Kinder in Notfällen

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Kindern in Notfällen prak­ tisch gestaltet und erfolg­ reich umgesetzt werden kann. Für die Helfer und Ange­ hörigen sind gerade pädi­ atrische Notfälle mit sehr großen Belastungen ver­ bunden. Für sie stellt das Buch u. a. hilfreiche Regel­ werke, Hinweise für die Nachsorge sowie Kontakt­ adressen bereit. Eine Ergänzung der bis­ lang zum Thema »Psy­ chische Erste Hilfe« er­ schienenen Fachliteratur.

Kinder in Notfällen

Psychische Erste Hilfe und Nachsorge

isbn 978-3-943174-38-0

www.skverlag.de

Kinder in Notfällen

Für die meisten Kinder sind Notfälle etwas völlig Neues. Im Allgemeinen verfügen sie über keine geeigneten Bewältigungs­ strategien und stehen der Situation daher hilflos gegenüber. Dies gilt ins­ besondere auch für unver­ letzt gebliebene Kinder. Manchmal haben sie noch nach vielen Jahren mit den psychischen Folgen des Notfallgeschehens zu kämpfen. Harald Karutz und Frank Lasogga geben in diesem Buch konkrete Antworten, wie die psy­ chische Begleitung von

H. Karutz, F. Lasogga

Harald Karutz, Frank Lasogga

Harald Karutz Frank Lasogga

Kinder in Notfällen

Psychische Erste Hilfe und Nachsorge 2., überarbeitete Auflage


Kinder in Notf채llen Psychische Erste Hilfe und Nachsorge


Kinder in Notf채llen Psychische Erste Hilfe und Nachsorge Harald Karutz / Frank Lasogga

2., 체berarbeitete Auflage

Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2016


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© Copyright by Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2016 Satz: Hille Schulte, Edewecht Umschlagfoto: Andreas Keienburg, Mülheim an der Ruhr Druck: M.P. Media-Print Informationstechnologie GmbH, 33100 Paderborn ISBN 978-3-943174-38-0


