Quellenkritik steht. Sie entstand im Zuge der Professionalisierung der Geschichtswissenschaft. Zwar wurde dafür bereits 1759 eine erste Professur geschaffen, sieben Jahre später auch ein Institut, beides in Göttingen, dennoch entstand das Berufsbild des Historikers erst im 19. Jahrhundert.
Seither folgt auch die historische Methode klaren Kriterien, damit historische Zeugnisse nicht unreflektiert übernommen, sondern sys-
tematisch hinterfragt werden können: Wer hat die Quelle verfasst? Welche Sprache wird verwendet? Welche alternativen Quellen stehen zur Verfügung – und welche nicht? «Urheber, Adressatin, Sprache, Kontext. Im Studium hakt man alles bewusst ab, später passiert das automatisch», sagt Achermann. Beinahe intuitiv. Deshalb nimmt die historische Methode eine Sonderrolle ein. Oft wird sie in geschichtswissenschaftlichen Arbeiten nicht explizit erwähnt, was Achermanns Zunft mitunter den Vorwurf einbrachte, nicht wissenschaftlich standardisiert zu arbeiten. Selbst aus den eigenen Reihen: Der französische Historiker Marc Bloch sagte einmal, dass die Quellenkritik eine Kunst bleibe, «für die es eines besonderen Fingerspitzengefühls» bedürfe und deshalb kein Rezeptbuch geben könne.
Anders als in quantitativen Untersuchungen geht es nicht darum, Kausalgesetze zu formulieren – sondern Sinnzusammenhänge nachzuvollziehen und Deutungen transparent zu machen. «Mein Ziel ist es nicht, etwas zu beweisen – sondern es zu verstehen, zu rekonstruieren, Absichten zu erkennen», sagt Achermann. Wie das in der Praxis aussieht, zeigt der wissenschaftshistorische Aufsatz «The Image of Objectivity» von Lorraine Daston und Peter Galison. Darin erklären sie, dass sich die Bedeutung von Objektivität im Laufe der Zeit gewandelt – und das auch wissenschaftliche Bilder geprägt habe: Im 18. Jahrhundert galt das sogenannte Typische als objektiv, Interpretation durch Forschende war nicht nur erlaubt, sondern erwünscht: Man nennt es das Truth-to-Nature-Ideal. Im 19. Jahrhundert kehrte sich das um, Status quo war fortan die sogenannte mechanische Objektivität– Kameras und Maschinen sollten Beobachtungen neutral und unverfälscht dokumentieren. Wer, wie Achermann, historische Bilder in wissenschaftlichen Arbeiten analysiert, muss wissen, unter welchem zugrundeliegenden Ideal sie erstellt wurden.
Wissenschaftliche Methoden sind das Ergebnis eines offenen, nie abgeschlossenen Prozesses. Sie garantieren kein endgültiges Wissen und schliessen auch Subjektivität nicht aus – weil diese Teil des wissenschaftlichen Prozesses ist: in der Auswahl der Fragen oder den Interessen der Forschenden beispielsweise. Und auch wenn Methoden wichtig sind, die Stärke der Wissenschaft liegt im kollektiven Abgleich. In ihrer wiederholbaren Anwendung durch viele.
Johannes Giesler ist freier Wissenschaftsjournalist in Leipzig.
Im Labor zur Erforschung neuronaler Systeme des Universitätsspitals
Zürich versuchen Forschende das soziale Denken einer Person zu erkennen. Unter anderem mithilfe von Schere, Stein, Papier. Wir spielen mit.
Text Atlant Bieri Fotos Markus Bertschi
Das Kellergeschoss des Universitätsspitals Zürich ist ein Irrgarten langer und steriler Gänge. Ein Hauch Desinfektionsmittel liegt in der Luft. Da passt die hohe Tür aus Eichenfurnier nicht ins Bild. Sie öffnet sich zu einem Labor, das einem Berghotel gleicht – einfach ohne grandiose Aussicht. «Wir wollen hier das Sozialverhalten untersuchen. Da kann man die Leute nicht einfach in einen dunklen Keller stecken», erklärt Christian Ruff die edle Innenausstattung.
Ruff ist Professor für Neuroökonomie und Entscheidungswissenschaften an der Universität Zürich und Geschäftsführer des Labors zur Erforschung sozialer und neuronaler Systeme. Es wurde 2007 gegründet. Seine Mission: der Gesellschaft ins Gehirn schauen. «Wir wollen verstehen, wie Menschen ticken, damit wir unsere Entscheidungen und die Gesellschaft als Ganzes begreifen können», sagt Ruff. Das nennt sich Verhaltensökonomie.
«Jahrzehntelang haben wir Annahmen über die Gesellschaft getroffen, die vielleicht gar nicht stimmen», führt Ruff weiter aus. Ein Beispiel: Wenn Steuerhinterziehung vom Staat geduldet wird, gibt es automatisch mehr Steuerhinterzieher. Denn warum soll man ehrlich sein, wenn es gar nicht gefragt ist? Ob unser Gehirn tatsächlich so funktioniert, weiss zurzeit niemand. «Darum wollen wir die Gehirnprozesse ergründen, die für unser Handeln verantwortlich sind. Wir wollen harte Fakten schaffen und ein klares Vokabular liefern. So lernen wir vielleicht auch, was Politik, Orga
1 Dem Gehirn beim Entscheiden zuschauen: Dafür werden im Labor zur Erforschung sozialer und neuronaler Systeme auch mittels EEG die Hirnströme in Echtzeit gemessen.
2 Das Herzstück des Labors ist der Magnetresonanztomograf. Die Patientin nimmt an einem Entscheidungsspiel teil, die Forschenden beobachten derweil die Aktivitäten der Gehirnareale.
3 Neuroökonom Christian Ruff (links) und Laborleiter Marius Moisa erstellen bei ihrer Arbeit Fingerabdrücke der Entscheidungsfindung im Gehirn.
4 Die Drei schlägt die Zwei, die Zwei die Eins und die Eins die Drei. Wie im Kinderspiel Schere, Stein, Papier entwickeln die Probandinnen Strategien.
5 Die Versuchsteilnehmenden spielen besser, wenn sie das Gegenüber gut lesen können und verstehen, nach welchen Strategien dieses spielt.
nisationen und Behörden tun können, damit sich die Menschen anders verhalten.»
Um Sozialverhalten systematisch zu untersuchen, braucht es eine soziale Handlung. Etwas, das einfach ist und sich beliebig oft wiederholen lässt. Im Experiment, das heute Morgen ansteht, ist die Wahl verblüffend: Es ist das Spiel Schere, Stein, Papier. Versuchsleiter Gökhan Aydogan hat gerade eine neue Spielrunde vorbereitet und sechs junge Frauen und Männer einzeln vor einem Bildschirm Platz nehmen lassen. Die Probanden rekrutieren sich meist aus den Studierenden in Zürich. «Alle bitte S drücken», weist Aydogan sie an. Statt mit den Begriffen Schere, Stein und Papier wird mit den Zahlen Eins, Zwei und Drei gespielt. Die Drei schlägt die Zwei, die Zwei die Eins, und die Eins schlägt die Drei. «Ihr könnt jetzt spielen.»
Andere verstehen, um zu gewinnen Ist das nicht etwas kindisch? «Nein», findet Aydogan. «Es ist sogar sehr tiefblickend. Denn viele besondere Fähigkeiten unseres Verstandes kommen hier zum Zug. Die meisten Menschen folgen einer bestimmten Strategie oder bestimmten Gewohnheiten. Einer hat beispielsweise eine Vorliebe für die Eins. Eine andere spielt vorwiegend die Zahl, mit der sie beim letzten Mal gewonnen hat. Oder tippt immer eins mehr als die andere Person beim letzten Mal.» Entscheidend ist, dass sich die Probandinnen in ihr Gegenüber hineinversetzen müssen, wenn sie gewinnen wollen. «Sie müssen verstehen, wie der andere tickt. Das ist eine grundlegende Fähigkeit. Die brauchen wir in unserer Gesellschaft die ganze Zeit, beispielsweise in einer Partnerschaft, aber auch in der Politik, der Schule oder bei Verhandlungen», erklärt Aydogan. Leute, die andere Menschen nicht «lesen» können, verlieren häufiger. Es gibt ein Spektrum: von solchen, die andere hervorragend analysieren können, bis hin zu solchen, die dazu nicht in der Lage sind. Mit dem Versuchsaufbau lässt sich die Bandbreite künstlich erzeugen.
Auf dem Kopf der Probandinnen wird nun eine Magnetspule angebracht. Diese sendet elektromagnetische Wellen mit spezieller Taktfrequenz aus. Mit ihr können je nach Platzierung am Schädel während des Spielens unterschiedliche Gehirnareale stimuliert werden. Beispielsweise der frontale Kortex, der für logisches und analytisches Denken zuständig ist. «Wenn wir ihn anregen, dann können die Leute schneller denken und sich besser in andere hineinversetzen», sagt der Techniker und Laborleiter Marius Moisa. «Die gewinnen dann
öfter.» Mit anderen Worten: Sie werden zum sozialen Superhirn. Aber es geht auch andersrum. Wenn die Stimulation in einem anderen Rhythmus stattfindet, ermüdet das betroffene Gehirnareal. «Diese Probanden können ihr Gegenüber plötzlich nicht mehr so gut lesen und verlieren in der Folge», sagt Moisa.
Aktive Hirnregionen visualisieren
Doch so viele Runden die Teilnehmenden mit der Magnetspule am Kopf auch machen, eines fehlt dabei immer: der direkte Blick ins Gehirn. Hier kommt das Herzstück des Labors zum Zug: ein Magnetresonanztomograf. Erst Anfang Jahr wurde ein brandneues Gerät installiert. «Wir mussten ein paar Wände rausbrechen, um es hineinzubekommen», erinnert sich Ruff. Vom Kontrollzentrum im Nebenraum hat er durch eine Glasscheibe direkten Blick darauf. Eine junge Frau wird auf dem Rolltisch kopfvoran in die Röhre geschoben. Wenig später erscheint ihr Gehirn in farbigen Auf und Seitenrissen auf den Bildschirmen im Kontrollraum. Damit die Probandin am Spiel teilnehmen kann, ist ein Bildschirm genau vor ihrem Gesicht installiert. Mit einer Hand kann sie einen Cursor bedienen. «Der Scanner misst den Sauerstoffbedarf der verschiedenen Gehirnareale in Echtzeit. Dadurch sehen wir, wo ihr Gehirn gerade aktiv ist, wenn sie Entscheidungen fällt», erklärt Ruff. Die Bilder werden anschliessend statistisch ausgewertet. Inzwischen liegen so viele Daten vor, dass sich ein Muster ablesen lässt. «Wir haben quasi einen Fingerabdruck des sozialen Denkens», so Ruff. Er weiss also, welche Areale aktiv sind, wenn sich eine Person in eine andere hineinversetzt. «Wir können anhand des Aktivitätsmusters sogar vorhersagen, wie gut eine Person beim Spiel abschneiden wird.»
Die Trefferquote liegt bei stolzen 80 Prozent. In Zukunft möchte Ruff solche Vorhersagen unter anderem bei Kindern zur Abklärung von Lernstörungen anwenden, aber auch etwa beim Autismus Spektrum. Ein weiterer Anwendungsbereich ist die Erforschung von Stress. Das Labor zur Erforschung sozialer und neuronaler Systeme steht in der Schweiz und weltweit mit mehreren Forschungsverbünden in Kontakt. «Wir möchten dereinst die Stressresilienz einer Person direkt mit einem Gehirnscan messen können. Dann könnte man schon während der Berufswahl herausfinden, ob man sich als Feuerwehrmann oder Polizistin eignet.»
Doch so weit ist die Forschung noch nicht. «Wir müssen überhaupt erst verstehen, wie unser Gehirn unter Stress funktioniert. Gehen
gewisse Dinge besser, oder bekommen wir den berüchtigten Tunnelblick und können nicht mehr richtig denken?»
