Der brodelnde Geist. Werner von Siemens in Briefen

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wortung, die sich auf ihn legt: den Kindern die Mutter ersetzen – irgendwie. Im Juli 1865 schreibt er an Anna Kossobutzki, eine lang­ jährige Freundin von Mathilde: Es waren schwere Zeiten, liebe Freundin, die ich am Sterbelager meines geliebten Weibes und nach ihrem unwiederbringlichen Verlust durchzukämpfen hatte! […] Jetzt habe ich Ruhe und Gleichgewicht wiedergefunden. In ihrem Sinne und Geiste meine Kinder zu erziehen, mein künftiges Leben einzurichten, habe ich an ihrem Schmerzenslager gelobt und werde es halten. Strenge Pflichterfüllung und rastlose Tätigkeit in Aus­ führung derselben und in der Sorge für die ihr Nahestehenden war der Grundzug ihres Geistes. Es wäre nicht in ihrem Sinne, lange untätig den Verlust zu beweinen – es ist mir, als riefe sie mir immer zu: «Gedenke Deiner Kinder, Deiner Pflichten!» Und so soll es ge­ schehen.21 Trotzdem ist er lange erfasst von der Trauer um seine

rhythmus bahnbrechende Operations­ methoden entwickelt oder medizinische Erkenntnisse entdeckt wurden. Inner­ halb weniger Jahrzehnte konnten die Erreger vieler vorher kaum behan­del­ barer Krankheiten wie Milzbrand, Diph­ therie, Tuberkulose, Lepra, Pest oder Syphilis gefunden werden. Auch die Entdeckung der Narkose ermöglichte Fortschritte: Äther und Lachgas waren die Substanzen der Stunde. Der Beginn der modernen Anästhesie fällt ins Jahr 1846. Werner Siemens hatte ge­rade den elektrischen Zeigertelegrafen ent­ wickelt. Und der amerika­nische Zahn­ arzt William Green Morton operierte in Boston zum ersten Mal einen Patienten unter Vollnarkose öffentlich. Der ChefChirurg John Collins Warren rief dabei dem anwesenden Fachpublikum zu: «Gentlemen, this is no humbug!» Auch in Deutschland arbeiteten Mediziner und Naturwissenschaftler an wegwei­

senden Erkenntnissen und Heilmetho­ den. So entwickelte beispielsweise der Chemiker Justus von Liebig in der orga­ nischen Chemie neue Analyse­­me­tho­ den und beschäftigte sich mit Le­bens­ mittelchemie und Stoffwechsel. Der mit Werner eng befreundete ­Physiker und Physiologe Hermann von Helmholtz erfand den Augen­spiegel und das Ophthal­ mometer und untersuchte die Ge­ schwindigkeit der Nervenimpulse und Reflexe, was vor allem das Wissen über Sehen und Hören v­ ertiefte. Ein weite­ res Beispiel ist der Phy­siologe Claude Bernard: Er machte wichtige Entde­ ckungen zur Funktion von Bauchspei­ cheldrüse und Leber. Es war der Auf­ takt der modernen Medizin, der das Leben der Menschen mindestens so grundlegend beeinflusste und verän­ derte wie die damals aufkommende Telegrafie und Elektrizität.

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