˘ Inhaltsverzeichnis

Inhalt 1

Einführung

7

1.1 Besonderheiten von Kindernotfällen

7

1.2 Häufigkeit von Kindernotfällen

8

1.3 Hinweise zum psychologischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen

11

1.4 Personengruppen

13

2

Kinder und Jugendliche

2.1 Belastungen

2.1.1 Physiologische Belastungen

2.1.2 Psychologische Belastungen

2.2 Moderatorvariablen

2.2.1 Biologische Moderatorvariablen

2.2.2 Soziografische Moderatorvariablen

2.2.3 Psychologische Moderatorvariablen

2.3 Reaktionen und Folgen

2.3.1 Situative Variablen 2.3.2 Reaktionen

2.3.3 Kurz-, mittel- und langfristige Folgen

2.4 Umgang mit Notfallopfern 2.4.1 Psychische Erste Hilfe

2.4.2 Psychosoziale Notfallhilfe

2.4.3 Akutintervention durch Fachkräfte 2.4.4 Traumatherapie

2.4.5 Selbsthilfegruppen 2.4.6 Fehler

15 15 15 20 24 24 25 27 31 31 34 37 47 48 74 82 83 83 84

5


˘ Inhaltsverzeichnis

3

Bezugspersonen

3.1 Belastungen

3.2 Psychische Erste Hilfe und Psychosoziale Notfallhilfe 3.2.1 Tod eines Kindes

3.2.2 Plötzlicher Säuglingstod

4

Helfer

89 91 95 98 101

4.1 Belastungen

101

4.2 Vorbereitung auf Kindernotfälle

105

4.3 Selbsthilfestrategien im Einsatz

105

4.4 Nachsorge

4.4.1 Individuelle, informelle Nachsorge

4.4.2 Institutionelle, organisierte Nachsorge

106 106 107

5

Prävention

109

6

Materialien

115

6.1 Informationsbrief für Eltern

115

6.2 Regelwerk »KASPERLE«

116

6.3 Anschriften

118

7

Nachwort

121

8

Literatur

123

Autoren

6

89

137


1 ˘ Einführung

1 Einführung 1.1 Besonderheiten von Kindernotfällen Notfälle, von denen Kinder betroffen sind, werden von allen Beteiligten als etwas Außergewöhnliches und stark Belastendes erlebt. Viele Kinder haben noch keine entsprechenden Vorerfahrungen gesammelt und verfügen über weniger Bewältigungsstrategien als Erwachsene. Daher sind sie bei einem Notfall häufig besonders hilflos. Aber nicht nur die Kinder, die selbst einen Notfall erlebt haben, sind zahlreichen Belastungen ausgesetzt, sondern auch Kinder, die einen Notfall als Augenzeuge oder Zuschauer miterlebt haben. Sie können mit den direkt Betroffenen mitleiden und das, was sie am Notfallort sehen und hören, oftmals noch nicht verstehen. Bei den Kindern und Jugendlichen können Notfälle zu unterschiedlichen Folgen führen. Diese Folgen hängen jedoch nicht nur von den jeweiligen Belastungen durch den Notfall ab, sondern auch von situativen Variablen wie z. B. dem Ausgang des Geschehens und dem Verhalten der Personen, die während und nach einem Notfall mit den Kindern umgehen. Auch diverse Moderatorvariablen, z. B. das Geschlecht oder Persönlichkeitsmerkmale, beeinflussen die Folgen. Für Eltern und Angehörige sind Notfälle ihrer Kinder ebenfalls mit vielen Belastungen verbunden. Sie sind meis­ tens sehr aufgeregt, manchmal sogar aufgeregter als die Kinder. Häufig wissen sie nicht, wie sie in solchen Situationen angemessen mit ihren Kindern umgehen sollen. Auch Einsatzkräfte erleben Kindernotfälle als außerordentlich unangenehm. Werden professionelle Helfer danach gefragt, welche Notfälle sie als besonders belastend empfinden, werden pädiatrische Notfälle fast immer an ers­ter Stelle genannt (Lasogga und Karutz 2012). Dies hat mehrere Gründe: Dass Kinder einen Notfall erleben, schwer verletzt sind und möglicherweise sogar sterben, passt nicht in das Weltbild von Erwachsenen. Außerdem können not7


1 ˘ Einführung

fallbetroffene Kinder an eigene Kinder erinnern. Darüber hinaus sind Kindernotfälle eher selten; es handelt sich nicht um Routineeinsätze, sodass die notwendige Erfahrung fehlt. Im vorliegenden Buch werden zunächst die möglichen Belastungen von Kindern in Notfällen dargestellt. Daran anschließend wird der psychologisch angemessene Umgang mit den Kindern beschrieben. Ebenfalls thematisiert werden der Umgang mit Angehörigen, Augenzeugen und Zuschauern sowie die psychische Situation der Helfer. Die Darstellung konzentriert sich auf Unfälle und akute Erkrankungen, wobei die einzelnen Hinweise vielfach auch auf andere Notfallsituationen übertragbar sind. Damit die Hinweise nicht zu komplex sind und in den verschiedenen Notfällen auch rasch umgesetzt werden können, wurden Differenzierungen nur vorgenommen, wenn sie unbedingt notwendig erschienen. So unterscheidet sich der Umgang mit verletzten Kindern bei Individualnotfällen teilweise vom Umgang mit Kindern in Großschadenslagen sowie mit Kindern, die Augenzeugen eines Notfalls geworden sind. Nicht thematisiert werden längerfristig anhaltende Notfälle wie Geiselnahmen, häusliche bzw. familiäre Gewalt, Vernachlässigung und der sexuelle Missbrauch von Kindern, da bei der Hilfeleistung in diesen Situationen zahlreiche Besonderheiten beachtet werden müssen, die einer eigenen Darstellung bedürfen.