Um die Probanden im Tomografen zu stressen, greifen die Forschenden zu einem einfachen Trick: Mathematik. Auf dem Bildschirm der Frau im Tomograf erscheinen jetzt Bandwurmaufgaben. Sieben mal neun, das Resultat geteilt durch drei und dann minus vier. Sie bewegt den Cursor zur 17 – gerade noch geschafft! Nach drei Sekunden erscheint bereits die nächste Aufgabe. Schon nach wenigen Minuten fühlt man sich wie nach einem ganzen Tag mit dem nörgelnden Chef im Nacken, der unbedingt will, dass man noch vor Mitternacht drei Laufmeter Akten abarbeitet. So konditioniert nimmt die Probandin nun wieder am Spiel teil.
So hochauflösend die Bilder des Tomografen auch sind, für das menschliche Gehirn ist er nicht schnell genug. Die Scans sind zeitlich immer ein paar Sekunden verzögert. «Wir können also gut messen, wo im Hirn bei Entscheidungen Aktivität herrscht, aber zeitlich ist die Methode nicht so genau», sagt Ruff. Hier kommt jetzt die dritte wichtige Komponente des Labors ins Spiel: die Elektroenzephalografie. Mit ihr werden die Gehirnströme in Echtzeit auf die Millisekunde genau gemessen. Dazu setzt sich die Probandin in einem Nebenraum eine Haube auf, die mit Elektroden gespickt ist. Räumlich sind solche Messungen durch die Schädeldecke zwar schlecht, aber zusammen mit den Bildern des Tomografen ergibt sich ein sehr genaues Abbild der Vorgänge im Gehirn.
«Unsere Forschung kann helfen, gesellschaftliche Prozesse effizienter zu machen», ist Ruff überzeugt. Neben der Berufswahl könnte damit vielleicht auch ethisches Verhalten bei Konsum, Umweltverschmutzung oder Korruption verbessert werden. «Dazu kommt die pathologische Dimension. Depression, Angststörungen, Borderline: Diese Labels sind viel zu ungenau», meint Ruff. Auch hier müssten die grundlegenden Gehirnmechanismen verstanden werden. «Dann können wir hoffentlich effiziente Therapien anbieten und das Leben der Betroffenen verbessern.» Ein Anfang ist im Untergeschoss des Spitals dank Hotelatmosphäre und modernster Technologie schon mal gemacht.
Atlant Bieri ist Wissenschaftsjournalist in Pfäffikon (ZH).
«Wir wollen verstehen, wie Menschen ticken, damit wir unsere Entscheidungen und die Gesellschaft als Ganzes begreifen können.»
Christian Ruff
6 Die EEG-Kopfhaube gehört zu den wichtigen Requisiten des Labors zur Erforschung sozialer und neuronaler Systeme.
7 Die Hirnscans aus dem Magnetresonanztomografen vervollständigen das Bild der Vorgänge im Gehirn der Probandinnen.
8 Die Magnetspulen regen während des Spielens unterschiedliche Gehirnareale an. So können die Teilnehmenden dann besser oder schlechter verstehen, wie das Gegenüber tickt.
9 Die Probandin erhält Instruktionen dazu, wie sie im Tomografen den Cursor bedienen muss.
10 Die Stimulation durch die Magnetspule kann das soziale Denken der Probanden verändern.
11 Persönliche Gegenstände werden bei Versuchen sicher in Schliessfächern versorgt.
Nicht immer war so klar, dass Benzin, Diesel und Co. die Wettfahrt gegen die Elektroantriebe gewinnen. Doch dann waren fossile Brennstoffe in der Mobilindustrie lange das Mass aller Dinge. Heute sieht das anders aus. Wohin es geht mit den Treibstoffen für Autos und Flugzeuge.
Text Hubert Filser
An einem Sommertag im Jahr 1888 macht sich Bertha Benz mit dem Motorwagen Nr. 3 ihres Mannes Carl auf den Weg von Mannheim zu ihrer Mutter nach Pforzheim. Die Strecke ist zu weit, um sie mit einer Tankfüllung zu bewältigen. Die mitgeführten Flaschen mit Leichtbenzin reichen nicht aus. Kurz vor dem Ort Wiesloch ist der Tank leer. Die letzten hundert Meter müssen Frau Benz und ihre beiden Söhne schieben, bis zur Stadtapotheke am Marktplatz. Dort kauft Benz drei Liter des Reinigungsmittels Ligroin, das auch als Treibstoff taugt – so wird der Ort zur ersten Tankstelle der Welt.
Die Geschichte der fossilen Treibstoffe beginnt also durchaus holprig, der Systemstreit zwischen Elektroantrieb und Ottomotor war noch nicht wirklich entschieden. Auch die konkurrierenden Batterien hatten nur eine geringe Reichweite – und Strom war nicht überall verfügbar. «Anfangs war die Treibstoffquelle noch offen», sagt Peter Affolter, Leiter Automobiltechnik an der Fachhochschule Bern. «Erst mit der Erfindung des Anlassers im Jahr 1911 war der Siegeszug der flüssigen, fossilen Treibstoffe nicht mehr aufzuhalten.»
Derzeit scheint sich die Geschichte umzudrehen. Eine weitreichende Elektrifizierung
auf Basis regenerativer Energien gilt als vielversprechende Lösung. Die fossilen Treibstoffe stehen als Treiber des Klimawandels in der Kritik. Die Suche nach Alternativen beschäftigt Forschende weltweit. Allerdings sind die vergleichsweise billigen fossilen Treib- und Brennstoffe universell einsetzbar, vom kleinen Mofa über alle Arten von Fahrzeugen, Schiffen, Wärme- und Stromerzeugungsanlagen bis hin zu Helikoptern, Militärjets und Langstreckenflugzeugen. «Die fossile Energie hat das Wirtschaftswachstum überhaupt erst in diesem Masse ermöglicht, aber gleichzeitig auch den Klimawandel in Gang gesetzt», sagt Christian
Bach, Leiter des Labors «Chemische Energieträger und Fahrzeugsysteme» der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) in Dübendorf.
Die Aufgabe ist also gewaltig: Es müssen sich alternative, klimaneutrale Treibstoffe für unterschiedliche Industriezweige finden. Die vielversprechendsten Kandidaten brauchen eine hohe Energiedichte und müssen sich zudem gut transportieren und speichern lassen. «Letztlich wird es darauf ankommen, ein Gleichgewicht zwischen Energieeffizienz, Kosten, Sicherheit und Umweltauswirkungen zu finden und dabei die besonderen Herausforderungen der einzelnen Branchen zu berücksichtigen», sagt Corsin Battaglia, Spezialist für Energieumwandlung an der Empa.
Kein Wunder also, dass die Abkehr von fossilen Brennstoffen schwerfällt, eine riesige Infrastruktur mit Raffinerien, Pipelines und Tankstellen ist entstanden. In einzelnen Sektoren wie bei stationären Heizungen könnte die Umstellung leichter sein. «Wärme als niederwertige Energieform lässt sich problemlos aus allen Energieträgern erzeugen», erklärt Peter Affolter.
Alle Fahrzeuge dagegen, auch Flugzeuge, Schiffe oder LKW, benötigen nicht nur höherwertige Energieträger, sie müssen ihren Treibstoff auch noch mitführen. Je grösser diese Autonomie, also ihre Reichweite sein muss, desto grösser ist laut Affolter der Leistungsbedarf des Fahrzeugs – eine Baumaschine braucht mehr Energie als ein Kleinwagen. Und je relevanter das Gesamtgewicht des Fahrzeugs für das Funktionieren ist, etwa bei Flugzeugen oder Schiffen, desto kleiner wird die Auswahl an alternativen Treibstoffen. Kerosinbetriebene Triebwerke im Flugverkehr etwa lassen sich nur schwer durch elektrische Antriebe ersetzen, weil der Schub zu gering ist.
E-Fuels sind kompatibel, aber ineffizient Im Individualverkehr hingegen nimmt der Anteil der E-Autos zu. Neuartige Lithium-IonenBatterien haben eine Mobilität ermöglicht, wie wir sie von den Verbrennungsmotoren kennen. Es gibt aber immer noch Widerstand gegen die Umstellung, das politisch beschlossene «Verbrenner-Aus» der EU ab dem Jahr 2035 wurde zum Gegenstand kontroverser Debatten. Politiker priesen sogenannte E-Fuels – dabei steht E für elektrisch hergestellt – und weitere synthetische Kraftstoffe als Alternativen an. Es handelt sich dabei um künstliche, flüssige Kraftstoffe, die in komplexen, mehrstufigen und meistens energieintensiven Prozessen klimaneutral mithilfe von erneuerbarem
Strom hergestellt werden. Gleiches gilt für synthetische Kraftstoffe aus Pflanzenabfällen, wo aus Biomasse wie altem Speiseöl mithilfe von Wasserstoff Diesel entsteht. Solche Biodiesel sind unter der Bezeichnung HVO – für Hydrotreated Vegetable Oils – bereits auf dem Markt. Ihr Vorteil: Sie sind kompatibel zu bestehenden Transportketten und zur Lagerinfrastruktur.
Das Konzept klingt zunächst einleuchtend. Allerdings ist der Wirkungsgrad der E-Fuels deutlich geringer als bei den E-Antrieben. Zudem sind sie teurer als das fossile Benzin. Das liegt auch daran, dass die Ausgangsstoffe Wasser und CO 2 chemisch weit weg vom altbekannten Benzin sind. Experten wie Affolter mahnen, sorgfältig mit der neuen Ressource umzugehen: «Flüssige Treibstoffe, egal ob regenerativ hergestellt oder fossil, sind wertvoll und viel zu schade, um sie dort einzusetzen, wo es bereits heute gute Alternativen gibt.»
Die künstlichen Kraftstoffe können klimatechnisch dort sehr nützlich sein, wo keine Alternativen vorhanden sind. Empa-Forscher Bach sieht als möglichen Einsatzort Nutzfahrzeuge und Personenwagen mit hohen Laufleistungen, die nur schwer elektrifizierbar sind. Zudem brauche es E-Fuels für den Flugverkehr, industrielle Hochtemperaturprozesse und den internationalen Schiffsverkehr. Im Rahmen des Konsortiums Refuel.ch evaluiert die Empa mit rund zwanzig Industrie- und Wirtschaftspartnern aus der Schweiz und dem Oman die Möglichkeit, nachhaltige Treib- und Brennstoffe auf regenerativer Basis in Wüstenregionen herzustellen.
Und noch einen wichtigen Einsatzbereich sehen Expertinnen: E-Fuels könnten im Sommer überschüssige Energie aus erneuerbaren Quellen speichern. Bei Bedarf würden die Treibstoffe dann im Winter etwa in Gasturbinen verbrannt, um Strom zu erzeugen. Diese Doppelnutzung ist möglich, da Substanzen wie Wasserstoff, Methanol, Methan oder Ammoniak gute Energiespeicher sind. Liegen sie gasförmig vor, muss man sie allerdings entweder unter hohem Druck oder verflüssigt lagern und transportieren, damit dies wirtschaftlich bleibt. Dabei geht immer ein Teil der Energie verloren.
Im Detail ist die Situation dabei kompliziert. Es hängt von ökologischen und ökonomischen Faktoren ab, ob es vorteilhafter ist, überschüssige Energie im Sommerhalbjahr für die Langstrecken-Mobilität von LKW oder die Industrie nutzbar zu machen oder sie zu speichern, um im Winter Strom zu erzeugen. Klar ist, dass der allergrösste Teil aus Ländern importiert
werden muss, die viel ungenutzte Wind- oder Solarenergie haben, sagt Empa-Forscher Bach. Es geht also nach Einschätzung vieler Fachleute nicht darum, die einzelnen Alternativen gegeneinander auszuspielen, sondern die verschiedenen Treibstoffe für jeweils passende Anwendungen zu nutzen.
