Timo Gaessner
Für mich wachsen Schriften über die Zeit
Timo Gaessner ist ein in Berlin ansässiger Grafik Designer und Typograf, studierte an der Gerrit Rietveld Academie in Amster- dam, und gründete nach seinem Diplom 2002 das 123buero. 2010 rief er mit dem Schweizer Alexander Meyer MilieuGrotesque ins Leben, einen Schriftenverlag, über den er seine Schriften vertreibt. Die Brotschrift dieser Slanted Ausgabe stammt aus seiner Feder: Gestatten, Maison. Wie es zu diesem und anderen Schriftentwürfen kam, erzählte uns Timo Gaessner am 24. April 2012 in Karlsruhe.
� Julia Kahl: 2002 hast du nach deinem Diplom an der Gerrit Rietvelt Academie in Amsterdam das 123buero gegründet – wie kam es zu diesem recht anonymen Namen? Timo Gaessner: Die Idee war, eine generische Identität für das Büro zu entwickeln, um sich je nach Projekt und Kunde individuell auf die Aufgabe einlassen zu können. Auch finde ich es wichtig, als Person nicht zu stark im Vordergrund zu stehen. � Wie ist 123buero denn aufgestellt? Eigentlich ist unser »Büro« recht klein. 2008, als wir den Schwerpunkt unserer Arbeit noch verstärkt auf Grafikdesign legten, waren wir fünf Personen, aber nun, da ich mich mehr und mehr in Richtung Schriftgestaltung bewege, biete ich sogar nur noch selten einen Praktikumsplatz an. Momentan betreue ich primär meine langfristig gewachsenen, eher kleinen Berliner Kunden, die ich auch zu Themen außerhalb der klassischen Kommunikation berate. Das ist eine gute und wichtige Voraussetzung für Innovation und ermöglicht mir meinen persönlichen Anspruch gerecht zu werden. Parallel arbeite ich projektbasiert für die unterschiedlichsten Kunden mit dem Fokus auf Wirtschaftlichkeit. Wann immer Zeit übrig ist, beschäftige ich mich mit meinen Schriftprojekten. � Schaut man sich die Projekte auf eurer Homepage an, sieht man sehr viele Projekte, für die ihr auch Custom Fonts gestaltet habt. Besonders gut gefällt mir eure Schrift Kraliçe, die ihr für SALT, eine kulturelle Institution in Istanbul, gestaltet habt. Kannst du mir ein bisschen von dem Projekt erzählen? Wie ist es zustande gekommen? SALT ist eine neue Kulturinstitution, die es seit etwa einem Jahr in Istanbul gibt. Es ist eine unabhängige Organisation, die sich auf künstlerische Ebene kritisch mit zeitgenössischen Themen auseinandersetzt. Project Projects hat den Auftrag bekommen, das Erscheinungsbild zu entwickeln und hat dabei mit einer meiner ersten Schriften Queen experimentiert, die ich als Student gestaltet hatte. Um diese Schrift herum hat sich dann das gesamte Corporate Design entwickelt und so wurde ich in das Projekt involviert. Die Idee ist, dass das Logo, oder besser die Wortmarke, in die Schrift eingebunden ist. Durch den prominenten Gebrauch der Schrift ergibt sich daraus eine Referenz die sich über die gesamte Kommunikation verteilt ohne zu dominant oder plump zu wirken. Um die Beweglichkeit und andauernde Veränderung der Institution darzustellen, werden in einem Turnus von sechs Monaten Gestalter gebeten die Buchstaben S, A, L und T neu zu interpretieren. Diese werden anschließend in das fortlaufende Gestaltungssystem intergiert. � Typografie-lastige Visual Identities scheinen, für euch eine große Rolle zu spielen. Für Thone Negrón, Daniel Heer oder auch A.D.Deertz habt ihr sehr typografische Systeme entwickelt – entsteht aus einer Logo-Idee eine ganze Schrift? Wie kann man sich das vorstellen? Ganz aktuell hast du gerade die Schrift Boutique veröffentlicht, die für das Modelabel A.D.Deertz schon einige Zeit im Einsatz ist. Tatsächlich ist es so, dass ich einen wachsenden, immer größer werdenden Fundus an Schriftideen mit mir herumtrage. Bei der Boutique war es so, dass wir 2009 von unseren langjährigen Kunden ADD (später A.D.Deertz), für ein Rebranding beauftragt wurden. Das Fashionlabel war zu diesem Zeitpunkt ein Unisex Label und eher Streetstyle-lastig, mit einer recht undefinierten Grafik, die über die Jahre entstanden ist. Ziel des Rebranding war es, das Label international, fokussiert auf eine Männerlinie auszurichten. Da war es naheliegend mich mit einem Klassiker wie der Bodoni zu beschäftigen und zu experimentieren. Die Serifen wegzunehmen war ein erster Versuch, aus der dann im Laufe der Zeit die Boutique entstanden ist. Zu Beginn gab es tatsächlich nur Versalien, Zahlen und die wichtigsten Interpunktionen. Über die Jahre habe ich sie dann zur jetzigen Familie ausgearbeitet. Für mich persönlich wachsen Schriften über die Zeit, da man erst einmal herausfinden muss, wo die Qualitäten, bzw. Schwächen des jeweiligen Projektes liegen. Es ist ein langwieriger Prozess, von einer ersten Idee hin zu einer funktionierenden Fließtextschrift. In diesem Fall hat die Recherche und Ausarbeitung etwa drei Jahre gedauert. � Kannst Du sagen, wie viel Zeit du ungefähr für die Recherchen aufwendest, und wie viel für die Entwicklung selbst? Recherche ist vielleicht nicht das richtige Wort, denn es geht nicht nur um eine Recherche im inhaltlichen oder historischen Sinn. Nach der ersten Idee geht es primär um die Beschäftigung mit der Grundform, den formalen Aspekten einer Schrift, mit dem Gestaltungsproblem direkt. Ich denke am Objekt, wie es einst auch Otl Aicher formuliert hat. Ich probiere aus, überprüfe das Resultat und gehe dann nach und nach in einen Produktionsprozess über.
Slanted 18 — Interviews
Timo Gaessner, P 156
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