1.2 Häufigkeit von Kindernotfällen In Deutschland leben rund 11 Millionen Kinder und Jugendliche (Statistisches Bundesamt 2012). Als Kind wird in Deutschland bezeichnet, wer noch nicht 14 Jahre alt ist. Jugendliche sind demnach älter als 14, aber noch nicht 18 Jahre alt. Erfahrungen mit Notfällen sind in diesen Altersgruppen keineswegs selten. So sagten 26 Prozent der in einer Studie befragten Jungen bzw. jungen Männer und 17,7 Prozent der befragten Mädchen bzw. jungen Frauen, sie hätten in ihrem bisherigen Leben bereits mindestens einen Notfall miter8


1 ˘ Einführung

lebt (Perkonigg et al. 2000). In der Bremer Jugendstudie gaben 22,5 Prozent der befragten Jugendlichen an, bereits ein potenziell traumatisches Ereignis erlebt zu haben. Am häufigsten wurden körperliche Angriffe, Verletzungen und Unfälle genannt (Essau, Conradt und Petermann 1999). In einer anderen Untersuchung von 4 023 Jungen und Mädchen im Alter von 12 bis 17 Jahren gaben 40 Prozent der Befragten an, mindestens einmal bei Gewalthandlungen zugegen gewesen zu sein (Levine und Kline 2010). Darüber, wie viele Kinder und Jugendliche insgesamt von welchen Notfällen betroffen sind, gibt es in Deutschland anders als in einigen anderen Ländern jedoch keinen Gesamtüberblick. Die verfügbaren Quellen beziehen sich lediglich auf einzelne Teilaspekte bzw. fassen (wie z. B. Ellsässer 2014) einige ausgewählte Erhebungen zusammen. Nach der Todesursachenstatistik für das Jahr 2013 sind 182 Kinder und Jugendliche bei einem Unfall ums Leben gekommen, u. a. 63 bei einem »Transportmittelunfall«, 33 durch Ertrinken, 30 durch Ersticken, 13 durch einen Sturz sowie 12 durch einen Brand bzw. die Einwirkung von Feuer, Flammen oder Rauch. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2013 gibt an, dass 138 676 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren Opfer einer Straftat geworden sind, 71 Kinder und Jugendliche wurden bei einem Verbrechen getötet. Im Straßenverkehr sind 2013 insgesamt 15 983 Kinder und Jugendliche schwer verletzt sowie 427 getötet worden. Noch wesentlich mehr Unfälle ereignen sich jedoch in anderen Bereichen, insbesondere in Betreuungs- und Bildungseinrichtungen sowie dem Heim- und Freizeitbereich. Der Krankenhausdiagnosestatistik zufolge mussten 2013 rund 260 000 Kinder und Jugendliche aufgrund einer Verletzung stationär behandelt werden. Jungen haben dabei ein höheres Verletzungsrisiko als Mädchen (Bundesarbeitsgemeinschaft »Mehr Sicherheit für Kinder« 2013). Als Ursache werden unterschiedliche angeborene motorische Fähigkeiten und geschlechtsspezifische Sozialisationsbedingungen vermutet. Jungen könnten demnach bereitwilliger Risiken eingehen und häu9


1 ˘ Einführung

figer mit Situationen konfrontiert werden, in denen es zu einer Verletzung kommen kann (Ellsässer 2004). Offenbar besteht auch ein Zusammenhang zwischen dem Risiko, in einen Unfall verwickelt zu werden, und dem sozialen Status. In Studien in England wurde aufgezeigt, »dass eine drei- bis vierfach höhere Unfallmortalität bei Kindern besteht, deren Eltern keine berufliche Ausbildung hatten, verglichen zu Kindern von Eltern mit einem gelernten Beruf. Das Risiko, durch einen Wohnungsbrand zu sterben, war für Kinder von Eltern mit dem niedrigsten beruflichen Status 16-mal größer als bei Kindern von Eltern mit dem höchs­ ten beruflichen Status« (Dowswell und Towner 2002, zit. nach Ellsässer 2004, S. 10). In deutschen Untersuchungen zeigten sich ähnliche Zusammenhänge. So besteht eine Korrelation zwischen niedrigem Sozialstatus und Verletzungen durch Verbrühungen sowie Verletzungen im Straßenverkehr. Verbrühungen kommen in Familien mit mehr als drei Kindern häufiger vor als in Familien mit weniger Kindern (Ellsässer 2004). Wie viele Kinder die verschiedenen Notfälle als Augenzeugen, Zuschauer oder Geschwisterkinder eines direkt betroffenen Kindes miterleben, geht aus den verfügbaren Statistiken nicht hervor. Auch gibt es keine übergreifenden Studien dazu, wie häufig Kinder in Deutschland von Großschadenslagen betroffen sind. Hier liegen lediglich Einzelerkenntnisse zu einigen speziellen Situationen vor. So kann davon ausgegangen werden, dass sich in Deutschland jeden Monat mindestens ein schweres Schulbusunglück und etwa alle zwei Monate ein Brand ereignet, bei dem mehrere Kinder verletzt oder getötet werden (Karutz und Armgart 2015). Zudem wird ein- bis zweimal pro Jahr der konkrete Versuch eines »School Shootings«, d. h. eines Amoklaufes an einer Schule, unternommen (Scheithauer und Bondü 2011). Im Rettungsdienst machen Kindernotfälle nur einen kleinen Teil des Gesamteinsatzaufkommens aus (Sefrin 2009, Bernhard et al. 2011). Häufigste Einsatzanlässe sind Ertrinkungsunfälle, Krampfanfälle, obstruktive Atemwegs­ erkrankungen, die Aspiration von Fremdkörpern, Stürze (z. B. vom Wickeltisch oder mit dem Fahrrad), Verbren10