Hier kommt auch ein einstiger Hoffnungsträger der Energiewende ins Spiel. Wasserstoff galt lange als grosser Konkurrent der E-Mobilität. Sein Einsatz in Brennstoffzellen wird immer noch erforscht. Allerdings liegt sein Wirkungsgrad mit rund 31 Prozent deutlich unter dem von E-Autos, aber höher als der von E-Fuels. Wasserstoff könnte dennoch eine grosse Rolle bei der Energiewende spielen, als alternativer Treibstoff im Schwerlastverkehr, bei Bussen oder auch im Flugverkehr, gemischt mit Ammoniak auch als Antrieb grosser Schiffe oder auch bei Hochtemperaturprozessen, etwa in der Stahlindustrie.
Die Zukunft liegt im richtigen Mix «Ich sehe Wasserstoff als einen zentralen Pfeiler des künftigen Energiesystems, vor allem beim Strom», sagt Mirko Bothien von der ZHAW School of Engineering in Winterthur. Die chemische Speicherung in Form von Wasserstoff sei eine gute Möglichkeit, um saisonale Schwankungen auszugleichen. Der Wasserstoff kann im Winter in Gasturbinen in Strom umgewandelt werden. Bothien arbeitet in EU-weiten Forschungsprojekten an der effizienteren Umwandlung von Wasserstoff in Strom, auch an der Entwicklung neuer Brenner für Wasserstoff und Gemische. «Wir sollten für alle Technologien offenbleiben», sagt Empa-Forscher Battaglia. «In Zukunft wird es wahrscheinlich einen Mix aus verschiedenen Technologien geben.»
Empa-Forscher Bach ist überzeugt, dass es noch viele Innovationen geben wird. «Eine Vision, die mir persönlich gut gefällt, ist das dynamische induktive Laden von Fahrzeugen auf Autobahnen während der Fahrt.» Solche in Strassenbeläge integrierten Ladesysteme würden es möglich machen, dass auch Fahrzeuge mit kleinen Batterien langstreckentauglich würden. Damit wäre auch das einstige Problem von Bertha Benz überwunden, die Suche nach einer Tankstelle. Denn die wäre dann überall.
Hubert Filser ist Wissenschaftsjournalist in München.
Die Wissenschaft in den USA steht unter Beschuss. Claudia Brühwiler, Professorin an der Universität St. Gallen und Expertin für Konservatismus, erklärt die Gründe hinter der wissenschaftsfeindlichen Politik der Trump-Administration.
Text Emiliano Feresin Foto Ladina Bischof
Claudia Brühwiler, Bundesbehörden werden aufgelöst, Forschungsgelder gekürzt, Institutionen wie die Columbia University angegriffen. In Ihrem Podcast «Grüezi Amerika» sind Sie auf die Wissenschaftsfeindlichkeit in den USA eingegangen. Was passiert da? Es ist fast wie ein Fiebertraum der konservativen Bewegung.
Was hat denn Konservatismus mit Wissenschaftsfeindlichkeit zu tun?
In den USA gibt es unterschiedliche Haltungen gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt und seiner Rolle in der Gesellschaft. Der USLiberalismus orientiert sich an einem technokratischen Gesellschaftsverständnis. Die ideale Regierung lässt sich von Fachwissen leiten. Die Konservativen verschliessen sich dagegen seit Anfang des 20. Jahrhunderts gegenüber gewissen wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Zum Beispiel?
Den Auftakt machte der berühmte Scopes-Prozess im Jahr 1925: Ein Biologielehrer wollte das Verbot der Evolutionstheorie an Schulen in Tennessee anfechten. Er verlor, doch der Fall führte zu einem politischen Erwachen im sogenannten Bible Belt. Für die konservative Bewegung, die nach dem Zweiten Weltkrieg erstarkte, haben Tradition und Glauben einen höheren Stellenwert als Wissenschaft. Dies zeigt sich im Widerstand gegen den Evolutionsunterricht oder in den relativ stark verbreiteten konfessionellen Schulen. Im Konservatismus werden die Elite-Hochschulen als Gegner der USA wahrgenommen.
Was machen diese Institutionen in ihren Augen denn falsch?
Konservative kritisieren die Zusammensetzung der Fakultäten, vor allem in den Geistesund Sozialwissenschaften. Die akademische Welt in den USA sei ideologisch nicht divers. Tatsächlich zeigten Umfragen bis in die späten
90er-Jahre, dass weniger als 50 Prozent der Professorinnen und Professoren sich selbst als progressiv oder sehr progressiv bezeichneten. In einer aktuellen Umfrage der Harvard University lag dieser Anteil bei über 75 Prozent, und weniger als drei Prozent bezeichneten sich als konservativ. Dies führt zu einer Segregation in Bezug auf Themen und Menschen. In meinem Fachgebiet Politiktheorie habe ich mit konservativen Themen weniger Chancen, in angesehenen Fachzeitschriften zu publizieren. Ein Bekannter von mir wurde aus seiner Fakultät gemobbt, weil er dort der letzte – sehr gemässigte – Konservative war. Leute mit konservativen Ansichten sammeln sich deshalb an bestimmten Universitäten wie etwa dem christlichen Hillsdale College oder der evangelikalen Liberty University
Konservative auszuschliessen ist also ein Fehler?
Ich halte Diversität in jeder Hinsicht für wichtig. Das gilt auch für ideologische Diversität, die an Hochschulen ebenfalls vertreten sein sollte. Der beschriebene Trend ist nicht neu und existiert auch in Europa, doch die Situation in den USA ist explosiver. Es sind Institutionen betroffen, die einen hohen Status haben und als Wegbereiter zur Macht gelten, wie Harvard, Yale, Princeton und Columbia. Zwei Faktoren haben zur Feindseligkeit gegenüber Hochschulen beigetragen: die Meinungsäusserungsfreiheit und die Politik zu Vielfalt, Gleichstellung und Inklusion, bekannt als DEI.
Weshalb?
In den letzten Jahrzehnten begrenzten insbesondere Eliteuniversitäten die Möglichkeit, konservative Ideen zu äussern und darüber zu diskutieren. Die Studierenden sollen sich
Claudia Franziska Brühwiler (43), Professorin für amerikanisches politisches Denken und Kultur an der Universität St. Gallen, lancierte kurz nach den letzten US-Präsidentschaftswahlen den Podcast «Grüezi Amerika». Sie hat diverse Forschungsaufenthalte an verschiedenen amerikanischen Universitäten absolviert, unterrichtet Politik, Geschichte und Kultur der USA und ist als Kommentatorin der aktuellen Entwicklungen gefragt.
phsisch und psychisch sicher fühlen können, auch was Ideen betrifft. Die Zensur gewisser Rednerinnen auf dem Campus wurde auch von Studierenden angeheizt, die sich nicht unwohl fühlen wollten. Dies war etwa der Fall bei Linda Thomas-Greenfield, der Uno-Botschafterin der USA, die ihr Veto gegen drei Uno-Resolutionen zu einem Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas einlegte und die mehrfach ausgeladen wurde.
Das betrifft Meinungsäusserungsfreiheit. Wie sieht es bezüglich DEI-Politik aus?
Wir sind es den Menschen schuldig, gleiche Bedingungen für alle zu schaffen. Einige Schutzinitiativen sind notwendig, zum Beispiel zur Verhinderung von Suizid oder zum Schutz von Menschen mit Behinderungen oder von neurodiversen Menschen. Viele Massnahmen gingen jedoch darüber hinaus. So hat die University of Virginia für 20 Millionen Dollar sechs DEI-Mitarbeitende pro 100 Personen an akademischem Personal eingestellt. Das war entweder eine Fehlinvestition oder ein ideologischer Entscheid – jetzt werden die Mittel drastisch gekürzt.
Befürworten Sie also die aktuelle Politik der Trump-Regierung?
Nein, nein, nein! Meine Aufgabe als Akademikerin ist es, Phänomene zu verstehen und zu erklären, denn nur so lassen sich Lösungen finden. Ich glaube, eine Anpassung des Hochschulsystems in den USA war notwendig, doch nun wird übertrieben. Auch viele konservative Intellektuelle sind über das radikale Vorgehen besorgt. Sie haben zum Beispiel nicht mit Angriffen auf die Naturwissenschaften und die medizinische Forschung gerechnet.
Diese Entscheide von oben beeinträchtigen ja auch die akademische Freiheit. Ja. Vor dieser Präsidentschaft gab es bereits weniger Meinungsfreiheit, was aber einem Konsens innerhalb der akademischen Gemeinschaft entsprang. Sie wurde nicht mit derart brachialen Methoden durchgesetzt, und es war möglich, die Einschränkungen offen zu kritisieren. Hier liegt die grösste Ironie des Vorgehens der Regierung: Im Namen der Meinungsfreiheit hat sie die Meinungs-, Ideenund Forschungsfreiheit beschnitten, und zwar mit noch schlimmeren Massnahmen, als sie der Gegenseite vorwirft.
Wie wirkt sich diese Politik vor Ort aus? Sie ist zerstörerisch und kontraproduktiv. Nachwuchsforschende, vor allem in den Na-
turwissenschaften und der Medizin, sind auf Bundesmittel angewiesen. Viele Projekte liegen auf Eis, weil sie Stichworte benutzten, die jetzt nicht mehr im Trend sind. Da viele Fördervereinbarungen nicht eingehalten werden, wird die Regierung derzeit zum unzuverlässigsten Partner, den man sich vorstellen kann. Renommierte Forschende verlassen das USSystem oder hegen solche Pläne. Die wissenschaftliche Dominanz der USA ist gefährdet. Sie stellt den Grossteil der Soft Power der USA, der Möglichkeit, Forschungsthemen zu setzen.
Hat die aktuelle Situation auch einen Einfluss auf Ihre Arbeit?
Ich habe keine Projekte mit Forschenden aus den USA. Ich bin nur indirekt betroffen, weil ich mich häufig zur US-Politik äussere. Ich sage ganz offen, dass ich diesen Angriff auf die Wissenschaft für schwerwiegend und illegal halte, obwohl ich verstehe, woher er kommt. Wenn ich auf die lange Geschichte dahinter weise, denken die Leute, ich würde die Massnahmen gutheissen. Das tue ich nicht. Meine Kollegen gehen nicht einfach weg: Sie arbeiten, beobachten, kommentieren. Problematisch wird es, wenn sie auf Bundesgelder angewiesen sind.
Vier Professorinnen aus den USA wollten kein Interview zur Wissenschaftsfeindlichkeit geben. Gewisse Kommentatoren sagen, dass sich Wissenschaft mit neuen Regimes arrangiert. Sollten die Forschenden lauter sein?
Viele warten wohl noch ab. Es ist bekannt, dass die Trump-Administration häufig zuerst radikal auftritt, später aber doch Kompromisse möglich sind. Zudem sind nicht alle einfach still. Ich sehe viele Bewegungen und Kommentare, auch von Konservativen an Hochschulen. An Institutionen halten es wohl viele für klüger, sich etwas anzupassen.
In Ihrem Podcast ziehen Sie Parallelen zwischen den Demokratien in der USA und der Schweiz. Kommt die Krise auch zu uns?
Das glaube ich nicht. Die Kluft zwischen der Schweizer Bevölkerung und den Hochschulen ist kleiner. Es gibt weniger Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber der akademischen Welt. Die Schweizer Bevölkerung identifiziert sich stärker mit staatlichen Institutionen und Hochschulen und ist stolz auf diese.
Emiliano Feresin ist freier Wissenschaftsjournalist in Genf.
Wie einfach eine Person Reproduktionstechniken in Anspruch nehmen kann, ist auch eine Frage dessen, ob sie der gesellschaftlichen Norm dafür entspricht.
Und natürlich, ob sie Geld hat. Blick auf die Ungerechtigkeiten eines florierenden Marktes.
Text Samuel Schlaefli
Die Spermienqualität nimmt ab – und Frauen werden vermehrt erst später im Leben schwanger. In der Folge steigt das altersbedingte Risiko eines unerfüllten Kinderwunsches. In der Schweiz nehmen auch deshalb jedes Jahr zwischen 6000 und 7000 Paare medizinische Hilfe in Anspruch. Dazu gehören die hormonelle Stimulierung des Eisprungs, die künstliche Insemination, bei der Samen in direkter Nähe der Eileiter platziert werden, Methoden der In-vitro-Fertilisation (IVF), dabei am häufigsten die sogenannte Intrazytoplasmatische Spermieninjektion, bei der ein einzelnes Spermium direkt in die Eizelle injiziert wird, sowie das Einfrieren von Samen und Eizellen.
