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von Sigfried Schibli
BRITTEN IN SUFFOLK
VON SIGFRIED SCHIBLI Benjamin Britten wurde 1913 in Lowestoft geboren und starb 1976 in Aldeburgh. Beide Städte liegen an der Ostküste Englands in der Grafschaft Suffolk. Im Norden davon Norfolk, im Süden Essex, im Westen Cambridgeshire. Daraus den Schluss zu ziehen, Britten sei nicht viel in der Welt herumgekommen, wäre voreilig. Er war als bedeutendster englischer Komponist des 20. Jahrhunderts häufig bei Aufführungen seiner Werke zugegen. Aber dass er Suffolk und die Ostküste liebte und nie ganz von seiner Heimat loskam, steht ausser Zweifel. Die erste Musik, die er gehört habe, sei das Rauschen der Wellen an den Klippen gewesen, sagte Britten einmal. Und dieses Rauschen, diese Küste, diese Landschaft begleiteten ihn sein Leben lang.
Edward Benjamin Britten wurde als viertes Kind einer MittelschichtsFamilie geboren. Sein Vater Robert war Zahnarzt in Lowestoft und an Musik wenig interessiert; es heisst von ihm, er habe jeden Morgen um elf Uhr eine WhiskyPause eingelegt, um sich von seinem Handwerk zu erholen. Dafür förderte seine Mutter Edith das musikalische Talent ihres Sohnes und erteilte ihm schon im frühen Kindesalter Klavierunterricht. Eine Fotografie zeigt den siebenjährigen Benjamin am Klavier, vor seinen Augen mindestens fünf Musikstücke. Er spielte häufig mit seiner Mutter vierhändig am Klavier; besonders schätzte man in der Familie das Siegfried-Idyll von Richard Wagner, das der Junge aus der Partitur spielen konnte. Dazu lernte er noch Bratsche. Über seine Grundschulzeit in South Lodge in Lowestoft äusserte sich Britten positiv: Dort habe er gelernt, diszipliniert zu arbeiten. Sein Schulweg war kurz. Die Familie lebte an der Kirkley Cliff Road in einem Haus, das heute ‹Britten House› genannt wird. Die weiterbildende Schule besuchte Britten in Holt in Norfolk, auch hier wieder nicht weit entfernt von der Küste der Nordsee, vom ‹German Ocean›. Mit 17 Jahren verliess Britten das geliebte ‹East Anglia›, um eine solide Ausbildung als Musiker zu absolvieren und am Royal College of Music in London Klavier und Komposition zu studieren. Nach drei Jahren war seine Ausbildung beendet, und er galt als vollwertiger Komponist. Obwohl er als Homosexueller in der Grossstadt London besser untertauchen konnte als im provinziellen Suffolk, sehnte er sich nach der Heimat. Nach dem Tod seines Vaters zog er zurück nach Lowestoft. Da er häufig in London zu tun hatte, mietete er sich dort eine Wohnung, aber sein Hauptwohnsitz war weiterhin in ‹East Anglia›. Über seine Sinfonie in gMoll von 1937 sagte er, er habe den langsamen Satz «in den Sanddünen und Sümpfen des östlichen Norfolk konzipiert».
‹The Red House› im englischen Aldeburgh, Suffolk
‹Britten minor›, wie man ihn im Unterschied zu seinem älteren Bruder Robert nannte, stand schon als Jugendlicher in Opposition zu den gängigen gesellschaftlichen Normen. Er verurteilte die in England populäre Fuchsjagd, verbrachte die Freizeit lieber mit Komponieren als mit Sport und interessierte sich nicht für Mädchen, und als er sich zum Militärdienst stellen sollte, verweigerte er diesen. Dies war der Grund, weshalb er 1939 mit seinem Lebensgefährten Peter Pears England verliess und über Kanada in die Vereinigten Staaten zog. Kaum in Amerika angekommen, wurde er von Heimweh nach Suffolk ergriffen. Seine Bekannte Enid Slater hatte ihm im Juni 1939 Fotos von zu Hause geschickt, und Benjamin schrieb ihr im Zug nach New York zurück: «Wenn sie den Zweck hatten, mich heimwehkrank zu machen, haben sie ihren Zweck voll erfüllt!» 1942 kehrten Britten und Pears nach England zurück. Von da an hielten sie sich häufig im Dorf Snape am Fluss Alde auf, wenige Kilometer von Aldeburgh entfernt. Nachdem seine Mutter gestorben war, hatte sich Britten 1937 dort eine alte Mühle gekauft, die er renovieren und umbauen liess. Dort komponierte er The Young Person’s Guide to the Orchestra und die Opern The Rape of Lucretia und Albert Herring. ‹The Old Mill› diente ihm als ruhiger Zufluchtsort, bis er sich 1947 in Aldeburgh niederliess und dort das bis heute mit seinem Namen verbundene Musikfestival gründete. Ihre letzten Lebensjahre verbrachten Britten und Pears im ‹Red House› in Aldeburgh, umgeben von einem grossen Blumengarten. Eine englische Strauchrose wurde nach Benjamin Britten benannt.
Als Britten 1951 gebeten wurde, eine Art Selbstporträt zu verfassen, schrieb er ein Loblied auf «Suffolk mit seinen Sümpfen, wilden Seevögeln, grossen Häfen und kleinen Fischerdörfern. Ich bin wirklich verwurzelt in diesem herrlichen Land. Und das bewies ich mir selbst, als ich einmal versuchte, anderswo zu leben. Selbst wenn ich Länder besuche, die so prächtig sind wie Italien, so freundlich wie Dänemark oder Holland, habe ich immer Heimweh und freue mich, zurückzukehren nach Suffolk.»