1 ˘ Einführung

nungen, Vergiftungen, schwere Infektionen und Verkehrsunfälle (Heinz 2001, Schlechtriemen et al. 2005). Kindernotfälle sind im Rettungsdienst u. a. deshalb eher selten, weil klassische internistische Notfallerkrankungen fehlen. Die koronare Herzkrankheit, Herzinfarkte und Schlagan­ fälle, die bei Erwachsenen häufig sind, treten bei Kindern normalerweise nicht auf. Zudem werden Kinder von ihren Eltern häufig selbst ins Krankenhaus transportiert, weil sie nicht auf das Eintreffen des Rettungsdienstes warten wollen (Helmerichs, Rollmann und Saternus 2006). Zu

Kinder erleben Notfälle relativ häufig, jedoch liegen nur wenige Untersuchungen über die Art der Notfälle vor. Der Rettungsdienst wird nur selten mit Kindernotfällen konfrontiert.

1.3 Hinweise zum psychologischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen Dass beim Umgang mit Kindern und Jugendlichen in Notfällen psychologische Aspekte besonders bedeutsam sind, ist keine neue Erkenntnis. Bereits 1974 forderte Biermann, »dass eine altersgemäße psychologische Betreuung so früh wie möglich geleistet werden sollte« (Biermann 1974). Auch in den folgenden Jahren wurde immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass Kinder in Notfällen »getrös­ tet« oder »einfühlsam begleitet« werden (z. B. Sauer 1984). Wie diese psychologische Betreuung während eines Notfalls oder unmittelbar danach konkret aussehen sollte, wurde damals jedoch nicht beschrieben. Publikationen aus dem Bereich der Psychotherapie für Kinder und Jugendliche bzw. der Kinder- und Jugendpsy­ chiatrie enthalten hierzu kaum verwertbare Hinweise, weil sie sich vorrangig auf ein anderes Setting beziehen. Überwiegend wird in ihnen dargestellt, wie therapeutische Interventionen gestaltet werden können (vgl. hierzu Papastefanou 2013). Der Umgang mit Kindern an einem Unglücks­ ort wird, wenn überhaupt, lediglich indirekt thematisiert. 11


2 ˘ Kinder und Jugendliche

Zur Kontaktaufnahme können Handpuppen und Kuscheltiere dienen. Kindern und Jugendlichen sollte aufmerksam zugehört und ihnen sollten Informationen gegeben werden. Die Selbstkontrolle kann gestärkt werden, indem man Kindern kleinere Aufgaben erteilt und sie Entscheidungen treffen lässt. Wenn möglich und notwendig, sollten die Eltern oder andere Bezugspersonen hinzugezogen werden.

Spezielle Situationen Die oben dargestellten Regeln gelten für die meisten Kinder und Jugendlichen bei vielen Notfällen. Unter Umständen sind jedoch weitere oder andere Vorgehensweisen angebracht. Das Verhalten bei speziellen Personengruppen oder in speziellen Notfallsituationen wird im folgenden Abschnitt dargestellt.