Allein in der Schweiz bieten aktuell rund 30 Kinderwunschzentren diverse Reproduktionstechniken an, weltweit sind es Tausende. «Der Kinderwunsch ist zu einem florierenden Markt geworden», sagt Carolin Schurr, Professorin für Sozial- und Kulturgeografie an der Universität Bern. «Es gibt heute transnationale Konsortien, die mit Sperma, Eizellen, IVF und reprogenetischen Technologien viel Geld verdienen.» Je nach Prognose wird der globale Fertilitätsmarkt bis 2030 ein Marktvolumen von 40 bis 80 Milliarden US-Dollar erreichen.
Eizellspende selten altruistisch
In der Schweiz ist die Fortpflanzungsmedizin im europäischen Vergleich streng reguliert: Neben der Leihmutterschaft ist auch die Eizellspende verboten. 2019 reisten deshalb über 500 Paare oder Einzelpersonen für Reproduktionstechniken ins Ausland. Dies geht aus einer Studie hervor, die Schurrs Gruppe in Zusammenarbeit mit dem Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern durchgeführt hat. Die Zahlen sind eine Annäherung. Die Autorinnen gehen von deutlich höherem Reproduktionstouris -
mus aus. In gut 80 Prozent der Fälle war die Motivation eine Eizellspende. Meist verbunden mit einer Reise nach Spanien, das als führendes europäisches Reiseziel gilt.
Schurr kritisiert, dass in der öffentlichen Debatte zu Eizellspenden die Perspektive der Personen mit Kinderwunsch dominiere. Ihre Forschungsgruppe interessiert sich deshalb für die Erfahrungen der Spenderinnen und hat in Spanien 30 von ihnen befragt. «Die altruistische Spende ist eine Illusion», sagt Carolin Schurr. «Die Eizellspende erfolgt praktisch immer aus ökonomischen Gründen.» Unter den Befragten befanden sich armutsbetroffene Frauen, aber auch solche aus der Mittelschicht, die das Geld nutzten, um sich das Studium zu finanzieren oder um für ein hilfsbedürftiges Familienmitglied aufzukommen. In Spanien erhalten Eizellspenderinnen keinen Lohn, sondern eine Entschädigung von rund 1000 Euro pro Eizellspende. «Manche hatten sich bis zu 20-mal Eizellen entnehmen lassen», erzählt Schurr. «Für sie war es schlicht ein Job.» Ein äusserst riskanter Job, denn laut einem Gutachten der deutschen NGO Genethisches Netzwerk kann die Eizellspende zum lebensbedrohlichen ovariellen Überstimulationssyndrom, zu Unfruchtbarkeit und zu psychosozialen Belastungen führen.
Der Begriff der Spende folgt laut Schurr auch dem Geschlechterstereotyp, dass Frauen reproduktive Leistungen aus Liebe erbringen. «Ärztinnen und Laboranten verdienen daran. Weshalb Spenderinnen nicht?» Viele Feministinnen lehnen die Eizellspende heute kategorisch ab. Prekarisierte Personen aus Süd- und Osteuropa sowie aus dem globalen Süden würden für die reproduktiven Wünsche von Reichen ausgebeutet, so die Argumentation. Derzeit wird auch in der Schweiz diskutiert, wie eine gerechte Eizellspende aussehen
könnte. Der Bund hat auf die zunehmende Nachfrage reagiert und Ende Januar die Eckwerte für eine Zulassung ab 2026 beschlossen. Sozialforschende interessieren sich schon lange für Gerechtigkeitsfragen beim Kinderkriegen, bei Verhütung und Abtreibung – für sie alles Facetten desselben Themenkomplexes. In den 90er-Jahren entwickelten afroamerikanische Frauen in den USA das aktivistische Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit. Ob Frauen über ihren eigenen Körper bestimmen und frei entscheiden können, ob sie ein Kind gebären – oder nicht –, hänge auch von sozioökonomischen Faktoren und vom Zugang zu Ressourcen ab, argumentierten sie. Schurr bezieht sich in ihrer aktuellen Forschung darauf. Mit einem achtköpfigen Team geht sie den Fragen nach, wie Reproduktion politisch gezielt gesteuert wird und wessen Reproduktion erwünscht ist und wem sie verwehrt wird.
Zu arm zum Verhüten
Solche Ungleichheiten zeigen sich exemplarisch im Teilprojekt der Sozialanthropologin Milena Wegelin von der Berner Fachhochschule, die gemeinsam mit ihrer Kollegin Laura Perler zur Situation von schwangeren Frauen in Asylunterkünften forscht. Sie hat dafür Interviews mit arabischsprachigen Frauen im Kanton Bern geführt. Trotz anfänglichem Kinderwunsch würden sich viele nach Ankunft in den Asylunterkünften gegen eine Schwangerschaft entscheiden. «Die Situation für Schwangere ist besonders in den Bundesasylzentren prekär. Viele essen zu wenig, weil sie keine Möglichkeit haben, den durch die Schwangerschaft veränderten Ernährungsbedürfnissen nachzugehen und selbst zu kochen.» Zudem fehle es zuweilen an Wochenbetten und Stillräumen. «Gleichzeitig ist es für die Frauen auch schwierig, nicht schwanger
Baby per künstlicher Befruchtung ist auch von Diskriminierung gesäumt.
zu werden, weil sie oft keinen Zugang zu Verhütungsmitteln haben.» Das Sozialhilfegeld etwa reicht nicht aus, um die Pille zu kaufen. Die paradoxe Situation: Asylsuchende werden in den kollektiven Unterkünften entweder ungewollt schwanger, oder eine Schwangerschaft unter angemessenen Bedingungen bleibt ihnen verwehrt. Gleichzeitig geben Schweizerinnen viel Geld aus, um sich im Ausland ihren Kinderwunsch zu erfüllen.
Gemäss Nicole Bourbonnais haben Ungerechtigkeiten im Bereich der Fortpflanzung eine lange Geschichte. Die kanadische Historikerin, die am IHEID Genf forscht, hat im Frühling ein Buch über die Reproduktionspolitik im 20. Jahrhundert veröffentlicht. «Mit eugenischen Politiken wurden Zwangssterilisationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Reihe von Ländern gefördert, genauso wie Jahrzehnte später auch Programme zur
«Die in der Gesellschaft dominierenden Gruppen werden oft zur Fortpflanzung ermutigt.»
Nicole Bourbonnais
Bevölkerungskontrolle», resümiert sie. Bis heute gebe es Fälle von Zwangssterilisationen, wobei sich diese meist gegen marginalisierte Gruppen, ethnische Minderheiten, Armutsbetroffene und Menschen mit Behinderungen richteten. «Die in der Gesellschaft dominierenden Gruppen werden oft zur Fortpflanzung ermutigt, während Minderheiten entweder unter Druck gesetzt oder bewusst daran gehindert werden», so Bourbonnais. Bis 2017 galt das in der Schweiz auch für Transpersonen. Biologische Frauen mussten sich während einer operativen Geschlechtsangleichung sterilisieren lassen, damit ihr neues Geschlecht amtlich anerkannt wurde.
«Die Gesellschaft wollte um jeden Preis verhindern, dass es schwangere Männer oder zeugende Frauen gibt», sagt Tanja Krones, leitende Ärztin Klinische Ethik am Universitätsspital Zürich. Zudem sei die Mehrheitsgesellschaft
blind davon ausgegangen, dass Transpersonen keine Kinder wollen. «Eine ganze Generation hatte aufgrund der Zwangssterilisierungen gar nie die Möglichkeit, sich zu reproduzieren», sagt Krones. Erst durch einen Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Jahr 2017 wurden die Zwangssterilisierungen auch in der Schweiz aufgehoben.
Schweiz ist europäisches Schlusslicht Krones ist aktuell Co-Direktorin des Forschungsschwerpunkts «Human Reproduction Reloaded» an der Universität Zürich. Im Fokus stehen medizinische Technologien zur menschlichen Fortpflanzung und deren soziologische, ethische und rechtliche Auswirkungen. Eine 2024 gegründete Interessengruppe für Transgender und Gender Diversity wird zudem Forschung auf diesem Gebiet bündeln. Das erarbeitete Wissen soll später in die Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten fliessen. Die Schweiz habe bezüglich reproduktiver Gerechtigkeit noch grossen Nachholbedarf, sagt Krones. So sei zum Beispiel die ungewollte Kinderlosigkeit laut Weltgesundheitsorganisation nach einem Jahr des ungeschützten Geschlechtsverkehrs ein Krankheitszustand. Sie empfehle deshalb, dass Staaten die IVF als Teil der reproduktiven Gesundheit behandeln. Viele europäische Staaten, darunter Frankreich, Belgien, Schweden und Dänemark, übernehmen die Kosten bereits vollumfänglich, meist auch für lesbische Paare und alleinstehende Frauen. Nicht so in der Schweiz. Das sei ungerecht, findet Krones. «Zwangsläufig stellt sich die Frage: Wer kann es sich in der Schweiz überhaupt leisten, Kinder zu kriegen?» Die Forschung zeigt: Der weltweite Reproduktionsmarkt strotz vor Ungerechtigkeiten.
Samuel Schlaefli ist freier Journalist in Basel.
Archaeen sehen ähnlich aus wie Bakterien. Die Entdeckung der besonderen Gruppe der Asgard-Archaeen führte zur Theorie, dass die Menschen von diesen zellkernlosen Mikroorganismen abstammen. Das entfachte eine Debatte.
Text Sophie Rivara
Der Stammbaum des Lebens erlaubt es jeweils bis zum letzten gemeinsamen Vorfahren zweier Arten vorzustossen. Damit zeichnet er sozusagen die Evolution nach. Auf einer Seite stehen da etwa die Bakterien. Von ihnen zweigt ein Ast ab, der zu Lebewesen mit einem Zellkern führt: den sogenannten Eukaryoten, aus denen sich Tiere, Pflanzen und Pilze entwickelt haben. Doch eine dritte Gruppe von Organismen schüttelt die Klassifikationen durcheinander: die 1977 erstmals beschriebenen Archaeen. Trotz ihres bakterienähnlichen Aussehens ohne Zellkern gleichen sie in einigen Eigenschaften eher den Eukaryoten. Lange Zeit war umstritten, ob die Eukaryoten – und damit auch wir Menschen –vom Ast der Archaeen kommen oder ob es sich bei den beiden um klar getrennte Gruppen handelt. Im Jahr 2015 entfachte die Entdeckung der Asgard-Archaeen diese Debatte neu: Sind sie etwa sogar das fehlende Bindeglied in der Evolution? Aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten mit den Eukaryoten wurden sie schnell als deren Vorfahren anerkannt. Im Stammbaummodell sind die Eukaryoten nun nicht mehr ein eigenständiger Ast, sondern erscheinen inmitten der Archaeen. Vorbehalte gegenüber diesem Konsens hat der Evolutionsbiologe Patrick Forterre, emeritierter Professor an der Universität Paris-Saclay und am Pasteur-Institut. «Bei der Rekonstruktion des Stammbaums werden Proteine verglichen, die sich über den Verlauf der Evolution wenig veränderten. Je nach untersuchtem Protein ergeben sich jedoch
Die langen Fortsätze der Archaee Lokiarchaeum ossiferum werden unter dem Elektronenmikroskop sichtbar. Sie zeugen davon, dass der Einzeller über ein Zellskelett verfügt — ähnlich wie menschliche Zellen.
unterschiedliche Stammbäume, bei denen wir Menschen innerhalb oder ausserhalb der Archaeen auftauchen», sagt der Forscher. Für ihn sind die Ergebnisse nur erklärbar, wenn die Vorfahren der Eukaryoten von den Archaeen klar getrennt waren, aber untereinander im Laufe ihres Zusammenlebens Gene austauschten. «Unsere direkte Verwandtschaft mit den Asgard-Archaeen ist eine Verfälschung, die durch den gleichzeitigen Vergleich sämtlicher Proteine beider Organismen entstand. Allerdings spielen in beiden Fällen die Asgard-Archaeen bei der Evolution der Eukaryoten eine wichtige Rolle.»