Verletzte Kinder

Notfälle, bei denen Kinder verletzt werden, ereignen sich in Deutschland alle 30 Sekunden. Jeden Tag müssen rund 770 Kinder oder Jugendliche aufgrund einer Verletzung in einem Krankenhaus behandelt werden (Sommerfeldt 2005, Elsässer 2014). Die häufigsten Verletzungen sind Kopf- und Gesichtsverletzungen sowie offene Wunden und Knochenbrüche, meist durch Stürze oder Zusammenstöße. Schädel-HirnVerletzungen (von Kopfplatzwunden über Gehirnerschütterungen bis hin zu schweren Schädelfrakturen) sind besonders häufig bei Säuglingen; sie machen in dieser Altersgruppe 85 Prozent der unfallbedingten Anlässe für eine stationäre Krankenhausbehandlung aus. Auch in der Altersgruppe zwischen einem und fünf Jahren sind SchädelHirn-Verletzungen mit 72 Prozent die häufigste Ursache für eine stationäre Krankenhausbehandlung nach einem Unfall (Sommerfeldt 2005). In der Altersgruppe der sechs- bis 14-jährigen Kinder dominieren Knochenbrüche der Extremitäten (v. a. der Arme), Prellungen, offene Wunden sowie Schürfwunden. Schädel58


2 ˘ Kinder und Jugendliche

Hirn-Verletzungen treten mit zunehmendem Alter seltener auf. Verbrennungen und Verbrühungen sind bei Kindern ebenfalls eher selten, allerdings sind thermische Schädigungen häufig mit einer besonders starken psychischen Belastung verbunden (Dorfmüller 2005). Auch bei körperlich verletzten Kindern sollte selbstverständlich deren psychische Situation beachtet werden. Häufig konzentriert sich die Behandlung vorrangig oder sogar ausschließlich auf die Durchführung medizinischer Maßnahmen; der psychologische Umgang erfolgt häufig nicht angemessen. Auch im weiteren Verlauf der Behandlung sollte bei verletzten Kindern auf psychische Faktoren geachtet werden. Bestimmte Symptome wie Unruhe und Schlafstörungen sollten z. B. nicht allein auf die somatische Schädigung zurückgeführt werden (Rosner und Steil 2009). Vorbereitung auf Maßnahmen: Zur Behandlung von unterschiedlichen Verletzungen müssen häufig Maßnahmen durchgeführt werden, die Schmerzen verursachen können. Darauf sollte man Kinder in angemessener Weise vorbereiten. So kann das Vertrauen eines Kindes gewonnen und eine bessere Mitarbeit erreicht werden (Wagner 2006). Bewährt hat sich eine Kombination von empfindungs- und eingriffsbezogenen Informationen (Glanzmann 2004): ˘ Dem Kind sollte mitgeteilt werden, welcher Art die

Maßnahme ist und wer sie durchführt.

˘ Ängste des Kindes sollten thematisiert werden. ˘ Ergänzend sollte dem Kind gesagt werden, wie es

sich bei der Maßnahme am besten verhalten kann.

Bei kleineren Kindern sollten darüber hinaus folgende Punkte beachtet werden (nach Glanzmann 2004): ˘ sich darauf einstellen, dass sich das Kind wehren

könnte

˘ das Kind erst kurz vor der Maßnahme vorbereiten ˘ erwünschte Verhaltensweisen vormachen 59


2 ˘ Kinder und Jugendliche ˘ dem Kind erklären, dass es in Ordnung ist, wenn es

weint

˘ dem Kind immer nur eine Anweisung auf einmal

geben

˘ wenige, einfache Begriffe verwenden ˘ das Kind Entscheidungen auswählen, mithelfen

lassen

˘ Angst auslösende Gegenstände außer Sichtweite

halten

˘ diejenigen Aspekte besonders betonen, die eine Ko-

operation verlangen (z. B. ruhig liegen bleiben)

˘ sehr kleine Kinder während des Eingriffs und da-

nach streicheln

˘ dem Kind sagen, wenn die Maßnahme beendet ist ˘ Eltern getrennt von dem Kind informieren, um zu

vermeiden, dass es Worte missversteht.