Modell für menschliche Zellen
Die Evolutions- und Mikrobiologin Anja Spang ist von Forterres Theorie nicht überzeugt. «Wenn man Stammbäume über den Vergleich eines einzigen Proteins konstruiert, verfügt man nicht über die statistische Aussagekraft, die nötig ist, um zwei Milliarden Jahre Evolution zurückzuverfolgen», erklärt die Professorin an der Universität Amsterdam. Sie ist Spezialistin für Archaeen und hat zur Entdeckung der Asgard-Archaeen beigetragen. «Debatten sind gut für die Wissenschaft, es ist jedoch wichtig, sich auf die vorhandenen Beweise zu konzentrieren», fährt sie fort. «Dass die Eukaryoten innerhalb der Asgard-Archaeen entstanden sind, dafür sprechen die statistischen Ergebnisse realistischer Modelle, die auf einer unverzerrten Auswahl verglichener Proteine beruhen.» Ihres Erachtens wäre die echte Debatte eigentlich, ob die Vorfahren der Eukaryoten bereits komplex waren.
«Evolutionsbiologen schlagen gerne widersprüchliche Hypothesen vor, das macht die Debatte interessant», erklärt Martin Pilhofer, Professor an der ETH Zürich. Er selbst ist Mikrobiologe und erforscht mit hochauflösender Mikroskopie das Gerüst, das Zellen zusammenhält. Dieses sogenannte Zytoskelett ist wichtig für die Teilung und die Bewegungen von Zellen und das Ziel vieler Chemotherapie-Ansätze. Die Entdeckung der Asgard-Archaeen hat deshalb Pilhofers Interesse geweckt. «Ich hielt Ausschau nach einer Forschungsgruppe, die diese Archaeen-Gruppe kultivieren konnte und mit mir zusammenarbeiten wollte», erinnert er sich. Fündig wurde er bei der Mikrobiologin Christa Schleper von der Universität Wien. Zusammen beschrieben sie das hoch entwickelte Zytoskelett der einzelligen Mikroorganismen. «Deren Struktur war ein entscheidender Schritt auf dem Weg der Entwicklung hin zu Eukaryoten», so Pilhofer. Diese Entdeckung gibt nicht nur Hinweise auf unsere Ursprünge: «Das Zytoskelett von Asgard-Archaeen kann als Modell zur Erforschung unseres eigenen dienen.»
Die Poren im Beton absorbieren die tieferen Frequenzen des Autoverkehrs. Wenn darin Pflanzen wachsen, können auch höhere Frequenzen herausgefiltert werden.
Ein Postdoktorand giesst mit Eisformen porösen Beton, der Verkehrsgeräusche absorbiert und dazu die Biodiversität fördert. Damit die Gründung des Start-ups klappte, tüftelte er noch an weiteren Erfindungen.
Text Lionel Pousaz
Ein Beton mit vielen Hohlräumen, der im urbanen Raum Lärm einfängt und gleichzeitig zur Biodiversität beiträgt, indem er Lebensraum für kleine Pflanzen- und Tierarten bietet: Das ist das Projekt von Vasily Sitnikov, Postdoktorand an der ETH Zürich. Er giesst dazu Beton um Formen aus Eis. Ist das Eis geschmolzen, bleibt eine poröse Betonstruktur zurück. Der Materialforscher hat nun das Startup Ice Formwork gegründet und will dieses Verfahren weiterentwickeln. Zurzeit lotet er das kommerzielle Potenzial mit privaten Akteuren aus den Bereichen Bauwesen, Stadtplanung und Umweltschutz aus.
Auf die Idee, Eis für die Erzeugung von Hohlräumen in Beton zu verwenden, kam er erstmals, als er noch in Schweden an der Königlichen Technischen Hochschule in Stockholm war. Herkömmliche Verfahren eigneten
sich schlecht für sein Projekt. Durch das Einblasen von Gas in noch flüssigen Beton entstehen zwar ebenfalls Hohlräume, sie sind aber zu klein, um nieder- und mittelfrequenten Schall zu absorbieren, der für städtischen Lärm typisch ist. Der 3D-Druck wiederum eignet sich nicht für eine Massenproduktion. «Damals experimentierten einige Kollegen mit synthetischem Wachs, um Vertiefungen im Beton zu erzeugen», erzählt Sitnikov. «Ich fragte mich, ob wir etwas Umweltfreundlicheres als das petrochemische Material verwenden könnten, und kam auf Wasser. Es war ein etwas gewagtes Experiment.»
Aushärtungstemperatur senken
Die grösste Herausforderung bestand darin, einen Beton zu finden, der unterhalb des Gefrierpunkts aushärtet. Herkömmliches Mate-
rial braucht mindestens fünf Grad Celsius zum Aushärten, bei dieser Temperatur schmilzt jedoch die Eisform, bevor sich der Beton verfestigen kann. Der Postdoktorand hat daher verschiedene chemische Zusätze entwickelt, durch die Beton auch bei Temperaturen zwischen minus zehn und minus fünf Grad aushärten kann.
Um die akustischen Eigenschaften des Materials zu verändern, variierte der Forscher die Grösse der Vertiefungen im fertigen Betonelement. Ziel war die Absorption nieder- bis mit telfrequenter Schallwellen zwischen 250 und 4000 Hertz. «Das ist typischerweise der Frequenzbereich, der durch den Autoverkehr erzeugt wird, beispielsweise durch das Geräusch eines Reifens auf der Strasse.» Mit Mikrofonen mass Sitnikov die Absorption und die Reflexion von Schallwellen bei den Betonelementen mit Seitenlängen von einem Meter und einer Tiefe von 20 Zentimetern.
Da Beton die für den Menschen ebenso hörbaren höherfrequenten Töne nicht filtert, wollte der Forscher das Netz aus Vertiefungen nutzen, um darin nach dem Vorbild eines vertikalen Gartens Pflanzen wachsen zu lassen. Vegetation absorbiert nämlich gerade dieses Frequenzspektrum von Lärm.
Dabei entdeckte er eine völlig unabhängige und ergänzende Anwendung für seinen Beton: Förderung der biologischen Vielfalt. Neben Pflanzen können auch kleine Tiere im Hohlraumsystem des Materials gedeihen. Eine interessante Eigenschaft für den städtischen Raum – und auch für marine Ökosysteme. «Wir arbeiten mit Biologen an einem Konzept für künstliche Riffe», freut sich Sitnikov.
Auch wenn das Verfahren selbst nach Ansicht seines Erfinders in erster Linie eine Nische bedient, besteht ein reales industrielles Potenzial. «Es kann in grossem Massstab in Fabriken und sogar direkt auf Baustellen eingesetzt werden – vorausgesetzt, es ist genug Platz vorhanden, um einen Kühlcontainer aufzustellen», erklärt Sitnikov. Und weiter: «Es können schlicht Vorrichtungen für den gekühlten Transport eingesetzt und die Produkte dort installiert werden.»
Lionel Pousaz ist freier Wissenschaftsjournalist in New York.
Zucker macht krank. Wie hingegen die Ersatzstoffe auf die Gesundheit wirken, sollte eine klinische Studie im Iran endlich klären. Von der Verhedderung einer guten Idee in den Wirren wirtschaftlicher Sanktionen.
Text Florian Fisch
Der Dezember 2022 war ein Tiefpunkt für Hamidreza Raeisi-Dehkordi. Es wurde klar: Die klinische Studie für seine Doktorarbeit, die er zwei Jahre lang vorbereitet hatte, würde nicht zustandekommen. Der Forscher aus dem Iran hatte zuvor in der Stadt Yazd, rund 250 Kilometer südöstlich von Isfahan, einen Master in Ernährungswissenschaften absolviert. Er hätte den Effekt von Süssstoffen bei Frauen in den Wechseljahren mit starkem Übergewicht (Adipositas) studieren wollen. Zusammen mit dem Betreuer seiner Masterarbeit half er, den Förderantrag zu schreiben – beim Programm Spirit des Schweizerischen Nationalfonds, das Forschungszusammenarbeit mit dem globalen Süden fördert und einen besonderen Schwerpunkt auf Frauen legt.
Der Plan von Raeisi-Dehkordi war, im Februar 2021 nach Bern zu kommen, wo er die wissenschaftliche Analyse durchgeführt hätte. Doch wegen der Covid-Pandemie erhielt er kein Visum. «Es war eine schwierige Situation, ich arbeitete umsonst, lebte bei meinen Eltern und musste zum obligatorischen Militärdienst, weil ich nach meinem Studium nicht sofort einen anderen Job erhalten hatte.» Im Dezember desselben Jahres klappte es dann endlich. Während insgesamt zweier Jahre im Iran und in der Schweiz bereitete er alles vor: das Studienprotokoll, die Bewilligungen der Ethikkommission und der Universität Yazd. Aber es hat nicht sollen sein, wie er heute weiss.
Dabei wäre die Studie sehr relevant gewesen, aus vielfältigen Gründen: Der Überkonsum von Zucker weltweit führt zu Karies, Übergewicht und einer Reihe von chronischen Krankheiten wie Diabetes Typ 2. Die Nahrungsmittelindustrie und Konsumenten setzen deswegen auf Süssstoffe wie Aspartam, Saccharin und Stevia. Doch deren Effekt auf die Gesundheit ist umstritten. So wurde Aspartam 2024 von der WHO sogar als «möglicherweise krebserregend» eingestuft, was für Aufregung sorgte. Es fehlt an solidem Wissen. Die Abläufe im Stoffwechsel sind vor allem aus Tierstudien bekannt, deren Übertragbarkeit auf den Menschen begrenzt ist. Und bei den vorhandenen Beobachtungsstudien von Men-
schen bleibt stets unklar, welches die Ursache und welches die Wirkung ist.
«Wir wissen, dass Adipositas mit Diabetes Typ 2 assoziiert ist», sagt Angéline Chatelan, Professorin für Ernährungsepidemiologie an der Hochschule für Gesundheit in Genf. Unklar sei hingegen die genaue Rolle des Zuckers und ob Süssstoffe wirklich besser sind. Deshalb hatte sie mit dem Doktoranden Raeisi-Dehkordi und einem Forschungsteam die nun nicht zustande gekommene klinische Studie entworfen. Deren Ziel war es, die Effekte von Aspartam, Saccharin, Stevia sowie normalem Haushaltszucker auf Darmbakterien zu testen, ebenso auf Gewicht, Zuckerhaushalt, Marker für Herzkreislaufgesundheit und Sexualhor-
«Wir müssen den Effekt des Menstruationszyklus vom Effekt des Süssstoffs unterscheiden.»
Angéline Chatelan
mone. Insgesamt 160 Iranerinnen, die sich in den Wechseljahren befinden und Adipositas haben, hätten täglich eine Flasche mit dem ihnen zugeteilten Süssungsmittel in Wasserlösung erhalten.
Iranische Stadt Yazd ist ideales Terrain Frauen sind in klinischen Studien generell untervertreten, weil es häufig einfacher ist, sie mit Männern durchzuführen. Das hat auch mit den Hormonen zu tun, wie Chatelan am Beispiel ihrer eigenen – gescheiterten – Studie erklärt: «Wir müssen den Effekt des Menstruationszyklus vom Effekt des Süssstoffs unterscheiden. Viele Frauen nehmen zudem die Verhütungspille.» Die Abgabe von Blut, Urin und Kotproben jeweils mit dem Zyklus jeder Teilnehmerin zu koordinieren, wie es bei der Studie ursprünglich vorgesehen gewesen wäre, hätte das Spitalpersonal vor zu grosse Heraus-
forderungen gestellt. Da boten sich Frauen in den Wechseljahren an, bei denen die Monatsblutungen bereits ausgesetzt haben. Sie gehören zwar nicht zu den bedeutendsten Konsumentinnen von Süssstoffen – das sind die jungen Frauen –, haben aber ein erhöhtes Risiko, Übergewicht zu entwickeln.