Bewegungsfreiheit: Weil Bewegungseinschränkungen unangenehm sind (siehe Kap. 2.1.1), sollten verletzte Kinder möglichst nicht festgehalten werden. Besser ist es, dem Kind zu erklären, aus welchen Gründen es sich für einige Zeit nicht bewegen darf. Entsprechende Erklärungen sind natürlich nur möglich, wenn genügend Zeit zur Verfügung steht. Manchmal macht auch erst das Festhalten eines Kindes eben dieses Festhalten notwendig, denn ein Kind kann umso mehr Angst verspüren, je stärker es in seiner Bewegungsfähigkeit eingeschränkt wird. Schutz vor belastenden Anblicken: Wunden oder auch abnorme Fehlstellungen von gebrochenen Extremitäten sollten bedeckt werden, auch wenn dies aus medizinischen Gründen nicht notwendig ist. Der Anblick derartiger Verletzungen ist unangenehm und ängstigend. Zum Bedecken können sterile Kompressen, Verbandmaterialien oder saubere Handtücher verwendet werden. Umgang mit Zuschauern: Die Aufregung von Zuschauern und die Unruhe im Umfeld können sich auf auf das verletzte Kind oder den Jugendlichen übertragen. Außerdem werden 60


2 ˘ Kinder und Jugendliche

Zuschauer von den Betroffenen als unangenehm empfunden (siehe Kap. 2.1.2). Daher sollten Verletzte vor Zuschauern abgeschirmt werden. Die Zuschauer können freundlich, aber bestimmt gebeten werden, einen Abstand von zehn Metern einzuhalten. Zum Entfernen kann ein Zuschauer gezielt angesprochen und damit beauftragt werden, die übrigen Zuschauer fortzuschicken (»Sie hier vorne in der grünen Jacke! Sorgen Sie bitte dafür, dass die anderen Leute zehn Meter zurückgehen!«). Das Zuschauen kann auch durch Tücher, Decken oder hochgehaltene Regenschirme unattraktiv gemacht werden. Verletzte Kinder sollten auf die Durchführung bestimmter Maßnahmen vorbereitet und nach Möglichkeit nicht festgehalten werden. Verletzungen sollten bedeckt werden.

Kinder aus anderen Kulturen

Jeder Helfer sollte über kulturelle Besonderheiten von Kindern informiert sein. So zeigen beispielsweise bestimmte Ausländergruppen stärkere oder geringere Emotionen als hierzulande üblich. Wenn ein Helfer dies nicht weiß, kann die Schwere der Verletzung eines Kindes beispielsweise über- oder auch unterschätzt werden. Dolmetscher: Falls Kinder und Jugendliche nicht gut Deutsch sprechen oder ein eingeschränktes Sprachverständnis haben, gestaltet sich der Umgang mit ihnen schwierig. Insbesondere die Anamneseerhebung kann mit großen Problemen verbunden sein. Es gelingt nur schwer herauszufinden, worunter das betroffene Kind leidet. Falls jemand dolmetschen kann, sollte er hinzugezogen werden. Kommunikation: Auch wenn Kinder nicht oder nur wenig Deutsch verstehen, sollte mit ihnen gesprochen werden. Die nonverbale (Gestik, Mimik etc.) und die paraverbale (Tonfall, Sprechgeschwindigkeit etc.) Kommunikation vermitteln eine Botschaft, auch wenn Kinder die verbale Kommunika­ tion nicht verstehen. Deshalb sollte verstärkt auf die eigene 61


2 ˘ Kinder und Jugendliche

Gestik und Mimik sowie den Tonfall geachtet werden. Auf diese Weise können beruhigende emotionale Botschaften vermittelt werden. Die Sprache sollte einfach, allerdings grammatikalisch korrekt sein. Erklärungen sollten langsam und ausführlich erfolgen und mehrfach wiederholt werden. Ein Problem könnte im Körperkontakt liegen. Bei den meisten islamischen, aber auch manchen südländischen Kulturen ist Körperkontakt für einen Fremden weniger gestattet. Deshalb sollten Helfer sehr sensibel auf die Reaktionen beim Körperkontakt achten und ihn je nach Reaktion in seiner Intensität verstärken oder abschwächen. Dies gilt insbesondere, wenn weibliche Personen männliche Kinder und Jugendliche behandeln. Anwesenheit von Bezugspersonen: Mitglieder von Kulturen aus dem mediterranen Raum können in einer größeren Anzahl Kontakt mit dem Notfallopfer suchen und bei ihm bleiben wollen. Dies sollte akzeptiert werden, solange die eigene Arbeit nicht beeinträchtigt wird. Falls extrem aufdringliches oder sogar aggressives Verhalten gegenüber den Helfern die Arbeit beeinträchtigt, sollte freundlich, aber bestimmt mehr Ruhe und Platz eingefordert werden. Gegebenenfalls kann man mit dem Kind und einer Bezugsperson den Notfallort verlassen und das Kind im Rettungswagen versorgen. Fühlen sich die Helfer bedroht, kann die Polizei hinzugezogen werden. Bei einer besonnenen Vorgehensweise des Rettungsteams wird dies aber nur in sehr seltenen Fällen notwendig sein. Bei Kindern aus anderen Kulturen kommt der non- und para­verbalen Kommunikation eine besondere Bedeutung zu, deshalb ist auf sie verstärkt zu achten. Das Herstellen von Körperkontakt und das Verhalten von Angehörigen können mit Problemen verbunden sein.