Die Studie sollte im Iran durchgeführt werden, weil «die Länder des Nahen Ostens zu den am stärksten von Übergewicht betroffenen gehören», so Chatelan. In Yazd leide rund die Hälfte der Frauen nach den Wechseljahren unter Adipositas. Hinzu kommt, dass Süssstoffe im Iran noch nicht so verbreitet sind wie etwa in der Schweiz. Also auch ein perfektes Terrain, um kleine Effekte auf die Darmbakterien zu untersuchen. Im Iran seien die Ernährungswissenschaften zudem stark entwickelt. «Das ist richtig», untermauert Amin Salehi-Abargouei, der iranische Partner des Projekts. Er ist Professor an der Shahid Sadoughi University für medizinische Wissenschaften in Yazd. «Im Iran gibt es seit 1961 den Studiengang in Ernährungswissenschaften.» Salehi-Abargouei spricht von 46 Departementen, 23 Forschungszentren zum Thema und 2100 Publikationen pro Jahr.
Die Bedingungen wären also optimal gewesen. Doch die internationalen wirtschaftlichen Sanktionen brachten das Projekt zu Fall. Es gab schlicht keinen legalen Weg, die 20 000 Franken für die Saläre des Personals der klinischen Studie von der Schweiz in den Iran zu überweisen. Eine grosse Enttäuschung für Salehi-Abargouei: «Ein internationales Embargo sollte nicht die Forschung und noch weniger die wissenschaftliche Zusammenarbeit für die Gesundheit der Menschen tangieren.»
Für den Doktoranden Raeisi-Dehkordi ging es dabei auch um seinen Job. Er war nun, nach zwei Jahren Vorbereitung, ohne Forschungsprojekt in Bern gestrandet. Sein Betreuungsteam, Chatelan, Salehi-Abargouei und Oscar H. Franco, Professor für Public Health am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern, bot ihm deswegen ein anderes an: Es geht um Geschlechtshormone und Herzkreislaufgesundheit bei Frauen.
Die westliche zuckerhaltige Ernährung erreicht den Iran zunehmend, das westliche Forschungsgeld hingegen darf wegen den internationalen Wirtschaftssanktionen nicht über die Grenze. Foto: Kaveh
/ Getty Images
Das Süssstoffprojekt wurde für Raeisi-Dehkordi daher zur Nebengeschichte. Das Team gab es nicht auf und entschied, auf zwei daraus abgeleitete Projekte zu fokussieren: Als erstes wurde in einer systematischen Übersichtsstudie über bereits bestehende Übersichtsstudien zusammengetragen, was über den Zusammenhang von Süssstoffen und Krankheiten bekannt ist. Resultat: Die starken Süssstoffe scheinen tatsächlich mit einem höheren Risiko für Diabetes, Herzkreislauferkrankungen und verschiedene Krebsarten verbunden zu sein. «Es ist allerdings zu bedenken, dass die Zusammenhänge nicht stark sind», schreibt das Team. Chatelan betont: «Wir wissen nicht, was zuerst kommt: Die Menschen, die am meisten Süssstoffe konsumieren, sind ja wahrscheinlich eher die Übergewichtigen.»
Wie wichtig die Studie gewesen wäre Genau um solche falschen Zusammenhänge zu eliminieren, hätte es die klinische Studie gebraucht. Die Daten von bestehenden Kohorten zu analysieren, war nun die nächstbeste Lösung. Für das zweite Folgeprojekt wurden deswegen die Informationen zu knapp 25 000 Amsterdamern und Amsterdamerinnen verwendet, deren Lebensweise und Gesundheit
seit 2011 systematisch verfolgt werden. RaeisiDehkordi zog unter anderem auch deswegen mit seinem Betreuer Franco von Bern nach Utrecht in die Niederlande.
Die Amsterdamer Kohorte war die einzige, an deren Daten die Gruppe innert vernünftiger Zeit gelangen konnte. «Open Science ist nicht immer so offen», erklärt Chatelan. Die Leiterinnen weiterer ähnlicher Studien wollten meistens zuerst ihre eigenen Resultate publizieren. Der Schutz der Privatsphäre der Patientinnen macht die Prozeduren zudem langwierig. Dazu komme ein Fachkräftemangel für die Analyse von Darmbakterien in Europa. Noch sind die Süssstoffanalysen zur Amsterdamer Kohorte nicht publiziert. Chatelan meint aber: «Mein Bauchgefühl sagt, dass wir es nicht bestimmen können, ob das Darmmikrobiom von Süssstoffen beeinflusst wird.» Doch selbst wenn das klar wäre, müsste in Zukunft immer noch gezeigt werden, dass wirklich die Darmbakterien für das erhöhte Gesundheitsrisiko verantwortlich sind. Erst dann wäre die Kette von Ursache und Wirkung vollständig belegt. Für eine definitive Aussage bräuchte es eine klinische Studie wie die ursprünglich geplante. «Eigentlich müsste man die Auswirkungen jedes einzelnen Süssstoffs untersuchen, und
zwar sowohl kurzfristig direkt nach der Einnahme als auch nach langfristigem Konsum», sagt Anne Christin Meyer-Gerspach, Co-Leiterin der Übergewichts-, Diabetes- und Stoffwechselforschung am Claraspital in Basel. Sie findet deshalb: «Das Projekt im Iran wäre grossartig gewesen. Es hätte endlich eine Interventionsstudie bei genau der Gruppe gegeben, die uns interessiert.» Sie betont aber noch: Zucker bleibe so oder so deutlich schlimmer als die gängigen Süssstoffe. Die WHO lege bei Letzteren den Sicherheitsmassstab sehr hoch an. Deshalb ist sie überzeugt: «Als Erstes sollte der süsse Geschmack in den Produkten generell reduziert werden. Dann könnten wir im niedrigeren Bereich den restlichen Zucker mit Süssstoffen ersetzen.»
Mit der übriggebliebenen Amsterdamer Kohorte beschäftigt ist nur Raeisi-Dehkordi, der wegen der durch die Einreiseprobleme ausgelösten Verzögerung noch Zeit hat, den letzten Teil zur Publikation zu bringen. Das zumindest wird ein Teil seiner Dissertation werden.
Florian Fisch ist Co-Redaktionsleiter von Horizonte.
Studentin, Seglerin, Autorin
Margot Camus-Romelli (22) begann 2019 ihr Studium an der EPFL und absolviert nun einen Master in Life Sciences. Sie ist Gründerin und ehemalige Präsidentin der studentischen Vereinigung Sailowtech, die wissenschaftliche Instrumente mit einfachen Technologien entwickelt und Forschungsprojekte auf Seen und auf dem Meer durchführt. Sie leitete eine 14-monatige Expedition im Nordatlantik und schliesst gerade die Arbeiten an ihrem Buch ab. Camus-Romelli wurde in Tunis geboren und wuchs in der Bretagne auf. Ihr Grossvater war Seemann, ihr Urgrossvater Aviatiker.
Margot Camus-Romelli machte mit fünfzehn Jahren die Matura, lief mit sechzehn von zu Hause weg und organisierte zwei Jahre später eine Forschungsexpedition im Nordatlantik. Sie sprudelt vor Ideen, aber auch vor Fragen nach dem Sinn von allem.
Text Daniel Saraga Foto Sébastien Agnetti / 13Photo
«Ich habe eine Schreibtischphobie. Das Büro lässt sich aber schwer vermeiden, wenn man Ingenieurin ist – vereinfacht gesagt.» Kompliziert versus einfach: ein erster Kontrast, der viele weitere ankündigt. Während des eineinhalbstündigen Treffens jongliert Margot CamusRomelli mit Meeresbiologie und Melancholie, mit Wüste und Wasser, mit Literatur und Nahtoderfahrung. Die 22-jährige EPFL-Masterstudentin hat in ihrem Kopf ebenso viele Pläne wie Fragen. Eine Draufgängerin, die auf den Wellen zur Ruhe kommt, eine zweifelnde Performerin mit sprudelnder Persönlichkeit.
Nach der Covid-Pandemie gründet Camus-Romelli mit 19 Jahren, im zweiten Jahr ihres Bachelors an der EPFL, eine Studierendenvereinigung für wissenschaftliche Expeditionen auf Seen und der See. Sailowtech soll zum Schutz der Meere beitragen, indem Daten über Plankton und dessen Lebensraum gesammelt werden. Wichtig ist dabei auch, die Wissenschaft zu demokratisieren und Mitstudierenden Erfahrungen mit aquatischen Ökosystemen zu ermöglichen. Die Studentin findet Sponsoren, verwaltet ein Budget von 180 000 Franken und initiiert die Zusammenarbeit mit Meeresforschungsinstituten. Das «lowtech» im Namen der Vereinigung verweist auf das Ziel einer sparsameren Wissenschaft. Studierende und Forschende stellten drei der Instrumente an Bord selbst her, unter anderem eine Unterwasserkamera und einen Sensor zur Messung von Temperatur, elektrischer Leitfähigkeit und Wassertiefe. «Ich wollte zeigen, dass qualitativ gute Forschung kostengünstig und umweltfreundlich sein kann», erklärt Camus-Romelli. «Wissenschaft ist noch allzu häufig elitär, gewinnorientiert und eine Belastung für die Umwelt.»
Das erste Projekt hiess Atlantea: 14 Monate auf See, 25 000 Kilometer über den Nordatlantik, Hunderte von Analysen und Proben, über 300 beobachtete Arten von Plankton. Das Team besteht aus einem Skipper und sechs Studierenden, von denen zwei alle drei bis vier Monate wechseln. Die Tage an Bord verlaufen im Rhythmus der Probenahmen und Analysen, der Routinearbeiten und des Segelns. An den Tagen im Hafen werden Daten übermittelt, Proben für genetische Analysen verschickt und die Aktivitäten mit Forschungspartnern abgestimmt. Camus-Romelli ist wissenschaftliche Koordinatorin, bestimmt Plankton unter dem Mikroskop, regelt Alltägliches und kocht.
Auf See lösen sich alle Überzeugungen auf «Einerseits ist das Leben auf einem Schiff einfach», erzählt die junge Französin. «Zwar sind die Bedingungen hart und es fehlt an Komfort und Platz, aber man kann sich dem Rhythmus hingeben. Es gibt weder Telefon noch Internet, man fährt von Punkt A nach Punkt B. Die Reise wird vom Wetter und vom Tag-Nacht-Wechsel bestimmt.» Die Erfahrung lässt sie aber auch vieles hinterfragen: «An Land kämpfte ich mit Herzblut für das Projekt, doch auf See lösten sich diese Überzeugungen auf.» Das sei die Wirkung der immensen Weite des Ozeans und der intensiven Kälte zum Schluss der Expedition in Grönland gewesen. «Ich realisierte, dass mich die Forschungsaufgaben an Bord weniger ausfüllten als erwartet, dass ich Mühe hatte mit dem Alltag. Ich fühlte mich leer, wie eine Hochstaplerin, die ihr Team im Stich lässt.» Sie verbringt viel Zeit mit Nachdenken und dem Eintauchen in die Meeresumgebung, physisch unter Wasser beim Tauchen oder beim Free Diving ohne Flasche.
Die Landung auf festem Boden im Jahr 2024 ist hart: «Ich brauchte mehrere Monate, bis ich realisierte, was mir die Expedition alles gebracht hatte. Vom Meer kommt man völlig verwandelt zurück, an Land scheint alles noch genau wie vorher. Man fühlt sich fehl am Platz.» Zur Verarbeitung dieser Lebensetappe schreibt sie ein Buch, das sie dem-
nächst beim Verlag einreicht. Es vereint persönliche Überlegungen, Kindheitserinnerungen, Gedichte und Aquarellzeichnungen. Inzwischen hat Camus-Romelli die Vereinigung verlassen und ein Masterstudium an der EPFL aufgenommen, wobei sie die Meeresbiologie gegen die Physiologie des Tauchens ausgetauscht hat: Sie plant einen achtmonatigen Aufenthalt in den USA und will dort die Wirkungen von Stickstoff im menschlichen Körper in 100 Metern Tiefe untersuchen. Ein Beweggrund für sie ist auch hier, zur Demokratisierung, dieses Mal des Tauchens, beizutragen, damit wissenschaftliche Daten gesammelt werden, die wiederum für den Schutz der Meereshabitate wichtig sind. Sie findet aber auch, dass «diese Aktivität uns zum Staunen bringt und damit ein Bewusstsein schaffen kann». Man müsse «diese wunderbare Erfahrung machen: unter Wasser sein, den Lebewesen des Meeres begegnen. Aber auch einen ausbleichenden Korallenstock sehen, einen Hai, der sich in Netzen verfangen hat.» Sie ist überzeugt, dass «der Mensch ohne das Meer stirbt».
Sinnsuche nach extremen Erfahrungen
Margot Camus-Romelli wurde in Tunesien geboren und lebte in Marokko, bis sie sechs Jahre alt war, dann zog ihre Familie in die Bretagne. Sie kehrte jedes Jahr in den Maghreb zurück und entdeckte mit zehn Jahren die Wüste: Nachdem sie eine Düne hochgeklettert war, überwältigte sie das unendliche Meer aus Sand. «Ein unglaubliches Glücksgefühl», aber auch «eine fast zu intensive Erfahrung», die in ihr das ständige Bedürfnis weckte, mit der Natur verbunden zu sein. «In diesem Moment hat sich etwas geöffnet und nie mehr geschlossen. Mein ganzes Leben lang habe ich mich wie eine Fremde gefühlt, die sich in einer Welt bewegt, die sie nicht versteht, die zu brutal ist, zu sehr losgelöst von einer sanfteren Zeitlichkeit.» Ein Paradoxon für eine Frau, die von einem Projekt zum nächsten eilt und sagt, dass sie nur sehr schwer zur Ruhe kommt.
Mit fünfzehn Jahren machte sie ihre Matura im Fernstudium. Im Jahr darauf lief sie von zu Hause weg, um den Schlägen ihres gewalttätigen Vaters zu entkommen. Sie möchte diese Episode ihres Lebens nicht totschweigen, betont aber, wie wichtig es ist, zu vergeben und weiterzugehen. Sie erzählt auch von einer Nahtoderfahrung, als es bei der Untersuchung eines Herzproblems im Spital zu Komplikationen kam. Dem Tod erneut sehr nahe kommt sie, als sie während der Atlantea-Expedition ein Free-Diving-Training zu weit treibt. Camus-Romellis Sinnsuche scheint noch lange nicht abgeschlossen. Aktuell arbeitet sie als Segellehrerin, gehört zu einem Free Diving Club, nimmt an einem Rhetorikwettbewerb teil und absolviert eine Coaching-Ausbildung – nicht um andere zu coachen, sondern sich selber. Neben ihrem Master studiert sie im Nebenfach Management: «Wir brauchen Leute, die Wissenschaft um der Wissenschaft willen betreiben, aber das ist nichts für mich. Ich möchte zu einer praxisnahen und vielleicht auch weniger ethnozentrischen Wissenschaft beitragen, mich auch mit politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen auseinandersetzen. Ich habe einen grossen Traum: für das IKRK zu arbeiten.»
Camus-Romelli ist der EPFL, von der sie als 17-Jährige ein Stipendium erhalten hatte, sehr dankbar und fühlt sich in der Schweiz wohl. «Die Menschen hier sind nicht verschlossen, wie manchmal behauptet wird, sondern unternehmungslustig und offen für Abenteuer.» Die Schweiz könnte für sie also zu einem festen Ankerplatz werden.
Daniel Saraga ist freier Wissenschaftsjournalist in Basel.
Angesichts des beunruhigenden neuen politischen Windes, der durch die akademische Landschaft weht, gerät die Vielfalt in der wissenschaftlichen Exzellenz einmal mehr unter Druck. Seit März 2025 kürzt die USRegierung Geld und Personal in Forschungsbereichen, die sie für politisch hält – von geschlechtsspezifischer Gewalt über Klimawissenschaft bis zur Impfstoffforschung.
Laura
Bernardi, Vizepräsidentin des Nationalen Forschungsrats des SNF.
Eine mir bekannte, angesehene Soziologieprofessorin, die auf beiden Seiten des Atlantiks lehrt, schreibt mir, dass sie und ihr Umfeld in den USA «fassungslos, wütend und besorgt» seien und «für den Widerstand spenden oder aktiv dafür arbeiten» würden. Forschende können sich mit Wissenschaft zur Wehr setzen, indem sie den wertvollen Beitrag der betroffenen Disziplinen kommunizieren: öffentliche Gesundheit, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Sicherheit. Der Widerstand ist nicht nur politisch, sondern auch epistemisch. Er verteidigt das Grundprinzip, wonach fundierte, wirkungsvolle Forschung intellektuelle Freiheit und Pluralismus benötigt –nicht ideologischen Zwang. Dass die globale Wissenschaftsmacht USA nun Diversitätsforschung marginalisiert und sich damit Ländern wie Ungarn anschliesst, das 2019 Masterstudiengänge im Bereich Gender Studies verbot, ist alarmierend. Unerwartet kommt es leider nicht.
Ungewiss ist nicht nur, wer wissenschaftliche Fragen stellen darf, sondern welche überhaupt noch gestellt werden dürfen. Vielfalt in der Wissenschaft – bezüglich Themen, Methoden, Perspektiven und Menschen – ist nicht Luxus, sondern Notwendigkeit. Wissen nährt sich aus dem Wechselspiel zwischen Disziplin und Disruption, zwischen analytischer Präzision und Offenheit für Komplexität. Forschung, die als Reaktion auf politischen Druck eingeebnet wird, ist keine mehr.
Ob durch Entziehen der Fördergelder für bestimmte Disziplinen, das Totschweigen kontroverser Themen oder das Aushebeln inklusiver Anstellungs und Evaluationsverfahren: Angriffe auf die Vielfalt der Forschung sind immer auch Angriffe auf deren Qualität. Beim Schweizerischen Nationalfonds setzen wir uns für die Verteidigung dieses Grundsatzes ein: Exzellenz, wie wir sie verstehen, ist untrennbar mit Vielfalt verknüpft. Unser Auftrag ist klar: Unterstützung herausragender Forschung in allen Disziplinen – mit Integrität, Kompetenz und unerschütterlichem Vertrauen in den wissenschaftlichen Prozess. Die willkürliche Einschränkung der Vielfalt führt zu einer Zukunft mit selektivem Wissen. Wir entscheiden uns für inklusive Exzellenz.
Sciencecomm am 3. und 4. September zu Informationsüberfluss
Die Sciencecomm 25 findet dieses Jahr am 3. und 4. September im Square an der Universität St. Gallen statt. Der Schweizer Jahreskongress der Wissenschaftskommunikation widmet sich unter dem Motto «Attention! Engage!» der Herausforderung, inmitten des Informationsüberflusses Aufmerksamkeit zu gewinnen und zu halten. Der von der Stiftung Science et Cité organisierte Kongress ist eine Plattform für fachlichen Dialog und Vernetzung und legt den Fokus auf Networking, Interaktion und Partizipation.
Beim SNFWettbewerb für wissenschaftliche Bilder 2025 wurden 19 Forschende prämiert. Vom Coiffeursalon in Lesotho über eine archäologische Stätte in Madagaskar bis zu Regenwürmern in der Lausanner Unterwelt –die prämierten Werke zeigen die Vielfalt in der Wissenschaft. Und sie machen die individuelle Perspektive der Forschenden sichtbar. Alle 400 eingereichten Arbeiten sind auf flickr.com unter «SNSF Scientific Image Competition» zu sehen.
Fast 6000 Projekte
Auch 2024 hat der SNF über eine Milliarde Franken für die besten neuen Forschungsprojekte vergeben. 960 Millionen investierte er in seine reguläre Förderung und 189 Millionen in Übergangsmassnahmen, weil die Forschenden von Teilen des EUProgramms Horizon Europe ausgeschlossen waren. Ausserdem begann 2024 die zweite Phase der Nationalen Forschungsschwerpunkte, deren Arbeit seit 2020 läuft. Der SNF genehmigte die weitere Finanzierung in der Höhe von 120 Millionen Franken. Ende 2024 waren an Hochschulen und anderen Institutionen fast 6000 Projekte im Gang, die durch den SNF finanziert wurden, mit 22 000 Forschenden.
Schweiz ist wieder bei Horizon Europe dabei
Nach dem Abschluss der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU können hiesige Forschende wieder an praktisch allen Projektausschreibungen von Horizon Europe für das Programmjahr 2025 teilnehmen. Bewerben können sie sich insbesondere bei den Ausschreibungen des Europäischen Forschungsrats und bei den Marie SklodowskaCurie Actions. Der SNF wird keine entsprechenden Ersatzausschreibungen mehr lancieren. Ziel bleibt eine vollumfängliche Assoziierung an Horizon Europe, die für den Wissenschaftsund Wirtschaftsstandort Schweiz zentral ist.
Der Bundesrat will seinen Beitrag an den SNF in den Jahren 2027 und 2028 um rund 10 Prozent oder insgesamt 270 Millionen Franken kürzen. Der SNF lehnt dies ab und hat in der Vernehmlassung entsprechend Stellung genommen. Ob die Kürzungen auch das Jahr 2026 betreffen, ist noch unklar. Der Entscheid wird für den Frühsommer erwartet. Falls die für 2027 und 2028 vorgesehenen Sparmassnahmen in Kraft treten, könnte der SNF 500 exzellente Projekte weniger bewilligen. Zudem könnten rund 1500 Stellen an Hochschulen und anderen kantonalen Institutionen nicht mehr finanziert werden. Dies würde der Schweizer Wirtschaft, der Gesellschaft sowie dem Wissenschaftsstandort substanziell schaden.
Am 1. April hat der neue Forschungsrat mit 73 Mitgliedern seine Arbeit aufgenommen. Er besteht aus dem Vorstand, fünf Programmkomitees und einem Komitee für Förderpolitik. Präsidiert wird der Forschungsrat von Torsten Schwede. Zusätzlich unterstützen rund 1000 Expertinnen und Experten in den Evaluationsgremien die Exzellenz der Schweizer Wissenschaft.
Ruben Hollinger
Ende März verabschiedete der SNF Angelika Kalt, die nach 17jähriger Tätigkeit für den SNF in den Ruhestand trat. Sie hat zunächst in verschiedenen Funktionen, ab 2016 dann als Direktorin eine zentrale Rolle bei der Professionalisierung und Weiterentwicklung des SNF gespielt. Heute unterstützt dieser rund 6000 Projekte und Zehntausende Forschende. Gemeinsam mit allen Mitarbeitenden setzte Angelika Kalt sich für zukunftsgerichtete Förderinstrumente, effiziente Evaluationsprozesse und exzellente Forschung ein. Mit visionärer Weitsicht prägte sie zudem die Reorganisation des Forschungsrats und des Stiftungsrats. Ihre Nachfolge haben per 1. April Katrin Milzow und Thomas Werder Schläpfer als CoDirektion angetreten.
Der SNF bietet ein neues LeadershipProgramm für Beitragsempfangende der Instrumente SNSF Starting Grants, Eccellenza und PRIMA an. Nachwuchsforschende können damit ihre Kompetenzen bei der Führung von Teams mit diverser Zusammensetzung verbessern. Die Kurse sollen ihnen konkrete Werkzeuge vermitteln und sie befähigen, ein inklusives Arbeitsumfeld zu schaffen, die Abläufe an Hochschulen zu verstehen und die Herausforderungen einer wissenschaftlichen und akademischen Karriere zu bewältigen.