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2 ˘ Kinder und Jugendliche

Kinder als Zuschauer und Augenzeugen

Kinder und Jugendliche können auch als Augenzeugen oder Zuschauer starken Belastungen ausgesetzt sein. Eine sehr gute Möglichkeit, diese zu verarbeiten, besteht darin, über das Erlebte zu sprechen. Nicht alle Kinder haben jedoch die Gelegenheit dazu. Für 60 Prozent der Kinder, die bei einem Notfall zugeschaut haben, gab es z. B. keine Möglichkeit, über das Erlebte zu sprechen; nur 13 Prozent wurden in der ers­ten Zeit nach einem Notfall psychologisch betreut (Akademie Bruderhilfe 2002). Zuschauen lassen oder abschirmen: Ob man Kinder bei Notfällen zuschauen lässt oder vom Ort des Geschehens entfernt, kann nicht pauschal entschieden werden. Für das Entfernen spricht, dass Notfallopfer Zuschauer meist als unangenehm empfinden. Auch können die Helfer durch die Anwesenheit von Zuschauern verunsichert oder bei ihrer Arbeit behindert werden. Eine Gefährdung, z. B. durch herabfallende Trümmerteile bei einem Brand, sowie die Belas­ tung der Zuschauer durch den Anblick von Verletzungen sprechen ebenfalls für das Entfernen. Allerdings kann es für Kinder auch unangenehm sein, wenn sie ein Notfallgeschehen nicht mehr beobachten können (Karutz 2004b). Möglicherweise verhindert das Abschirmen einen entlastenden Anblick der Hilfeleis­tung. Kinder können dann schlimme Fantasien über den Fortgang entwickeln (Levine und Kline 2010). Im Vordergrund sollte dennoch die Überlegung stehen, ob es ein Notfallopfer belastet, wenn andere Kinder zusehen. Falls dies nicht der Fall ist, kann das weitere Vorgehen von der jeweiligen Situation und dem Verhalten der zuschauenden Kinder abhängig gemacht werden. Wenn zuschauende Kinder sich beispielsweise die Augen zuhalten oder augenscheinlich sehr verängstigt sind, sollten sie rasch vom Notfallort entfernt werden. Falls dies geschieht, sollte man ihnen weitere Informationen geben, etwa dass dem Verletzten geholfen wird.

63


2 ˘ Kinder und Jugendliche

Wenn Kinder nicht weggeschickt werden, sollten ihnen die Hilfeleistungen mit einfachen Worten erklärt werden, da sie nicht immer als solche zu erkennen sind (Karutz 2004b). Da der Anblick von Notfallspuren wie Blutlachen, Bremsspuren und Verpackungen von Materialien des Rettungsdienstes unangenehm sein kann, sollten diese Spuren rasch beseitigt werden. In die Hilfeleistung einbeziehen: Kinder und Jugendliche können auch in die Hilfsmaßnahmen eingebunden werden. Wenn ihnen kleinere Aufgaben übertragen werden, empfinden sie dies fast immer als entlastend. Sie beteiligen sich in der Regel bereitwillig an der Hilfeleistung, weil es ihrem Wunsch entspricht, dass dem Notfallopfer geholfen wird. Häufig wissen Kinder allerdings ebenso wie Erwachsene nicht, wie sie helfen können. Daher sollten entsprechende Anweisungen gegeben werden. Kinder können beispielsweise einen Notfallkoffer tragen oder Türen für den Rettungsdienst aufhalten. Dafür sollten einzelne Kinder gezielt angesprochen werden. Das Einbinden von zuschauenden Kindern ist auch für die Verarbeitung des Erlebten von Bedeutung. Je aktiver sie sich an der Hilfe beteiligen konnten, desto weniger hilflos haben sie sich gefühlt. Zudem ist es eine angenehme Erfahrung, geholfen zu haben. Kinder, die einen Notfall als Augenzeuge oder Zuschauer miterleben, können durch Anblicke belastet werden. Wenn sie vom Notfallort entfernt werden, sollte man ihnen Erklärungen geben. Sie können aber auch in die Hilfeleistung eingebunden werden.