Doktoratsprogramm für Ärztinnen und Ärzte geht weiter
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) vergibt seit 1992 jährlich zusammen mit privaten Stiftungen eine begrenzte Anzahl kompetitiver sogenannter MDPhDStipendien. Der SNF hatte das Programm bis 2024 auch unterstützt. Nun stellen mehrere Stiftungen sowie alle grossen medizinischen Fakultäten und die EPFL Mittel zur Verfügung, damit mindestens zwei weitere Ausschreibungen in den Jahren 2025 und 2026 lanciert werden können. Damit bieten sie jungen, forschungsinteressierten Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit, ein Doktorat in Naturwissenschaften, Public Health, klinischer Forschung oder biomedizinischer Ethik zu absolvieren. samw.ch/de/md-phd
Junge Akademie Schweiz lanciert Podcast
Im neuen Podcast «Spark: Stories from Advocates for Global Change» führen Studierende Interviews mit Expertinnen und Experten zu globalen Themen wie KI, soziale Medien, Menschenrechte und Klimawandel. Das von der Jungen Akademie Schweiz lancierte Projekt richtet sich an ein junges Publikum von 16 bis 23 Jahren und bietet Einblicke in transdisziplinäre und interdisziplinäre Forschung. Spark soll das öffentliche Interesse an Wissenschaft fördern, junge Menschen für globale Themen sensibilisieren und sie zu einer wissenschaftlichen Karriere inspirieren, die gesellschaftliche Herausforderungen adressiert. go.swissyoungacademy.ch/the-spark-podcast
Horizonte 144, S. 16:
«Die Leere, die nicht ist»
Zu Reflexion inspiriert
Die Ausgabe hat mich über einige Tage in Bann gezogen. Die Lektüre der verschiedenen Beiträge unter dem Fokus «Von Nichts kommt viel» verband sich mit meinen eigenen Zugängen zu dieser existenziellen Thematik. Vor diesem Hintergrund sind die Fotografien von Jojakim Cortis und Adrian Sonderegger stark und anregend. Treffend auch die Illustrationen von Michael Raaflaub, die dem Artikel von Daniel Saraga spannende Konturen geben. Speziell die in diesem Text erwähnten Aussagen des Physikphilosophen Baptiste Le Bihan regten mich zu einer längeren Reflexion an, die ich wiederum im «Anzeiger für die Seelsorge» zu publizieren beabsichtige.
Stephan Schmid-Keiser, Theologe, Niklausen (LU)
Horizonte 144, S. 19:
«Die vielen Gesichter der Null» Zu viel der Null
Die Chimäre, ein Ungeheuer der griechischen Sage, ein Hirngespinst, bestehend aus Löwe, Ziege und Schlange, bedeutet nichts anderes als «Nichts». Und lange Zeit existierte auch keine Ziffer für die Null. Aber die Digitalisierung brachte die Null im Überfluss. Und so wird die Null heute un
Horizonte
Das Schweizer Forschungsmagazin erscheint viermal jährlich auf Deutsch und Französisch. Die Online-Ausgabe erscheint auch auf Englisch. 38. Jahrgang, Nr. 145, Juni 2025
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nötig und überflüssig eingesetzt. Ich kann die Verwendung der Null in einer Tabelle noch akzeptieren, aber es hätte auch da andere mögliche Zeichen als die Null gegeben. Völlig sinnlos wird der Einsatz der Null beim Datum in einem Brief verwendet: «09.03.2025» oder bei einer Zeitangabe «14.00–15.00 Uhr». Das Weglassen der unnötigen Ziffern Null bringt schliesslich auch eine ästhetische Verbesserung mit sich, wie «9.3.2025» oder «14–15 Uhr».
René Gauch, ehemaliger Leiter einer Berufsschule, Rümlang (ZH)
Horizonte 144, S. 7: «Die letzten Berufsjahre können kränkend sein»
Netzwerk für Emeritierte Das Interview über die letzten Berufsjahre in der Akademie beschreibt treffend die Situation an den meisten westeuropäischen Universitäten. Als Präsident eines Netzwerks der Agence Universitaire de la Francophonie, die mehr als tausend Universitäten weltweit umfasst, habe ich den Hochschulbereich von innen her kennengelernt. Bis vor zwei Jahrzehnten galt die Situation auch für die Universität Namur, an der ich emeritiert bin. Mit 65 Jahren wurde man dort zwangsemeritiert, aber bis 70 noch sozusagen geduldet. Inzwischen hat sich das von Grund auf verändert. Mit einigen motivierten
Redaktion
Florian Fisch (ff), Co-Leitung
Judith Hochstrasser (jho), Co-Leitung
Astrid Tomczak-Plewka (ato)
Sophie Rivara (sr) Yvonne Vahlensieck (yv)
Gestaltung und Bildredaktion
Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik 13 Photo AG
Übersetzung
Weber Übersetzungen
Korrektorat
Birgit Althaler Anita Pfenninger
Kolleginnen und Kollegen habe ich ein Netzwerk für Emeritierte gegründet, das von der Uni als vollwertiger Partner anerkannt ist und teilfinanziert wird. Alle Mitglieder des Netzwerks behalten bis zu ihrem Lebensende ihre elektronische Universitätsanschrift und werden zu allen Veranstaltungen eingeladen. Das könnte doch eine Anregung sein für die Schweizer Universitäten und Hochschulen.
Manfred Peters, emeritierter Linguistikprofessor der Universität Namur, Belgien
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Chefredaktion
Christophe Giovannini
Herausgebende Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) Wildhainweg 3
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Akademien der Wissenschaften Schweiz
Haus der Akademien Laupenstrasse 7
CH-3001 Bern Tel. 031 306 92 20 info@akademien-schweiz.ch
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Der Schweizerische Nationalfonds fördert im Auftrag des Bundes die Forschung in allen wissenschaftlichen Disziplinen. Er investiert jährlich rund eine Milliarde Franken. Aktuell sind fast 6000 Projekte im Gang, an denen über 22 000 Forschende beteiligt sind.
Die Akademien der Wissenschaften Schweiz setzen sich im Auftrag des Bundes für einen gleichberechtigten Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ein. Sie vertreten die Wissenschaften institutionenund fachübergreifend.
Druck und Litho Stämpfli AG, Bern/Zürich klimaneutral gedruckt, myclimate.org
Papier: Munken Kristall Smooth Brilliant White, Magno Star
Typografie: Caslon Doric, Sole Serif Auflage 28 700 deutsch, 13 200 französisch © alle Rechte vorbehalten. Nachdruck der Texte möglich. Lizenz: Creative Commons BY-NC-ND ISSN 1663 2710
Die Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgebenden SNF und Akademien wieder.
Wir streben gendergerechte Sprache an und verwenden deswegen beide generischen Formen sowie neutrale Formulierungen wie «Forschende». Die Texte in Horizonte sind nach journalistischen Standards geschrieben. Künstliche Intelligenz kann bei bestimmten Arbeitsschritten verwendet werden (z.B. Recherchehilfe, Transkription), die Autorinnen und Autoren verfassen die Texte aber selbst und bürgen für den Inhalt.
JA«Die Forschung, die Leben rettet, kann zugleich Leben gefährden.»
Laurent Bächler ist
Programmleiter für Biosicherheit beim Thinktank Pour Demain. Er vermittelt evidenzbasierte Vorschläge für eine resiliente Gesellschaft im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik.
Die virologische Forschung hat unbestreitbare Erfolge erzielt. Impfstoffe gegen Polio, Masern und – in Rekordzeit entwickelt – gegen Covid19 haben Millionen Leben gerettet. Ohne sich aufopfernde Forschende, die in Hochsicherheitslaboren mit gefährlichen Erregern arbeiten, wären diese Durchbrüche unmöglich gewesen. Doch Forschung, die Leben rettet, kann zugleich Leben gefährden. Allein zwischen 2000 und 2021 wurden weltweit über 300 Laborinfektionen mit 51 verschiedenen Erregern und acht Todesfällen dokumentiert. Viele Laborunfälle bleiben unerfasst – eine systematische Unfallstatistik fehlt. Besorgniserregend sind gewisse sogenannte GainoffunctionExperimente, bei denen Viren gezielt gefährlicher gemacht werden. Dabei bleibt unklar, ob die gefährlichere Variante in der Natur jemals auftreten wird, während gleichzeitig stets ein sehr hohes Risiko besteht. Laut HarvardProfessor Marc Lipsitch können bei der Freisetzung eines solchen Influenzavirus potenziell zwei Millionen bis 1,4 Milliarden Menschen sterben. Mit synthetischer Biologie und mit KI wird Biotechnologie zur Ingenieurskunst. Laut WHO können selbst ausgestorbene Viren wie die Pocken rekonstruiert werden. Gleichzeitig werden in der Schweiz Hochsicherheits labore teilweise jahrelang nicht kontrolliert. National und Bundesrat haben 2023 eine Überprüfung der Aufsicht und der Kontrolle von Hochsicherheitslaboren beauftragt. Dabei leisten kantonale Behörden Grosses – doch ihnen fehlen oftmals die Ressourcen. Was ist also zu tun? Erstens: obligatorische Kurse für alle Biosicherheitsbeauftragten. Zweitens: ein sanktionsfreies Meldesystem mit transparenter Statistik – wie in Kanada. Drittens: ein unabhängiges nationales Biosicherheitsinspektorat – wie im Nuklearbereich. Solche Massnahmen stärken das Vertrauen in die Virenforschung und sind in andern Risikobereichen bereits umgesetzt. Zum Beispiel werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Flughafen Zürichs auf ihre Zuverlässigkeit überprüft. Sicherheit und Forschung sind kein Widerspruch. Warum den FortschrittsFünfer gegen das SicherheitsWeggli eintauschen, wenn in der Virenforschung beides zusammengehört? Ein einziger Unfall kann das Vertrauen zerstören und weitere Erfolge verunmöglichen.
In der teilweise stark vereinfachten und polarisierten Diskussion etwa um GainoffunctionExperimente bekommt man schnell den Eindruck, dass Virologinnen und Virologen willkürlich mit hochpathogenen Erregern arbeiten und diese noch gefährlicher machen wollen. Im Forschungsalltag haben diese Versuche aber einen hohen Stellenwert. Sie liefern uns beispielsweise Erkenntnisse zur krankheitsauslösenden Wirkung von Viren, die künstlich resistent gegenüber Medikamenten gemacht wurden. «Wie passt sich ein Virus an einen neuen Wirt an, und ist es in diesem noch genauso gefährlich?», ist eine wichtige Frage in den Anfängen einer neuen Pandemie, die wir nur zu einem kleinen Teil verstehen. Man kann diese Informationen nur bedingt aus Computermodellen oder Experimenten mit weniger gefährlichen Erregern ziehen, weil Letztere sich oft anders verhalten.
Das heisst natürlich nicht, dass es in der virologischen Forschung zugeht wie im Wilden Westen. Forschungsarbeiten mit hochpathogenen Erregern bedürfen in der Schweiz einer Genehmigung, bei der die Projekte erst nach abschliessender Überprüfung des Risikos durch eine unabhängige Expertenrunde freigegeben werden. Dies geschieht zentral auf nationaler Ebene, was eine Harmonisierung der Sicherheitsstandards in der Schweiz erlaubt.
«In der virologischen Forschung geht es nicht zu wie im Wilden Westen.»
Mirco Schmolke ist Professor für Virologie an der Universität Genf. Er hat in Deutschland, den USA und der Schweiz mit hochpathogenen Viren gearbeitet.
Das ist ein Vorteil gegenüber institutionellen Biosicherheitskomitees, wie sie in den USA üblich sind. Eine ausführliche Risikoabschätzung wird bereits bei der Beantragung des Projekts eingefordert. Labore müssen so ausgestattet und Abläufe so standardisiert sein, dass das Risiko einer unabsichtlichen Freisetzung oder einer Infektion von Mitarbeitenden minimiert ist. So werden die sicherheitsrelevanten Elemente eines Hochsicherheitslabors regelmässig und unabhängig überprüft. Dazu zählen zum Beispiel die Abluftfiltration oder die Sterilisatoren für die Abfallbehandlung. Labormitarbeitende absolvieren ein überwachtes Training, bevor sie selbstständig experimentieren dürfen, und werden regelmässig nachgeschult. Ich bin überzeugt: Das Regelwerk und die kombinierte Überwachung durch Bund, Kantone und Betreiber in der Schweiz erlauben eine sichere Forschung. Eine Forschung, die letztlich der Sicherheit der Bevölkerung dient.
Asmaa Dehbi, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Freiburg, Seite 18