Überbringen von Todesnachrichten

Das Überbringen einer Todesnachricht an Kinder und auch an Erwachsene ist eine extrem schwierige und für Helfer außerordentlich belastende Situation. In den meisten Fällen wird die Todesnachricht allerdings nicht direkt den Kin64


2 ˘ Kinder und Jugendliche

dern mitgeteilt werden müssen, sondern den Eltern oder anderen Angehörigen, die dann mit dem Kind sprechen können. Oft ist es günstig, den Angehörigen vorab einige Informationen darüber zu geben, was bei der Mitteilung der Todesnachricht an das Kind bzw. den Jugendlichen zu beachten ist. Helfer können sich zunächst nach den für Erwachsene erstellten Regeln zum Überbringen einer Todesnachricht richten (ausführlich in Lasogga und Gasch 2011). Zu beachten sind demnach folgende Aspekte: Vor der Situation: ˘ Vor dem Überbringen sollten möglichst viele Informationen über den Toten, die Todesursache (z. B. den Hergang eines Unfalls) und die überlebenden Angehörigen eingeholt werden, um Fragen beantworten zu können. ˘ Bei Kindern und Erwachsenen ist mit vielfältigen Reaktionen zu rechnen, z. B.: Weinen, Verzweiflung, Apathie, Aggressionen, Gelassenheit und Nichtwahrhaben-wollen. In der Situation: ˘ Stellen Sie sich mit Namen vor. Nennen Sie anschließend die Institution, von der Sie kommen. ˘ Vergewissern Sie sich, ob Sie es mit dem richtigen Kind bzw. Erwachsenen zu tun haben. ˘ Bitten Sie darum, eintreten zu dürfen. ˘ Bereiten Sie das Kind bzw. die Angehörigen kurz auf eine »schlimme Nachricht« vor. ˘ Verwenden Sie einfache, kurze Sätze. ˘ Sprechen Sie eindeutig von »Tod«, »verstorben«. ˘ Sagen Sie nicht »der Leichnam«, sondern »dein Vater, deine Mutter, dein Bruder«. ˘ Verwenden Sie keine Fremdwörter. ˘ Benutzen Sie keine Floskeln oder oberflächlichen Trostworte. ˘ Geben Sie dem Kind bzw. den Erwachsenen Zeit, das Gehörte zu verarbeiten. 65


Kindern in Notfällen prak­ tisch gestaltet und erfolg­ reich umgesetzt werden kann. Für die Helfer und Ange­ hörigen sind gerade pädi­ atrische Notfälle mit sehr großen Belastungen ver­ bunden. Für sie stellt das Buch u. a. hilfreiche Regel­ werke, Hinweise für die Nachsorge sowie Kontakt­ adressen bereit. Eine Ergänzung der bis­ lang zum Thema »Psy­ chische Erste Hilfe« er­ schienenen Fachliteratur.

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Für die meisten Kinder sind Notfälle etwas völlig Neues. Im Allgemeinen verfügen sie über keine geeigneten Bewältigungs­ strategien und stehen der Situation daher hilflos gegenüber. Dies gilt ins­ besondere auch für unver­ letzt gebliebene Kinder. Manchmal haben sie noch nach vielen Jahren mit den psychischen Folgen des Notfallgeschehens zu kämpfen. Harald Karutz und Frank Lasogga geben in diesem Buch konkrete Antworten, wie die psy­ chische Begleitung von

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Harald Karutz, Frank Lasogga

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